Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Erleben Sie die Märchen und Sagen aus aller Welt in dieser Serie "Märchen der Welt". Von den Ländern Europas über die Kontinente bis zu vergangenen Kulturen und noch heute existierenden Völkern: "Märchen der Welt" bietet Ihnen stundenlange Abwechslung. Ein Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis dieses Buches: Vorwort. 1. Frau Holle. 2. Rothkäppchen. 3. Die Grasmücke. 4. Schneeweißchen und Rosenroth. 5. Aschenbrödel. 6. Die drei Federn. 7. Das Himmelsschäfchen. 8. Martin und Ilse. 9. Von dem Maßholderbaum. 10. Das Feld mit Hagebuchen. 11. Der Wunderstein. 12. Die Schlangenkrone. 13. Die Nelke. 14. Das Waldweibchen. 15. Blaubart. 16. Das Goldvögelchen. 17. Fingerhütchen. 18. König Bubu. 19. Das singende Rohr. 20. Der Knabe und der Vogel. 21. Der kleine Däumling. 22. Schneewittchen. 23. Die drei Gärtnerssöhne. 24. Das gutmüthige Mäuschen. 25. Die singende Puppe. 26. Dornröschen. 27. Die ungleichen Brüder. 28. Der Widder.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 295
Veröffentlichungsjahr: 2012
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Mährchenkranz für Kinder,
der erheiternden Unterhaltung besonders im Familienkreise geweiht
Inhalt:
Geschichte des Märchens
Vorwort.
1. Frau Holle.
2. Rothkäppchen.
3. Die Grasmücke.
4. Schneeweißchen und Rosenroth.
5. Aschenbrödel.
6. Die drei Federn.
7. Das Himmelsschäfchen.
8. Martin und Ilse.
9. Von dem Maßholderbaum.
10. Das Feld mit Hagebuchen.
11. Der Wunderstein.
12. Die Schlangenkrone.
13. Die Nelke.
14. Das Waldweibchen.
15. Blaubart.
16. Das Goldvögelchen.
17. Fingerhütchen.
18. König Bubu.
19. Das singende Rohr.
20. Der Knabe und der Vogel.
21. Der kleine Däumling.
22. Schneewittchen.
23. Die drei Gärtnerssöhne.
24. Das gutmüthige Mäuschen.
25. Die singende Puppe.
26. Dornröschen.
27. Die ungleichen Brüder.
28. Der Widder.
Ein Märchenist diejenige Art der erzählenden Dichtung, in der sich die Überlebnisse des mythologischen Denkens in einer der Bewußtseinsstufe des Kindes angepaßten Form erhalten haben. Wenn die primitiven Vorstellungen des Dämonenglaubens und des Naturmythus einer gereiftern Anschauung haben weichen müssen, kann sich doch das menschliche Gemüt noch nicht ganz von ihnen trennen; der alte Glaube ist erloschen, aber er übt doch noch eine starke ästhetische Gefühlswirkung aus. Sie wird ausgekostet von dem erwachsenen Erzähler, der sich mit Bewußtsein in das Dunkel phantastischer Vorstellungen zurückversetzt und sich, vielfach anknüpfend an altüberlieferte Mythen, an launenhafter Übertreibung des Wunderbaren ergötzt. So ist das Volksmärchen (und dieses ist das echte und eigentliche M.) das Produkt einer bestimmten Bewußtseinsstufe, das sich anlehnt an den Mythus und von Erwachsenen für das Kindergemüt mit übertreibender Betonung des Wunderbaren gepflegt und fortgebildet wird. Es ist dabei, wie in seinem Ursprung, so in seiner Weiterbildung durchaus ein Erzeugnis des Gesamtbewußtseins und ist nicht auf einzelne Schöpfer zurückzuführen: das M. gehört dem großen Kreis einer Volksgemeinschaft an, pflanzt sich von Mund zu Munde fort, wandert auch von Volk zu Volk und erfährt dabei mannigfache Veränderungen; aber es entspringt niemals der individuellen Erfindungskraft eines Einzelnen. Dies ist dagegen der Fall bei dem Kunstmärchen, das sich aber auch zumeist eben wegen dieses Ursprungs sowohl in den konkreten Zügen der Darstellung als auch durch allerlei abstrakte Nebengedanken nicht vorteilhaft von dem Volksmärchen unterscheidet. Das Wort M. stammt von dem altdeutschen maere, das zuerst die gewöhnlichste Benennung für erzählende Poesien überhaupt war, während der Begriff unsers Märchens im Mittelalter gewöhnlich mit dem Ausdruck spel bezeichnet wurde. Als die Heimat der M. kann man den Orient ansehen; Volkscharakter und Lebensweise der Völker im Osten bringen es mit sich, daß das M. bei ihnen noch heute besonders gepflegt wird. Irrtümlich hat man lange gemeint, ins Abendland sei das M. erst durch die Kreuzzüge gelangt; vielmehr treffen wir Spuren von ihm im Okzident in weit früherer Zeit. Das klassische Altertum besaß, was sich bei dem mythologischen Ursprung des Märchens von selbst versteht, Anklänge an das M. in Hülle und Fülle, aber noch nicht das M. selbst als Kunstgattung. Dagegen taucht in der Zeit des Neuplatonismus, der als ein Übergang des antiken Bewußtseins zur Romantik bezeichnet werden kann, eine Dichtung des Altertums auf, die technisch ein M. genannt werden kann, die reizvolle Episode von »Amor und Psyche« in Apulejus' »Goldenem Esel«. Gleicherweise hat sich auch an die deutsche Heldensage frühzeitig das M. angeschlossen. Gesammelt begegnen uns M. am frühesten in den »Tredeci piacevoli notti« des Straparola (Vened. 