Mann ohne Herz - Camilla Grebe - E-Book
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Mann ohne Herz E-Book

Camilla Grebe

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Beschreibung

Sommer in Stockholm – doch dieses Verbrechen lässt ihr Herz gefrieren.

Sommer in Stockholm. Die Nächte hell, die Temperaturen ungewöhnlich hoch. Für Siri Bergman ist es der erste Tag in ihrem neuen Job. Nachdem ihre Praxis schließen musste, arbeitet die Psychotherapeutin nun bei der Polizei – als Profilerin soll sie psychologische Täterprofile erstellen. Gleich ihr erster Fall ist von großer Brisanz: Ein Mörder hat es auf attraktive, gut situierte Männer abgesehen – homosexuelle Männer. Er tötet sie und schneidet ihnen das Herz heraus. Ist der Mörder ein verrückter Schwulenhasser? Oder deutet die Grausamkeit der Tat auf einen ganz anderen Zusammenhang hin?

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Zum Buch:

Sommer in Stockholm. Die Nächte hell, die Temperaturen ungewöhnlich hoch. Für Siri Bergman ist es der erste Tag in ihrem neuen Job. Nachdem ihre Praxis schließen musste, arbeitet die Psychotherapeutin nun bei der Polizei – als Profilerin soll sie psychologische Täterprofile erstellen. Gleich ihr erster Fall ist von großer Brisanz: Ein Mörder hat es auf attraktive, gut situierte Männer abgesehen – homosexuelle Männer. Er tötet sie und schneidet ihnen das Herz heraus. Ist der Mörder ein verrückter Schwulenhasser? Oder deutet die Grausamkeit der Tat auf einen ganz anderen Zusammenhang hin?

Zu den Autoren:

CAMILLA GREBE und ÅSA TRÄFF sind Schwestern, aufgewachsen in Älvsjö in der Nähe von Stockholm. Der Roman »Die Therapeutin« – Auftakt der erfolgreichen Reihe um die Stockholmer Psychotherapeutin Siri Bergman – war ihr erstes Gemeinschaftsprojekt, entstanden aus ihrer Liebe zur Kriminalliteratur.

Camilla lebt mit ihrer Familie in Stockholm. Sie hat den Hörbuchverlag »StorySide« gegründet und betreibt ein Beratungsunternehmen.

Åsa arbeitet als Psychologin mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie und betreibt in Stockholm mit drei Kollegen eine Gemeinschaftspraxis. Mit ihrem Mann und zwei Kindern lebt sie in Gnesta.

CAMILLA GREBE & ÅSA TRÄFF BEI BTB

Die Therapeutin. Roman

Das Trauma. Roman

Bevor du stirbst. Roman

CAMILLA GREBEÅSA TRÄFF

Mann ohne Herz

Psychothriller

Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs

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Die schwedische Originalausgabe erschien 2013 unter dem TitelMannen utan hjärta bei Damm förlag, Stockholm.
Copyright © 2013 by Camilla Grebe & Åsa Träff Published by arrangement with Nordin Agency, Sweden Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © Arcangel Images / Elisabeth Ansley; © Shutterstock / HardheadMonster; HorenkO Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-12399-4V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag Besuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de!

Wenn Leben, Freude, Hoffnung, Kräfte kranken,denkst unter Freunden du, ach, niemand hat mich gern.Dann weine ich und herz dich in Gedanken,und seufze, denn du bist von mir so fern.

Das traurige Herz. Volkslied.

Miguel

Miguel Alemany lässt sich auf dem kühlen Ledersitz zurücksinken und schließt die Augen. Er ist schweißnass und merkt, dass sein T-Shirt an der Rücklehne klebt. Der Wagen riecht nach Leder, Wunderbaum und Tabakrauch. Der dicke Taxifahrer mit den üppigen grauen Koteletten und der Nickelbrille raucht offenbar heimlich in seinem Wagen, denn an mehreren Stellen teilen kleine Schilder mit, dass das Rauchen hier verboten ist. Miguel sehnt sich ebenfalls nach einer Zigarette und einer Tasse Filterkaffee. Eine schlechte Angewohnheit, die er sich nach all den Jahren in Schweden zugelegt hat. Der Kaffee in Spanien mag rein objektiv gesehen vielleicht besser sein, aber Miguel hat sich an den seltsamen schwedischen Kaffee gewöhnt. Er sehnt sich danach, mit Jussi in der Küche zu sitzen, Dagens Nyheter zu lesen und Kaffee Marke Gevalia zu trinken. In diesen Momenten geht ihm auf, dass Schweden für ihn zum neuen Zuhause geworden ist. Barcelona ist Kindheit und Jugend, Eltern und Brüder, Schulkameraden und alte Kollegen. Aber sein Zuhause, das ist in der Küche mit Jussi, wenn sie über alles und nichts reden und dabei in der Morgenzeitung blättern und aus diesen lächerlich dünnen Tässchen aus Knochenporzellan Kaffee trinken, weil Jussi eben unbedingt diese Tassen nehmen will.

Am Wagenfenster ziehen Birken und grüne Wiesen mit einem klarblauen Himmel als Hintergrund vorüber. Die E4 weist nur wenig Verkehr auf, und der Fahrer fährt sicher zwanzig Stundenkilometer zu schnell, aber Miguel ist das nur recht. Jetzt will er nur noch nach Hause, zu Jussi.

Er zieht wieder sein Mobiltelefon hervor und stellt fest, dass Jussi nicht auf die SMS geantwortet hat. Vielleicht schläft er noch. Es ist zwar Nachmittag, aber Jussi war angetrunken, als sie letzte Nacht miteinander telefoniert hatten. Miguel hatte geflüstert, um seinen Bruder und seine Schwägerin im Nebenzimmer nicht zu wecken. Jussi dagegen hatte mit lauter Stimme und in seinem finnlandschwedischen Singsang geredet und alles kommentiert, was ihm auf seinem Heimweg vom Fest bei Alexander und Carl eben auffiel: dass die Sonne schon aufging, obwohl es doch erst drei Uhr morgens war, dass die Vögel zwitscherten. Dass das Wasser bei Slussen glitzerte. Und Miguel hatte seine Sehnsucht geflüstert. Dass er Jussi umarmen wolle, ihn küssen, seine blonden Haare streicheln.

Sie lebten inzwischen seit drei Jahren zusammen. Drei glückliche Jahre. Drei Jahre und kaum ein einziger Streit, keine wirklichen Meinungsverschiedenheiten. Miguel hätte es kaum für möglich gehalten, dass es so etwas wirklich gab. Bisher hatte er nur stürmische Beziehungen mit heftigen Streitereien und dramatischen Szenen erlebt. Eifersucht. Lügen. Er hatte die Hoffnung auf ein normales Verhältnis schon fast aufgegeben. Irgendwo im tiefsten Herzen glaubte er, dass es vielleicht die Strafe für sein Schwulsein sei. Wenn er eine Frau geheiratet und Kinder bekommen hätte, wäre alles möglicherweise leichter gewesen. Nicht so spannend, vielleicht. Keine Leidenschaft. Aber einfach. Ein Leben, das funktionierte. Aber dann war Jussi gekommen. Auf den ersten Blick eine extrovertierte Schlagertunte, die sich ab und zu im Fernsehen über Antiquitäten ausließ. Aber hinter diesem Medienbild steckte so viel mehr. Ein einsamer Mann, der nach dem Tod seiner Eltern Helsinki verlassen hatte, um sich in Schweden ein neues Leben aufzubauen. Ein Mann mit einer Leidenschaft für Kunst und Antiquitäten, aber auch für Philosophie und Psychologie. Klug, ruhig, gebildet. Attraktiv. Und er wollte Miguel. Ein Wunder. Keins von der aufsehenerregenden religiösen Sorte. Aber ein echtes Wunder eben doch. Mitten in der Wirklichkeit.

Miguel spürt, wie seine Wangen glühen und wie er hart wird, wenn er an Jussi denkt. An Jussis durchtrainierten Körper, die graublonden Haare und diese gottbegnadeten Hände. Er schaut abermals aus dem Fenster und stellt fest, dass sie fast am Ziel sind. Als das Taxi vor dem Haus hält, vergisst er fast zu bezahlen, und er muss mehrmals um Entschuldigung bitten, während der Fettsack seine Karte durch den Scanner zieht und Miguel gleichzeitig skeptisch mustert, als frage er sich, ob er gerade betrogen wird.

Als er aus dem klimatisierten Taxi steigt, staunt er, wie heiß es ist. Eher wie in Spanien als wie in Schweden, denkt er. In der Nachmittagssonne sehen die grünen Bäume im Stig Claessons Park staubig aus. Der Rasen streckt seine spärlichen gelben Halme gen Himmel und scheint um Regen zu flehen. Miguel zieht seinen funkelnden Samsonite-Koffer hinter sich her und fährt mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Er will zuerst klingeln, überlegt es sich dann aber anders. Wenn Jussi noch immer schläft, will er sich zu ihm legen. Kaffee und Zeitung können warten.

