Marion und Humbold - Julia Gruber - E-Book

Marion und Humbold E-Book

Julia Gruber

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Beschreibung

Marion hat Humbolds Annäherungsversuche satt und verschwindet spurlos. Dabei sind sich die beiden damals im Heim so nahe gewesen, vor allem nach Viktors Tod. In seiner Bande fanden sie ein Stück Heimat in einer Welt, die ihre Begabungen verkannte. Während Humbold auf Marion wartet, entdeckt er seine Leidenschaft für Skulpturen aus Schrott. Er wird zum international renommierten Künstler, doch das schachbegeisterte Mädchen mit der dunklen Stimme vergisst er nie. Das Buch macht die verschlungenen Lebenswege zweier Menschen sichtbar. Hoffnungen werden nicht erfüllt - und doch schließen sich die Kreise in der Rückschau. Allen Schicksalsschlägen zum Trotz ist dies ein höchst versöhnliches Buch.

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Seitenzahl: 265

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Julia Gruber

Marion und Humbold

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Bei Theuscher & Söhne

2

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10. Kindheit am Krawitzerhof

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14. Im Heim

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31. In Norddeutschland

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41. Wiederbegegnung

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56. Das Ende und der Anfang

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59. Übersetzungen

60. Dank

Impressum neobooks

1. Bei Theuscher & Söhne

*sickere durch dein herz gerufenins neulandwie altbekanntzeitgekeltertausgenüchtertmakellos meines birgtdeines*Der Kragen von Marions Mantel war nach innen eingeschlagen. Zu blöd, schon fließt ein dünnes Rinnsal zwischen ihren Schulterblättern den Rücken hinunter. Sie fühlt sich unwohl, das Unterhemd klebt an der Haut. Vorne beim rechten Schuh dürfte außerdem eine undichte Stelle im Leder sein. Die Fußspitze fühlt sich nass an. Marion bewegt ihre Zehen im Schuh. Dann hebt sie den Blick und späht die grau verschleierte Landstraße entlang. Jetzt sollte er aber kommen, der Bus.

Die Tasche hält Marion eng an ihren Mantel gedrückt. Sie enthält alle notwendigen Unterlagen für den nächsten Schritt: das Kündigungsschreiben und die Bestätigung vom Amtsarzt. Seit gestern ist sie offiziell krank geschrieben und somit wird das heute ihr letzter Tag bei Theuscher & Söhne. Vier Jahre hat sie dort gearbeitet. In der Buchhaltungsabteilung, mitten im Reich ihrer geliebten Zahlen. Noch weiß niemand von ihrer Kündigung. Auch Humbold nicht, und das ist gut so.

Sie atmet flach. Malt mit ihrem Zeigefinger imaginäre Zahlen auf ihr Hosenbein, einfach zur Beruhigung. Sie erinnert sich an den Tag ihrer Abreise nach Norddeutschland. Vor acht Jahren ist es gewesen, kurz nach Viktors Tod. Sie alleine und viel zu früh am Bahnhof. Zum Zeitvertreib hat sie sich ganz vorne hingestellt, ans äußerste Ende des Bahnsteiges. Beobachtete die ein- und ausfahrenden Züge. Die verschlungenen Muster der Schienen und wie sie sich in der Ferne im Dunst auflösten. Das metallische Geräusch der Weichen, wenn sie über den Boden glitten – wie von Zauberhand geführt - und in einer neuen Position einrasteten. Ein ganz neuer Lebensabschnitt hat damals begonnen, und heute scheint wieder so ein Weichen-Stelltag zu sein. 

Marion steht im Dunkeln als Einzige an der Bushaltestelle. Für die paar Fahrgäste verzichtete die Dorfverwaltung auf Straßenlaternen. Die Finsternis ist ihr angenehm. Sie lässt alles so namenlos erscheinen. Leer und voll zur selben Zeit. Sie hält die Farben und Kontraste des Tages in sich geborgen. Und damit scheint aus dem Vielen das Eine zu werden, das Ungeteilte. Alles wächst zusammen: die frisch renovierte Fassade des Nachbarhofes und die alte Werkstatt ihres Vaters, die winterlich kahlen Obstbäume und der Wald dahinter. 

Morgens nach dem Aufstehen schaltet Marion oft gar kein Licht an. So bleibt ihr die Umgebung länger vertraut. Trotz - oder vielleicht sogar wegen – der Geschichte mit dem Erdkeller in ihrer Kindheit. Dunkelheit überall. Damals hat sie ihn rauschen gehört, den Styx. Das passiert ihr auch heute noch in besonders aufwühlenden Situationen. 

