Manchmal kehren sie wieder - Johnny Wallmann - E-Book

Manchmal kehren sie wieder E-Book

Johnny Wallmann

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Beschreibung

26 der besten, fiesesten und bizarrsten Kurzgeschichten rund um Zombies. Gibt es gute Zombies? Oder böse Zombies? Hier findet ihr nicht nur die Antwort, sondern taucht ein in Geschichten von Nazi-Zombies und Rache-Widergängern. Manche kommen wieder, um sich an einer einzigen Person zu rächen, andere wollen gleich die ganze Menschheit vernichten. Und einige haben einfach nur Hunger. In einigen Geschichten hat sich die Gesellschaft der Lebenden angepasst, bei einigen bricht die Zombieseuche zum ersten Mal aus – oder zum zweiten Mal. Manche erschaffen die Zombies und manchmal sind sie sogar rein Gesellschaftlich – und die Rettung ist manchmal so simpel wie verwerflich. Es darf gelacht werden – oder man kann sich fürchten – sogar gleichzeitig.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 394

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Inhalt
Sammlerstück
Bücher vs. Zombies
Das Ding in der Wand
Liebes Jeyla
Ein Zombie bei der Arbeit
Erinnerungen
Hippokratische Züge
Der lebende Tote
Was wir für Geld tun
Gnadenhof
Die letzte Seuche
Die zweite Apokalypse
Füttern verboten
Tote Zone
Die Biologin
Vlog Diary – Mein Weg durch die Verwesung
Für die Firma
Grenzzwischenfall
Blutige Hände
Meyer Fernreisen – Reisebüro und Bestattungen
Tonys toter Opa
Abschied
Der elfte Stamm
Im Dunkeln
Nach dem Fieber: "Drei Alben"
Autoren

Manchmal kehren sie wieder

Zombie-Anthologie

ELYSION-BOOKS

Print: 1. Auflage: April 2025

eBook: 1. Auflage: April 2025

VOLLSTÄNDIGE AUSGABE

ORIGINALAUSGABE

© 2024 BY ELYSION BOOKS, Jennifer Schreiner, Auenstr 105, 04178 Leipzig

ALL RIGHTS RESERVED

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich an:

[email protected]

UMSCHLAGGESTALTUNG: Sleepy Fox Studio

ISBN (vollständiges Ebook) 978-3-96000-349-6

ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-96000-348-9

Mehr himmlisch heißen Lesespaß finden Sie auf

www.Elysion-Books.com

Wir sind Mitglied des Netzwerks »schöne Bücher«, eine Vereinigung unabhängiger Verlage

www.schoenebuecher.net

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Inhalt

Johnny Wallmann - Sammlerstück 5.S.

Nicole Leonas -Bücher vs Zombies 24 S.

Peter F. Kuhn - Der Ding in der Wand 32 S.

Melanie Rahimpour - Liebes Jeyla 37 S.

Alisha Pilenko - Ein Zombie bei der Arbeit 49 S.

Michelle Friedrich - Erinnerungen 67 S.

Torsten Scheib - Hippokratische Züge 72 S.

Lyakon - Der lebende Tote 82 S.

Jace Moran - Ein letztes Mal 94 S.

Günter Gerstbrein - Was wir für Geld tun 107 S.

Reka Jansen - Gnadenhof 118 S.

Johanna Wolfmann - Die letzte Seuche 136 S.

Beatrice Sonntag - Die zweite Apokalypse 151 S.

Fenja Harbke - Füttern verboten 170 S.

Agnes Christofferson - Tote Zone 174 S.

Stefanie Reiffert - Die Biologin 185 S.

Alexis Gentzsch - Vlog Diary 189 S.

Yara Kiefer - Für die Firma 196 S.

Erik Hauser - Grenzzwischenfall 200 S.

Dennis Puplicks - Blutige Hände 204 S.

Lynn Weiher - Meyer Fernreisen 209 S.

Gregor Fischer - Tonys toter Opa 214 S.

Florian Hartl - Abschied 229 S.

Achim Stößer - Der elfte Stamm 236 S.

Alexis Gentzsch - Im Dunkeln 241 S.

Aleš Pickar: Nach dem Fieber: „Drei Alben“ 249 S.

Autoren 270 S.

Sammlerstück

Johnny Wallmann

Welcher Narr ist so töricht, zu glauben, das Ende der Welt sei gekommen, nur weil es nach seinen zahlreichen Ankündigungen und anschließend gescheiterten Versuchen erneut einen Anlauf nimmt, um zum großen, endgültigen Schlag auszuholen?

Welcher Narr behauptet, dass die sich stets in Schönfärberei sonnende, nichtsahnend am Rande des Abgrunds taumelnde Menschheit abermals darum bittet, ausgelöscht zu werden?

Nun, diesmal bin ich der Narr.

Aufgewacht aus einem mehrtägigen Koma kämpfte ich mich zurück an die Oberfläche des Bewusstseins und schaffte es, im Krankenhausbett die Augen wieder aufzuschlagen und die ersten Atemzüge in dieser neuen, fremden Welt zu machen, die nicht mehr mit jener alten zu vergleichen war, in der ich meine fast einundsechzig Jahre bis dahin verbracht hatte. Ich wachte also in diesem dämmerig dunklen Krankenhauszimmer auf, allein und verwirrt. Nach und nach kam die Erinnerung zurück, dass ich an einer monströsen Maschine angeschlossen war, die die Sauerstoffzufuhr regulierte, weil ich selbstständig nicht mehr atmen konnte. Die Schläuche, die tief in meinen Rachen geführt hatten, waren inzwischen wieder entfernt worden, genauso wie die Maschine selbst. Ursache für diesen ganzen Schlamassel war ein Virus, das meine Atemsysteme befallen und sich in meine Lungen eingenistet hatte. Ein gottverdammtes Virus aus einem weit entfernten Land, das mit Gott so wenig anfangen konnte wie die Bank mit einer gesperrten Kreditkarte.

Ich saß also auf dem Bett und mir wurde bewusst, das ich es überlebt und dieses vermaledeite Virus besiegt hatte, und eine überschwängliche Euphorie breitete sich in mir aus, ähnlich wie sich das Aroma eines exzellenten Whiskeys im Rachen ausbreitet, den man sich nach einer langen Zeit der Abstinenz gönnt.

Ich stand auf und ging, wenn auch noch ein wenig wacklig auf den Beinen, zum

Kleiderschrank hinüber, um die elendige Patientenkleidung, die wie ein Totenhemd an meinen Knochen herunterhing, loszuwerden und gegen die beige-melierte Bundfaltenhose, das weiße Hemd aus gebürsteter Baumwolle (das durch seine mehrtägige Lagerung in dem engen Schrank arg in Mitleidenschaft gezogen worden war), dem dolomitengrauen Kaschmircardigan und den schwarzen Oxford-Schuhen, die dringend einer Reinigung bedurften, einzutauschen. Wiederhergestellt und gesellschaftsfähig, verließ ich meine vorbehaltliche Grabkammer und ging in den Krankenhausflur, aber ich traf niemanden an; keine von diesen emsigen Schwestern, die noch bei meiner Einlieferung den Flur bevölkert hatten, noch irgendjemanden, der mir an der Rezeption weiterhelfen konnte.

»Hallo.« Meine Stimme hörte sich an wie eine ratternde Fahrradkette, die nicht ordentlich über die Ritzel läuft, also holte ich tief Luft und rief noch einmal.