Das Erste, was ihm auffällt, ist der Gestank. So etwas hat er noch nie gerochen. Er überlegt, ob der Kühlschrank defekt ist oder ob Jussi Essen herumstehen lassen hat. Es riecht nach rohem Fleisch, nach Eisen und nach etwas anderem, das er nicht identifizieren kann, ihn aber an verdorbene Lebensmittel und Körperausdünstungen erinnert. Die Wohnung ist still. Er hört nur das schwache Brummen eines Flugzeugs, das vermutlich auf dem Weg nach Bromma über das Haus fliegt, und das rhythmische Ticken der alten Küchenuhr. Er ruft, seine Stimme hallt von den Wänden wider. Keine Antwort. Nur die Stille und dieser widerliche Geruch, der immer aufdringlicher wird. Miguel schaut sich in der Diele um. Jussis Schuhe stehen ordentlich aufgereiht im Regal, jedes Paar mit einem Schuhspanner versehen. Auf dem alten Sekretär liegt die Post auf einem ordentlichen Stapel, daneben die Dagens Nyheter. Er wirft einen Blick auf die Zeitung, stellt fest, dass es die vom selben Tag ist. Jussi müsste also zu Hause sein. Er ruft wieder. Diesmal lauter. Noch immer keine Antwort. Nur die tickende Uhr misst die Sekunden, die spurlos in der Ewigkeit verschwinden. Miguel spürt, wie sich sein Magen zusammenzieht. Es fühlt sich an wie ein Krampf. Etwas stimmt hier nicht. Er weiß nicht, was, aber etwas stimmt hier nicht. Bilder von Jussi, ohnmächtig, tot vielleicht, erstickt an seinem eigenen Erbrochenen, jagen durch sein Bewusstsein, und er muss sich an die Wand lehnen, um nicht zusammenzubrechen. Aus Jussis Arbeitszimmer kommt Licht. Miguel macht einige schnelle Schritte durch den Gang und läuft hinein. Jussi ist nicht dort, aber die Schreibtischlampe brennt. Eine klassische Bibliothekslampe mit grünem Glasschirm und Messingfuß. Auf dem Schreibtisch herrscht dieselbe Ordnung wie in der Diele – mit einer Ausnahme: Auf dem Schreibtisch steht eine ovale Silberschale. Sie füllen sie zu Weihnachten mit Nüssen, und es kommt vor, dass Jussi bunte Smarties hineinschüttet. Miguel staunt, wie arrangiert das alles aussieht, wie ein Stillleben, aufgestellt, um den Blick des Betrachters einzufangen und festzuhalten. Er begreift nicht, was er da sieht. Einen Klumpen aus Fleisch und Häuten in einer schwarzen Flüssigkeit. Miguel steht ganz still. Betrachtet. Denkt, dass es aussieht wie die Innereien eines Tiers. Ihm fällt ein, wie seine Mutter für die Hunde Schweineherzen gekocht hat, als er noch klein war. Genau so sieht es aus. Ihm wird schlecht und schwindlig. Warum sollte irgendwer ein Schweineherz in ihre Silberschale legen? Miguel macht kehrt und geht zum Schlafzimmer. Der Geruch wird immer überwältigender, und das Ticken der Küchenuhr verwandelt sich in der Stille in hallende Hammerschläge. Er will nicht sehen, was sich im Schlafzimmer befindet, aber er muss doch nachschauen.

Das große Doppelbett ist ungemacht. Jussi liegt auf dem Rücken, die Decke bis zum Hals hochgezogen. Dort, wo sein linkes Auge sein müsste, gibt es nur eine rotschwarze Masse, und um den Kopf herum haben sich Blut und etwas, bei dem es sich um Gehirn und Knochensplitter handeln muss, wie ein klebriger Heiligenschein ausgebreitet. Die Haut sieht vor dem roten Hintergrund graubleich aus. Miguel möchte ihn berühren, obwohl er weiß, dass er das nicht tun darf. Langsam geht er zum Bett und streckt die Hand aus, zieht vorsichtig die Decke weg, einen Zentimeter nach dem anderen, bis er das freigelegt hat, was ein Brustkorb sein sollte, jetzt aber nur noch ein klaffendes Loch ist.

Dann erst schreit er.

Siri

Der Mann an der Rezeption vertieft sich in meinen Führerschein und betrachtet skeptisch das Bild einer fast zehn Jahre jüngeren Version meiner selbst. Dann nickt er und reicht mir das rosa Plastikteil zusammen mit einem Besucherausweis, den ich gut sichtbar an meiner Kleidung befestigen soll, zurück.

»Sie wollen also zur TP, der Täterprofilgruppe? Ich ruf mal eben bei Vijay Kumar an, der kann Sie dann abholen.«

Ich nicke ebenfalls und kehre dem Glaskasten den Rücken zu. Vor den großen Türen brennt die Sonne, und obwohl es erst neun Uhr morgens ist, vermute ich, dass die Temperatur schon auf fünfundzwanzig Grad zugeht. Der Sommer in diesem Jahr ist großzügig, Ströme von Licht, Wärme und Pflanzengrün. Es ist zwar erst Anfang Juli, aber die Bucht vor unserem kleinen Haus ist bereits aufgewärmt, und Erik und ich üben fast jeden Abend am Strand Schwimmen, während Markus in den Wellen hin- und herkrault.

»Siri!«

Warme Arme schließen sich um mich, und ich lache, drehe mich um und lächele.

»Willkommen zu deinem ersten Tag hier im Haus. Ich besorg dir dann später eine feste Zugangskarte.« Vijay nickt vage zu meinem Besucherausweis hinüber. Er sieht großartig aus. Seine üppige grau melierte Mähne ist zu einer Art wilden Schmalztolle gekämmt, und seine Haut ist von einem hellen Zimtbraun. Er duftet ein wenig nach Tabak und Rasierwasser.

»Rauchst du wieder?« Ich hebe in übertriebenem Staunen die Augenbrauen.

»Verdammt. Ich hätte nicht gedacht, dass du das merkst.« Er lacht, lässt mich durch die Tür gehen und lotst mich weiter zu einer Treppe. »Bist du nervös? Erster Tag und überhaupt?«

Ich denke über seine Frage nach. Bin ich nervös? Ja und nein. Einerseits überlege ich, worauf ich mich da eingelassen habe. Ich habe mich noch nie mit dem Erstellen von Täterprofilen beschäftigt. Ich bin klinische Psychologin und arbeite seit mehr als zehn Jahren als Psychotherapeutin. Jetzt habe ich das Gefühl, einen großen Schritt ins Unbekannte zu machen. Bei der Polizei zu arbeiten, ist so weit entfernt von meiner alten Wirklichkeit wie überhaupt nur möglich. Zugleich hat sich in meiner Wirklichkeit so viel verändert, so vieles ist auf den Kopf gestellt worden, dass ich das Gefühl habe, dass mich nichts mehr erschüttern kann. Die Dinge in meinem Leben, die ich für konstant gehalten hatte, haben sich in Luft aufgelöst, und die Arbeit zu wechseln, kommt mir im Vergleich dazu fast belanglos vor. Auf eine paradoxe Weise finde ich es fast beruhigend, mich in eine Situation zu begeben, in der ich überhaupt keine Kontrolle über das habe, was passieren kann. Hier rechne ich jedenfalls damit, überrascht und verblüfft zu werden.

Zugleich habe ich Angst. Angst vor dem, was ich hier sehen und hören werde. Ich werde zusammen mit einer Gruppe von Psychologen, Polizisten, Rechtsmedizinern und Kriminaltechnikern bei schweren Gewaltverbrechen Täterprofile erarbeiten. Und ich werde Dinge sehen, die ich vielleicht nicht sehen, mit denen ich nichts zu tun haben will. Ich weiß, dass Vijay ein Risiko eingegangen ist, als er mich als neue Mitarbeiterin für das Team ausgesucht hat. Ich bin ein unbeschriebenes Blatt, habe keine Forschungserfahrung und kenne mich mit der Materie nicht sonderlich gut aus, aber Vijay hat mich und die Gruppe davon überzeugt, dass meine Qualifikationen ausreichen. Er hat mit mir über Intuition und Menschenkenntnis gesprochen, über Kreativität und die Fähigkeit zu unkonventionellen Gedankengängen.

Trotzdem weiß ich nicht so recht, ob er mir die Stelle wirklich wegen meiner Kompetenzen angeboten hat, oder ob es eine Art Rettungsaktion seinerseits ist. Eine Möglichkeit, ein waches Auge auf mich zu haben, dafür zu sorgen, dass ich nicht in einem Nebel aus Alkohol und Depression versinke. Ich bringe es nicht über mich, ihm zu erklären, dass er sich um mich keine Sorgen zu machen braucht, dass in mir eine fundamentale Veränderung stattgefunden hat und dass ich nicht mehr dieselbe Siri bin. Obwohl sich mein ganzes Leben verändert hat, bin ich in einem Punkt sicher: dass ich nie wieder dort enden werde. Ein kleiner Teil von mir scheint stumm geworden zu sein, ohne Resonanz. Dort gibt es keine Gefühle mehr, keine Trauer und keinen Schmerz. Nur Gleichgültigkeit.

»Doch, ich bin nervös.« Ich lächele kurz und nicke. Ich will nicht, dass Vijay auch nur ahnt, was in mir vorgeht.