*Wiege dich im Rhythmus meiner Wellenfeine Melodien wie Dunst über den Wassern ich rufe dich und bald schon kommt dir meine Dunkelheit entgegenWie der Mond am Himmel entschwindet deine Erinnerung an vergangene Tage und du sinkst tieferStreckst deine Arme ausblind, auf Führung hoffendgreifst ins Leereimmer wieder … Bis du im Leeren das Geheimnis tastestdas dich umfängt undauf sicheren Boden stellt*

Leise stimmt Marion in den Gesang des Flusses ein. Währenddessen prasseln Tropfen auf den Asphalt neben ihr. Natürlich regnet es an ihrer Bushaltestelle nicht immer. In den letzten Jahren hat Marion eine Menge spektakulärer Sonnenaufgänge erlebt. Dazu brauchst du keine Safari in Afrika zu machen. Auch in Oberösterreich ist Großartiges möglich. Wenn der Sonnenball aufsteigt, kannst du das Fortschreiten der Zeit direkt am Himmel beobachten. Gleich einer kosmischen Uhr. Marion wendet sich gerne den ersten Sonnenstrahlen zu, die hinter dem Gaishügel hervor lugen. Vom Morgenlicht bekommst du zarte Pfirsichhaut, hat ihre Oma immer gesagt. Und sie hat recht behalten.

Aber heute wird es nichts mehr mit der Sonne. Marion muss an den Betriebsleiter denken und nimmt Haltung an. Geht in Gedanken noch einmal den bevorstehenden Ablauf durch: Pünktlich kurz vor neun Uhr wird er mit seiner Sekretärin aus dem Fahrstuhl steigen und den Gang zu seinem Büro entlang schreiten. Dort möchte sie ihn abfangen und ihm das Kündigungsschreiben in die Hand drücken.

Mehrmals hat sie diese Vorgangsweise mit ihrer Freundin durch besprochen. Keine Diskussionen oder Rechtfertigungen, und vor allem kein kleinmütiges Beigeben. Es ist ihr gutes Recht zu kündigen! Marion kaut am Nagel ihres kleinen Fingers. Wenn sie schon sonst nichts tun kann. Dann kommt der Bus.

2

Wie gewöhnlich zieht sie sich an einen Fensterplatz in den hinteren Reihen zurück. Lehnt ihren Kopf an die vibrierende Fensterscheibe. Der Bus stoppt. Marion nickt den einsteigenden Kollegen flüchtig zu. Gerade so lange, dass sich niemand missachtet fühlt. Gerade so kurz, dass es keiner als Aufforderung zu einem Gespräch missverstehen könnte.

Dann verstärkt sich das Brummen des Motors. Es geht den Berg hinauf, das Firmengebäude wird sichtbar. Der Bus hält und die Türen öffnen sich mit einem Zischen. War das vorhin seine Stimme? Marion zuckt zusammen. Besser nicht umdrehen, besser schnell weiter.

Schon erreicht sie die großen anthrazitfarbenen Werkstüren. Morgendliche Grüße, Kommentare zur Wettersituation. Aufgrund einer überschwemmten Brücke hat der Zug aus Forgau Verspätung. Auch gut, dann bleibt ihr mehr Platz in der Garderobe. Mantel ausschütteln, Schirm verstauen, Tasche abwischen. Aus den Augenwinkeln betrachtet Marion die Anwesenden. Nein, Humbold ist nicht darunter. Erleichtert pustet sie sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht.

Hinauf in den ersten Stock. Das Büro ist noch leer, weil er am Morgen immer die Besprechung im Lager leitet. Marion setzt sich. Etwas Post hat sich angesammelt. Marion erledigt alles in der ihr eigenen Gründlichkeit. Dabei hin und wieder ein Blick auf die Uhr. Viertel vor neun.

Sie macht sich auf den Weg in die Chefetage. In das Reich der verschluckten Geräusche. Alles erscheint hier gedämpft: der Klang ihrer Schritte, die Grüße der Vorbeigehenden, auch die eigenen Gedanken. Als ob der Teppichboden den Lärm in ihrem Kopf einhüllen würde. Alle Ängste weg, die Wünsche auch. Marion ist sich nicht mehr sicher, was sie eigentlich wollte… Bohrt ihre Fingernägel in die Daumenballen, versucht sich zu konzentrieren.