1550), im »Pentamerone« des Giambattista Basile (gest. um 1637 in Neapel), in den »Gesta Romanorum« (Mitte des 14. Jahrh.) etc. In Frankreich beginnen die eigentlichen Märchensammlungen erst zu Ende des 17. Jahrh.; Perrault eröffnete sie mit den als echte Volksmärchen zu betrachtenden »Contes de ma mère l'Oye«; 1704 folgte Gallands gute Übersetzung von »Tausendundeiner Nacht« (s. d.), jener berühmten, in der Mitte des 16. Jahrh. im Orient zusammengestellten Sammlung arabischer M. Besondern Märchenreichtum haben England, Schottland und Irland aufzuweisen, vorzüglich die dortigen Nachkommen der keltischen Urbewohner. Die M. der skandinavischen Reiche zeigen nahe Verwandtschaft mit den deutschen. Reiche Fülle von M. findet sich bei den Slawen. In Deutschland treten Sammlungen von M. seit der Mitte des 18. Jahrh. auf. Die »Volksmärchen« von Musäus (1782) und Benedikte Naubert sind allerdings nur novellistisch und romantisch verarbeitete Volkssagen. Die erste wahrhaft bedeutende, in Darstellung und Fassung vollkommen echte Sammlung deutscher M. sind die »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm (zuerst 1812–13, 2 Bde.; ein 3. Band, 1822, enthält literarische Nachweise bezüglich der M.). Unter den sonstigen deutschen Sammlungen steht der Grimmschen am nächsten die von L. Bechstein (zuerst 1845); außerdem sind als die bessern zu nennen: die von E. M. Arndt (1818), Löhr (1818), J. W. Wolf (1845 u. 1851), Zingerle (1852–54), E. Meier (1852), H. Pröhle (1853) u. a. Mit M. des Auslandes machten uns durch Übertragungen bekannt: die Brüder Grimm (Irland, 1826), Graf Mailath (Ungarn, 1825), Vogl (Slawonien, 1837), Schott (Walachei, 1845), Asbjörnson (Norwegen), Bade (Bretagne, 1847), Iken (Persien, 1847), Gaal (Ungarn, 1858), Schleicher (Litauen, 1857), Waldau (Böhmen, 1860), Hahn (Griechenland u. Albanien, 1863), Schneller (Welschtirol, 1867), Kreutzwald (Esthland, 1869), Wenzig (Westslawen, 1869), Knortz (Indianermärchen, 1870, 1879, 1887), Gonzenbach (Sizilien, 1870), Österley (Orient, 1873), Carmen Sylva (Rumänien, 1882), Leskien und Brugman (Litauen, 1882), Goldschmidt (Rußland, 1882), Veckenstedt (Litauen, 1883), Krauß (Südslawen, 1883–84), Brauns (Japan, 1884), Poestion (Island, 1884; Lappland, 1885), Schreck (Finnland, 1887), Chalatanz (Armenien, 1887), Jannsen (Esthen, 1888), Mitsotakis (Griechenland, 1889), Kallas (Esthen, 1900) u. a. Unter den Kunstpoeten haben sich im M. mit dem meisten Glück versucht: Goethe, L. Tieck, Chamisso, E. T. A. Hoffmann, Fouqué, Kl. Brentano, der Däne Andersen, R. Leander (Volkmann) u. a. Vgl. Maaß, Das deutsche M. (Hamb. 1887); Pauls »Grundriß der germanischen Philologie«, 2. Bd., 1. Abt. (2. Aufl., Straßb. 1901); Benfey, Kleinere Schriften zu Märchen-forschung (Berl. 1890); Reinh. Köhler, Aufsätze über M. und Volkslieder (das. 1894) und Kleine Schriften, Bd. 1: Zur Märchenforschung (hrsg. von Bolte, das. 1898); R. Petsch, Formelhafte Schlüsse im Volksmärchen (das. 1900).
Märchenkranz für Kinder
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849603014
www.jazzybee-verlag.de
www.facebook.com/jazzybeeverlag
Ob das Mährchen für Kinder gehöre, oder ihnen ganz entzogen werden müsse? Darüber sind die Urtheile noch verschieden.
Viele, – und dies sind die Einsichtsvollsten und Erfahrensten, – erklären sie für ein vortreffliches Bildungsmittel, und wollen sie auf keine Weise aus der Erziehung verbannt wissen. Einige dagegen verwerfen sie als verderblich und schädlich: denn sie meinen, daß durch diese »wunderlichen Zaubergeschichten« der Geschmack nothwendig verderbt, die Phantasie verwöhnt, der Blick in das Leben getrübt, und der Kopf des Kindes mit lauter falschen, abentheuerlichen und verkehrten Ideen angefüllt werden müsse, gerade wie der Roman nachtheilig für die Erwachsenen wirke.
Diese Ansicht ist aber ganz falsch, weil sie gegen alle Erfahrung ist, und gilt höchstens nur von den schlechten, phantastischen Mährchen, die durch übertriebene, wunderbar wechselnde Erscheinungen und bizarre Sprünge belustigen, oder durch allerlei verführerische Liebesabentheuer bezauberter Prinzen und Prinzessinnen das unschuldige Gemüth beflecken, und mit seltsamen, wollüstigen Bildern verunreinigen. Dergleichen Mährchen gehören aber nicht in den Kreis der Kinderwelt, und wer sie da hineinzieht, versündigt sich an dem aufblühenden Geschlecht, und hat sich selbst die Schuld beizumessen, wenn er, anstatt zu nützen Schaden stiftet und verbildet.