»Gut, richtig so, finde ich.« Er grinst, und eine Menge weißer Zähne leuchtet in seinem Gesicht auf.

Ich ertappe mich bei der Überlegung, ob er sich die Zähne wohl bleichen lässt. Vijay ist eine seltsame Mischung aus Bohemien und Modegeck. Er spielt gern den zerstreuten Professor, der sich nicht weiter um Äußerlichkeiten kümmert, aber wenn man genauer hinschaut, stellt man meistens fest, dass die abgenutzten Jeans von einer teuren Designermarke sind und dass er über die neuesten Modetrends genauestens informiert ist.

»Komm jetzt, die anderen warten schon.« Er zeigt auf eine angelehnte Tür, und wir betreten einen kleinen Besprechungsraum mit großen Fenstern, die das Sonnenlicht hereinlassen, und mit typischen Büromöbeln aus hellem Holz.

Carin Stolpe steht vor dem Tisch. Hinter ihr an der Wand hängt eine große weiße Tafel voller chaotischer Aufzeichnungen. Blonde Haare rahmen Carins sonnengebräuntes Gesicht ein. Sie sieht auf und erwidert meinen Blick. Ihr Lächeln ist warm, und ich staune darüber, wie jung sie aussieht. Ich weiß, dass Carin um die fünfzig ist, aber sie wirkt mindestens zehn Jahre jünger. Ich frage mich, wie man so gelassen aussehen kann, wenn man dauernd mit Gewalt und Tragik zu tun hat.

»Willkommen bei der Täterprofilgruppe – oder der TP, wie alle hier im Haus sagen. Schön, dass du da bist. Jetzt kannst du endlich auch die anderen aus der Gruppe kennenlernen.« Sie nickt zu den drei anderen hinüber, die am Tisch sitzen.

Ein älterer Mann erhebt sich und nimmt meine Hand. »Hallo, Siri. Willkommen. Örjan Bruse, Polizist und Kriminaltechniker.«

Sein Händedruck ist fest, aber sein Blick landet irgendwo im leeren Raum, als ob er eigentlich nicht mich ansieht, sondern etwas, das sich hinter mir abspielt. Ich mustere ihn. Er ist sicher an die sechzig, groß und schlank. Er trägt ein kariertes Hemd und Jeans, die tatsächlich aussehen, als seien sie gebügelt worden – sie haben vorn eine Bügelfalte. Ich frage mich, ob er vielleicht zu Hause eine übereifrige Frau hat, die sich um die Wäsche kümmert, oder ob er seine Hosen in die chemische Reinigung gibt. Er hat schüttere Haare, und seine goldgerahmte Brille ist hoch auf die Nase geschoben. Ich begrüße ihn, lächele und wende mich dem Nächsten aus der Gruppe zu. Es ist ein Mann in meinem Alter, der so auffällig aussieht, dass ich glauben könnte, er hätte sich in der Tür geirrt, wenn Vijay mich nicht vorgewarnt hätte.

»Hallo. Jimmy Stålfors, Polizist hier in der Gruppe.«

Er trägt ein weißes T-Shirt. Muster von etwas, bei dem es sich um eine riesige Tätowierung handeln muss, lugen aus dem Halsausschnitt hervor und ziehen sich über die Arme wie die Ranken einer Schlingpflanze. Sein glatt rasierter Kopf glänzt im Sonnenlicht, das durch das Fenster strömt. Ich ertappe mich dabei, wie ich seinen Bizeps anstarre, der von einem Totenkopf geschmückt wird. Aus Augenhöhlen und Mund windet sich eine giftgrüne Schlange. Jimmy sieht meinen Blick und lächelt. Er sieht beinahe stolz aus. Wie ein Kind, das durch einen Streich die Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte. Ich nehme an, er ist es gewohnt, dass Menschen ihn anstarren, und genießt es.

»Hallo, Mann!« Jimmy entdeckt Vijay, springt auf, und sie führen eine Art kompliziertes Begrüßungsritual durch, bei dem sich Fingerknöchel und Handflächen berühren. Die Art von Gruß, die ich eigentlich nur von halbwüchsigen Jungs in der U-Bahn kenne. Ich verkneife mir ein Lächeln. Vijay Kumar und Jimmy Stålfors, eine Allianz, die Lust auf mehr macht.

»Willkommen, Siri.« Ein älterer Mann, der eigentlich schon das Pensionsalter erreicht haben müsste, erhebt sich mit einer Geschmeidigkeit, die meinen Neid erregt. Er hat eine schneeweiße Mähne und einen spitzen Bart. Etwas an ihm erinnert mich an eine Figur aus einer Tintin-Geschichte. Er wirkt wie jemand aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit. Er trägt, trotz der Hochsommerhitze, Hemd und ein elegantes Leinensakko. Seine langen, schmalen Finger enden in sorgfältig polierten Nägeln. Er hebt meine Hand, fasst sie mit seinen beiden, verbeugt sich ein wenig und stellt sich als Juan Martina, Rechtsmediziner, vor. Fast erwarte ich, dass er meinen Handrücken küsst.

»Ich glaube, wir machen am besten da weiter, wo wir eben stehen geblieben sind.« Carin lächelt wieder.

Ich setze mich neben Vijay und ziehe Block und Stift hervor, um Notizen machen zu können. Ich komme mir ein bisschen vor wie am ersten Schultag, umgeben von neuen Mitschülern und Lehrern, und ich will unbedingt einen guten Eindruck machen. Ich schaue zur Tafel hinüber. Dort steht in blauer Schrift ein Name: Jussi Ståhl. Ich weiß, wer Jussi Ståhl ist. Wer Zeitung liest oder Fernsehnachrichten sieht, kann den Mord an Jussi Ståhl einfach nicht übersehen haben.

Carin zeigt auf den Namen und tippt danach mit dem Stift auf die Tafel, wie um der Geste besonderen Nachdruck zu verleihen. »Jussi Ståhl, neunundvierzig. Antiquitätenhändler mit eigenem Laden auf Östermalm. Eine Art Promi, der gern Premieren und Empfänge besucht hat. Lebensgefährte von Miguel Alemany, spanischer Künstler, der seit drei Jahren in Schweden lebt.« Carin legt eine Pause ein, trinkt einen Schluck Kaffee aus einem Mumin-Becher und spricht dann weiter: »Am fünften Juni wurde Jussi Ståhl in seiner Wohnung am Beckbrännarbacken auf Södermalm tot aufgefunden. Der Leichnam wurde von Jussis Partner Miguel entdeckt, der gerade von einer Reise zurückgekehrt war. Ihm hat sich da wahrlich kein schöner Anblick geboten.«

Carin beugt sich vor und blättert zwischen den Papieren, die vor ihr auf dem Tisch liegen. Sie zieht ein Bild im A4-Format hervor und befestigt es mit einem Magneten an der Tafel. Auf dem Bild ist ein Mann zu sehen, der in einem Bett liegt. Um seinen Kopf herum hat sich ein rotschwarzer Fleck über Kissen und Laken ausgebreitet, sein nackter Körper sieht unnatürlich weiß aus. Mit einer Ausnahme. Sein Brustkorb hat sich in einen riesigen rotschwarzen Krater verwandelt. Ich kann mir nur mit Mühe klarmachen, was ich da sehe. Alles kommt mir unwirklich vor, fast arrangiert.

»Jussi Ståhl wurde mit einer Neunmillimeter-Waffe in den Kopf geschossen, und zwar aus nächster Nähe«, sagt Carin. »Danach hat der Täter das Herz entfernt. Das wurde später im Arbeitszimmer in seiner Wohnung in einer antiken Silberschale auf Jussi Ståhls Schreibtisch gefunden.«

Ich spüre, wie sich mein Magen zusammenzieht. Dieses Detail haben die Zeitungen nicht erwähnt.

»Juan, kannst du vielleicht etwas mehr darüber erzählen, das fällt doch in dein Ressort«, sagt Carin und weist mit der Hand auf den Rechtsmediziner mit dem spitzen Bart.

Juan Martina nickt, erhebt sich und tritt vor die Tafel. Sehr sorgfältig bringt er unter dem ersten noch weitere Bilder an. Eines ist eine Großaufnahme von etwas, bei dem es sich um ein Einschussloch handeln muss, dazu zeigt es einen skizzierten Körper.

