Malinche - Prinzessin der Azteken - Sylvia Schopf - E-Book

Malinche - Prinzessin der Azteken E-Book

Sylvia Schopf

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Beschreibung

Sie hat tatsächlich gelebt - Malinche, die aztekische Prinzessin - und zwar zu der Zeit als die Spanier nach Mexiko kamen und das Aztekenreich eroberten. Bekannt wurde die junge Adelige als Übersetzerin des spanischen Eroberers Hernán Cortés. Doch warum die aztekische Prinzessin zuvor als Sklavin beim Nachbar der Maya lebte, ist unbekannt. Ihre mögliche Kindheitsgeschichte erzählt Sylvia Schopf spannend und kenntisreich, "...bewegt, hautnah, in Bildern, die im Gedächtnis bleiben." (Fundevogel) Es ist die Geschichte eines ungewöhnlichen Mädchens, das trotz aller Schwierigkeiten Mut und Standfestigkeit zeigt.

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INHALT

Einblicke in die Geschichte

Zeichen

Einsam

Erkundungen

Ein Fest

Neuigkeiten

Abschied

In der Tempelschule

Versteckt

Unterwegs

Verschleppt

Verkauft

Auf neuen Wegen

Drückend

Beim Kaziken

Im Versteck

Der andere Weg

Das Ende, wie es die Geschichte schrieb

Ein paar Worte zu den Worten

EINBLICKE IN DIE GESCHICHTE

Sie hatte viele Namen. Man nannte sie Malinche, Malinalli, Malintzin, Marina. Die einen schimpften sie eine Verräterin und sagten, sie habe Unheil über die Menschen in ihrer Umgebung gebracht. Die anderen bewunderten ihre Klugheit und verehrten sie als große Vermittlerin zwischen zwei Kulturen. Wer ihre Eltern waren und wie sie als Kind aufwuchs, darüber weiß man kaum etwas.

Nur so viel ist gewiss: es gab sie wirklich. Sie kam irgendwann zwischen 1498 und 1505 zur Welt, und zwar in dem Land, das heute Mexiko heißt und damals von den Azteken bewohnt und beherrscht wurde. Sie war eine aztekische Prinzessin und ihr Vater, eine Art Fürst, verwaltete eine abgelegene Provinz des großen und mächtigen Aztekenreiches.

Wie für jeden Azteken gab es auch für Malinche eine Prophezeiung, welches Schicksal ihr die Götter zugedacht hatten. Denn nach aztekischem Glauben herrschten die Götter über Himmel und Erde. Sie gaben Leben und nahmen es wieder. Sie schickten die kleinen Kinder auf die Erde, in den Leib der Frauen. Sie ließen es regnen, blitzen und donnern und den Mais auf den Feldern gedeihen oder verdorren. Nur mit der Hilfe der Götter konnten die aztekischen Krieger Schlachten gewinnen. Wer reich und wohlhabend war, verdankte das dem Willen der Götter. Sie waren es auch, die den Menschen Krankheiten und Hungersnöte schickten, um sie zu bestrafen. Sie bestimmten das Schicksal eines jeden Azteken vom ersten Augenblick seines Lebens an. Welche Zukunft die Götter einem Neugeborenen zugedacht hatten, konnten die Wahrsagepriester aus dem Stand der Sterne am Tag der Geburt weissagen. Die Bedeutungen waren im tonalamatl, dem Weissagebuch der Ahnen und Urahnen, aufgezeichnet. Gleich am Geburtstag schlug ein kundiger Wahrsagepriester darin nach, um den göttlichen Willen zu erkunden: War das Kind ausersehen ein erfolgreicher Krieger zu werden oder ein Lügner, ein Verräter, ein Dieb, ein Unheilbringer…

ZEICHEN

Seit vielen Monden brannte die Sonne von einem wolkenlosen, blauen Himmel. Die Erde war staubtrocken und aufgerissen wie ein morsches Baumwolltuch. Die Ernte auf den Feldern verdorrte. Die Bewohner wussten nicht, warum tlaloc, der Regengott, seine Regengeister nicht mehr in das Tal und die Stadt schickte. „Wofür bestraft er uns?“, fragten sie und schickten Bittgebete in die dreizehn Himmel über ihnen. Die Tempelpriester brachten den Göttern Opfer, um sie zu besänftigen, und die Wahrsager versuchten, mit Hilfe von Orakeln, den Grund der Dürre herauszufinden. Aber wie so oft war der Wille der Götter unergründlich und die Menschen waren machtlos.