Nur von guten Mährchen kann hier die Rede seyn, von solchen, die, mit Beseitigung alles Abentheuerlichen, Fratzenhaften und Gespensterartigen, die Phantasie und das Gemüth des Kindes durch reine, heitere Bilder und Begebenheiten angenehm beschäftigen, und wegen ihres moralischen Inhalts zugleich auch das sittliche Gefühl mannichfaltig wecken und beleben.
Solche Mährchen sind nie schädlich, und wer ihnen ihren Werth in der Erziehung absprechen wollte, der würde das geistige Bedürfniß des Kindes durchaus verkennen, und sich selbst eines der besten und bildendsten Unterhaltungsmittel für die Jugend berauben.
Schon eine flüchtige Beobachtung lehrt uns, daß in den früheren Jahren des Lebens die Phantasie am kräftigsten sich regt, und daß das Wunderbare und Außerordentliche ihre eigentlichste Nahrung zu seyn scheint.
Die Phantasie ist dem Menschen vom Schöpfer als eine freundliche Gespielinn seines Geistes, als die vertrauteste Gesellschafterinn durchs Leben zugesellt; und in dem Triebe zum Wunderbaren liegt der Keim zur Vorahnung eines Höheren und Unendlichen außer uns, welche wiederum die Grundlage aller Religion ist.
Dieser, von dem weisesten Schöpfer selbst gemachten Einrichtung dürfen wir nicht, als etwas Fehlerhaftem, entgegenarbeiten, wir müssen vielmehr die zu höheren Zwecken dem Geiste verliehenen Anlagen mit gebührender Achtung und Sorgfalt bilden und leiten, damit sie nicht, sich selbst überlassen, ausschweifen und entarten, oder endlich ganz verloren gehen.
Und hierzu bietet sich uns kein kräftigeres und zweckmäßigeres Mittel dar, als eben das Mährchen, welches in dem Kindheitsalter der Völker entstanden, dem aufwachenden geistigen Leben des Kindes ganz vorzüglich zusagt, und seinem Bedürfniß befriedigend entgegen kommt.
Daher die allgemeine Erfahrung, daß die Kinder Alles stehen und liegen lassen, uns selbst ihr liebstes Spielwerk bei Seite legen, wenn Mährchen erzählt werden; ja, es ist auffallend, daß sie ein und dasselbe Mährchen wohl hundert Mal, und mit immer gleicher Aufmerksamkeit anhören, da sie bei der Mittheilung wahrer Begebenheiten, oder sogenannter moralischer Erzählungen, nur zu bald ermüden, und Ueberdruß empfinden. Ganz natürlich! Das Kind fühlt sich nie glücklicher, als wenn es imaginirt, und sich sogar in fremde Situationen und Personen dichtet, und es erwacht daher ungern aus diesem zauberischen Traum der Wahrheit, – wie Herder sich ausdrückt.
Man befürchte übrigens gar nicht, daß dadurch die Liebe zum Wunderbaren zu sehr begünstigt, und dem Aberglauben und der Wundersucht eine schädliche Nahrung dargereicht werde! Dem aufkeimenden Kindergeiste ist Alles ein Wunder, und je mehr der Verstand über die Naturgesetze und ihre Wirkungen aufgeklärt wird, desto mehr verliert sich auch das Wunderbare, und dem Kinde bleibt späterhin nur die süße Erinnerung an die heitern Phantasie-Genüsse seines glücklichen Jugendmorgens. –
Aber das Mährchen gewährt nicht nur, neben der Bildung der Phantasie, eine ergötzliche Unterhaltung, es ist auch für die sittliche Erziehung der Jugend von großer Wirksamkeit. Denn es ist nicht zu verkennen, daß in den Mährchen ein Schatz vortrefflicher Sittenlehren enthalten ist, die wegen der ansprechenden Form, in welche sie gehüllt sind, um so eher den Eingang in die jugendlichen Herzen finden, als jene trockenen Belehrungen aus irgend einem Sitten- und Tugend-Katechismus, oder die absichtlich verfaßten moralischen Erzählungen, die oft langweilig genug sind, um alles Interesse daran zu hemmen und zu tödten. Mit Recht bemerkt daher der verewigte Herder, daß in den Mährchen eine Ernte von Weisheit und Lehre liege, und daß keine andere Dichtung dem menschlichen Herzen so feine Dinge so fein zu sagen verstehe, als eben das Mährchen.
Diese Ansichten, die ich für die richtigsten halte, haben mich bestimmt, aus dem großen Vorrathe der mir zu Gebote gestandenen Mährchen diejenigen nach sorgfältiger Prüfung auszuwählen, die mir für das frühere Kindesalter die geeignetsten schienen, und sie den Aeltern und Kinderfreunden, die gern mit den geliebten Kleinen ein Stündchen, besonders im traulichen Familienkreise, verplaudern, als einen angenehmen und bildenden Stoff darzubieten: denn erzählt, oder doch frei vorgelesen müssen die Mährchen werden, wenn sie Reiz behalten, und Wirkung thun sollen1. – Wir besitzen zwar schon eine ähnliche Sammlung in zwei starken Bänden von Löhr; aber ich kann diese nicht unbedingt empfehlen. Sie enthält ein buntes Gemisch von Einheimischen und Fremdartigen, und ein großer Theil der Mährchen ist so beschaffen, daß ich Bedenken tragen würde, sie vor die Anschauung des Kindes zu bringen.