Juan zeigt auf das Einschussloch. »Hier seht ihr das Einschussloch, mitten im linken Auge. So schlimm sieht es gar nicht aus, aber der Hinterkopf bietet einen grauenhaften Anblick, das könnt ihr mir glauben. Was ihr hier seht, ist eine Schussverletzung, die von einer Neunmillimeter-Waffe verursacht worden ist. Wir haben es vermutlich mit einer Pistole zu tun. Um das Einschussloch im Auge wurden eine Menge Pulverfragmente gefunden, das Opfer wurde also aller Wahrscheinlichkeit nach aus allernächster Nähe erschossen. Ich vermute, dass es sich um einen Nahschuss, aber keinen aufgesetzten Schuss handelt. Vermutlich wurde er aus einem halben Meter Entfernung abgegeben. Ich glaube, dass Ståhl im Schlaf erschossen worden ist. Der Tod ist dann sofort eingetreten. Es sieht wie eine typische Hinrichtung aus. Was weniger typisch ist, sind die anderen Verletzungen, die ihr hier am Körper seht.« Er zeigt mit seinem goldenen Füllfederhalter auf das Rote, das einmal Jussi Ståhls Brustkorb war, und fügt hinzu: »Wie ihr seht, ist aus der Wunde im Brustkorb nicht sonderlich viel Blut ausgetreten. Damit wissen wir, dass Jussi Ståhl bereits tot gewesen ist, als der Täter sein Herz aus dem Körper entfernte. Er hat den Brustkorb durch den Brustkasten geöffnet. Das heißt, er hat ihn in Längsrichtung aufgeschnitten. Es sieht aus, als ob er zuerst ein Messer und dann irgendeine Art Schere verwendet hätte, vermutlich eine Baumschere. Danach hat er den Herzbeutel freigelegt und abgeschnitten. Zum Schluss wurden sämtliche Blutgefäße, die zum Herzen führen, gekappt: Aorta, Lungenstamm, Lungenvenen und obere und untere Hohlvenen. Bei der ganzen Sache wurde überaus methodisch vorgegangen. Ich vermute, dass der Täter ein Laie ist, aber ein relativ gut informierter Laie, denn er wusste anscheinend, war er da tat. Ihm ging es alleine um das Herz, die restlichen Organe sind intakt. Ich würde außerdem sagen, dass er offenbar gut vorbereitet gewesen ist. Man öffnet einen Brustkorb nicht mit einer Nagelschere, um das mal so zu sagen. Er muss das hier genau geplant, die nötige Ausrüstung besorgt und sich die Vorgehensweise angelesen haben. Und als er dann so weit war, hat er das Herz in …« Juan bringt ein weiteres Bild an, auf dem ein blutiger Klumpen, ähnlich einem Stück roher Leber, in einer großen verzierten Silberschale mit Fuß zu sehen ist.

Niemand sagt etwas.

Juan deutet ein Lächeln an, und Carin ergreift abermals das Wort. »Irgendwelche Spuren von sexuellen Übergriffen am Leichnam?«

Martina schüttelt den Kopf. »Nichts. Und wenn ich die Techniker richtig verstanden habe, dann wurden am Tatort auch nirgendwo anders biologische Spuren, wie beispielsweise Sperma, gefunden.«

»Das stimmt«, sagt Örjan. »Nichts am Tatort weist auf irgendeine Art von Sexualverbrechen hin, was aber nicht ausschließt, dass es sich nicht trotzdem um ein sexuell gefärbtes Motiv handeln könnte. Überhaupt wurden überraschend wenige Spuren gesichert. Wer immer Ståhl ermordet hat, hat sorgfältig hinter sich aufgeräumt. Hülsen, Fasern, Haare, Fingerabdrücke – wenn ich das richtig verstanden habe, haben die Techniker vor Ort nichts Brauchbares gefunden. Aber Reste der Kugel steckten im Körper und in der Wand hinter dem Bett. Der Täter hat vermutlich ein Neunmillimeter-Vollmantelgeschoss verwendet. Aber er hatte die Spitze abgefeilt, um dieselben Verletzungen zu verursachen wie mit einem Halbmantelgeschoss – oder mit Hohlspitzmunition.«

Carin nickt und übernimmt. »Wir warten noch immer auf den endgültigen Bericht der Ballistiker des SKLs. Wenn wir uns nun der Vorgehensweise des Täters zuwenden, dann vertreten wir die Hypothese, dass Ståhl im Schlaf erschossen wurde, genau wie du gesagt hast, Juan. Was wir nicht wissen, ist, ob er den Täter gekannt und ihn selbst hereingelassen hat, ob der in die Wohnung eingebrochen ist und darauf gewartet hat, dass Ståhl einschläft, oder ob er erst aufgetaucht ist, als sein Opfer schon geschlafen hat. Wir wissen, dass Ståhl am frühen Morgen nach Hause gekommen ist, nachdem er ein Fest bei Bekannten in Gamla Stan besucht hatte. Ein Zeitungsbote hat Jussi um kurz vor vier am Morgen des fünfzehnten Juni allein das Haus betreten sehen, und wir wissen, dass Jussi das Fest gegen drei Uhr verlassen hat, weil er zu Fuß nach Hause gehen wollte. Sein Freund kam am fünfzehnten Juni um drei Uhr nachmittags nach Hause, und da war Jussi seit ungefähr zehn Stunden tot. Die Obduktion hat ergeben, dass der Tod irgendwann zwischen vier und fünf Uhr morgens eingetreten ist. Ein Nachbar erinnert sich, dass er um kurz nach halb fünf von einem Knall geweckt worden ist. Er ist aufgestanden, hat die Zeitung gesehen und gedacht, das Geräusch des Briefkastens habe ihn geweckt. Wir können wohl davon ausgehen, dass er in Wirklichkeit den Schuss gehört hatte.«

Carin trinkt den letzten Rest Kaffee. Auf dem Becher sitzen eng aneinandergeschmiegt Mumin und das Snorkfräulein und schauen in den Sonnenuntergang. Plötzlich kommt mir die ganze Situation unwirklich vor, und einen Moment lang habe ich das Gefühl, zu träumen. Ich denke, dass das hier unter gar keinen Umständen die wirkliche Welt sein kann.

»Der Beckbrännarbacken liegt ein wenig abseits auf Södermalm, und der einzige Augenzeuge ist der Zeitungsbote, der versichert, Jussi gesehen zu haben. Wir haben bisher ungewöhnlich wenige Tipps erhalten, vor allem, wenn wir bedenken, dass es sich hierbei um einen hochprofilierten Fall handelt. Die Kollegen suchen nach einem Motiv, haben bisher aber nichts gefunden, was ihnen interessant vorkommt. Ståhl ist nicht ausgeraubt worden, Geld und andere Wertsachen lagen ganz offen in der Wohnung. Er hatte keine geheimen Affären und scheint auch keine direkten Feinde gehabt zu haben. Sein Partner hat sich zum Zeitpunkt des Mordes in Barcelona aufgehalten, er wirkt aufrichtig erschüttert. Es gibt kein deutliches Motiv, keine Verdächtigen, nichts, was das Verbrechen erklären könnte.«

»Und warum wollen sie uns dabeihaben?« Jimmy Stålfors macht keine Notizen mehr und schaut Carin an.

»Sehr gute Frage. Weil dieser Mord … eigenartig ist. Es gibt Besonderheiten, die wir bei anderen Tötungsdelikten normalerweise nicht finden. Einerseits sieht es aus wie eine regelrechte Hinrichtung. Andererseits hat es etwas zutiefst Persönliches, mit einer Baumschere oder was immer das gewesen sein mag, einen Brustkorb aufzuschneiden. Dass das Opfer erschossen wurde, kann auf den Wunsch des Mörders hindeuten, Distanz zu halten. Aber ein Herz herauszureißen …« Carin schüttelt den Kopf, und Jimmy nickt. Er ist mit dieser Antwort zufrieden.

»Sten Lindell vom Dezernat für Gewaltverbrechen hat um unsere Hilfe gebeten, das Profil eines denkbaren Täters zu erstellen«, sagt Carin. »Also können wir einfach loslegen. Wir fangen damit an, das alles zu lesen«, sie zeigt nach rechts auf die Papierstapel auf dem Besprechungstisch, »und dann müssen wir mehr über unser Opfer in Erfahrung bringen.«

»Wer leitet die Voruntersuchung?«, fragt Örjan.

»Shirin Tahami. Die meisten von euch kennen sie sicher schon?«

Alle nicken.

»Die ist gut«, sagt Jimmy und erwidert meinen Blick.

Carin fängt an, die Unterlagen herumzureichen, und ich nehme mir einen Stapel. Obenauf liegt eine Aktennotiz vom Dezernat für Gewaltverbrechen, aus der hervorgeht, dass um Hilfe durch die TP-Gruppe gebeten wird. Ich nehme das Blatt in die Hand auf und schaue Jussi Ståhl in die Augen. Es ist ein anderes Bild als das, das in der Zeitung zu sehen war. Auf dem Bild lächelt er in die Kamera und hält eine große getigerte Katze im Arm, die er hinter dem Ohr krault. Ich lege die Aktennotiz darüber, um das Bild nicht länger sehen zu müssen.

»Örjan, du und Jimmy, ihr geht den Tatort durch, wir brauchen unsere eigene kriminaltechnische Analyse. Lest alles, was die Kollegen gefunden haben, und dann fahrt ihr zum Beckbrännarbacken.« Carin schaut zu Örjan, der nickt und sich in einem kleinen in schwarzes Leder gebundenen Buch eine Notiz macht.