»HALLO! JEMAND DA?«

Während ich auf eine Antwort wartete, bemerkte ich auf dem Rezeptionstisch einen dieser Abreißkalender. SEI DU SELBST! ALLE ANDEREN SIND BEREITS VERGEBEN, stand dort über Dienstag, dem 3. Oktober. Wenn die Buchführung hier im Krankenhaus ordentlich gemacht und das Datum richtig angezeigt wurde, waren mittlerweile fünf Tage vergangen, seit ich mit akuten Hustenanfällen und hohem Fieber eingeliefert worden war.

Anscheinend wurde ich erhört, denn die Tür hinter der Rezeption, auf der PRIVAT stand, bewegte sich und eine Frau lugte mit großen, fragenden Augen durch den Türspalt.

»Wo sind die anderen denn alle hin? Ist irgendetwas passiert?«, fragte ich räuspernd.

Die Frau, Mitte Dreißig, lange, blonde Haare, die ihr bis über die Schultern fielen, musterte mich – wie ich fand, eine Spur zu lange, so als ob sie sich vergewissern wollte, ob ich nicht nach einem gravierenden Ärztepfusch oder einer Fehldiagnose den Löffel abgegeben hatte und nun als Gespenst zurückgekehrt war (aber da wusste ich noch nicht, dass sie mich auf ganz andere Symptome abcheckte) – und nach ein paar Sekunden löste sie sich von der Tür und näherte sich mir, auch wenn sie den Mantel der Furcht nicht ganz ablegen konnte.

»Sie sind doch der Patient aus dem Aufwachraum«, sagte sie. »Sie sind der Schriftsteller.«

Angesichts des sonderbaren Umstandes, dass das Krankenhaus bis auf sie und meine Wenigkeit verlassen zu sein schien, reichten ihre Worte aus, um ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern.

»Gestatten, Reginald von Zimmern.«

»Schwester Simone«, sagte die Frau, klaubte ein paar Habseligkeiten vom Rezeptionstisch, die sie in ihrer Handtasche verschwinden ließ, streifte sich eine rote Strickjacke über und drehte sich wieder zu mir um.

»Es hat wohl einen Ausbruch gegeben,« sagte sie endlich, um meine Frage zu beantworten.

»Ja, ich weiß. Dieses verflixte Co-«

»Nein, ich meine einen neuen Ausbruch. Mitten im Lockdown, als alle in Quarantäne steckten. Es gibt kaum Informationen über dieses Virus, aber was ich so mitbekommen habe«, und dabei blickte sie flüchtig zur Tür, durch sie gerade gekommen war, »scheint es das Gehirn anzugreifen, und es verbreitet sich rasend schnell. Ich ... Hören Sie, ich habe Ihre Bücher sehr gemocht. Schade, dass Sie nichts mehr geschrieben haben, ist schließlich ne Weile her seit dem letzten. Ich wünschte, ich hätte Sie unter anderen Umständen kennengelernt, aber ich sollte jetzt besser das Weite suchen. Das sollten Sie auch tun, und zwar so schnell wie möglich.« Sie blickte mich mit ihren grünen Augen noch eine Sekunde lang an, bevor sie durch eine angrenzende Flurtür verschwand.

Ich war wie zu Stein erstarrt, mein Lächeln nur noch ein gefrorener, gebogener Strich im Gesicht. 14 Jahre, sagte ich in Gedanken, aber ich hätte es laut ausgesprochen, wenn sie noch einen Moment länger gewartet hätte. 14 Jahre und sieben Monate, um genau zu sein, sind seit dem letzten Buch vergangen, rief ich ihr stumm nach. Aber haben Sie wirklich gedacht, das AUS ALTEN ZEITEN das Ende meiner Karriere war? Oder haben Sie etwa den Kritikern alles geglaubt, was sie über mich geschrieben haben – allen voran Fritz Motzinski, dieser aufgeblasene Wichtigtuer, der nur darauf wartet, auf mein Grab zu pi.... Halt, warten Sie doch. Es war nur eine ... kreative Schaffenspause, denn es gibt endlich etwas Neues von mir, und zufällig kommt es morgen heraus. Sie glauben mir nicht? Wenn Sie mit mir nach Hause kommen, erhalten Sie ein kostenloses Exemplar, ich versprech's Ihnen. Gottbehüte, dies ist doch kein plumper Annäherungsversuch, ganz im Gegenteil. Ich finde Sie recht sympathisch, und deswegen sollen Sie als erstes mein neues Werk bekommen. Und wissen Sie was? Ich werde es signieren, damit es ein echtes Sammlerstück wird.

Das hätte ich alles sagen können, aber ich bekam kein Wort heraus. Ich starrte auf die Tür, die sich hinter ihr geschlossen hatte, und lauschte den leisen Geräuschen, die sonst niemand bemerkte, wenn im Krankenhaus Betrieb herrschte, und doch präsent waren: das durchgehende Summen der Leuchtstoffröhren und das anhaltende Sirren der Computer und Maschinen, die unentwegt am Stromkreis hingen. Und da war noch etwas anderes, was für einen Moment meine Aufmerksamkeit erregte: Es erklang hinter der Tür an der Rezeption, auf der PRIVAT stand und durch die Schwester Simone vorhin aufgetaucht war. Es ähnelte am ehesten den Klagelauten von Tieren, die feststeckten oder eingeklemmt waren und – wenn sie merkten, das ihre Kraft zu schwinden begann – resignierten, weil sie sich nicht aus ihrer misslichen Lage befreien konnten und dem Tode ausgeliefert waren, aber dafür waren die Laute zu Basso cantate, um von Tieren zu stammen.

Ich erinnerte mich wieder an Schwester Simones Ratschlag, wandte mich zur Tür und verließ das Krankenhaus.

Es war nicht das erste Mal, dass ich nach Einbruch der Dämmerung in den Straßen Sonnbergs unterwegs war. Die besondere Atmosphäre, die diese Stadt auf ihre Einwohner ausübt, ist auch mir durchaus vertraut, egal, ob man sich im Zustand eines maßvollen Rausches befindet, den man sich nach dem Besuch einer der vielen Pinten angeeignet hat, oder nüchtern ist. Die hereinbrechende Dunkelheit schwebt wie ein riesiger Samtschleier aus der Höhe herab und legt sich mit sanfter Anmut auf die Dächer, die Baumkronen und alles andere, was sich in den Straßen befindet. Die nächtlichen Lichter der Stadt leuchten auf und gehen eine Symbiose mit der Dunkelheit ein. Ein neuer Ort wird erschaffen, ein Spiegelbild zu dem, welcher am Tage herrscht, verstärkt durch den Glanz der uralten Sterne, der die Einwohner wie durch ein Traumreich wandeln lässt.

Doch jetzt, auf dem Weg nach Hause, das vier Straßen entfernt war, geschwächt von dem mehrtägigen Krankenhausaufenthalt und dem mühsamen Fußmarsch, spürte ich diesen Zauber nicht mehr.

Die Stadt fühlte sich tot an.

Dabei hatte Sonnberg schon einmal seine ganz eigene, persönliche Katastrophe erlebt, vor vielen Jahren in einem Spätsommer, als es aufgrund immenser Regenbrüche über den Ort zu Überflutungen kam und die Wassermassen ein ganzes Stadtviertel bis zur Unkenntlichkeit verwüsteten. Mittlerweile waren die Wunden verheilt, die Toten hatten ihren Frieden gefunden und die Mauern waren in unermüdlichem Einsatz wieder errichtet worden, und doch schien nun ein neues Unheil am Horizont aufgezogen zu sein, das weit subtiler daherkam als die gewaltigen Fluten, die dem Wasser des Roten Meeres gleich über die ahnungslosen Köpfe der Sonnberger zusammengeschlagen waren. Ich bemerkte es an den dunklen Straßenseiten und den Schatten, die jetzt nicht mehr so sanft und tröstlich waren, sondern ein unruhiges, flimmerndes Unbehagen in mir auslösten. Und wieder hörte ich diese tiefen Klagelaute, diesmal gepaart mit dem Geräusch von schleifenden Schritten, die ohne irgendein Ziel waren und eigentlich nicht mehr zur Fortbewegung dienten.