Uebrigens habe ich nicht bloß gesammelt und abgeschrieben, sondern mit mehrern der vorliegenden Mährchen, wie ich glaube, zweckmäßige Veränderungen vorgenommen, und mich bemüht, den Vortrag möglichst leicht, einfach und gemüthlich zu machen, worin die Gebrüder Grimm und ihr Namensverwandter, Alb. Ludw. Grimm, musterhaft sind.
Lehnert.
Fußnoten
1 Für die erwachsenern Kinder habe ich eine eigene Sammlung, gleichzeitig mit diesem Werkchen, herausgegeben, unter dem Titel: »Lehrreiche und unterhaltende Mährchen für die erwachsenere Jugend u.s.w.« Berlin, bei J. G. Hasselberg.
Eine Mutter hatte zwei Töchter, davon hieß die eine Liese, und wiewohl sie faul, ungeschickt und schmutzig war, so war sie dennoch der Liebling der Mutter, welche sie so sehr verzärtelte, daß sie keinen Finger ins Wasser stecken durfte. Die andere hieß Gretchen, und wiewohl diese fleißig, reinlich, ordentlich und gefällig war, so konnte ihre Mutter sie doch wenig leiden. Darum wurden alle schweren Arbeiten ihr aufgelegt, und während die faule Liese noch im Bette lag, mußte Gretchen schon die Stube auskehren, einheitzen und das Frühstück besorgen.
Einmal, als Gretchen so an den Brunnen ging, um Wasser in die Küche zu holen, fiel sie hinein, und ertrank. Da war ihr, als wenn jemand einschläft. Als sie aber erwachte, so befand sie sich im Reiche der Frau Holle, welches zwischen dem Himmel und den Wolken ist. Hier stand sie auf einer schönen Wiese, wo viel tausend Blumen blühten, und Schmetterlinge flogen, und die Sonne viel heller schien, als bei uns auf der Erde.
Gretchen ging die Wiese entlang, und kam in den Obst- und Küchengarten der Frau Holle. Hier stand nicht weit vom Fußsteige ein Backofen, worin Brot gebacken wurde, und sie hörte die Brote zischen:
Wer kommt, uns zu holen!
Sonst brennen wir zu Kohlen!
»Gleich werde ich euch herausziehen!« sagte Gretchen, und trat an den Backofen. Geschickt langte sie die Brote hervor, und legte sie auf ein Brett, welches daneben lag. Dann ging sie weiter, und ihr Weg führte sie zu einem Pflaumenbaume, unter welchem viele Früchte unaufgelesen im Grase umherlagen. Diese aber riefen:
Werden wir nicht aufgenommen,
So müssen wir umkommen!
»Gleich werde ich euch auflesen!« sagte Gretchen, sammelte die Pflaumen in ein Körbchen, das sie unter dem Baume stehen sah, und ging weiter. Da kam sie in den Blumengarten der Frau Holle, und sah zwei schöne Nelken auf dem Beete am Wege stehen, die ließen betrübt ihre Köpfchen hangen, denn sie hatten lange keinen Regen gehabt, und klagten:
Wer kommt, uns zu sprengen!
Sonst wird uns die Sonne versengen!
»Gleich werde ich euch begießen!« rief Gretchen, und nahm eine kleine Gießkanne, welche dabei stand, damit lief sie an den Bach, und besprengte die welkgewordenen Nelken.
Hierauf ging sie weiter, und sah mitten unter Rosengebüsch und schattigen Linden ein freundliches Haus stehen, welches die Wohnung der Frau Holle war. Da die Thüre offen stand, dachte sie: Du mußt doch einmal hineingehen, und sehen, ob da Einer wohnt? Sie trat auf den Hausflur, und rief, ob jemand da wäre? Da sie aber niemanden sah, auch keine Antwort erhielt, so ging sie weiter vorwärts in die Küche. Auch hier war kein lebendiges Wesen zu sehen oder zu hören. Mit klopfendem Herzen ging sie in die Wohnstube, auch die war leer; dann in die Schlafstube – nirgend eine Seele! Daraus schloß sie, daß die Hausfrau ausgegangen seyn müßte, und zwar gleich früh Morgens: denn Stube und Kammer waren noch nicht gekehrt, das Bett nicht gemacht, der Tisch nicht abgewischt. Da dachte Gretchen: Du willst aufräumen! Sie machte das Bett, kehrte die Stube aus, stäubte den Tisch ab, und wusch das Geschirr.
Als sie fertig war, fand sie ein Strickzeug. Das nahm sie in die Hand, und setzte sich damit mäuschenstill in eine Ecke der Kammer neben dem Bette. Mittlerweile kam die Frau Holle nach Hause, und wunderte sich des Todes, daß das ganze Haus in Ordnung gebracht, das Geschirr gewaschen, und die Stuben gekehrt waren. Sie sah aber niemand, bis sie auch in die Kammer trat, und da, neben dem gemachten Bette, das schüchterne Gretchen mit ihrem Strickzeuge sitzen sah.
»Wer bist Du, Kind? Hast Du mir etwa das Haus so schön in Ordnung gebracht?« fragte Frau Holle. Weil sie nun dabei ganz freundlich aussah, auch sonst ein zutrauliches Wesen hatte, außer daß ihr ein großer Zahn aus dem Munde vorstand, so faßte sich Gretchen ein Herz, und erzählte ihr Alles, wie sie in den Brunnen gefallen und ertrunken, dann aber wieder zu sich selbst gekommen sey, und sich in diesem fremden Garten befunden habe. Sie bat dabei die Frau Holle, sie freundlich in ihr Haus aufzunehmen, sie wolle ihr gut thun, und artig und fleißig seyn.