»Juan, du gehst noch einmal das Obduktionsprotokoll durch. Vielleicht muss da noch etwas vervollständigt werden.« Carin sieht den silberhaarigen Mann fragend an, und der lächelt, fast erwartungsvoll. »Du weißt, dass ich lieber meine eigenen Obduktionen vornehme. Was in diesem Fall ja kein Problem sein dürfte. Unser Freund Jussi geht in der nächsten Zeit nirgendwohin, sondern liegt sicher verwahrt bei uns in Solna.«

»Hervorragend.« Carin macht ein zufriedenes Gesicht und wendet sich mir und Vijay zu. »Ihr macht euch an die Opferanalyse. Wir müssen mehr über Jussi Ståhl wissen. Wer war er? Womit hat er sich beschäftigt? Gibt es Hinweise darauf, dass er vor dem Mord bedroht oder verfolgt wurde? Hatte er wirklich keine Geheimnisse, die ans Licht kommen könnten?«

Ich schreibe Carins Fragen auf, gebe mir alle Mühe, nichts zu verpassen. Vijay hat mir erklärt, dass das Wissen über das Opfer zu den wichtigsten Teilen der Analyse gehört, die die Grundlage für ein Täterprofil bilden.

»Ich werde mir das Verhalten des Täters und seine Interaktion mit dem Opfer ansehen«, sagt Carin. »Noch Fragen?«

Wir schütteln den Kopf, und ich komme mir wieder vor wie in der Schule, mit Carin als netter, aber doch entschiedener Lehrerin.

»Na also. Dann geht’s los.«

Ich sehe sie sofort, als ich meinen Rechner einschalte: eine Mail von Aina. Es ist die letzte eingegangene Nachricht, und der Betreff lautet: Grüße aus der Krankenstube, Teil 10. Wie immer zögere ich für den Bruchteil einer Sekunde, ehe ich sie lösche. Seit einem ganzen Jahr schickt Aina mir jede Woche eine Mail, und jedes Mal lösche ich sie, ohne sie zu lesen. Anfangs hat der Anblick ihres Namens noch eine unbeschreibliche Wut in mir ausgelöst, aber inzwischen lösche ich die Mails fast automatisch. Denke nicht an uns und an das, was wir einmal hatten.

Siri und Aina.

Wir waren unzertrennlich wie Pech und Schwefel. Das sagen alle. Seit dem ersten Studientag die besten Freundinnen. Dann verwirklichten wir unseren Traum und eröffneten im Herzen von Södermalm unsere eigene Praxis. Wir arbeiteten fast die ganze Zeit, aber es kam uns niemals anstrengend vor. Die Grenze zwischen Privatleben und Arbeit war längst verwischt worden, wir waren Geschäftspartnerinnen und beste Freundinnen. Unsere Tage waren eine endlose Mischung aus Arbeit und Spiel und allem, was im Grenzland dazwischen lag. Nicht viel später stieß dann noch Sven dazu. Älter, erfahrener, aber auch mit einem wohletablierten Alkoholproblem, war er in den ersten Jahren ein Gewinn und eine Belastung zugleich. Dann trennte er sich und riss sich zusammen, wie Aina immer sagte. Er ließ sich scheiden, wurde nüchtern, heiratete wieder und verließ die Praxis, um sich selbst zu verwirklichen und seinen neugeborenen Sohn zu betreuen. In dieser Reihenfolge. Als dann das Schreckliche zwischen Aina und mir passierte und sich unsere Wege trennten, war nichts mehr von dem, was wir mit solcher Mühe aufgebaut hatten, übrig. Die Praxis wurde geschlossen. Die Klienten zerstreuten sich in alle Winde. Die Telefone läuteten nicht mehr.

»Kommst du?«, ruft Markus von den Felsen aus.

Ich reiße den Blick vom Bildschirm los, schaue aus dem Fenster. Die tiefstehende Abendsonne malt die Felsen golden und spiegelt sich in der Bucht, die sich spiegelblank bis zum Horizont dahinzieht. Rönnskär zeichnet sich als dunkle Silhouette vor dem hellen Abendhimmel ab. Irgendwo in der Ferne sehe ich ein Segelboot, das in der Flaute den Motor angeworfen hat. Erik hockt auf dem kleinen Sandstreifen, den Markus und ich angelegt haben, weil wir einen kleinen Strand wollten, auf dem unser Sohn spielen kann. Das war zwar kein großer Erfolg – eine Menge Sand wurde schon in der ersten Woche von einem Sturm weggespült –, aber es ist doch noch so viel übrig geblieben, dass Erik dort ab und zu ein wenig spielen kann. Seine orangen Schwimmflügel leuchten im Sonnenlicht, als er einige vorsichtige Schritte hinaus ins Wasser macht. Markus sitzt mit einem Bier in der Hand auf einer Decke und winkt mich zu sich. Er ist nackt, und ich denke, dass es so schön ist, keine Nachbarn zu haben, nackt herumlaufen zu können, ohne daran denken zu müssen, dass uns vielleicht jemand sieht. Der Nachteil ist natürlich, dass fast alles weit weg ist, und wir sogar eine ziemliche Strecke fahren müssen, um die nächste Bushaltestelle zu erreichen.

Ich schiebe das Fenster auf und beuge mich hinaus, atme die warme, feuchte Sommerluft ein, die nach verfaulendem Tang und Hagebutten riecht. »Ich komm gleich. Muss mich nur schnell umziehen. In Ordnung?«

»Umziehen? Du brauchst dich doch bloß auszuziehen.«

»Gib mir nur eine Minute.«

Er sagt nichts dazu, und ich kehre zum Laptop zurück. Beschließe, dass die verbliebenen Mitteilungen warten können, dass im Moment nichts wichtiger ist, als mit Markus und Erik zusammen zu sein.

Ich gehe ins Schlafzimmer, streife mein Kleid ab und werfe es auf das ungemachte Bett. Dann ziehe ich mein rotes Bikiniunterteil an. Es ist abgenutzt und hat seine Form verloren, aber ich habe beschlossen, dass es noch einen Sommer halten muss. Auf dem Weg nach draußen nehme ich eine Flasche kaltes Wasser aus dem Kühlschrank. Obwohl es auf sechs Uhr zugeht, sind es draußen noch immer über fünfundzwanzig Grad.

Das Gras vor der Tür ist trocken und sticht mir in die Fußsohlen. Von der sonst so üppigen grünen Matte sind nur noch einige gelbverbrannte Büschel übrig. Natürlich hatten wir in letzter Zeit auch ein paar heftige Gewitter mit starken Regengüssen, aber die haben nicht gereicht, um unseren ausgedörrten Garten zu bewässern. Inzwischen herrscht totales Gießverbot, und deshalb könnten wir nichts ändern, selbst wenn wir es wollten.

Ich lasse mich neben Markus auf die Decke sinken und gebe ihm einen Kuss. Er riecht nach sonnenverbrannter Haut und Bier. Kleine Schweißtropfen auf seiner Kopfhaut glitzern wie Perlen in der Abendsonne.

»Ich hab meine Mails durchgesehen«, sage ich und öffne die Wasserflasche.

»Etwas von Interesse?«, fragt er und mustert mich aus zusammengekniffenen Augen.

Markus weiß genau, dass Aina mir regelmäßig Mails schickt. Er weiß auch, dass ich diese Mails nicht lese. Meistens schweigt er dazu, aber ab und zu sagt er, was er zu wissen glaubt: dass ich Aina verzeihen und darüber hinwegkommen sollte, vor allem jetzt, da sie so krank ist; dass Hass und Rache an uns zehren, und mich einen hohen Preis bezahlen lassen; dass es das nicht wert ist, dass nichts das wert ist.

»Nein, nichts Besonderes.«

Er scheint sich damit zufriedenzugeben, vielleicht lächelt er ein wenig, ich sehe das nicht so richtig, die Sonne steht so tief, dass ich die Augen zusammenkneifen muss, um nicht geblendet zu werden. Erik spielt noch immer im Sand. Ich kann nicht genau sehen, was er tut, aber es scheint darum zu gehen, mit einem gesprungenen Plastikspaten Sand aus einem Lastwagen in einen anderen zu verladen. Sand klebt an seinem Po, und das erinnert mich daran, dass wir nicht vergessen dürfen, ihn zu duschen, wenn wir ins Haus gehen. Als ich zuletzt sein Bett frisch bezogen habe, war es voller Sand.

Markus legt sich auf den Rücken, schließt die Augen und lässt die Hand auf meinem Oberschenkel liegen. Neben ihm liegen zwei leere Bierflaschen.

»Seid ihr schon lange hier?«, frage ich.

»Mmm. Seit wir vom Kindergarten nach Hause gekommen sind. Ich habe heute ein bisschen früher Feierabend gemacht, deshalb waren wir schon gegen halb vier zu Hause. Es war so verdammt heiß, und Erik war quengelig, aber sobald er die Kleider los war, war er zufrieden. Er kann sich endlos lange mit diesem Sandhaufen da beschäftigen.«

»Das war ein Geniestreich.«

»Genau.«

Er streichelt meinen Oberschenkel, und ich lege mich neben ihn, spüre die Wärme, die der Felsen den Tag über gespeichert hat.

»Noch eine Woche bis zum Urlaub«, murmelt Markus.

Ich gebe keine Antwort, denn ich weiß, dass ich nicht wie geplant zur selben Zeit Urlaub machen kann wie er.

»Wie war es bei der Arbeit? Ich bin wirklich neugierig«, sagt er.