Doch dann fegte eines Tages ein heftiger Wind durch das Tal, wirbelte Staub auf, trieb erdfarbene Wolkenschleier durch die Straßen der Stadt und tiefgraue Wolken verdunkelten den Himmel. Donner grollte und grelle Blitze zuckten aus den Wolken.

„Ein Zeichen. Ein Zeichen der Götter“, riefen die Menschen und flüchteten in ihre Häuser. Gleich darauf fielen dicke Regentropfen und im selben Augenblick drang aus einem der Gemächer des Fürstenpalastes ein kräftiger Schrei. Es war der erste Schrei des Kindes, das die Fürstin zur Welt gebracht hatte. Die alten Frauen, die Schwestern und Schwägerinnen, die seit Tagen schützend wie eine Hecke um das Schlaflager der Fürstin herumhockten, empfingen das Neugeborene mit freudigen Rufen.

„Ein Junge?“, flüsterte die Fürstin erwartungsvoll.

Die Hebamme schüttelte den Kopf. „Nur ein Mädchen. Aber es ist gesund und kräftig — und hübsch dazu.“

Damit alle in der näheren und weiteren Umgebung von der Geburt des Kindes erfuhren, schickte die Hebamme vom Innenhof des Palastes aus einen durchdringenden Kriegsschrei in alle vier Winde. Dann sandte sie eine Dienerin zum Wahrsagepriester in den Tempel. Der Priester sollte im tonalamatl, dem Weissagebuch der Ahnen und Ururahnen, nachschlagen, unter welchem Stern die Fürstentochter geboren worden war. Gespannt warteten alle auf seine Ankunft. Welche Prophezeiung mochte es für das Neugeborene geben? Immerhin: In der Geburtsstunde hatten die Götter den lang ersehnten Regen geschickt.

Nach einiger Zeit kam statt des Wahrsagepriesters sein Bote, um den Fürsten in den Tempel zu holen. Merkwürdig. Warum kam der Priester nicht selber? Was hatte das zu bedeuten?

Während man im Palast aufgeregt und beunruhigt die Rückkehr des Fürsten erwartete, hörte es auf zu regnen und bevor die Sonne hinter den Bergen verschwand, blinzelte sie noch einmal zwischen den Wolken hervor. Dann überließ sie den Göttern der Dunkelheit die Herrschaft über die Welt.

Im Palast wurden Fackeln entzündet. Der Fürst war noch immer im Tempel. Das Neugeborene schlummerte friedlich in einem mit Baumwolltüchern ausgeschlagenen Palmblattkörbchen und die Fürstin war in einen unruhigen Schlaf gefallen. Hin und wieder schlug sie die Augen auf, um sich zu erkundigen. „Und?“

Die Frauen schüttelten jedes Mal den Kopf. „Unser hochwohlgeborener Herr, Euer Gatte, ist noch nicht zurückgekommen.“

Als die Sonne ihren Gang durch die Unterwelt beendet hatte und wie jeden Morgen an den Berghängen hinaufkletterte, kam der Fürst endlich in den Palast zurück. Neugierige und fragende Blicke empfingen ihn. Er sah müde aus und eilte sofort in das Gemach seiner Gattin. Als er an ihr Schlaflager trat, schlug sie die Augen auf. „Was ist geschehen?“

„Keine Sorge. Es wird alles gut“, besänftigte der Fürst seine Gemahlin und blickte nachdenklich auf das schlafende Kindergesicht. „Die Götter haben gewiss noch Großes mit ihr vor“, sagte er zögernd und es klang, als wollte er sich damit selber beruhigen.

„Hat das der Wahrsagepriester in den Sternen gelesen?“, erkundigten sich die Frauen, die die ganze Nacht neben dem Bett der Fürstin gewacht hatten.