Da sprach die Frau Holle: »Ei, ein so fleißiges und geschicktes Mädchen, als Du bist, kann ich wohl gebrauchen!« und gab ihr zu essen und zu trinken, schöner, als sie es zu Hause gehabt hatte. Sie stellte ihr ein weiches Bettchen in die Kammer, und hielt sie, als ihr eigen Kind. Gretchen aber war fleißig in Stub' und Kammer, in Küch' und Keller, auf Hof und Boden, im Feld' und im Garten, und wenn sie nicht zuweilen Heimweh nach Hause gehabt hätte, so würde ihr gar nichts gefehlt haben.
Einmal aber, als die Mutter Holle gegen Mittag nach Hause kam, früher, als Gretchen sie vermuthet hatte, fand sie dieselbe mit Thränen in den Augen. Da fragte die Frau Holle, was ihr denn fehlte, und ob sie es nicht gut bei ihr hätte. Gretchen antwortete, daß sie es sich niemals besser wünschen könnte, und daß sie sich vollkommen glücklich fühlen würde, wenn sie nicht zuweilen ein zu großes Verlangen nach Hause zu ihren Aeltern hätte, daß ihr das ganze Herz in Wehmuth zerflösse.
Da sagte die Frau Holle: »Du sollst wieder zu Deinen Aeltern, mein gutes Kind! Aber es würde unbillig seyn, wenn ich Dich ohne Lohn entließe, da Du mir so treulich geholfen, und lange Zeit ehrlich und fleißig gedient hast. Komm mit mir in den Garten!«
Hier stand ein schöner Baum, dessen Blüthen waren Goldblätter, und seine Knospen Perlen. Unter diesen mußte sich Gretchen stellen, indeß die Frau Holle ihn schüttelte. Da fielen Goldblätter und Perlen auf Gretchens Kleid, daß es glänzte, wie der Himmel mit tausend Sternen. Kaum war dies geschehen, so fiel Gretchen in einen tiefen Schlaf, und als sie daraus erwachte, so war sie wieder in ihres Vaters Garten, und stand dicht neben dem Brunnen, wo sie in das Wasser gefallen war. Da sie niemanden in dem Garten sah, so ging sie nach der Gartenthüre, die nach dem Hause ihrer Aeltern führte, und trat auf den Hof. Auch hier war kein Mensch zu sehen, denn es war gerade Mittag, und sie saßen Alle bei Tische und aßen. Aber der Haushahn stand auf dem Zaun, und als der Gretchen kommen sah, erkannte er sie, schlug freudig seine Flügel zusammen, und krähete:
Kikeriki,
Unser fleißiges Gretchen ist wieder hie!
Das wiederholte er wohl drei Mal mit lautem Geschrei, so daß der Vater drinnen es hörte, vom Tische aufsprang, und sagte: »Kommt hinaus, und laßt uns sehen, was draußen mit dem Hahn ist, der kräht ja, als wenn er Wunder was zu verkündigen hätte!«
Als sie nun auf den Hof kamen, siehe, da war es Gretchen, welche weinend vor Freude ihrem Vater entgegenflog, und ihn umarmte, und so Alle vom Kleinen bis zum Großen. Da sahen sie Alle verwundernd an, vornehmlich die Mutter und Gretchens Schwester, und fragten, woher sie das schöne, gold- und perlenbesetzte Kleid erhalten hätte. – Nun erzählte Gretchen die ganze Geschichte, wie es ihr gegangen wäre, vom Anfang bis zu Ende.
Das erweckte Liesens Neid, und sie sagte zu ihrer Mutter, ein so schönes Kleid müßte sie auch haben, es möchte kosten, was es wolle. Da gab ihr die Mutter den Rath, sie sollte nur auch in den Garten gehen, und sich mit Fleiß in den Brunnen stürzen; dann würde sie ebenfalls in der Frau Holle Reich kommen, wo sie sich dann ein solches Kleid verdienen könnte. Das ließ sich Jungfer Lieschen gefallen, und stürzte sich mit Fleiß in den Brunnen. Da verlor sie ihre Sinne, und als sie wieder zu sich kam, da war sie richtig in dem Reiche der Frau Holle, gerade so, wie es mit ihrer Schwester geschehen war. Auch ihr zischten aus dem Backofen die Brote entgegen:
Wer kommt, uns zu holen!
Sonst brennen wir zu Kohlen!
Die faule Liese aber sagte: »Ich werde mich hüten, daß ich meine Hände in den Backofen stecke! Da könnte ich mir die Finger verbrennen!« und ging weiter.
Als sie an den Pflaumenbaum kam, unter welchem die heruntergefallenen Früchte im Grase lagen, mochten diese noch so viel rufen:
Werden wir nicht aufgenommen,
So müssen wir umkommen! –
Die faule Liese kehrte sich nicht daran, sondern sprach: »Liegt ihr nur, bis ihr verfault, ich werde mir um euretwillen keinen krummen Rücken machen!« – und ließ sie liegen.
Als sie an das Nelkenbeet kam, riefen ihr die verdorrenden Blumen entgegen:
Wer kommt, uns zu sprengen!
Sonst wird uns die Sonne versengen! –
Sie aber sagte höhnisch: »Das wäre mir gerade recht, daß ich mir die Kleider naß machte!« und ging vorbei. Als sie an das Haus der Frau Holle kam, ging sie ganz dreist durch Hausflur, Küche, Stube und Kammer, und da sie niemand darin fand, so legte sie sich auf das Bett der Frau Holle, um sich auszuruhen.