»Du weißt doch alles darüber, wie die Arbeit bei der Polizei so ist.«

Er kneift mich spielerisch in den Oberschenkel. »Nimm dich in Acht. Sonst kommt die Strafe.«

»Das will ich doch hoffen!«

Er lacht leise, stützt sich auf die Unterarme und trinkt noch einen Schluck Bier. »Und jetzt erzähl.«

»Na gut. Wir sollen ein Täterprofil für einen Mord erstellen. Erinnerst du dich an diesen finnlandschwedischen Antiquitätenhändler, Jussi Ståhl, der auf Söder erschossen aufgefunden wurde?«

»Der Schwule?«

»Markus, musst du …?«

»Was denn? Der war doch schwul.« Er grinst mich an, das Bier in der Hand.

Ich seufze.

Markus leert die Flasche und stellt sie mit einem Knall auf den Felsen. Offenbar zufrieden, weil er das letzte Wort hatte.

»Mama, ich hab Hunger!«

Plötzlich steht Erik mit einer Tangdolde in der Hand vor mir. Die Sonne hat seine Haare gebleicht, und weißer Flaum glänzt auf der sonnengebräunten Haut. Ich stecke ihm den Finger in den Bauchnabel, kitzele ihn. Er lacht laut und zeigt dabei die vielen perlweißen Zähnchen.

»Ja, Liebling. Wir essen bald.«

»Ich will jetzt essen«, sagt er, noch immer mit einem Lachen in der Stimme.

»Weißt du, was, Wuschel«, sagt Markus. »Mama darf sich jetzt ein bisschen hier auf den Felsen ausruhen, und wir gehen ins Haus und kochen ihr was Leckeres. Das war heute Mamas erster Tag bei der neuen Arbeit, da braucht sie sicher ein bisschen Ruhe. Sie ist noch nicht richtig daran gewöhnt … an diese Art Arbeit.«

»Arme Mama«, murmelt Erik mit echter Sorge im Blick. »Kriegt man bei der Arbeit nichts zu essen?«

»Doch, wenn man fleißig ist«, sagt Markus.

»Ist Mama fleißig?«, fragt Erik.

»Hm«, sagt Markus. »Ich bin mir sicher, dass sie noch sehr fleißig werden wird, aber im Moment gibt es ganz viele neue Sachen, die sie noch lernen muss.«

»Wie in der Schule?«

»Genau wie in der Schule. Kommst du?« Markus nimmt die leeren Bierflaschen in die eine Hand, die andere fasst nach Eriks, und dann gehen sie zum Haus. Ich sehe meinen nackten Jungs hinterher, als sie durch die Fenstertüren verschwinden, und stelle fest, dass ich wirklich Glück mit ihnen habe.

Die Klimaanlage im Auto ist voll aufgedreht, und kalte Luft umfächelt mein Gesicht und meine Beine. Vijay fährt, und ich schaue aus dem Fenster, sehe draußen die Stadt wie im Film vorüberziehen. Wir fahren am Rålambshovspark vorbei, der aussieht wie ein bunter Teppich aus farbenfrohen Picknickdecken und Sonnenanbetern. Teenager, die Sommerferien haben, fahren auf Skateboards und spielen Beachvolleyball, und kleine Kinder trotten über die vergilbten Rasenflächen, während ihre Eltern im Schatten der hohen Bäume Bier oder Eiskaffee trinken.

»Was sagst du also?« Vijay schaut einen Moment lang nicht mehr die Straße an, sondern mich.

Ich weiß nicht so recht, was er meint. Was ich zu Jussi Ståhls Mörder zu sagen habe oder zur Arbeit ganz allgemein.

»Die Arbeit, meine Liebe. Wie findest du den Job? Und deine neuen Kollegen?«

Ich überlege einen Moment, unsicher, was ich antworten soll. Die ganze Situation kommt mir unwirklich vor. Als wäre ich ein Kind, das Polizei spielt.

»Das ist alles noch so neu. Es sind gerade einmal zwei Tage. Da ist es noch ein wenig zu früh, um etwas zu sagen. Aber alle kommen mir sehr … kompetent und sympathisch vor. Reicht das?«

»Immer diese Diplomatie. Du bist wirklich eine Psychologin bis hinein in die Fingerspitzen, Siri. Es ist schon in Ordnung, eine Meinung zu haben, weißt du.« Vijay schnaubt kurz. »Aber ja, du hast natürlich recht. Sie sind kompetent und sympathisch. Die ganze Bande.«

»Carin, sie ist so … Sie ist irgendwie beeindruckend.« Ich merke, wie schwer es mir fällt, auszudrücken, was ich meine, aber es scheint Vijay keine Probleme zu machen, meinem Gedankengang zu folgen, denn er brummt nur zustimmend.

»Sie ist fast schon beängstigend kompetent. Und nett. Sie fungiert eher als Koordinatorin denn als Chefin, was vielleicht auch nötig ist, wenn man eine Gruppe aus so vielen empfindlichen Egos leiten soll. Wie meinem, zum Beispiel.« Er lacht wieder, rückt seine Sonnenbrille gerade und gibt ein wenig Gas, als wir über Västerbron fahren. »Sie war schon überall im Haus. Hatte mit Kinderpornografie zu tun, mit Vergewaltigungen und Mord. Und sie hat in den USA beim FBI Profiling-Kurse besucht. Wir kennen uns jetzt seit mehr als zehn Jahren, aber wir arbeiten erst seit einigen zusammen.«

»Und Jimmy, wie kommt der dazu?«

Ich schiele zu Vijay hinüber und nehme gleichzeitig einen langen Zug aus meiner Wasserflasche. Ich erwarte ein Lachen und dann einen Scherz, aber Vijay wird ernst.

»Jimmy ist ein überaus fähiger Polizist, der viele Jahre bei der Ermittlung war. Irgendetwas ist passiert. Ich weiß nicht genau, was, aber ich weiß, dass gegen ihn irgendeine Art Bedrohungsbild besteht. Gerüchte behaupten, dass er ein kriminelles Netzwerk infiltriert hat. Etwas ist passiert, und er wäre dabei fast umgekommen. Deshalb wurde er in die TP-Gruppe versetzt. Er ist clever und manchmal etwas überengagiert, deswegen haben sich die Chefs Sorgen um ihn gemacht. Hier arbeitet er nicht so stark operativ und kann ein bisschen runterkühlen. Wir sind ja nicht unterwegs, um Verbrecher zu jagen, sondern beschäftigen uns vor allem mit Schreibtischarbeit.«

»Aber gerade fahren wir zu einem Gespräch mit einem Zeugen. Das muss man doch operativ nennen, oder nicht?«

Vijay schüttelt nur den Kopf und tritt vor einer roten Ampel auf die Bremse. »Du weißt, dass wir nicht operativ arbeiten. Das hier ist keine traditionelle Polizeiarbeit. Wir besorgen Material, um unser Wissen über das Opfer zu erweitern. Das hier ist keine offizielle Vernehmung, sondern nur ein Interview. Aber sicher, es kommt auch vor, dass wir bei einer Vernehmung dabei sind.«

Ich nicke, höre nicht richtig zu, weil Vijay inzwischen mit dieser Dozentenstimme redet, die er bei seinen Studierenden benutzt. Ich denke stattdessen an Jimmy, der in meinen Augen eher an einen steroidstrotzenden Kleingangster erinnert.

»Und was ist mit Örjan Bruse?«

»Örjan Brause?« Vijay sieht sofort munterer aus. »Örjan ist ein Unikum. Er arbeitet seit fast vierzig Jahren bei der Polizei. Zuerst bei der Streife, als die Polizei wirklich noch Streife ging, dann wurde er zur Kripo versetzt. Er war bei fast jeder wichtigen Ermittlung hierzulande dabei. Palme. Der Da-Costa-Mord, die Schüsse auf dem Stureplan, das Sektendrama von Knutby – you name it. Auf den Mann ist Verlass. Er hat ein unglaubliches Gedächtnis, ich glaube tatsächlich, er vergisst rein gar nichts. Er kann ewig lange Passagen aus kriminaltechnischen Berichten zitieren, ohne auch nur einmal nachschauen zu müssen.«

»Örjan Brause?«Ich muss einfach kichern. Der korrekte, ruhige Mann von über sechzig ist so weit von einem Brausekopf entfernt, wie das überhaupt nur möglich ist.

Wir halten in der Heleneborgsgatan, und ich sehe die zwei Türme der Högalidskirche über den Dächern herausragen. Gerade und stattlich stechen sie in den blauen Himmel.

»Hier ist es.« Vijay zeigt auf eine Tür, die in ein Kellerlokal zu führen scheint. »Er wohnt in seinem Atelier. Sagt, dass er es in der Wohnung am Beckbrännarbacken nicht aushält, und daraus kann man ihm wohl keinen Vorwurf machen.«

Vijay macht ein trauriges Gesicht, und für einen Moment kommen mir seine Augen blanker vor als sonst. Er dreht sich zu mir um, lächelt sein weißes Lächeln und zuckt mit den Schultern, aber die Geste hat etwas Überspielendes, als sei er dabei ertappt worden, zu viele Gefühle gezeigt zu haben, und gebe sich jetzt alle Mühe, mir zu signalisieren, dass er wirklich nur professionell betroffen ist.