Nach ein paar Augenblicken hatte ich inzwischen Welles Dö-Piz erreicht, das auf der Ecke Füchterstraße und Clementinenweg lag und nur einen Steinwurf von meinem Haus entfernt war. Furcht stieg in mir hoch, als ich sah, dass der Vordereingang der Pizzeria zerstört war und und auf dem Boden Myriaden von Glasstücken im Licht einer Straßenlampe glitzerten. Inmitten dieser Splitter und Scherben entdeckte ich eine Hand, in Mitleidenschaft gezogen durch das zerberstende Glas, blutverschmiert und hindrapiert wie das Geschenk einer Katze, die eine tote Maus nach Hause bringt.

Mir wurde nicht übel – zu fremdartig wirkte der Anblick – aber ich spürte, wie der Schweiß aus den Poren brach und ich von einer Hitzewallung erfasst wurde, als wäre das Fieber, das mich ins Krankenhaus getrieben hatte, zurückgekehrt. Ich hob wieder den Blick und sah in einer Seitenstraße zu meiner Rechten vor dem flackernden Scheinwerferlicht eines liegengebliebenen Autos, dessen Fahrertür weit offen stand und dem langsam der Saft der Autobatterie ausging, eine Gestalt, und für einen schrecklichen Moment, der mir das Herz zusammenzog, glaubte ich Fritz Motzinski zu erkennen, aber die zusammengesackte, torkelnde Erscheinung, die in angemessenem Abstand vor mir stand, war mit der geraden und aufrechten Körperhaltung des Literaturkritikers nicht zu vergleichen.

Ein lautes Scheppern aus dem hinteren Bereich der Pizzeria ließ mich zusammenzucken. Ein zivilisiertes Individuum hätte wenigstens den Deckel angehoben, um in den Topf zu schauen, aber dieses Scheppern klang vielmehr wie die unbeholfene Suche eines ausgehungerten Tieres – vielleicht eines Waschbären oder etwas dergleichen, aber größer – das nach fetter Beute gierte.

Ich hatte genug und eilte weiter.

Als ich den Vordereingang meiner Wohnung erreichte, hörte ich drinnen das Telefon klingeln. Mein Herz hüpfte vor Aufregung, und ich beeilte mich, die Tür aufzuschließen. Im nächsten Moment ging ich durch den dunklen Flur und rief: »Licht an.« Der Geräuschsensor schnappte meinen Befehl auf, wandelte ihn zu einem Impuls um und gab ihn an das Relais weiter, das die Lampen im vorderen Bereich meiner Wohnung einschaltete. Ich erreichte das Haustelefon und nahm den Hörer ab, aber ich kam zu spät. Am anderen Ende der Leitung ertönte nur das Freizeichen.

Während ich also dastand und überlegte, wer mich denn um diese Zeit zu erreichen versuchte, musste ich feststellen, das ich am ganzen Leib zitterte und mein Atem wie nach einer anstrengenden Bergtour schnaufte, ganz zu schweigen von dem schweißdurchtränkten Baumwollhemd, das unangenehm auf meiner Haut klebte.

Seit vierzehn Jahren lebte ich nun schon in dieser Residenz mit seinen vier Zimmern, drei Schlafzimmern und einem ausladenden Balkon, der in Richtung Park lag, jene vierzehn Jahre, seit mein letztes Buch erschienen war und seit Roswitha mich verlassen hatte. Als sie ging, machte sie ihre Besitzansprüche geltend und bekam unser gemeinsames Haus an der Alster, den Jaguar (den sie vor vier Jahren während eines Blitzeises schrottreif gefahren hatte), und den zwölf Jahre jüngeren Gärtner, der der Auslöser des ganzen Schlamassels war.

Seitdem war es ruhig um mich geworden. Ich lebte von den sieben Romanen, die ich davor geschrieben hatte und – obwohl die Kritiker natürlich kein gutes Haar daran ließen – immer noch Neuauflagen erreichten, und den verkauften Filmrechten von DAS GEFLÜSTER DER STERNE, aber etwas Neues brachte ich seitdem nicht zustande. Als hätte Roswitha, bevor sie mich verließ, auch mein Talent, etwas Sinnvolles zu Papier zu bringen, in ihre Koffer geworfen und in die Hafenstadt mitgenommen, wo es für alle Zeit zwischen ihren Habseligkeiten verrottete.

Nach der langen Zeit der Ödnis und Selbstverdammnis, in der mich die gescheiterte Ehe geworfen hatte, kam sie eines Tages zurück; nicht stofflich, nicht so, als wäre sie zur Tür hereinspaziert und hätte um Vergebung gebeten, sondern als leise Stimme, die sich in meinen Kopf setzte. Sie sagte mir, ich solle wieder anfangen zu schreiben. Sie diktierte mir praktisch den Text, den ich mit unbändigem Tempo und brennender Leidenschaft in meinen MateBook hämmerte, bis mir der Schweiß vom Gesicht lief und mein Kopf vor Schmerzen zu zerspringen drohte. Ich schrieb wie im Rausch, aber in Wahrheit war es ein schrecklicher Zwang, der mich immer weiter vorantrieb, und das ist ein Unterschied. Es hätte mich auseinandergerissen, wenn ich mit der Arbeit aufgehört hätte, bevor nicht die letzte Seite erreicht war. Roswitha brauchte mir diese Erkenntnis nicht ständig ins Ohr zu flüstern, aber sie tat es trotzdem.

In der Küche trank ich ein Glas eiskaltes Sodawasser und begutachtete dabei meinen Arzneivorrat. Kopfschmerztabletten, Neuroleptika, Antidepressiva. Reisetabletten gegen Übelkeit. Nichts, was mir jetzt weiterhelfen konnte. Dann eine fast leere Packung Ibuprofen. Ich nahm die letzten zwei Tabletten und spülte sie mit einem weiteren Glas Soda die Kehle herunter. Im Arbeitszimmer fläzte ich mich auf den Massagesessel, der mich fünf Riesen gekostet hatte, und wartete darauf, das die Tabletten ihre Wirkung entfalteten und die versprochene Linderung einsetzte. Dabei fiel mein Blick auf die zwei Kartons neben dem Schreibtisch. Darin enthalten die Belegexemplare von DIE UNENDLICHKEIT EINSAMER HERZEN. Das Buch, das ich im Fieberwahn runtergeschrieben hatte, und das mein Verleger für das Beste hielt, was ihm in den letzten Jahren untergekommen war. Morgen sollte es erscheinen, aber ich fragte mich, ob es nicht zu spät dafür war. Wer sollte es jetzt noch lesen wollen, nachdem das Ende der Welt eingeläutet worden war? Würde es noch irgend jemanden da draußen geben, der nicht mit sehr viel wichtigeren Aufgaben beschäftigt war, als ein Buch – mein Buch – zu lesen?

Das Telefon klingelte wieder. Ich schrak erst beim zweiten Mal auf, weil ich eingenickt war, sprang auf die Füße und riss den Hörer an mein Ohr.