Plötzlich ein feines Klingeln. Die Aufzugtüren öffnen sich und heraus tritt der Betriebsleiter samt Sekretärin. Dahinter Humbold. Damit hat Marion nicht gerechnet, das bringt sie aus dem Konzept. Warum muss er denn ausgerechnet jetzt… Sie macht einen entschlossenen Schritt vorwärts. 

„Herr Bosch, bitte für Sie!“

Der Betriebsleiter schaut überrascht auf die beiden Schriftstücke, während sich Marion bereits umgedreht hat. Sie spürt Humbolds Blick im Nacken. Eilt die Treppe hinunter. Nein, diesen Arbeitstag wird sie nicht regulär beenden. Sie kann sich auch nicht von den Kolleginnen verabschieden. Mit ihrem Getuschel, ihren versteckten Andeutungen. Einfach nur fort, jetzt gleich! Man muss den Tatsachen ins Auge sehen: mit Humbold kann es nur schief gehen. Den Gerüchten zufolge wird er bald zum Schwiegersohn des Betriebsleiters aufsteigen - und dann gute Nacht.

Von ihren Kolleginnen kann Marion keine Hilfe erwarten. Weibliche Rivalität, ach wenn die wüssten! Zugegeben, Humbold sieht blendend aus… Doch Marion hat genug erlebt. Und Flucht muss kein Zeichen von Schwäche sein, im Gegenteil. Schon ist sie wieder an ihrem Arbeitstisch angelangt. Gut, dass sie sich hier nicht mit Firlefanz ausgebreitet hat: Spruchkalender, Maskottchen, Fotos von Babys und Haustieren. Marion braucht bloß ihre Tasche zu packen und … 

„Warum so eilig, Lady?“ 

Manchmal wirkt das Leben wie ein Film, der sich in seiner Spule festgefressen hat. Alles steht. Wie hat Humbold es bloß so schnell nach unten geschafft? Eines muss man ihm lassen: der Mann hat Ziele. In dem Fall Marion. Da steht er nun, die Hände lässig am Türstock abgelegt, und versperrt ihr den Weg nach draußen. Wie ein lebendiges Fangnetz.Was tun? Marion wendet sich an ihre Freundin Ines, weil sie hat immer die besten Ideen. „Blumentopf werfen.“ Das rät ihr die Freundin. Humbold will keine Sauerei im Büro. Keine Scherben, keine Heerschar an feuchten Hydrokultur-Kügelchen in allen Raumecken. Das macht die Sauberkeits-Erziehung von Frau Gravensteiner aus dem Kinderheim, die hängt dir ein Leben lang nach.

Marion sieht sich hastig um. Greift dann nach der Schefflera zu ihrer Rechten. Einmal Schwung holen und schon fliegt der Topf durch den Raum. Humbold fängt. Ein Mann mit ausgezeichneten Reflexen, das muss man ihm lassen. Derweil huscht Marion durch die Türe. Die Treppe hinunter und hinaus ins Freie.

Das ist noch einmal gut gegangen. Auf einen Bus nach Hause braucht sie freilich nicht zu hoffen, mitten am Vormittag. Den Weg wird sie wohl zu Fuß bewältigen müssen. Andererseits kann ihr etwas Bewegung nur gut tun nach dem ganzen Stress. Beutetiere laufen bekanntlich auch gerne ein Stückchen weiter, wenn sie ihrem Jäger entkommen konnten. Ganz nützlich, um das Adrenalin aus den Adern loszuwerden.

3

Aus der Portiersloge ragt der Kopf von Herrn Sauerländer.

„Hallo, Frau Krawitzer! Homa schau Dienstschluss?

Alles Irreguläre erregt seine Aufmerksamkeit. Kein Wunder, denn das Sitzen im Portierhäuschen ist auf Dauer ganz schön langweilig. Deshalb schaut sich Herr Sauerländer stundenlang Westernfilme auf seinem Schwarz-weiß-Fernseher an. Der Bildschirm nicht größer als ein Bierdeckel und die Auflösung so grobkörnig wie Hirse. Aber immer noch spannender als das, was ihm die Überwachungskameras darbieten: die Hausecke, den Parkplatz, das Dach der Produktionshalle,…

Einmal ein Held sein, das würde Herrn Sauerländer schon gefallen. Doch in den letzten zwanzig Jahren kein einziger Schusswechsel am Betriebsgelände. Nicht einmal eine Messerstecherei oder ein winziger Spionagefall. Bloß falsch geparkte Autos. Marion beugt sich zu ihm hinunter.