Als diese nun nach Hause kam, verwunderte sie sich, ein fremdes Mädchen auf ihrem Bette liegen zu sehen, und fragte sie, wer sie wäre? Da sagte sie, sie wäre in den Brunnen gefallen, und als sie wieder zu sich gekommen, so hätte sie sich in diesem fremden Garten befunden. Sie möchte ihr doch sagen, bei wem sie wäre? Da antwortete ihr die Alte, daß sie die Mutter Holle wäre, die den Reif auf die Erde streute, und die Schneeflocken fallen ließe.
»Kann ich wohl bei Euch bleiben?« fragte hierauf das faule Lieschen; und als es ihr die Frau Holle unter der Bedingung erlaubte, daß sie gut und fleißig wäre, so gelobte sie Alles. Aber sie hielt ihr Wort schlecht. Denn wie sie es zu Hause angefangen hatte, so setzte sie es hier fort. Des Morgens wollte sie nicht aus dem Bette; zu jeder Arbeit mußte sie getrieben werden; die Stube fegte sie nur halb rein; die Betten schüttelte sie nicht auf; das Geschirr, das sie scheuerte, blieb blind und schmutzig; einen Topf über den andern warf sie entzwei, und bei Allem, was sie that, verunreinigte sie dermaßen ihre Kleider, daß man sich vor ihr ekeln mußte. Dazu war sie noch naseweis, und als einmal die Frau Holle sie wegen ihrer großen Unordentlichkeit und Faulheit ausschalt, sagte sie ganz trotzig, sie möchte sie nur zu ihrer Mutter zurückschicken, wenn sie es ihr nicht recht machte.
»Lieber heute, als morgen!« antwortete ihr Frau Holle. »Mache nur, daß Du fortkommst: denn ich habe von Dir mehr Schaden als Vortheil, und mehr Verdruß als Freude gehabt.«
Da sprach die verzogene Liese: »Ich bitte mir aber zuvor meinen Lohn dafür aus, daß ich so lange bei Euch gedient, und das Haus in Ordnung gehalten habe.«
»Den sollst Du haben!« erwiederte die Frau Holle. »Komm nur mit in den Garten!« – Da freute sich Lieschen, und meinte, daß nun der Gold-und Perlenregen auf sie fallen würde.
Als sie nun in den Garten gekommen waren, befahl ihr die Frau Holle, daß sie sich unter einen Baum stellen sollte, den sie ihr anzeigte. Als sie dies gethan hatte, schüttelte sie den Baum; aber keine Goldblätter oder Perlen fielen herab, sondern – Pech und Koth; der setzte sich so fest und dick um ihr Kleid, wie ein Mantel, und nachdem dies geschehen war, fiel sie in einen tiefen Schlaf. Als sie erwachte, befand sie sich richtig wieder in ihres Vaters Garten, dicht neben dem Brunnen, in welchen sie sich mit Fleiß gestürzt hatte. Sie sah sich nach allen Seiten um; da sie aber keinen Menschen erblickte, so nahm sie ihren Weg nach dem Hause ihrer Aeltern. Durch die Gartenthüre trat sie jetzt auf den Hof; aber auch hier sah sie niemand, denn sie saßen Alle in der Stube, und aßen Mittagbrot.
Der Hahn aber, als er sie kommen sah, erhob ein großes Geschrei, wie die Hähne zu thun pflegen, wenn sie eine Eule oder sonst etwas Ungewöhnliches erblicken, flog auf den Zaun, schlug die Flügel zusammen, und krähete so laut, daß die ganze Nachbarschaft es hörte:
Kikeriki,
Unsere faule Liese ist wieder hie!
Und das that er wohl drei Mal hinter einander, so daß der Vater und die Mutter und das Gesinde das Krähen hörten, und herausstürzten, weil sie gleich vermutheten, daß Lieschen zurückgekommen seyn würde. So war es auch! Aber wie erschrak und erstaunte die Mutter, als sie ihr Töchterchen erblickte, welches kein Kleid von Gold und Perlen, sondern einen stinkenden Pechmantel um sich hatte. Der Hahn aber krähete immer fort:
Kikeriki,
Unsere schmutzige Liese ist wieder hie!
so daß sie in der ganzen Gegend zum Gespötte wurde.
Es war einmal ein kleines Bauermädchen, das alle Leute lieb hatten, weil es so hübsch, so freundlich und so zuthulich war. Vorzüglich aber liebte die Mutter das holde Kind, und fast noch mehr die Großmutter. Diese ließ ihr ein niedliches rothes Käppchen machen, und das stand der Kleinen so allerliebst, daß man sie von der Zeit an nur immer Rothkäppchen nannte.
Nun hatte eines Tages die Mutter Kuchen gebacken; da rief sie Rothkäppchen zu sich, und sagte: »Geh, Kind, zur Großmutter, und bringe ihr den Kuchen und dies Töpfchen Butter: denn Großmutter ist krank, und sie wird sich freuen, Dich bei sich zu sehen. Bleibe aber immer hübsch auf dem Wege, und gehe nicht in den Wald, da wohnt der garstige Wolf, der könnte Dich beißen.«
Rothkäppchen nahm den Kuchen und das Töpfchen, und machte sich auf den Weg zur Großmutter, die hinter dem Walde wohnte.
Als sie nun unterwegs am Walde vorbeikam, schien die Sonne recht lieblich hinein, und sie sah gar schöne Blumen darin stehen. »Ach, die muß ich mir pflücken!« sagte Rothkäppchen, »so vorn im Walde wird wohl der böse Wolf nicht seyn.« Da ging sie hinein und pflückte die Blumen, und weil sie nun immer schönere Blumen sah, die sie auch gern haben wollte, so gerieth sie immer tiefer in den Wald.