»Hallo?«

»Von Zimmern? Reginald von Zimmern?«

»Ja?«

»Mein Gott, Sie sind endlich zuhause. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, Sie zu erreichen.« »Ich ... ich war ...«

»Nicht weiter schlimm«, sagte die Stimme, ohne auf meine Antwort zu warten. »Mein Name ist Simon Paschke. Ich habe ihre Bücher gelesen, und ich liiiiebe sie alle.«

Die Worte des freundlichen, jungen Mannes am anderen Ende der Leitung klingelten in meinen Ohren wie das Glockengeläut am Osterfest, waren mehr Balsam als jede Medizin, die ich je eingenommen hatte.

»Das ... freut mich wirklich sehr«, sagte ich sichtlich geschmeichelt.

»Und aus sicheren Quellen hörte ich, dass Sie ein neues geschrieben haben.« »Richtig, ist ab morgen lieferbar.« Mein Blick wanderte zu den Kartons mit den Büchern darin. »Hören Sie, wenn Sie wollen, kann ich Ihnen eins zuschicken, vorausgesetzt natürlich, die Post ist noch funktionstüchtig. Geben Sie mir doch einfach Ihre Adresse und ...«

Wieder ließ er mich nicht ausreden. »Nein nein nein, so machen wir das nicht. Sie wollten doch heute abend Ihr neues Buch vorstellen, haben Sie es etwa vergessen? Warum kommen Sie nicht einfach in die Buchhandlung an der Germaniastraße, so wie Sie es eigentlich vorgehabt haben? Es ist gleich halb acht, Sie haben also noch eine halbe Stunde Zeit. Bitte beeilen Sie sich, Ihre Gäste sind schon ein wenig unruhig.«

Natürlich, die Lesung! Wie könnte ich so etwas vergessen, ein derartiges Ereignis, das meine triumphale Rückkehr auf dem literarischen Parkett bedeutete. Natürlich hatte ich es nicht vergessen, vielmehr hatte ich nicht mehr damit gerechnet, dass es stattfinden würde. Im Geiste sah ich die Gäste frenetisch applaudieren, nachdem meine Worte verklungen und der Zorn und die Wucht meiner Sprache über ihren Köpfen hinweggefegt waren.

Ich machte mich frisch, wechselte in rekordverdächtiger Zeit abermals meine Kleidung gegen einen dreiteiligen grauen Anzug mit schwarzer Weste und stieg in meinen BMW i4. Nachdem ich die Garage verlassen hatte und auf die Nordhausener Straße abbog, musste ich feststellen, dass das Scheinwerferlicht meines Wagens mehr von dem preisgab, was mir zu Fuß bisher verborgen gewesen war. Ich kannte die Stadt gut genug, um zu wissen, dass die Bürgersteige hochgeklappt wurden, sobald das Tageslicht verschwunden war, und dass die Sonnberger sich dann innerhalb ihrer vier Wände wohler fühlten, aber jetzt schienen sie keine Anstalten zu machen, sich an ihre eigenen Regeln zu halten. Das Licht meines Wagens sprang sie regelrecht an, wenn ich um eine Ecke bog oder in eine Kurve ging und sie kurzfristig blendete. Die meisten von ihnen standen an unbeleuchteten Hauseingängen, was mir seltsam erschien. Entweder hielt man es nicht für notwendig, die Lichter am Haus einzuschalten, oder es hatte einen Stromausfall gegeben, kurz nachdem ich meine Wohnung verlassen hatte.

Ein anderes, weit schrecklicheres Bild bot sich mir, als ich an der Schulstraße Ecke Hensenerstraße bei Rot hielt und, während ich darauf wartete, dass die Ampel wieder auf Grün sprang, auf die Fensterreihe im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses aufmerksam wurde. Ich schaltete das Fernlicht ein, da ich alleine an der Ampelkreuzung stand und kaum mit einem Bußgeld zu rechnen hatte; das Licht reichte bis zu den Fenstern und zeigte mir auf gespenstische Weise, dass die Bewohner des Hauses offensichtlich versuchten, die Scheiben einzuschlagen, als hätten sie in ihrer Panik vergessen, den Griff zu benutzen. Schließlich barst unter ihrer gemeinschaftlichen, ungebremsten Gewalt eine der Scheiben, und die Menge drängelte sich nach vorn gegen die Brüstung, bis einer von ihnen gegen die Fensterbank gequetscht wurde, den Halt verlor und kopfüber nach unten stürzte, nicht ohne vorher von den Glasscherben, die noch im Rahmen steckten, aufgeschlitzt zu werden.

Ich wollte nur weg, zögerte aber instinktiv, weil die Ampel immer noch auf Rot war. Mir fiel wieder ein, dass es möglicherweise nicht mehr ausschlaggebend sein würde, auf die Verkehrssicherheit zu achten, und gab Gas. In diesem Moment sprang ein großer Schatten vor meinen Wagen, und schon war es zu einem Unfall gekommen; es gab einen dumpfen Laut, als etwas gegen den linken Kotflügel prallte, gefolgt von einem kurzen, schmerzerfüllten Jaulen, und schon flog eine große Menge an braunem und schwarzem Haar am Fenster der Beifahrerseite vorbei und blieb hinter mir zuckend am Straßenrand liegen. Ich hatte es viel zu eilig, um wieder anzuhalten, und wog meine Not des knappen Zeitmanagement mit der misslichen Lage des angefahrenen Opfers ab. Dann sah ich im Rückspiegel, dass ein hilfsbereiter Mitbürger bereits unterwegs war, um mir die Entscheidung zu erleichtern. Ich erwartete, dass der Mann auf die Knie gehen oder sich wenigstens hinab beugen würde, um Erste Hilfe zu leisten; stattdessen warf er sich auf das Opfer, als wollte er sichergehen, das es nicht weglaufen konnte. Als ich im nächsten Moment auf die Wilhelmstraße bog, war hinter mir ein grässlicher, gequälter Todesschrei zu hören, der mir bis ins Mark ging und selbst aus dieser Entfernung Rachmaninows 1. Sinfonie aus meinem Autoradio übertönte.

Mir blieben noch drei Minuten, als ich auf der anderen Straßenseite der Buchhandlung parkte, aus dem Wagen sprang und zum Eingang eilte. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass sich – obwohl mein letztes Buch vor einer gefühlten Ewigkeit erschienen war – eine Gruppe von Interessenten und Enthusiasten zusammenfand, um in dieser schweren Stunde mein neues Werk zu bestaunen und abzufeiern, und wollte sie deshalb nicht warten lassen. Der Rausch der Glückseligkeit, der mich vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen beflügelte, bekam aber einen leichten Dämpfer, als ich sah, dass im Inneren des Geschäftes Dunkelheit herrschte. Noch ernüchternder fand ich die Tatsache, dass die Eingangstür verschlossen war. Panik überkam mich, gepaart mit einer weiteren Hitzewallung, die meiner nicht vollständig auskurierten Krankheit und der plötzlich entstandenen Stresssituation geschuldet war, und für einen Moment verschwamm die Sicht vor meinen Augen. War die Veranstaltung doch abgeblasen worden, ohne das man mich über den kurzfristigen Entschluss informiert hatte, und musste ich mich alleine durch eine Welt durchschlagen, die von diesem Augenblick an keinen Sinn mehr für mich hatte?

In diesen trüben Gedanken mischten sich die Geräusche eines Schlüssels, der im Schloss herumgedreht wurde, und ich bekam mit – zwar nur verschwommen und wie durch ein umgedrehtes Teleskop blickend – das die Tür aufschwang und sich eine Hand nach mir ausstreckte, um mich an der Schulter zu packen und ins Innere der Buchhandlung zu zerren.