„Das und noch vieles mehr!“, sagte der Fürst mit gewohnt fester Stimme und blickte sich um. „Was schaut ihr so sorgenvoll? Wir haben allen Grund, den Göttern für dieses wunderbare Geschenk zu danken. Also, beeilt euch! Morgen werden wir ihnen mit einem großen Fest huldigen und dem Kind seinen Namen geben. Ihr wisst, was zu tun ist!“ Mit diesen Worten verließ der Fürst das Schlafgemach.

„Worauf warten wir noch!“ Die Mutter des Fürsten und all die anderen Frauen überließen Mutter und Kind der Fürsorge durch die Hebamme und kümmerten sich um die Vorbereitung des großen Festes. Wie es Brauch war, wurden nicht nur die Verwandten eingeladen, sondern auch alle wichtigen Persönlichkeiten der Stadt: der oberste Tempelpriester und seine Begleiter, die Berater und höchsten Verwaltungsbeamten des Fürsten und auch die vornehmsten und reichsten Kaufleute. Alle kamen und waren dabei, als die Hebamme das Kind mit dem kostbaren Nass der Wassergöttin benetzte, um dann zum ersten Mal seinen Namen zu rufen. ‚Malinche’ tönte es in alle vier Himmelsrichtungen. Man gab ihr diesen Namen, weil sie an dem Tag mit dem Zeichen malinalli, Gras der Sorgen, zur Welt gekommen war.

„Aber keine Sorge“, beruhigte der Wahrsagepriester. „Das ist nur ein Teil, ein kleiner Teil ihrer Schicksalsvoraussage. Auch wenn um sie herum viel Unheil geschehen wird, so werden die Götter doch immer eine schützende Hand über dieses Kind halten.“ Der Priester verstummte für einen Augenblick und sprach dann mit veränderter Stimme weiter. „In ihren Sternen steht auch, dass die Götter noch Großes mit ihr vorhaben.“

Der Fürst lächelte zufrieden und die anderen atmeten erleichtert auf. Als der Priester seine Rede fortsetzen wollte, begannen plötzlich Schalen, Schüssel, Becher und Krüge auf der gedeckten Festtafel zu wackeln und zu klirren. Bestürzt hielt er inne. Die Festgesellschaft verharrte regungslos. Doch nichts geschah. Alles blieb ruhig, keine Schüssel, kein Krug rührte sich mehr. Fast war es, als wäre nie etwas geschehen.

Schließlich gab der Fürst ein Zeichen. Trommeln und Muschelhörner erklangen, Diener und Dienerinnen tischten leckere Speisen auf und bald feierten alle fröhlich und ausgelassen, aßen und tranken, tanzten und sangen und unterhielten sich prächtig.

Niemand hätte sich einige Wochen später noch an dieses unheimliche Wanken und Beben erinnert, wenn — ja, wenn nicht der nächste Tag eine merkwürdige Entdeckung gebracht hätte. Im Altarhaus auf der Spitze des Tempels fand man den Wahrsagepriester. Kein Lebenshauch war mehr in ihm. Er hatte keine Verletzungen und auch sonst gab es keinen Hinweis, was ihm den Atem genommen hatte. Merkwürdig! Aber der Wille der Götter war oft undurchschaubar und rätselhaft. Die Tempelpriester forderten die Menschen auf, künftig noch mehr zu beten und den Göttern noch mehr Opfer zu bringen.

Ein anderer Priester übernahm das Wahrsageamt und der ungewöhnliche Tod seines Vorgängers geriet mit der Zeit in Vergessenheit wie so vieles andere auch. Das Leben in der Stadt am Ende des Tales ging seinen gewohnten Gang. Die Bauern und Landarbeiter schufteten auf den Feldern, brachten die Ernte ein und lieferten den geforderten Teil ihrer Erträge an den Fürsten. Die Handwerker schnitzten, schmiedeten, töpferten und entrichteten ebenfalls ihre Abgaben an den Fürsten. Kaufmannskarawanen kamen aus fernen Gegenden, machten Station, boten auf dem großen Markt der Stadt ihre Waren feil, kauften und verkauften. Es gab gute Jahre und es gab schlechte Jahre. Manchmal waren die Götter den Menschen wohl gesonnen und manchmal schickten sie ihnen Plagen und Nöte.