„Krank bin ich.“

Herr Sauerländer verzieht das Gesicht. Die Unpässlichkeit einer Büroangestellten kann ihm auch nicht weiterhelfen bei der Verwirklichung seines Heldentraums. Bedenke außerdem die Ansteckungsgefahr. Deshalb schiebt er schnell seine Leberkäsesemmel zur Seite und drückt mit dem Zeigefinger auf den grauen Knopf neben seinem Bildschirm. Klick! Das Werkstor geht auf.

Marion tritt auf die Landstraße und marschiert zügig den Hügel hinunter. Zwischen ihren Füßen überziehen kleine Rinnsale den Asphalt. Neben der Fahrbahn gluckernde, braune Bäche. Hin und wieder wird Marion von einem Auto überholt. Hinterreifen werfen Wassergirlanden in die Luft und auf ihren Mantel. Rückscheinwerfer verschwinden im allgegenwärtigen Regengrau.

Ihr ist es recht. Sie ist mit sich im Reinen, hat ihre Mutprobe bestanden. Noch zwei Ortschaften bis zum Haus ihrer Freundin Ines. Dort werden sie beratschlagen, wie es weitergehen soll. Plötzlich Bremsgeräusche. Humbold - er wird sie doch nicht mitten in der Arbeitszeit verfolgen? Quietschend wird neben ihr ein Fenster hinunter gekurbelt. Grüne Wollmütze über faltigem Gesicht, es riecht nach Kuhstall.

„Grias di! Wüsd midfoan?“

Dank des freundlichen Nachbarn ist Marion im Nu beim Haus von Ines angelangt. Der Schlüssel unter dem Blumentopf, wie immer. Mantel ausschütteln, die nassen Schuhe mit Zeitungspapier ausstopfen. Sie wird sich von Ines ein paar trockene Sachen ausborgen müssen: Hose, Socken und ein Handtuch für die Haare. 

Später stellt Marion in der Küche einen Teekessel mit Wasser auf. Sally schlängelt um ihre Beine. Die grau getigerte Katze ist der Freundin vor einem Jahr zugelaufen. Nichts verströmt so ein Gefühl von Zuhause und Behaglichkeit wie eine Katze. Findet Marion. Sie gießt sich eine Tasse Tee ein und macht es sich auf der Wohnzimmerbank gemütlich. Regentropfen hämmern gegen das alte Holzfenster. Graue Schlieren verunmöglichen die Sicht nach draußen. Vielleicht gibt es außerhalb des Wohnzimmers gar keine Welt mehr? Die Firma, der Betriebsleiter, die Kolleginnen und Humbold … alle in einer großen Sintflut untergegangen. Marion wäre es recht, sie braucht gerade niemanden. Bloß dieses Sofa soll bleiben, das ist ihre Arche.

Aus der Ecke erklingt das regelmäßige Ticken der alten Pendeluhr. Tick, tack,… Marion bemerkt, dass der Schwanz der Katze im Rhythmus mittanzt. Belustigt streichelt sie über den schnurrenden Rücken. Für Sally scheint die Welt jedenfalls in Ordnung zu sein. Versonnen wendet sich Marion der alten Pendeluhr zu. Sie gehörte einst dem Großvater von Ines. Nussholz mit ländlichen Schnitzereien. An der Rückwand kannst du seine Initialen erkennen: F.K. für Franz Krawitzer. Mit Bleistift auf das Holz gekritzelt. Der Großvater lebt schon lange nicht mehr, doch das goldene Pendel seiner Uhr schwingt unermüdlich weiter.

Natürlich wird die Mechanik regelmäßig aufgezogen, mit dem kleinen Schlüssel unten im Kasten. Dabei hebt sich der Kolben, und sein Gewicht bringt wiederum das Uhrwerk in Schwung. Das Gewicht des Kolbens verhindert den Stillstand der Zeit. Ob Menschen auch solche Lasten bräuchten, um beweglich zu bleiben? Marion denkt an Humbold. Sollte sie ihm etwa dankbar sein dafür, dass er sie durch seine Penetranz gezwungen hat, diesen Schritt ins Ungewisse zu machen?

4

Ein ganzer Mann ist aus Humbold geworden, das muss Marion zugeben. Mit Schultern und allem. Wenn er den Raum betritt, werden die Gespräche der Kolleginnen plötzlich sehr wichtig. Dazu die richtige Pose: Beine, Dekolleté, Augenaufschlag,… Marion ist ja nicht blind.

Dabei hat sie sich anfangs so gefreut, Humbold wiederzusehen! Ihr kleiner Bruder. Der liebe Junge aus dem Heim, der ihr beim schweren Abschied von Viktor zur Seite gestanden ist. Sie waren einmal so vertraut miteinander… Alles vor ihrer Versetzung nach Schleswig-Holstein. Vier lange Jahre in der Fremde haben sie eben verändert - warum will Humbold das nicht wahrhaben?