»Bitte tun Sie mir nichts«, rief ich und stolperte zurück, um weiteren Übergriffigkeiten aus dem Wege zu gehen, bis ich mit dem Rücken gegen ein Buchregal stieß.

»'Tschuldigung, Herr von Zimmern, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte der Mann vor mir und hob beschwichtigend seine Hände. »Tut mir leid für meine rabiate Art, aber dies ist eine geschlossene Gesellschaft, und da draußen wird es immer gefährlicher.«

Ich glättete das Sakko und betrachtete dabei mein Gegenüber. Obwohl sich mein Nervenkostüm beruhigt hatte und mein Blick wieder geschärft war, hinderte mich die trübe Dunkelheit, alle Details zu erfassen. »Sie sind der Mann, der mich angerufen hat?«, fragte ich.

Er nickte, kam wieder näher und gab mir die Hand. »Ich bitte nochmals um Verzeihung, ich Dummkopf sollte mich erst einmal vorstellen. Simon Paschke mein Name. Die Eheleute Margarete und Florin Grossarth, die gleichzeitig die Inhaber dieser Buchhandlung sind, sind leider unpässlich und haben mich gewissermaßen beauftragt, diese Veranstaltung zu organisieren und durchzuführen. Glauben Sie mir, ich bin einer Ihrer größten Bewunderer und es ist mir eine grosse Ehre, an Ihrer Lesung teilzunehmen.«

Während er sprach, stutze ich für einen Moment, denn ich glaubte, das gleiche ovale Gesicht vor mir zu sehen, das im Krankenhaus noch von einer langen blonden Haarpracht eingerahmt war, während dieses von einem kurzgeschnittenen Caesar Cut gekrönt wurde, und in dieselben grünen Augen zu blicken, die mich auf Symptome des neuen, hirnfressenden Virus gemustert hatten.

Ich wollte ihn fragen, ob wir uns schon einmal begegnet waren, aber dann schüttelte ich den Kopf, als könnte ich damit diesen irreführenden Gedanken, dass es sich um ein und dieselbe Person handelte, loswerden, zudem wollte ich nicht den Eindruck erwecken, ein schrulliger Kauz zu sein, der ständig glaubt, von Geistern und Dämonen umzingelt zu sein.

»Warum ist es so dunkel hier drin?«, fragte ich stattdessen.

»Der Strom ist ausgefallen«, sagte er. »Erst die Seuche, und jetzt kein Strom mehr. Als hätte sich alles gegen Sie verschworen, als würde man regelrecht verhindern wollen, das Ihr Buch das Licht der Welt erblickt. Tja, aber zum Glück haben die Grossarths die Aufgabe dem Richtigen anvertraut. Aber nun kommen Sie, ich habe alles zu Ihrem Besten vorbereitet, und die Gäste sind bereits voller Ungeduld, Sie begrüßen zu dürfen.«

Er lotste an der Kasse, deren Umrisse grob zu erkennen waren, den Grußkartenständern und an der Kinderbuchabteilung vorbei, und gab mir den überflüssigen Rat, mich am Geländer festzuhalten, als wir die Treppe hinuntergingen, die ins Untergeschoss der Buchhandlung führte. Hier unten in der Belletristik-Abteilung gewahrte ich schwaches Kerzenlicht. Die kleinen Lichter waren vorwiegend auf der linken Seite des Raumes verteilt und wiesen einen Weg zu einem leeren Stuhl, der von einer noch größeren Ansammlung von Kerzen auf fast schon kultische Weise eingerahmt war und auf dessen Sitzfläche die Hardcoverausgabe meines Buches lag. Ich sah zu Simon Paschke hinüber, der mir zunickte und mich mit einem leichten Schubser dazu aufforderte, Platz zu nehmen.

Während ich hinüberging, sah ich mit einiger Faszination, dass die Buchstaben auf den unzähligen Buchrücken, die sich hinter dem Stuhl in den Regalen aneinanderreihten, durch das flackernde Flammenspiel der Kerzen zum Leben erwacht waren und zu tanzen schienen, als wäre es Teil des Rituals, das gleich folgen würde. Ich hob das Buch auf, das seltsam leicht in meiner Hand lag, und setzte mich.

Eigentlich hätte ich mit der Lesung beginnen können. Ich klappte das Buch auf, suchte die Stelle heraus, die ich für diesen Moment ausgesucht hatte, räusperte mich und holte noch einmal tief Luft – dann hielt ich inne.

Ich winkte Paschke zu und flüsterte, als er sich zu mir herabbeugte, nervös: »Wo sind denn jetzt die Gäste?«

»Sie sind alle da«, sagte er, nahm eine der Kerzen zur Hand und ging voraus in den Bereich, der im Dunkeln lag. »Sehen Sie?«

Als sich das schwache Kerzenlicht ausbreitete und die Schatten um ihn herum zurückdrängte, offenbarte sich mir ein Anblick, der nicht hätte grauenhafter sein können. Die Grossarths saßen in der vordersten Reihe der Besucherstühle, zusammengesunken und mit verdrehten Hälsen; ihre Augen waren geschlossen, und aus ihren Mündern hingen die Zungen, als wären sie aus ihnen herausgequetscht worden. Das Licht wanderte weiter und fiel auf das Gesicht von Frau Stickroth – Elisabeth, war ihr Name, glaube ich – in der ein wenig mehr Leben steckte als in dem Ehepaar, das vor ihr wieder in Dunkelheit versunken war, und durch ein strammes Seil an den Stuhl in der zweiten Reihe gefesselt war. Sie betrieb hier in Sonnberg einen literarischen Vlog, in dem sie unter anderem auch meine Bücher unter die Lupe nahm. Ich mochte ihre Art, wie sie an die Lektüre heranging, aber noch mehr mochte ich ihre strahlenden, himmelblauen Augen. Jetzt waren sie nur noch zwei Murmeln, die mich aus einem schmutzigen Gesicht taxierten und aus denen eine heraufdämmernde Gier funkelte, die mir einen Schauer des Entsetzens über den Rücken jagte.

Ich wandte meinen Blick ab und zählte dreizehn weitere Stühle, die von mehr oder weniger bekannten Gesichtern besetzt waren; gnädigerweise blieb mir das komplette Grauen erspart, weil das Kerzenlicht, das Simon Paschke vor sich her trug, immer nur einen Bruchteil des Ensembles beleuchtete.

»Sie sollten jetzt anfangen«, sagte Paschke, als er aus der Dunkelheit zurückgekehrt war und sich neben mir aufstellte. »Oder wollen Sie, das ihre Gäste die Geduld verlieren?«

»Gäste?«, ächzte ich, darüber erstaunt, das ich noch eine Stimme besaß. »So habe ich mir das nicht vorgestellt. Warum sind diese ... Menschen gefesselt? Und was um Himmels Willen ist mit den Grossarths passiert?«

Paschke seufzte. »Leider muss ich eingestehen, dass ich mich am Ende nun doch ihrem Wunsch widersetzt habe, denn sie überlegten, die Veranstaltung abzusagen, und das konnte ich nicht zulassen. Die beiden werden vermutlich kein einziges Wort Ihres brillanten Vortrags mehr wahrnehmen, aber immerhin habe ich dafür gesorgt, das die anderen ganz Ohr sein werden.«

»Diese Leute sind krank, Mann, sehen Sie das nicht?« Ich deutete in die Dunkelheit vor mir, und wie zur Bestätigung bekam ich ein leises Raunzen und Knurren und Stöhnen als Antwort.