Um sie gütig zu stimmen, feierten die Menschen den Beginn eines jeden Monats mit einem Fest, bei dem die verschiedenen Götter geehrt wurden. Man opferte, betete und zog in langen Prozessionen durch die Straßen. Kamen die Leute am Palast vorbei, blickten sie neugierig hinauf zur Dachterrasse. Dort stand gebieterisch der Fürst, umgeben von seinen Beratern und Wachen. Doch weder die Fürstin noch das Kind waren jemals zu sehen. Das Volk wunderte sich und bald sprach es sich in der Stadt herum: Seit der Geburt kränkelte die Fürstin. Und was war mit dem Kind, der Prinzessin? Die Leute fragten sich, warum man sie nie zu Gesicht bekam. Einige vermuteten, sie sei vielleicht von einer bösartigen Krankheit befallen. „Vielleicht ist sie hässlich, entstellt oder gar verkrüppelt“, munkelten andere. Hinter vorgehaltener Hand wagten es ein paar wenige, den Verdacht zu äußern, die Tochter des Fürsten sei womöglich gar nicht mehr am Leben.

Aber das Tun und Lassen der Herrschaften hinter den weißgetünchten Palastmauern war manchmal genauso unergründlich wie der Wille der Götter. Die Leute zuckten mit den Schultern und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Schließlich gab es genug zu tun, um wenigstens den nötigen Lebensunterhalt zu sichern.

Mit der Zeit geriet der Name der Fürstentochter in Vergessenheit. Mancher vergaß sogar, dass der Fürst überhaupt eine Tochter hatte — und das war ganz im Sinne von Malinches Eltern.

EINSAM

Kurze Zeit nach Malinches Geburt holte der Fürst Männer und Frauen aus entfernten Tälern in den Palastdienst. Sie wussten nichts von der Fürstentochter und bekamen sie auch nie zu Gesicht, denn das Kind war in einem abgelegenen Teil des Palastes untergebracht. Dort wuchs sie abgeschieden vom übrigen Palastleben auf. Für ihre Erziehung sorgte eine verschwiegene und gestrenge Frau. An deren Hand machte Malinche ihre ersten Schritte. Von ihr lernte sie die ersten Worte. Die Erzieherin brachte ihr bei, was sie als wohlerzogenes, aztekisches Mädchen beherrschen musste: Spinnen, Weben, Sticken und vor allem gutes Benehmen. Damit verbrachte Malinche viele Stunden des Tages. Selten, sehr selten nur sah sie ihre Mutter.

„Malintzin!“ Die Erzieherin sprach die Fürstentochter immer mit ihrem adligen Ehrennamen an. „Du weißt doch, dass unsere hochverehrte Fürstin, deine Mutter, sehr viel Ruhe braucht und keine Aufregung verträgt. Du möchtest doch auch, dass sie wieder ganz gesund wird.“

Artig nickte Malinche jedes Mal und wünschte sich doch nichts mehr, als die Mutter wenigstens ab und zu besuchen zu dürfen.

Auch ihren Vater, den Fürsten, sah sie selten. Von der Erzieherin wusste sie, dass er ein mutiger und tapferer Kriegsherr war, der die meiste Zeit im Auftrag des großen aztekischen Herrschers Moctezuma unterwegs war.

Immer wenn Trommelklänge den Abmarsch der Krieger ankündigten, stellte sich Malinche ihren siegreichen Vater vor. Bestimmt zog er mit denselben festen und gleichmäßigen Schritten, die sie oft durch die Gänge des Palastes hallen hörte, gegen die feindlichen Angreifer. Vernahm Malinche seine Schritte, dann hoffte und wünschte sie immer, sie würden lauter und immer lauter werden, der Vorhang ihres Gemaches würde zur Seite geschoben und der Vater stünde bei ihr. Aber das geschah leider nur selten. Meist wartete sie vergeblich und die gebieterischen Schritte des Vaters blieben ferne Geräusche, die Malinche sehnsüchtig verfolgte, bis sie verstummten.