Da kam der Wolf an, und wollte Rothkäppchen fressen; doch getraute er es sich nicht, weil Holzhauer in der Nähe waren. Er nahm also zur List und Verstellung seine Zuflucht, und fragte Rothkäppchen recht freundlich, wo sie denn schon so früh hin wolle?
»I nun, zur Großmutter will ich,« antwortete Rothkäppchen, »die ist krank, und kann nicht aus dem Bette; da bring' ich ihr einen Kuchen und etwas Butter, welches ihr die Mutter schickt.«
»Wo wohnt denn Deine Großmutter?« fragte der Wolf weiter. Und Rothkäppchen antwortete: »Die wohnt nicht mehr weit von hier, dort hinter dem Walde im grünen Hause, unter den drei Eichen, und stehen schöne Haselhecken um den Garten, da wachsen schöne Nüsse d'rauf, die schenkt mir die Großmutter alle.«
»Schön, schön,« sagte der Wolf, »da will ich sie doch auch einmal besuchen!« Und damit lief er quer durch den Wald, so schnell er konnte; Rothkäppchen aber ging ganz gemächlich ihres Weges, und pflückte sich noch manche Blume, und griff nach den bunten Schmetterlingen, die um sie herflatterten.
Der Wolf war bald vor das Haus der Großmutter gekommen. Er pochte an: Poch! poch! –
»Wer ist da?« rief die Großmutter. Und der Wolf antwortete: »Ich bin's, Euer Enkelchen Rothkäppchen; ich bringe Euch einen Kuchen und ein Töpfchen Butter, welches die Mutter Euch schickt; macht auf!« Das Alles aber sagte er so natürlich, und machte Rothkäppchens Stimme so gut nach, daß die Großmutter gar nicht zweifelte, es sey ihr Enkelchen, und hinausrief: »Schieb nur den Riegel weg, mein Kind, dann geht die Thüre von selbst auf.«
Das that auch der Wolf; und wie er nun im Hause war, da stürzte er auf die alte gute Frau los, und verschluckte sie in einem Augenblick ganz und gar: denn er hatte erschrecklichen Hunger, und in mehr als drei Tagen nichts gegessen.
Hierauf machte er die Thüre wieder zu, und zog der Großmutter Kleid an, und setzte ihre Haube tief in's Gesicht; dann legte er sich in's Bette, und zog die Vorhänge zu, damit ihn Rothkäppchen nicht so leicht kenne: denn er wollte sie auch noch fressen.
Nach einem Weilchen kam Rothkäppchen ebenfalls an, und pochte an die Thüre. »Wer ist da?« rief der Wolf mit seiner rauhen Stimme. Darüber erschrack Rothkäppchen ein wenig; doch da sie glaubte, die Großmutter möchte wohl den Schnupfen haben, so faßte sie sich wieder, und sagte: »Ich bin es, Euer Enkelchen Rothkäppchen; ich bringe Euch einen Kuchen und ein Töpfchen Butter, welches die Mutter Euch schickt; macht auf!« – Mit etwas milderem Tone sprach nun der Wolf: »Schieb nur den Riegel fort, mein Kind, dann geht die Thüre von selbst auf.«
Das that Rothkäppchen; und als sie nun in die Stube trat, da kroch der Wolf tiefer in's Bette, und sagte: »Stelle den Kuchen und das Töpfchen mit Butter dort auf den Backtrog, und dann komm ein Bischen zu mir in's Bette: denn ich kann nicht aufstehen.«
Nachdem sich nun Rothkäppchen zu dem Wolfe in's Bette gelegt hatte, wunderte sie sich über das häßliche Aussehen der Großmutter, und sagte ängstlich: »Ach, Großmutter, was habt Ihr für große Ohren?«
»Daß ich Dich besser hören kann!« sagte der Wolf.
»Großmutter, was habt Ihr für große Augen?« fragte Rothkäppchen wieder.
»Daß ich Dich besser sehen kann!«
»Ach, Großmutter,« fuhr Rothkäppchen fort, »was habt Ihr für lange Beine?«
»Die hab' ich, um besser laufen zu können!«
Und wieder sprach Rothkäppchen: »Ach, Großmutter, was habt Ihr für lange Arme?«
»Um Dich besser umarmen zu können!«
»Ach, Großmutter!« rief Rothkäppchen noch ein Mal, »was habt Ihr für lange Zähne?«
»Die hab' ich, daß ich Dich besser verschlingen kann!« schrie der Wolf, und bei diesen Worten warf sich das garstige Thier über Rothkäppchen her, und verschluckte sie im Nu. Darauf, weil er zu voll war, schlief er ein, und schnarchte ganz greulich.
Während er nun so schlief, ging der Jäger vorbei, und als er die Thüren offen stehen sah, und drinnen so laut schnarchen hörte, dachte er: Was ist das? Du willst doch ein Bischen hineinsehen. Als er nun den Wolf im Bette sah, aber nicht die Großmutter, so merkte er gleich, daß der Wolf die Großmutter würde gefressen haben. Aber er wollte nicht schießen, damit er die Großmutter nicht mit träfe: denn die möchte vielleicht wohl noch leben; er nahm also sein Jagdmesser, und schnitt dem Wolf den Bauch auf. Siehe, da springt erst Rothkäppchen heraus, und sagt: »Wie war ich erschrocken! es war so dunkel im Wolfsbauche.« Hierauf holt der Jäger die Großmutter auch hervor.