»Nicht krank. Hinüber. Sie hatten leider nicht so viel Glück wie Sie und ich und sind gegen das Virus, das sich hinter dem ersten versteckt hat, nicht immun. Die meisten sind es nicht. Wenn es sie erwischt, dauert es ein paar Tage, bis ... naja, am Ende wartet auf jeden nichts weiter als der immerwährende, unstillbare Hunger. Damit die hier Versammelten nicht umsonst die Eintrittskarten gekauft haben, habe ich sie vorher aus ihren Quarantänequartieren hierhergeschafft, was, zugegeben, ein wenig umständlich war. Es dauert nicht mehr lange, bis sie ihren Geist an der Garderobe abgeben, deswegen sollten Sie ihnen eine Chance geben, bevor es zu spät ist.«

Ich betrachtete das Buch in meinen Händen und das Cover, das die Silhouette einer Stadt vor einem Sonnenuntergang zeigte, und dachte kurz über die Worte dieses Mannes nach, der ein Irrer und ein Mörder zu sein schien, aber zugleich auch ein großer Bewunderer meiner Arbeit. Wenn dies das Ende der Welt war – und es sah ganz danach aus – würde es da noch eine Rolle spielen, allzu kleinlich zu sein und mit jedem ins Gericht zu gehen?

Ich nickte ihm zu und begann mit dem, wofür ich hierhergekommen war. Seit der Fertigstellung hatte ich nicht mehr darin gelesen, aber jetzt tauchte ich wieder hinein in den Text, von dem ich wusste, das er nicht von mir stammte. Mit jedem Wort, das über meine Lippen kam, zog sich der Schraubstock enger um meine Kehle, und ich suchte in den Seiten die Stimme Roswithas, die sich darin versteckte. Manchmal, wenn ich eine Pause zwischen den Absätzen machte, blickte ich hoch, als durchstieße ich mit dem Kopf ein gefrierendes Gewässer, um nach Luft zu schnappen, und betrachtete die wieder in Schweigen gefallene Dunkelheit vor mir oder Simon Paschkes vor Entzücken entrücktes Gesicht. Ich hatte es also immer noch drauf, meine Leser in den Bann zu schlagen, aber das Gefühl der Genugtuung wollte sich nicht recht einstellen. Stattdessen beschlich mich so etwas wie eine rastlose Unruhe.

In dem Text, den ich für diesen Abend ausgewählt hatte, ging es um nichts anderes als ... das Ende der Welt. Als hätte mein Buch (nein, es ist Roswithas Buch, bring es jetzt nicht durcheinander) die Wirklichkeit, die in diesen Tagen in einer unwiederbringlichen Katastrophe schlitterte, vorweggenommen, oder – ein noch schlimmerer Gedanke – als trüge es sogar die Schuld daran, indem durch einen geheimen Mechanismus im Text der Untergang heraufbeschworen worden wäre.

Ich verstummte augenblicklich und schlug das Buch zu, um weiteren Schaden zu vermeiden. Roswitha, was hast du getan?

Simon Paschke indessen glaubte, das meine Lesung beendet war, und begann zu applaudieren. »Großartig, Herr von Zimmern, einfach großartig«, sagte er mit ergriffener Stimme und drückte mir einen Kugelschreiber in die Hand. »Wären Sie so freundlich, die Ausgabe zu signieren? Ich habe so lange auf diesen Moment gewartet.«

Es kostete mich Überwindung, das Buch erneut aufzuklappen, aber ich tat es, weil ich darum gebeten wurde.

Als ich mit der linken Hand den Vorsatz glattstrich und den Kugelschreiber auf die weiße Seite ansetzte, wurde ich von einem lauten Poltern unterbrochen. Paschke und ich zuckten gleichzeitig zusammen und starrten erschrocken in den dunklen Bereich vor uns, dort, wo sich die Gäste befanden, dahinsiechend und stumm an ihren Stühlen fixiert, doch mit der Stille war es im nächsten Augenblick vorbei.

Die Umrisse eines Mannes schälten sich aus den Schatten, als er sich zwischen den gefesselten Gästen einen Weg nach vorne bahnte und – nicht so wie Paschke, der vor ein paar Minuten noch darauf bedacht war, niemanden zu berühren – jeden anrempelte, der ihm in die Quere kam. Selbst Elisabeth Stickroth wurde zur Seite gestoßen; sie verlor das Gleichgewicht, kippte samt Stuhl um und landete mit dem Gesicht voran auf den Boden. Der Mann, der daran schuld war, trat wenig rücksichtsvoll mit dem Fuß dicht neben ihrem Kopf auf ihr dunkelblondes Haar, das sich wie Teppichfransen ausgebreitet hatte. Er blieb stehen, als das flackernde Kerzenlicht auf ihn fiel, als würde er davon abgehalten, weiter vorwärts zu preschen.

»Kotzinski«, entfuhr es mir. Ich wusste nicht, ob er mich hörte oder ob er überhaupt noch auf seinen Namen reagierte. Er stand da mit bebendem Brustkorb und blickte zuerst mich und dann Simon Paschke verwirrt an. Sein graues Haar, das er sonst nach hinten gekämmt trug, stand in allen Richtungen ab und bedurfte einer dringenden Wäsche, und sein Bart, sein Henriquatre, nein, sein ganzer Unterkiefer war mit blutverkrusteten Flecken übersät.

Ich kannte Kotzinski schon lange – eine Ewigkeit, wie es mir schien – und er hatte es gleich nach meinem Debütroman auf mich abgesehen. Er ließ seine Rezensionen im Sonnberger Abendblatt abdrucken, und jedes verschwendete Wort, das ich darin las, trieb die Zornesröte in mein Gesicht. Mit teuflischer Vorfreude schien er auf jede weitere Veröffentlichung meiner Bücher zu warten, um sie dann sogleich in der Luft zu zerreißen. Jetzt stand er vor mir, keine drei Meter von mir entfernt. Ich hätte ihn fragen können, was sein Problem war. Genauso gut hätte ich ihm an die Gurgel springen können, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen, aber ich konnte mich zu keines von beidem überwinden.

»Jetzt machen Sie schon«, hörte ich Paschkes Stimme neben mir. »Beeilen Sie sich doch. Bitte.«

Natürlich, die Signierung. Nachdem ich es unterschrieben hatte, riss er mir das Buch und den Kugelschreiber aus der Hand, machte auf den Absatz kehrt und eilte zur Treppe. Ich blickte auf die anderen Ausgaben, die sich neben mir auf einem kleinen Beistelltisch stapelten und die eigentlich auch noch signiert und verkauft werden sollten, aber der Gastgeber hatte die Vorstellung wohl mit seinem Davonstehlen vorzeitig beendet. Ich stand auf und überlegte, mich wenigstens mit einer Verbeugung von meinen Gästen zu verabschieden, aber so wie es aussah, schienen sie – allen voran mein Erzfeind Fritz Kotzinski – keinen Wert darauf zu legen. Die meisten hatten mittlerweile ihren Platz, den Paschke ihnen unfreiwillig vermittelt hatte, verlassen – selbst Elisabeth Stickroth hatte sich inzwischen aus ihrer misslichen Lage befreien können – und rotteten sich hinter dem Kritiker zu einer Art von schwankendem oder trunkenem Rudel zusammen, das mit aus Jagdgier triefenden Augen jede meiner Bewegungen beobachtete.

Ich drehte mich um und sprang die Treppenstufen hoch, tat es Simon Paschke nach, der inzwischen das Parterre erreicht hatte und im Dunkeln auf den Eingang zulief. »Warten Sie«, rief ich ihm zu, »lassen Sie mich nicht allein«.