Als Marion nach Österreich zurückkehrte, hatte sie niemanden. Keine Verwandten mehr und die wenigen Freundschaften verloren. Auch die Landschaft ihrer Kindheit, nach der sie sich in der Ferne so verzehrt hatte, erschien ihr seltsam fremd. Es war der Gesang des schwarzen Flusses, der ihr damals Trost spendete.

*Du sagst,es braucht noch mehr Ist es nicht genug?Sich selbst verlassenweniger als nichtsMehr als allesDu ruhst in dirohne dich zu beziehenFasst dich mit der Krone an die Wurzelschluckt deine eigene GeschichteSiehst allesdoch kennst es nichtHörst allesdoch weißt nichts vom Lauf der DingeGrenzt dich abdoch grenzt nichts aus*Marion beschloss damals, pragmatisch vorzugehen: zuerst Geld verdienen. Es lag auf der Hand, Frau Gravensteiner um Hilfe zu bitten. Chefin des Kinderheims in Mopping, in dem Marion ihre Jugend verbracht hatte. Gleichzeitig beste Freundin von Frau Bosch, deren Mann die Firma Theuscher & Söhne leitete. Und die war wiederum der größte Arbeitgeber der Gegend und Zulieferer internationaler Automobilfirmen.

Sie bekam eine Stelle in der Buchhaltung, nachdem sie dem Personalverantwortlichen ihre Rechenkünste demonstriert hatte. Gleich am ersten Arbeitstag in der neuen Firma lief ihr Humbold über den Weg. Du auch hier? Was für eine Überraschung! Sie tauschten Neuigkeiten aus, erinnerten sich an vergangene Zeiten. Lachten über dieses und jenes aus der gemeinsamen Heimzeit. Plötzlich seine Hand auf ihrem Oberarm. Früher hatten sie sich oft angefasst, das war gar kein Problem gewesen. Doch jetzt war es anders. Seine Berührung ging ihr bis an die Knochen. Wie ein Schiffbrüchiger an seinem Holzbalken schien er sich an ihr festzuhalten. 

In den kommenden Wochen tänzelte Humbold ständig um sie herum. Nahm ihr mit seinen Komplimenten die Luft zum Atmen. Ganz offensichtlich sah er in ihr etwas, was sie nicht erfüllen konnte. Marion fragte Ines um Rat: grau-beige Kleider anziehen, Frisur mit der Nagelschere nacharbeiten, ganz viel Knoblauch essen. 

Bloß ließ sich Humbold von diesen Hausmitteln nicht abschrecken. Im Gegenteil, er verstärkte seine Bemühungen. Stand im Aufzug unnötig nahe, Schulter an Schulter. Bis Marion nur mehr die Treppe benutzte. Kam in der Kantine immer an ihrem Tisch, auch wenn andere frei waren. Warf bedeutungsschwangere Blicke. Marion fühlte sich schon wie ein eingesperrtes Tier. Gerade jetzt konnte sie keine zusätzlichen Belastungen gebrauchen. Weil sie sich nach Arbeitsschluss einen lang gehegten Wunsch erfüllte: ein Mathematik-Fernstudium.

Einige Monate später kam überraschend die Beförderung. Herr Bosch begleitete Marion zu ihrem neuen Arbeitsplatz im ersten Stock. Hier keine Großraumbüros, sondern richtige Zweier-Zimmer mit Blick über die Produktionsanlage. Der Betriebsleiter gratulierte seiner Mitarbeiterin zu den hervorragenden Leistungen für die Firma. Sie wäre wahrlich eine Zahlenjongleurin.

Ein bisschen rot wurde Marion schon dabei. Was für ein Tag, was für ein Triumph! Bis ihr neuer Zimmerkollege zur Türe herein kam, und mit ihm die Ernüchterung. Humbold, breitbeinig und mit seinem typischen Grinsen. Ließ sich in den Stuhl ihr gegenüber fallen. Und Marion verstand die Welt nicht mehr: Humbold arbeitete doch in der Materialbeschaffung und sie in der Buchhaltung. Wozu ein gemeinsamer Raum? Das passte überhaupt nicht zusammen.

Die ersten Wochen im neuen Zimmer gestalteten sich wider Erwarten angenehm. Jeder verrichtete seine Arbeit, kurze Besprechungen über berufliche Themen kein Problem. Marion entspannte sich zusehends. Hatte selbst keine Lust mehr auf diese beige-grauen Kleider. Und lachen konnte sie auch. Wenn Humbold das bloß nicht falsch verstand!