Im Laufe der Zeit hatte Malinche gelernt, die verschiedenen Schritte in ihrer Umgebung genau zu unterscheiden: die raschen Trippelschritte der Erzieherin, die zaghaften Schritte der Mutter, die festen, energischen des Vaters und schließlich die Schlurfschritte der beiden alten Dienerinnen.

Auch die unterschiedlichen Töne der Muschelhörner konnte Malinche deuten. Sie wusste, wie sie klangen, wenn sie die verschiedenen Tageszeiten ankündigten. Sie hörte, wenn Besucher begrüßt wurden und wann vor Gefahren gewarnt wurde. Und sie wusste von der Erzieherin, dass es Priester waren, die die Muschelhörner bliesen, und zwar auf der Spitze der Tempelpyramide, dort wo das Altarhaus für den allerhöchsten Gott Huitzilopochtli stand. Malinche kannte sogar die vielfältigen Trommelrhythmen, mit denen jeder neue Monat gefeiert wurde.

Sie kannte die Lobgesänge, mit denen die Menschen in langen Prozessionen durch die Straßen zogen, um den Göttern zu danken oder deren Wohlwollen zu erbitten. Immer wieder musste die Erzieherin von diesen Festen erzählen und dann stellte sich Malinche vor, wie die Leute singend und tanzend durch die Straßen zogen. Wie gerne wäre sie auch einmal dabei, wenn sich die Tänzer und Musiker den Göttern zu Ehren im Kreise drehten. Aber wie so vieles kannte sie auch die Feste und Feiern nur vom Hörensagen.

„Bedenke, Malintzin, dort draußen sind so viele Versuchungen und böse Kräfte. Nur hier bist du in Sicherheit. Hier bist du geschützt und kannst den Göttern zum Wohlgefallen aufwachsen. Du darfst nicht undankbar sein!“, mahnte die Erzieherin und jedes Mal nickte Malinche artig. Gewiss, sie hatte ihr eigenes kleines Reich. Das war der Innenhof, um den herum sich die verschiedenen Räume gruppierten. Es gab ein Gemach mit ihrer Schlafmatte und den Kleidertruhen, einen Raum für Mahlzeiten, einen für die Unterrichtsstunden und außerdem die Wohnräume der Erzieherin. Zwischen den Büschen und Bäumen des Innenhofes stand ein kleines Altarhaus, in dem Malinche regelmäßig zu den Göttern betete und ihnen Opfer brachte. Hatte sie ihre Aufgaben erledigt, spielte sie mit ihren Puppen, solchen aus Stoff oder anderen, die aus glänzendem Stein gemeißelt waren.

Oder sie spazierte durch den überdachten, kühlen Säulengang, der den Innenhof umschloss. In den Bäumen, Büschen, Blumen und Kakteen des Innenhofes war immer etwas los. Besonders in den kühleren Morgenund Abendstunden beobachtete Malinche, was dort alles kreuchte und fleuchte: Falter mit glänzenden Flügeln umflatterten duftende Blüten, Vögel spielten in den Bäumen Verstecken, Spinnen staksten über die Kakteenstacheln und spannen ihre Netze, Käfer schleppten Piniennadeln über den Weg. Es gab viel zu sehen und immer etwas Neues zu entdecken.

Manchmal durfte sie in Begleitung der Erzieherin sogar in den angrenzenden Palastgarten, den man durch einen schmalen Gang erreichte. Ein anderer Gang, den Malinche den Festtagsgang nannte, führte um einige Ecken und über eine Treppe zu einem goldbestickten Vorhang. Das war der Eingang zu den Gemächern ihrer Eltern. Allerdings hatte der Festtagsgang auch eine Kehrseite. Wenn sie von den elterlichen Räumen in ihren Teil des Palastes zurückkehrte, wurde er zum Tränengang. Schnell, viel zu schnell verflog die Zeit, die sie an der Seite der Mutter, mit dem Vater oder gar mit beiden verbringen durfte. Lange, sehr lange war dagegen die Zeit, die sie nur mit der Erzieherin, den entfernten Geräuschen der Straße und mit den Tieren des Innenhofes verbrachte.