Paschke schien mich nicht zu hören, vielleicht wollte er mich auch nicht hören, denn es sah so aus, als ginge es ihm primär darum, nichts weiter als seine eigene Haut zu retten. Dafür hörte ich zwei Dinge gleichzeitig: vor mir das Klirren eines Schlüsselbundes, den Paschke aus der Hosentasche zog und den er nun nach dem passenden Schlüssel durchsuchte, und zum zweiten die Meute hinter mir, die sich nun doch – vielleicht von unserer überstürzten Eile wachgerüttelt – in Bewegung gesetzt hatte und, schneller als befürchtet, die Treppe hochstieg.

Ich rannte weiter, verlor aber plötzlich wertvolle Sekunden, als ich mit dem Bein gegen einen in der Dunkelheit verborgenen Hocker kollidierte, den Paschke wohl mit Absicht in meine Richtung gestoßen hatte. »Mann, sind Sie verrückt?«, schrie ich und hielt mir das Knie, während ich weitereilte.

Ich sah, dass die Eingangstür offenstand und die dunklen Umrisse von Simon Paschke einrahmte. Ich sah, wie er das Buch in meine Richtung hielt. »Sie wissen doch, das der Wert eines signierten Buches um ein Vielfaches steigt, nachdem der Autor das Zeitliche gesegnet hat. Danke für diese einzigartige Kostbarkeit.«

Ich hätte es schaffen können und wäre mit einem herzhaften Satz in die Freiheit gesprungen; die Nachtluft hätte den Schweiß auf meinem Gesicht gekühlt, was sich nie besser angefühlt hätte wie in diesem Augenblick, und der Anblick der Sterne hätte mich beruhigen können, während sich mein Atem wieder normalisierte. Als ich aber die Tür erreichte, war sie zu; Paschke hatte sie praktisch vor meiner Nase zugeschlagen und den Schlüssel von außen umgedreht.

Vollkommene Resignation erfüllte mich, und ich ging kraftlos, schweißdurchtränkt und mit schmerzendem Knie an der Tür gelehnt zu Boden. Vor mir bewegte sich die Dunkelheit auf beunruhigende Weise, und der Schrecken, der sich darin verbarg, kam mit wilder Zügellosigkeit und rasendem Hunger auf mich zu. Ich hieß meine Fans ein letztes Mal willkommen und zeigte gleichzeitig Fritz Motzinski den Mittelfinger, als sie sich auf mich stürzten. Ich spürte, wie sich ihre Zähne in mein Fleisch gruben und ihre Hände an mir rissen und zerrten, um an die guten Sachen unter der Haut und der Fettschicht zu kommen, aber mein letzter Gedanke galt nicht dem Schmerz, sondern der Widmung, die ich in Simon Paschkes Buch geschrieben hatte, und das machte es erträglicher.

Wie es sonst üblich war, schrieb ich so etwas wie In Liebe, Reginald von Zimmern ins Buch, doch diesmal hatte ich – wohl auch aus Ehrfurcht vor Roswitha – darauf verzichtet, den Vornamen auszuschreiben. Ich begann tatsächlich zu lächeln, als ich mir im Geiste Simon Paschkes Gesichtsausdruck vorstellte, wenn er las:F U

R. von Zimmern

Bücher vs. Zombies

Nicole Leonas

Ich höre das Splittern der Knochen, als die Verkäuferin dem Kunden in den Arm beißt. Ich höre es noch heute. Jedes Mal, wenn ich in einen Buchladen eindringe, und jetzt besonders, denn zum ersten Mal bin ich wieder hier, in der Kalliope-Filiale, in der alles begann.

Nun ist es ruhig. Niemand blättert mehr in druckfrischen, duftenden Büchern, niemand liest Klappentexte, keiner streicht über die Einbände mit den erhabenen Drucken. Wobei Letzteres vielleicht eine Eigenart von mir gewesen ist. Eigentlich sollte man nicht alles antatschen, wegen der Viren und so. War ja schon damals bei Corona so ne Sache. Nur ist Corona ein Scheißdreck gewesen gegen die Zombieapokalypse. Masken, Nudeln, Klopapier. Jetzt fehlt es an allem.

Der Strahl meiner Taschenlampe gleitet durch den rieselnden Staub zu den Regalen. Die Bestseller liegen wie zu einem Scheiterhaufen aufgestapelt auf dem Boden. Auf der anderen Seite reihen sich historische Romane, Fantasy, Dystopien. Dystopien sind nicht mehr gefragt. Nicht mal mehr bei mir.

Vorsichtig steige ich über das Chaos und arbeite mich zu den Liebesromanen vor. Lissi liebt diesen Schmalz. Ich entscheide mich für drei mit besonders kitschigem Cover und lasse sie in den Seesack meines Vaters gleiten. Aber mein eigentliches Ziel liegt oben, hinter der Rolltreppe: die Sachbuchabteilung. Die vordere Treppe ist verbarrikadiert. Tische, Berge von Büchern blockieren sie, also gehe ich hintenrum. Doch auch hier das gleiche Bild: Totalblockade. Ich lausche in die Stille, leuchte noch einmal in den Eingangsbereich und arbeite mich vorsichtig voran. Als ich ein Stöhnen höre, bleibe ich stehen. In Sekundenbruchteilen halte ich meinen Atlas hoch, die ultimative Kombination aus Waffe und Schild.

Ich sehe sein Bein. Die Wade oben, der Bastard liegt natürlich auf dem Bauch. Er ist unter den Büchern begraben, als hätte sie jemand auf ihn geworfen. Er muss eine Zeitlang ein Schläfer gewesen sein und jetzt aufgewacht, leider noch nicht verhungert. Ich rieche ihn. Das zurückgekehrte – nun ja – Unleben in seinem Körper dünstet den Gestank von faulen Eiern, Fäkalien und Kadaver aus.

Hoffentlich sind da oben nicht noch mehr.

Er hat mich gewittert, ich höre es an seinem lauter werdenden Keuchen und Gurgeln. Ich fege ein paar der Bücher von seinem Körper und fixiere dabei seinen Arm mit dem Fuß. Keinesfalls werde ich ihn am Bein hervorziehen. Das habe ich einmal gemacht und dann das gammlige Fleisch in der Hand gehabt. Wär fast an meiner Kotze erstickt.

Sein Gekeuche macht mich nervös, erneut leuchte ich in Richtung Eingang zur Einkaufspassage. Doch ich bin sicher, dass dort nur die Verhungerten liegen. Die wachen nicht mehr auf.

Der Zombie vor mir grunzt und zappelt. Das dauert mir zu lang. Rasch trete ich die restlichen Bücher von ihm und springe zurück. Er stemmt sich am Rolltreppengeländer hoch, dann fährt er herum und röchelt mich an. Ich atme durch den Mund. Eine seiner Augenhöhlen ist leer, die Lippen nicht mehr identifizierbar, und er ist quasi Haut und Knochen. Wäre wahrscheinlich nächste Woche verreckt. Hab heut wieder echt Glück. Ich stecke die Taschenlampe weg und halte den Atlas mit beiden Armen vor mich, während er auf mich zustolpert, die Hände nach mir ausstreckt. Dann schlage ich zu. Heftig. Er taumelt, fällt auf den Rücken.

Jetzt kommt der wichtigste Teil – und der widerlichste. Ich lasse den Atlas fallen, fixiere seinen Kopf mit der Hand und ziehe meinen Schraubendreher. Dann ramme ich ihn hinter seinem Kinn durch bis ins Hirn. Der Augenblick meiner Entspannung wird jäh von einem Poltern unterbrochen. Da oben ist doch noch was, aber fuck: Jetzt bin ich schon so weit gegangen – ich kann mir das nicht leisten umzukehren. Sollten es zu viele sein, kann ich immer noch abhauen.