5

Dann nahte die Weihnachtsfeier. Zur allgemeinen Belustigung sollte das Betriebspersonal ein Krippenspiel aufführen. Humbold musste unbedingt mit auf der Bühne sein, das verlangte die weibliche Belegschaft. Er sollte den schönen Weisen aus dem Morgenland geben und die Damen stritten sich darum, welche von ihnen die schwarze Paste in seinem Gesicht verteilen durfte. Für Marion hatten sie die Rolle des Esels hinter der Krippe ausgewählt. Kleine Vergeltungsaktion, weil neidisch auf das gemeinsame Arbeitszimmer. 

Prinzipiell galt es als Ehre, für die Aufführung ausgewählt zu werden. Marion konnte also schlecht ablehnen und beschloss, ihren Esel zu stehen. Doch jeder, der schon einmal eine Weihnachtsfeier in so einem Eselkostüm verbracht hat weiß, wie heiß es da drinnen auf Dauer wird. Unter dem Polyester-Fell lief ihr der Schweiß in Strömen hinunter.

Kein Bedauern der Kolleginnen, das war nämlich genau ihr Plan. Erstens sah Marion nach kürzester Zeit völlig devastiert aus. Und zweitens: Wer solcherart schwitzt, wird viel trinken müssen. Ergibt unvermeidlichen Blasendruck. Als es bei Marion soweit war, versammelten sich die Kolleginnen vor der Damen-Toilette und versperrten ihr kichernd den Zugang. Sorry, es heißt der Esel und nicht etwa die!

Was blieb Marion schon großartig übrig in ihrer Not? Also schnell hinein zu den Herren. Dass dort gerade Humbold stand und sich erleichterte, machte die Sache nicht einfacher. Er, wie gesagt, ein ganzer Mann. Nur hätte er sich Marion gerne in einem passenderen Ambiente präsentiert. Mit Kerzenschein und klassischer Musik zum Beispiel - aber sicher nicht vor der beige gekachelten Urinal-Wand im Landgasthof „Zum Schwarzen Raben“. 

Bedenke auch, dass Marion bereits seit über einem Jahr wieder im Lande war. Und keiner seiner zahlreichen Annäherungsversuche ist bislang erfolgreich gewesen. Ein frustrierendes Ergebnis. Dass diese Beziehungsdinge immer so schwierig sein mussten… Lieber Humbold, ist man versucht zu sagen, so schlimm kann es für dich nicht gewesen sein. Wenn man dem Gemunkel im Büro trauen darf, hast du dir die Warterei versüßt. Anwärterinnen aus der weiblichen Belegschaft ohne Ende, und nicht zu vergessen deine Verlobte.

Doch zurück zu den Geschehnissen vor der Toilette im „Schwarzen Raben“. Dort amüsierte sich eine Traube weihnachtlich angeheiterter Kolleginnen. Plötzlich seltsame Geräusche aus dem Inneren. Die Damen riefen nach dem Betriebsleiter. Er sollte für Recht und Ordnung sorgen, wozu hatte man sonst einen Chef.

Unter Gejohle schoben sie Herrn Bosch durch die Türe in die Sanitäranlage. Dort bot sich dem Armen eine delikate Situation: Marion im Eselkostüm, an die Hinterwand gedrückt und wild um sich schlagend. Davor Humbold, verzweifelt an ihrem Reißverschluss fingernd. Dieser offensichtlich verklemmt, also der Reißverschluss. Wahrscheinlich ein Billig-Import aus China. Wenn der Zipp schon nach einer einzigen Krippenaufführung den Geist aufgibt, kann das nur Ramsch sein. Andererseits auch ganz praktisch: das Eselkostüm als Ganz-Körper-Kondom.

Herr Bosch zögerte. Wünschte sich spontan nach Hause in seinen Lieblingsfauteuil vor dem Kachelofen. Die Füße ein bisschen hoch lagern, den Abend leise ausklingen lassen. Aber das spielte es jetzt nicht, da war nichts zu machen. Herr Bosch fasste sich ein Herz und setzte ein paar Schritte in Richtung Raummitte.

Das Klappern der Ledersohlen hallte von den gefliesten Wänden wider und Humbold fuhr herum. Ließ seine Arme sinken. Erkannte im Bruchteil einer Sekunde die Optik, in die er sich hinein manövriert hatte. Noch dazu vor seinem Schwiegervater in spe. Ein Gedanke stand ihm glasklar vor Augen: rascher Abgang. Ein Mann muss wissen, wann seine Zeit gekommen ist. 