„Malintzin, du weißt doch: Das geschieht alles nur zu deinem Wohlergehen und nach dem Willen der Götter“, erinnerte die Erzieherin und Malinche seufzte. Ja, wenn es der Wille der Götter und der Wunsch ihrer Eltern war, so war es gut und richtig und ein wohlerzogenes Mädchen hatte zu gehorchen, das hatte Malinche von klein auf gelernt. Um traurige Gedanken zu verscheuchen, versuchte sie rasch, an etwas Schönes zu denken. Aber es fiel ihr nicht immer leicht, so allein zu sein.

Das änderte sich, als ihr Vater eines Tages von einem Kriegszug zurückkehrte — siegreich, wie die Trommeln der Priester vom Tempel verkündeten. Malinche war stolz und auch etwas aufgeregt und neugierig. Bald würde sie ihren Vater besuchen dürfen. Was er ihr wohl dieses Mal mitgebracht hatte? Sie konnte es gar nicht erwarten, bis sie - frisch eingekleidet und mit duftenden Kräutern eingerieben - zu den elterlichen Gemächern geführt wurde.

Als sie den Empfangsraum betrat, verharrte sie regungslos am Eingang und betrachtete den Mann, der etwas in sich zusammengesunken auf seinem fürstlichen Stuhl saß. Er hatte die Augen geschlossen und sah aus, als schliefe er. Mit einem Mal tönte ein lautstarkes Krächzen durch den Raum. Es kam aus einem verschlossenen Binsenkorb. Der Fürst war sofort hellwach, straffte den Rücken und setzte sich kerzengerade. Jetzt erkannte er seine Tochter.

„Malinche, meine kleine Goldfeder!“ Ein kurzes Lächeln flog über sein sonst so ernstes Gesicht. „Ich muss wohl eingeschlafen sein. Es waren anstrengende Tage — aber jetzt bin ich wieder hier und ich habe dir ein Geschenk mitgebracht!“ Er zeigte auf den Korb. „Damit du ein wenig Unterhaltung hast.“

Als Malinche den Korb öffnete, streckte sich ihr ein Büschel langer, leuchtend blauer Federn entgegen und schallendes Gelächter gluckste hervor. Malinche war stumm vor Staunen. Ein wunderschöner Papagei kletterte aus dem Korb, plusterte sich auf und wackelte mit seinem rot gefiederten Kopf. Aber merkwürdig, Malinche war, als hätte sie den Vogel schon einmal gesehen. Ja, jetzt erinnerte sie sich: letzte Nacht, in ihrem Traum, war ihr ein bunter Papagei erschienen.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nur noch die letzten Worte des Vaters hörte: „Nun, mein glänzender Edelstein, kümmere dich gut um mein Geschenk. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, wirst du mir bestimmt viel zu erzählen haben.“

Damit war der Besuch beendet und Malinche verabschiedete sich mit höflichen Verbeugungen.

Auf Malinches Drängen bekam der Papagei einen Platz im Unterrichtszimmer. Dort turnte er auf seinen Bambusschaukeln herum, schnappte allerlei Worte auf, die er zum Ärger der Erzieherin nach Lust und Laune herauskrächzte. Mit seinem forschen Benehmen und seinen frechen Plappereien hatte er die Erzieherin bald gegen sich aufgebracht. Doch Malinche bettelte so sehr, dass sie den Papagei trotzdem behalten durfte. Endlich hatte sie jemanden, dem sie ihre Geschichten erzählen konnte. Wenn sie mit ihm sprach, hockte er vor ihr, schaute sie mit seinen kugelrunden, kleinen Papageienaugen aufmerksam an und wiegte seinen Kopf bedächtig hin und her. War sie traurig, setzte er sich auf ihre Schulter und knabberte ihr zärtlich am Ohr oder versuchte sie mit seinen Flug- und Kletterkünsten aufzuheitern.

Vielleicht war es auch wegen des Papageis, dass sie sich eines Tages trotz strengsten Verbots allein in den angrenzenden Palastgarten wagte. Es war Mittagszeit und drückende Hitze lag über dem Palast und der Stadt. Alles schien in einer Art Dämmerzustand dahinzudösen. Selbst den Vögeln war es zu heiß, kein Piepsen und Tirilieren war zu hören. Den Papagei auf der Schulter, schlich Malinche mit klopfendem Herzen durch den Gang in den Garten hinaus. Er war an einer Seite von einer hohen Mauer und an der anderen von einer dichten, stachligen Kakteenhecke umschlossen. Kaum hatten sie den Gang hinter sich gelassen, flog der Papagei auf und hielt zielstrebig auf die Kakteen zu.