Nachdem ich die Blockade beseitigt habe, schnappe ich meinen Atlas, schleiche die Rolltreppe voran und leuchte einmal im Kreis um mich herum durch die obere Etage. Nichts.

Wahrscheinlich irgendwo hinten, in deren Büro. Aber ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich haste zum Gartenregal und scanne die Buchrücken. Menschen glauben, in einem Bücherladen finden sie das Letzte, was sie zum Überleben brauchen, aber sie liegen falsch. Selbstversorger für Dummies, Biosaatgutvermehrung, Kompost-ABC. Ab in den Seesack. Nachbarregal: Vorsorge für unsichere Zeiten ...

»Was machst du da? Klaust du etwa?«, sagt eine Frauenstimme.

Ich schreie auf und lasse das Buch fallen. Fast hätte ich einen Herzinfarkt bekommen. Ich hebe die Taschenlampe und leuchte in ihr Gesicht. Blass, Stupsnase, drumherum zerzauste dunkle Locken. Auf ihrem Pullover ein Mitarbeiterschild. Elisabeth Engel, Praktikantin.

»Klauen kann man nur, wenn es einen Besitzer gibt.« Ich klaube das Buch vom Boden und lasse es in den Seesack fallen. »Die gehören ja wohl nicht dir, Frau Praktikantin.«

Sie verschränkt die Arme. »Jetzt vielleicht schon. Was nimmst du da überhaupt mit? Bist du so ’n Prepper?«

»Dafür ist es ja wohl zu spät. Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Die tausche ich mit anderen Überlebenden. Lebensmittel plündern kannst du seit Monaten nicht mehr. Es fehlt an allem. – Wie hast du überhaupt hier überlebt?« Diese Frage kommt mir so plötzlich in den Sinn, dass ich innehalte und sie skeptisch mustere. Ein bisschen dünn sieht sie schon aus, aber nicht, als würde sie hungern.

Sie lächelt verschmitzt. »Hab das Lager vom Supermarkt nebenan quasi leergeräumt, als es losging. Ich bewege mich fast nicht, trinke nur einen Liter am Tag.«

»Solider Plan.«

»Ich habe mir ein Bett gebaut, aus Klopapierrollen und Wörterbüchern«, faselt sie weiter und kommt auf mich zu. Ihre Augen strahlen Verzweiflung aus. »Wie hast du denn überlebt?«

Ich schweige, ihre Augen glitzern verdächtig. Nach einem Seufzen fahre ich fort: »Bauernhof meiner Eltern. Kühe, Körner, Zäune – es geht.« Ich wende mich ab und versuche, die anderen Buchtitel zu lesen.

»Nimm mich mit, bitte!«

Ich schüttele heftig den Kopf. »Nein, oh nein ... das geht nicht, wir sind übervoll.« Nicht nur meine Eltern und mein Bruder, auch Nachbarn sind bei uns untergekommen mit ihrem Enkel, außerdem zwei meiner Freunde sowie drei unterwegs aufgegabelte Überlebende. »Oberkante, Unter–«

»Ich brauch nicht viel Platz. Ich schlaf im Stall.«

»Ich kenne dich nicht.«

»Elisabeth, ich heiße Elisabeth.« Sie packt mich an der Schulter. »Elisabeth!« Ihre Stimme geht in ein Schluchzen über. »Du kannst mich auch ...«

Ich hebe die Hand. »Na gut, Elisabeth, wir versuchen es. Doch das ist kein Versprechen.«

Sie schließt die Augen, hält die Hand vor den Mund und nuschelt. »Danke.«

»Aber du musst dich verteidigen, wenn wir rausgehen. Hast du irgendwas Langes, Spitzes?«

»Bestimmt, in der Küche. Warte, ich hole – Moment! Du willst aber nicht etwa ohne mich abhauen?«

Ich lege den Kopf schief. »Ich halte mein Wort.«

»G ... gut, bin gleich zurück«, sagt sie mit großen Augen.

Ich sollte gehen, sie zurücklassen, aber ich bringe es nicht übers Herz. Natürlich nicht. Stattdessen durchforste ich weiter das Prepperregal und werfe alles in den Rucksack, was brauchbar erscheint, anschließend noch ein paar Gartenbücher und etwas über Hausapotheke. Ich muss sorgfältig auswählen, die Scheißdinger sind schwer.

Auf dem Nachbartisch stehen Dekoartikel, Duftkerzen, dahinter ist die Kinderbuchecke. Vielleicht noch etwas für Luis, den Enkel der Nachbarn, er ist ja erst fünf. Ich schnappe das erstbeste Buch. Marienkäfer flieg. Darauf ein kugelrunder, lachender Käfer. Neben dem Stapel liegen ein paar ähnlich aussehende Plüschmarienkäfer.

»Ok, das ist das Letzte jetzt«, sag ich zu mir und stopfe einen der lustigen Käfer in den Seesack.

»Was hast du gesagt?«, ruft Elisabeth.

»Nichts – hast du was gefunden?«

Sie hält ein Fleischmesser und einen dünnen langen Messerschärfer mit Griff hoch. »Was sagst du?«

»Hm, nee. Nimm das Messer. Und jetzt hol dir noch ein großes Buch, aber nicht zu schwer. So was wie mein Atlas hier.«

»Ok, bin gleich zurück.«

Euphorisch kehrt sie mit einem Schüleratlas wieder, und wir brechen auf, die Rolltreppe hinunter.

»Was war dein eigentlicher Plan da oben?«, frage ich. »Außer mir geht ja niemand in nen Bücherladen bei ner Apokalypse.«

»Na ja, ich war halt schon hier, und wo sollte ich denn hin? Die Straßen waren voll von den Dingern. Ich dachte, ich würde gerettet werden. In Filmen kommt doch immer das Militär oder so.«

»Soweit ich mich erinnere, kommen die höchstens und räuchern die Stadt aus, werfen Bomben und erschießen alle. Dummer Plan.«

»Immerhin lebe ich noch.«

»Gut, und damit das so bleibt, pass jetzt genau auf. Siehst du den hier?« Ich zeige auf Herrn Rolltreppenzombie und leuchte ihr ins Gesicht. Sie nickt. »Den hab ich beim Hochkommen erledigt. Also, pass auf: Dein Atlas ist dein Schild. Wenn sie auf dich zukommen, halte es ihnen entgegen, vors Gesicht, damit sie dich nicht beißen können. Am besten aber, du haust es ihnen gleich über den Schädel, und zwar so kräftig, wie du kannst. Du willst, dass sie umfallen.«

»Ok, klar, ja, immer auf den Kopf.«

»Genau, und dann musst du schnell sein und nicht zimperlich. Hand auf die Stirn.« Erneut lege ich meine Hand auf den matschigen Untoten und atme durch den Mund. »Und dann stichst du von unten in den Hals, Richtung Hirn. So, und nicht anders, verstanden? Du musst das Stammhirn treffen. Im Rest der Birne ist bei denen eh nichts mehr. Stammhirn – tot, OK?«

»Jaaa«, sagt sie mit einem Elan, als könne sie es kaum erwarten, ihren ersten Untoten zu erlegen.

Schweigend gehen wir zum Ausgang der Filiale. Ich leuchte durch den Gang der Passage. Alles ruhig.

»Es kommt niemand mehr, um uns zu retten, oder?«

Ich schüttele den Kopf. »Aber wir werden sie ausrotten.«

»Wie?«