Miguel Alemany ist einer der schönsten Männer, die ich je gesehen habe. Er hat hohe, markante Wangenknochen und ein kräftiges Kinn, aber in seinem Gesicht dominieren die großen blaugrauen Augen mit den dichten schwarzen Wimpern. Obwohl er aussieht, als hätte er seit einer Woche nicht mehr geduscht oder sich rasiert, und seine Augen geschwollen und rot gerändert sind, sieht er so umwerfend aus, dass mir im ersten Augenblick die Worte fehlen. Vijay dagegen wirkt unbeeindruckt. Er grüßt höflich und stellt mich vor. Ich nehme Miguels Hand, und er lächelt, auch wenn es eher einer Grimasse ähnelt.

Er kehrt uns den Rücken zu und geht ins Lokal. Wir folgen ihm durch einen schmalen Gang mit niedriger Decke und Wänden mit Feuchtigkeitsflecken und abblätternder Farbe. Als wir das große Zimmer erreichen, in dem Miguel arbeitet, bleiben Vijay und ich stehen, überrascht und fasziniert von dem, was wir sehen. Der Raum ist riesig und hat große Fenster zum Riddarfjärd. Norr Mälarstrand und das Stadthaus liegen vor uns, und auf der glitzernden Wasseroberfläche sind weiße Segel zu sehen. Das Atelier ist überraschend aufgeräumt. Vielleicht habe ich Vorurteile gegen Künstler und Bohemiens, aber bei Miguel herrscht penible Ordnung und Stille. Etliche Leinwände sind an eine Wand gelehnt, und in einem Regal sehe ich Papier und Farben. In der hintersten Ecke des Raumes steht ein Futon. Vielleicht schläft Miguel dort.

Er geht weiter in einen Raum, der sich als einfache Küche entpuppt. Weiße Fliesen über einem rostfreien Spülbecken, weiße Schubladen. Alles ist schlicht und minimalistisch. Das Einzige, was auf der Anrichte zu sehen ist, sind eine Kaffeemaschine und eine Schale voll Äpfel. Die Äpfel sind schrumpelig und braun, und ich frage mich, wie lange sie wohl schon dort liegen.

Miguel stellt Tassen und Untertassen auf den abgenutzten Tisch aus Kiefernholz und schaltet die Kaffeemaschine ein, ohne uns zu fragen, ob wir vielleicht lieber Tee wollen. Es ist heiß hier, aber dennoch sind alle Fenster geschlossen, als wollte er die Welt draußen aussperren. Eine Wespe fliegt gegen das schmutzige Küchenfenster. Ich schaue zu Miguel hinüber, registriere seinen leeren Blick und seine abgeknabberten Nägel. Trotz der Hitze trägt er ein langärmliges T-Shirt und lange Hosen. Er scheint gar nicht richtig hier zu sein, als gehe ihn das, was in der wirklichen Welt abläuft, nichts an.

Vor langer, langer Zeit, in einem anderen Leben, so kommt es mir vor, war ich mit Stefan verheiratet. Er beschloss, sich das Leben zu nehmen und mich einsam zurückzulassen. In meiner Erinnerung erscheint mir die Zeit gleich nach seinem Tod als eine Mischung aus Chaos und Lähmung. Eine Zeitlang wachte ich jeden Morgen mit dem Wunsch auf, einfach weiterschlafen zu können, mich weiterhin in einer Welt zu befinden, in der Stefan noch immer warm und lebendig war. Ich ahne, was Miguel durchmacht. Ich möchte ihm die Hand auf den Arm legen oder ihn vielleicht umarmen, flüstern, dass es besser wird, so unglaublich das klingen mag. Aber natürlich tue ich das nicht. Ich beuge mich vor und öffne das Fenster, reiße es sperrangelweit auf und lasse die Wespe hinaus, die in die Freiheit fliegt.

Miguel nickt kurz, als heiße er mein Vorgehen gut. »Haben Sie etwas Neues? Wissen Sie, wer ihn ermordet hat?« Seine Stimme ist rau und heiser, er klingt erkältet.

Ich höre einen vagen Akzent, aber wenn ich nicht wüsste, dass Miguel Spanier ist, würde ich ihn vielleicht überhören. Er dreht sich zu Vijay um, der den Kopf schüttelt.

»Wir wissen nichts Neues. Wie schon gesagt, sind Siri und ich nicht bei der Polizei, wir arbeiten als Psychologen. Wir helfen bei der Ermittlung und versuchen … uns ein Bild von Jussis Mörder zu machen. Und um das tun zu können, müssen wir mehr über Jussi erfahren.«

»Profiler?« Miguel macht ein skeptisches Gesicht. »Das sind Sie also? Ich dachte, die gäbe es bloß in Kriminalromanen und Hollywoodfilmen. Außerdem seid ihr doch gar nicht mehr in, oder? Jetzt sind doch eher Zombies und BDSM-Sex angesagt?« Er klingt sarkastisch und müde.

»Ich fürchte, bei der Polizei herrscht Zombiemangel, auch wenn es vielleicht den einen oder anderen gibt.« Vijay macht ein ernstes Gesicht. »Aber ja, wir könnten uns vielleicht Profiler nennen. Und wir brauchen Ihre Hilfe.«

»Was möchten Sie wissen?« Miguel ist aufgestanden, schenkt uns Kaffee ein und stellt Zucker und Milch auf den Tisch.

Ich schiele zum Datumsstempel auf dem rotweißen Milchkarton hinüber. Die Milch hat ihr Verfallsdatum seit einigen Tagen überschritten. Ich lasse sie stehen, gebe stattdessen mehrere Löffel Zucker in den Kaffee und trinke ihn schwarz.

Vijay und ich haben vorher über unser Gespräch mit Miguel diskutiert und beschlossen, dass Vijay der Aktivere sein soll, der Fragen stellt, während ich passiv bleibe und zuhöre. Einerseits, weil ich mich noch in der Anfängerphase befinde, andererseits, um über das nachdenken zu können, was bei diesem Gespräch gesagt wird, und um Dinge aufzufangen, die Vijay vielleicht entgehen. Im Moment bin ich dankbar dafür. Obwohl ich den Umgang mit Menschen, die gerade eine Krise durchmachen, gewöhnt bin, ist mir noch niemals jemand begegnet, der nicht mit mir sprechen wollte. Doch alles an Miguels Verhalten zeigt, dass das bei ihm der Fall ist. Er will nicht, dass wir hier sind. Er will allein in diesem stickigen Atelier sein, es mit seiner Trauer und seinem Schmerz füllen, anstatt mit Psychologen zu sprechen, die sich als Polizisten ausgeben.

»Wir müssen mehr über Jussi wissen. Wer er war. Zu wem er Kontakt hatte. Wer ihn mochte und wer nicht.« Vijay schafft es, energisch und mitfühlend zugleich zu klingen. Ich habe vergessen, wie gut er mit Menschen umgehen kann.

»Jussi war ein fantastischer Mensch. Ich weiß ja, dass das immer gesagt wird, wenn jemand gestorben ist – dass es ein wunderbarer Mensch ohne jeglichen Fehler war, aber bei Jussi ist es wirklich so. Er war jemand ganz Besonderes.« Miguel sieht uns mit etwas an, das wie Trotz aussieht, er scheint Widerspruch zu erwarten. Und ich denke, dass er das vielleicht wirklich tut.

»Was meinen Sie mit jemand Besonderes?« Vijay scheint von Miguels Feindseligkeit nicht getroffen zu sein, er führt ihn nur behutsam weiter durch das Gespräch.

Miguel seufzt und gibt sich offenbar geschlagen. »Jussi war warm. Engagiert. Liebevoll. Andere Menschen waren ihm wirklich wichtig.«

»In welcher Weise denn?« Vijay stellt die selbstverständliche Frage. Es ist leicht, zu sagen, dass jemand fantastisch war, aber schwerer, zu erklären, wieso.

»Er war einfach richtig, so, wie er war. Hat zugehört, angerufen, geredet. Hat Geld verliehen. Er war ganz einfach da. Er war für alle da.« Miguel scheint nur schwer Worte zu finden. Er schüttelt den Kopf und verstummt.

»Wie haben Sie sich kennengelernt?«

»Das war gleich, nachdem ich vor drei Jahren nach Schweden gekommen war. Ich hatte Freunde hier und wollte nicht für immer in Spanien wohnen bleiben. Ich konnte einen Galeristen für meine Bilder interessieren und … ja, so bin ich hier gelandet.«

»Sie sprechen fantastisch Schwedisch, dafür, dass Sie erst seit drei Jahren hier leben.« Vijays Feststellung kommt ganz spontan.