„Vorsicht, Stacheln!“, rief ihm Malinche leise hinterher. Doch er kümmerte sich nicht um die Warnung, landete auf dem Boden und spazierte an der Stachelhecke entlang. An einer Stelle blieb er plötzlich stehen. Als Malinche näher kam, entdeckte sie dort einen kleinen, länglichen Durchschlupf. Und husch, war der Papagei schon auf der anderen Seite der Hecke verschwunden. Soviel sie auch rief, er gab keine Antwort und kam auch nicht zurück.

Malinche überlegte. Wenn sie sich bückte und ganz klein und dünn machte…?! Als sie sich hindurchzwängte, piekste und stach es heftig an Armen und Schultern, aber dann hatte sie es geschafft! Sie blickte in eine große, blühende Gartenanlage.

Ganz in der Nähe des Durchschlupfes führte eine schmale Treppe nach oben. Wohin wohl? Malinche zögerte noch, als der Papagei von irgendwoher auf sie zuflog und sich auf ihrer Schulter niederließ. ‚Malinche’, krächzte er schmeichelnd und plapperte ihr etwas ins Ohr. Malinche war einverstanden und machte ein paar Schritte auf die Treppe zu. Vorsichtig setzte sie einen Fuß auf die unterste Stufe, dann auf die nächste. Schritt für Schritt stieg sie hinauf, höher und immer höher, bis sie auf einer großen Dachterrasse stand. Nichts war zu sehen. Nur der wolkenlose, blaue Himmel über ihr und in einiger Entfernung die Spitze der Tempelpyramide mit dem Altarhaus.

Nach einigen Schritten stand sie an der Mauer, die die Terrasse umschloss. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie zwischen den schlangenköpfigen Steinen hindurchschauen, hinunter in einen großen Innenhof, in dem Frauen und Mädchen bei der Arbeit waren. Sie kneteten Teig, rieben Maiskörner auf einem Mahlstein, schleppten Körbe und Krüge und…

Der Ton der Muschelhörner weckte Malinche wie aus einem Traum. Sie schaute hinüber zur Tempelspitze, wo schwarz gekleidete Priester mit ihren Instrumenten die Tageszeit in alle vier Himmelsrichtungen verkündeten. So spät schon! So schnell sie konnte, verließ sie die Dachterrasse. Unten angekommen, schob sie den Papagei durch das Schlupfloch, zwängte sich hinterher und eilte zurück in ihr Zimmer. Ganz außer Puste ließ sie sich auf einer Sitzmatte nieder. Da schob sich auch schon der Vorhang am Eingang zur Seite und die Erzieherin stand groß und streng vor ihr. „Malintzin! Wo warst du? Und wie siehst du aus?“

Jetzt erst bemerkte Malinche die blutenden Schrammen an ihren Armen und Händen.

„Der Papagei!“, stieß sie hervor. „Er war auf einmal verschwunden und da habe ich ihn gesucht.“

„Bist du etwa allein in den Garten gegangen?“

Malinche schwieg.

„Du weißt genau, dass das nicht erwünscht ist.“

„Aber der Papagei…“, entschuldigte sich Malinche kleinlaut.

„Dieser Papagei!“ Die Erzieherin schnaufte ärgerlich. „Wie oft habe ich dir gesagt, dass du ihn in den Käfig sperren sollst!“

„Aber das mag er überhaupt nicht. Ein Papagei ist ein Vogel und ein Vogel muss fliegen!“, verteidigte Malinche ihren gefiederten Freund, der sich bei dem scharfen Ton der Erzieherin sofort in eine Ecke verkrochen hatte.

Kaum hatte die Erzieherin den Raum verlassen, um eine heilende Kräutertinktur für Malinches Wunden zu holen, trippelte der Vogel wieder hervor und knabberte Malinche tröstend am Ohr.

„Schon gut, es tut nicht sehr weh!“