Inzwischen nützte Marion die Gelegenheit und verschwand in einer der Kabinen. Den Geräuschen nach zu urteilen schaffte sie es, sich mit Brachialgewalt aus den Zwängen ihres Reißverschlusses zu befreien. Es folgte ein erleichterndes Plätschern… Blieb noch Herr Bosch übrig, alleine mitten in der WC-Anlage.

Im Hintergrund tropfte ein Wasserhahn, dazu die gedämpften Polkaklänge aus dem Veranstaltungssaal. Wie ein einsamer Ozeandampfer kam sich der Betriebsleiter jetzt vor, wie ein winziger Punkt auf dem endlosen Horizont. Von fern das Tuten der anderen Schiffe. Dazwischen Dunkelheit, Fremdheit und Schweigen. Ein Nichtverstandenwerden, ein Nichtverstehen…

Regungslos verharrte Herr Bosch in der Raummitte. Längst war Marion aus ihrer Kabine gehuscht und an ihm vorbei durch die Türe verschwunden. Nichts denken, nichts tun… Das kann manchmal so erleichternd sein. Schließlich entschloss er sich doch für das Naheliegende. Wenn er denn schon einmal hier war.

6

Tiefster Winter war ausgebrochen zwischen Marion und Humbold. Eigentlich sehr passend zur Jahreszeit. Bei nächster Gelegenheit suchte Marion den Betriebsleiter auf. Das Gespräch war ihr peinlich. Einen Arbeitsplatz in einem anderen Zimmer hätte sie gerne. Wegen dieser Esel-Episode. Auch Herrn Bosch ging die Sache auf die Nerven. Humbold war schließlich der Verlobte seiner Tochter Kathi. Seine Frau Grete und seine Tochter setzten beide große Stücke auf ihn. Sahen ihn bereits als künftigen Betriebsleiter.

Offensichtlich störten sie sich nicht daran, dass Humbold ein allgemein bekannter Schürzenjäger war. Solange er die von ihnen zugedachte Rolle erfüllte: als fescher und leicht zu führender junger Mann. Ganz klar, wer hier das Sagen hatte. Herr Bosch seufzte. Es erinnerte ihn ein bisschen an seine eigene Ehe.

Wie sollte er nun mit Frau Krawitzer verfahren? In seiner Firma konnte er keine große Szene gebrauchen. Andererseits wollte er sie auch nicht verlieren. Marion Krawitzer hatte sich als äußerst fähige Mitarbeiterin erwiesen. Durch Neuerungen in der Buchhaltung sparte sie dem Unternehmen jährlich ein hübsches Sümmchen. Nun, irgendwie würden sich die Dinge schon regeln. Das tun sie doch meistens.

Herr Bosch beschloss, die Dame mit ein paar wohlmeinenden Floskeln zu beruhigen und hinaus zu komplimentieren. Griff nach ihrer Hand und tätschelte sie. 

„Mein Fräulein, junge Männer sind eben ungestüm. Das liegt in ihrer Natur. Seien sie nicht allzu streng mit Herrn Humbold. Wissen Sie eigentlich, wie bezaubernd Sie an jenem Abend in ihrem Kostüm ausgesehen haben? Bitte bedenken Sie, dass Sie uns Männern damit leicht den Verstand rauben können.“

Bedrückt schlich Marion in ihr Arbeitszimmer zurück. Sie konnte Humbold nicht mehr in die Augen schauen. Baute sich aus Zimmerpflanzen einen Schutzwall auf ihrem Tisch auf und tauchte dahinter ab. Doch ewig würde dieses Versteckspiel nicht funktionieren. 

Seit der Weihnachtsfeier hatte Marion deutlich an Elan verloren. Ihre Haut wirkte nicht mehr so rosig, auch die Mundwinkel befanden sich am absteigenden Ast. Die Sache mit Humbold zehrte an ihren Nerven. Immer diese unausgesprochene Spannung in der Luft. Und so ein Zweier-Zimmer bietet nach Büroschluss viel zu viel Privatsphäre. Marion hatte sich darüber schon mit Ines beraten. „Im Notfall machst du den Esel!“, meinte die Freundin.

Und diesem Rat folgte Marion ein paar Tage später. Humbold hatte schon den ganzen Nachmittag versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Während sie stur auf die Warenausgangslisten geblickt hatte, die sie noch kontrollieren musste. Später das befürchtete Klicken: Ihr Kollege von nebenan hatte seine Bürotüre geschlossen und machte sich auf den Weg zur Treppe. 