Miguel nickt. Er scheint an solche Kommentare gewöhnt zu sein. »So bin ich eben. Sprachen lernen fällt mir leicht. Ich kann auch Dialekte oder Personen nachmachen. Das ist meine Partynummer.« Er zuckt mit den Schultern. »Aber egal. Eines Abends war ich mit einigen Freunden in einem Club, wo auch Jussi war. Danach sind wir dann bei ihm zu Hause gelandet. Er wohnte damals auf Östermalm, nur einen Steinwurf von der Kneipe entfernt, wo wir uns kennengelernt hatten. Und danach … ja, danach waren wir zusammen, ganz einfach.«

»War er treu?«

»Was ist das denn für eine Scheißfrage? Meinen Sie, er hat rumgefickt, bloß weil er schwul war? Einem Hetero würden Sie diese Frage niemals stellen, davon bin ich überzeugt.« Seine Wangen sind rot geworden, und zum ersten Mal in diesem Gespräch wirkt Miguel engagiert. »Aber klar. Ja, er war treu. Und ich auch. Nein, es gab keine anderen. Nein, ich glaube nicht, dass er mich hintergangen hat. Nein, wir hatten keinen Sex mit Fremden auf öffentlichen Toiletten. Wir hatten eine gute Beziehung und haben uns aufeinander verlassen. Ich glaube … nein, ich weiß … dass er früher ziemlich viele Liebhaber hatte, aber er hatte es satt. Er wollte etwas anderes.« Miguel macht eine heftige Handbewegung und stößt dabei fast seine Tasse um. Kaffee schwappt über die zerkratzte Tischplatte und bildet kleine schwarze Pfützen. Er macht keine Anstalten, den Kaffee wegzuwischen. Seine Arme sinken einfach nach unten, und er sieht verzweifelt aus.

»Es tut mir leid. Wirklich. Ganz ehrlich. Aber wir müssen das wissen. Wir wollen den Menschen finden, der Jussi das angetan hat, und deshalb müssen wir fragen. Nach allem. Das ist schwierig und abstoßend. Aber es muss sein.« Vijay sieht traurig aus, und ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass ihm jedes Wort ernst ist. Es liegt etwas in seiner Stimme, eine Nuance, ein Gefühl. Etwas, das ich nicht greifen oder identifizieren kann, das aber erahnen lässt, dass ihm dieser Fall vielleicht besonders wichtig ist.

Miguel nickt und macht eine Handbewegung, um zu zeigen, dass es schon in Ordnung ist. Dass Vijay weiterfragen darf.

»Können Sie von seiner Arbeit erzählen? Womit hat er sich beschäftigt?«

»Er war Antiquitätenhändler. Er hatte einen Laden auf Östermalm. Eigentlich mehr ein Einrichtungsgeschäft, in den letzten Jahren hat er auch neue Stücke verkauft. Er nahm Aufträge an, richtete Privatwohnungen und öffentliche Lokale ein. War bei der Antiquitätenrunde und in Einrichtungsprogrammen im Fernsehen dabei. Schrieb für Einrichtungsmagazine. Er … wie sagt man das auf Schwedisch? Er hatte viele Bälle gleichzeitig in der Luft.«

»Wie sah es mit seiner Finanzlage aus? War er in Geldnöten?«

»Im Gegenteil, er hatte eine Menge Geld. War steinreich, ehrlich gesagt. Er hatte von seinen Eltern geerbt und nahm finanzielle Dinge verdammt ernst. Aber da fragen Sie lieber seinen Steuerberater. Ich habe wirklich nicht so den Überblick.«

»Und wer beerbt ihn?« Vijay hat wieder seine bedauernde Miene aufgesetzt, doch Miguel wirkt nicht mehr wütend. Die Fragen nach Geld und Arbeit scheinen ihm weniger wehzutun als die Fragen nach seinem und Jussis Liebesleben.

»Weiß nicht. Wenn ich raten soll, dann werde ich wohl einen Teil des Geldes bekommen. Aber das habe ich der echten Polizei doch schon erzählt. Die hat auch die Adresse von Jussis Anwalt und Steuerberater bekommen. Warum fragen Sie noch mal danach?«

»Weil wir uns ein eigenes Bild machen wollen.« Vijay sieht müde aus.

Ich schaue aus dem Fenster. Eine Möwe kreist über den Dächern. Ich meine, Verkehrslärm und Stimmen zu hören. Das Leben spielt sich dort draußen ab.

»Gab es Leute, die Jussi nicht leiden konnten?«

Miguel lässt sich auf dem Stuhl zurücksinken, sieht uns an und nickt. »Ich dachte schon, Sie würden gar nicht danach fragen. Ja, verdammt. Das können Sie sich doch denken. Jussi war bekannt und schwul. Eine Scheißtunte, wenn man so will. Klar gab es Leute, die ihn nicht leiden konnten. Aber das waren nur solche, die nichts mit ihm zu tun hatten. Alle, die Jussi kannten, mochten ihn auch.«

»Wurde er bedroht? Im Internet? Kamen Drohbriefe?« Vijay ist jetzt interessiert, der traurige Hundeblick ist verschwunden, und er wirkt angespannt.

»Drohmails mit der Ankündigung, dem Schwulen einen Baseballschläger in den Arsch zu rammen und ihn dann umzubringen. Kacke im Briefkasten. Rundum gemeiner Klatsch und Verleumdungen auf Flashback. Beleidigungen, wenn er in der Stadt unterwegs war. Doch, sicher. Aber er hat das alles nicht ernst genommen. Er hatte keine Angst, dass wirklich etwas passieren könnte, wenn Sie verstehen. Ich habe ihm zugeredet. Ich fand, er sollte zur Polizei gehen, aber er meinte, das würde doch nichts bringen. Die Polizei würde die Ermittlungen einfach einstellen. Er sagte, die, die ihn im Netz bedrohten, seien feige. Sie würden sich in der wirklichen Welt niemals in seine Nähe trauen.«

»Und Sie wussten nicht, woher die Bedrohungen stammten?«

»Nein. Nur, dass sie einander ähnelten. Wortwahl, Satzbau. Es war, als ob sie dasselbe Vorbild benutzten. Ich habe Sprachwissenschaft studiert, ehe ich mich ganz auf die Kunst verlegt habe. Und da war etwas in Tonfall und Formulierungen, das fast … identisch klang.«

»Haben Sie die noch? Ich meine, diese Mails?«

Vijay und ich beugen uns beide vor. Obwohl ich während des gesamten Gesprächs geschwiegen und keine Ahnung von Polizeiarbeit habe, weiß ich doch, dass das hier wichtig sein kann. Jussi ist bedroht worden.

»Die echte Polizei hat seine Rechner mitgenommen. Den Scheiß haben wir natürlich nicht aufbewahrt. Sie können sich ja bei Ihren Kollegen erkundigen, wenn Sie mehr wissen wollen. Reden Sie auf der Wache denn nie miteinander?« Seine Stimme klingt wieder abweisend, aber ich ahne, dass es nur eine Verteidigungshaltung ist, eine Möglichkeit, das, was wehtut, noch eine Weile auf Distanz zu halten.

»Wie war es in den Wochen vor seinem Tod? Ist da etwas Besonderes passiert? Etwas, das Sie beunruhigt hat?«

Miguel schüttelt den Kopf. »Alles war wie immer. Genau wie immer …«

Er zieht an den Ärmeln seines verwaschenen Hemdes, scheint trotz der Hitze zu frieren. Dann bricht er ohne Vorwarnung in Tränen aus. Tiefes Schluchzen lässt seinen ganzen Körper zittern, und er kauert sich auf dem Stuhl zusammen, schlingt die Arme um den Körper und weint wie ein kleines Kind. Vijay sieht mich an, und ich nicke.

Es ist Zeit für uns, zu gehen.

Das traurige Herz – 1994

Das körnige Bild zeigte einen dunklen und anscheinend leeren Platz. In der Mitte, neben einem ausgebrannten Personenwagen, war auf dem Boden ein Körper zu ahnen. Er lag ganz still da. Dann bewegte sich etwas über das Pflaster, eine überaus mutige oder auch nur sehr hungrige Person lief im Zickzackkurs über den Platz. Als die Person die halbe Strecke hinter sich gebracht hatte, blitzte es auf dem Dach eines der umstehenden Gebäude auf: Eine einsame Mündungsflamme, ein makabres Feuerwerk zeichnete sich deutlich vor dem dunklen Himmel von Sarajewo ab. Der Mensch, der fast schon die Sicherheit auf der anderen Seite erreicht hatte, brach zusammen und blieb bewegungslos auf dem Boden liegen.

Jens wollte wegschauen, konnte das aber nicht. Die Bilder waren hypnotisierend.

»Bitte. Können wir das jetzt ausschalten, es ist so entsetzlich«, sagte seine Mutter.

Sie sah müde aus. Sie sah in letzter Zeit fast immer müde aus. Ihre Haare zeigten an den Schläfen schon einen Anflug von Silber, und die Ringe unter den Augen waren tiefer geworden und ließen das eigentlich runde Gesicht hohl aussehen. Es lag wohl daran, dass sie die ganze Zeit büffelte und zugleich versuchte, seinen Vater bei Laune zu halten. Das konnte wirklich keine leichte Aufgabe sein.

Sein Vater widersprach nicht, er beugte sich zum Fernseher vor und schaltete ihn aus. Auch er sah müde aus. Seine Haare waren dünn, und sein Körper war um die Schultern schmaler geworden und um die Taille wie eine Cola-Flasche in die Breite gegangen.

»Ich habe jede Woche mit ihnen zu tun«, sagte er. »Den Kriegsveteranen. Was sie erlebt haben, ist … unbeschreiblich. Man kann einfach nicht verstehen, was Menschen sich gegenseitig antun.«