Da waren alle drei vergnügt; Rothkäppchen aber am meisten. »Ach,« sagte sie, »Mutter hat mich wohl gewarnt vor dem garstigen Wolfe, aber ich habe ihr nicht gefolgt; nun will ich mein Lebtage nicht wieder thun, was die Mutter verboten hat!«
Eine Grasmücke hatte einmal zwei Eier in ihr Nestchen gelegt, und war davon geflogen, um sich ein Paar Fliegen und Raupen zum Mittagessen zu holen. Es hatte sie aber ein träger Kuckuck von ihrem Neste wegfliegen sehen; da flog er hin, und warf eins von den Grasmücken-Eiern heraus, und legte dafür ein Kuckucksei hinein. Dann flog er wieder fort, und dachte: Die Grasmücke mag das Ei ausbrüten, und mein Kuckuckssöhnchen groß ziehen. Die Grasmücke hatte es aber nicht gemerkt, daß sie ein fremdes Ei in ihrem Neste habe, und brütete Tag und Nacht, bis sie nach einiger Zeit zwei junge Vögelchen ausgebrütet hatte. Sie sahen aber einander gar nicht ähnlich. Das junge Grasmückchen war gar zart gebaut, aber der junge Kuckuck hatte einen gewaltig großen Bauch, und schrie den ganzen Tag: »Mutter, essen! Mutter, essen!« Und wenn die Mutter mit einer Raupe oder Fliege nach Hause geflogen kam, so schnappte der Kuckuck immer zuerst danach, so daß das kleine Grasmückchen fast nichts bekam. Er machte sich auch in dem Nestchen so breit, daß das kleine Grasmückchen keinen Platz hatte zum Sitzen.
Es waren aber noch nicht zwei Wochen vergangen, da sagte einmal der Kuckuck zum Grasmückchen: »Mache mir Platz!« Grasmückchen aber erwiederte: »Ich kann gar nicht mehr weiter rücken, du nimmst ja das ganze Nestchen allein ein!« – »Mache mir Platz!« schrie der Kuckuck, »oder ich fresse Dich!«
Da setzte sich klein Grasmückchen auf den Rand des Nestes, und hielt sich mit dem Schnabel fest; aber der Kuckuck schüttelte und rüttelte sich, daß das kleine Grasmückchen sich nicht mehr halten konnte, und hinunterfiel auf den Boden: denn seine Flügel waren noch nicht gewachsen.
Es ging aber ein kleiner Knabe unten am Bäumchen vorbei, der hörte das Grasmückchen schreien, und nahm es mit sich nach Hause, und fütterte es mit Würmern und Brosamen, und das Grasmückchen wuchs, und ward stark und munter. Es flog aber in der Stube umher, und fraß die Fliegen, und zwitscherte und sang gar munter und lustig. Wenn ihm aber der kleine Knabe rief: »Grasmückchen, komm!« so flog das Grasmückchen herbei, und setzte sich auf seinen Finger.
Grasmückchen lebte bei dem Knaben den Herbst und Winter über, und ergötzte Alle durch seine Fröhlichkeit und sein munteres Wesen. Als aber im Frühjahr der Schnee von den Bergen geschmolzen war, und die Erde wieder anfing, grün zu werden, die Bäume Blätter bekamen, die Vögel lustig darein sangen, und die Sonne so freundlich zum Fenster hereinschien; da ward es dem Grasmückchen zu enge in dem kleinen Stübchen, und es wäre gar gerne draußen gewesen in dem grünen Walde bei seiner Mutter. Der Knabe merkte sein Begehren, und öffnete ihm das Fenster. Da flog es hinaus zu dem Bäumchen, wo seiner Mutter Nest gestanden hatte; aber es war nicht mehr da; auf dem Boden aber lagen Heu, Pferdehaare und ausgerupfte Federn umhergestreut, und es sah, daß jemand das Nest zerrissen haben mußte. Darüber betrübte sich Grasmückchen sehr, und flog in den Wald hinein, und fragte nach bei allen Vögeln, ob sie seine Mutter nicht gesehen hätten. Aber niemand konnte ihm etwas von ihr sagen. – Mit der alten Grasmücke aber war es also zugegangen.
Nachdem nämlich der Kuckuck das Grasmückchen aus dem Neste geworfen hatte, war die Mutter nach Hause gekommen, und fragte den Kuckuck, wo klein Grasmückchen sey. Der aber sagte: »Ja, das ist ein recht boshaftes Kind; es hat mich aus dem Neste jagen wollen, ich habe mich aber gewehrt, und da ist es davongeflogen.« Die alte Grasmücke hatte das geglaubt, und war fortgeflogen, um dem Kuckuck Fressen zu holen. Der war aber gar nicht mehr zu sättigen, und die alte Grasmücke wurde ganz matt vom vielen Hin- und Herfliegen.
Als sie aber eines Abends sehr müde nach Hause gekommen war, wollte der Kuckuck, daß sie noch ein Mal ausflöge; sie aber ward unwillig, und sagte: »Du kannst satt seyn für heute, du fauler Vielfraß; warte bis morgen!« Da riß er seinen Schnabel ganz schrecklich auf, und sagte: »Wenn Du mir nicht gleich zu essen giebst, so fresse ich Dich.« Da fürchtete sich die alte Grasmücke, und flog davon. Als aber am andern Morgen der Kuckuck sah, daß die alte Grasmücke nicht mehr zurückkommen wollte, sah er sich gezwungen, jetzt selbst seine Nahrung zu suchen; er flog darum aus dem Neste, zerriß es aber aus Bosheit, und warf es auf die Erde.