„Pfiat eich! An scheen Ob´nd!“

Aus der Ferne hörten sie das große Tor des Haupteingangs zuschlagen. Dann lag die Büroetage wie ausgestorben da. Jetzt oder nie! Humbold sah Marion an und erhob sich von seinem Stuhl. Kam näher. Legte ihr die Hand auf die Schulter. I-a, i-a… Marion,denk an den Esel! Schon erhob sie ihre Stimme. Täuschend ähnlich, muss man sagen. Eine rechte Qual für das Gehörorgan und dann noch so überraschend. Das Geschrei erwischte Humbold am falschen Fuß. Plötzlich sah er wie ein alter Mann aus. Und ob er in Folge nicht auch zu weinen anfing. Da war Marion jedoch schon längst durch die Türe entwischt.

Jetzt reichte es ihr. Nie wieder würde sich Marion in dieses Büro zurück begeben. „Such einen Arzt auf und lass dich krank schreiben!“, riet ihr Ines. Der Amtsarzt in der Nachbarortschaft war von bodenständiger Natur. Er lud die blasse junge Frau zunächst auf ein Speckbrot ein. Gefolgt von einem Stamperl Schnaps, weil das hilft immer. Dabei philosophierte er laut über Frauen und Männer, die bekanntlich von verschiedenen Planeten stammten. Der Amtsarzt wusste, wovon er sprach. Schließlich hatte er selbst drei Scheidungen hinter sich. 

„Sollen wir Humbold die Polizei auf den Hals hetzen?“

Aber eigentlich wäre ja noch nichts Wirkliches passiert. Nach einer weiteren Runde Schnaps attestierte er seiner Patientin ein Burnout und schrieb sie für drei Monate krank. So hätte die junge Dame Zeit, die Dinge neu zu regeln.

7

Das war gestern. Jetzt liegt Marion bei Ines auf der Couch, mit der Katze am Bauch und einer Tasse Tee in der Hand. Die Kündigung ist eingereicht und ihre Zukunft ungewiss, aber voller Möglichkeiten. Sie räkelt sich und dann ist sie wohl ein bisschen eingenickt.

Bis es irgendwo kratzte. Das ist der Eisverkäufer. Er versucht, eine Kugel Vanille-Eis aus dem fast leeren Behälter zusammen zu stellen. Komisch, der Mann hört nicht auf mit seinem Schaben. Ab einem gewissen Punkt wird es unrealistisch. Dann lässt sich so ein Traum an der sonnenwarmen Adria beim besten Willen nicht mehr aufrechterhalten. Marion verlässt widerstrebend die Strandpromenade und kommt in den heimischen Winter zurück.

Die Geräusche kommen von der Eingangstüre. Jetzt wird sie neugierig und springt vom Sofa. Haselnuss-Eis würde ihr auch schmecken. Überlegt sie im Gehen und öffnet schwungvoll die Türe. Doch enttäuschend: da ist kein Mann mit weißer Schürze, Häubchen und italienischem Akzent. Nicht einmal einer ohne Schürze. Da ist gar niemand.

Dafür liegt etwas auf der Türschwelle und zwar Gemüse. Bunte Rüben in allen möglichen Farben: gelb, orange, lila und weiß. Ja, heutzutage werden die alten Sorten wieder gerne angepflanzt. Das mögen die Städter, das sieht nach fröhlichem Landleben aus. Doch egal welche Farbe – es ist kein Haselnuss-Eis dabei und daher ein Reinfall für Marion. Sie wirft die Türe wieder zu und marschiert zum Sofa zurück. Seite an Seite mit der Katze. Die ist auch empört über die trüben Aussichten vor der Türe, vor allem über das anhaltend miese Wetter.

Eine Sache macht Marion stutzig: Was treiben die Rüben vor ihrer Haustüre? Passiert schließlich nicht alle Tage. Sie rafft sich auf und öffnet die Türe einen winzigen Spalt. Jetzt müssen wir festhalten, dass diese Rüben nicht einfach so auf der Türschwelle herum lungern. Sie wurden sorgsam in Herzform gebunden. Dass Marion das nicht gleich aufgefallen ist! Hier sieht man, was passiert, wenn eine so auf Haselnuß-Eis fixiert ist: Es leidet das Wahrnehmungsvermögen für praktisch alle anderen Dinge. 

Ein wahrer Künstler muss dieses Gebilde geformt haben, so viel steht fest. Doch Marion denkt gerade nicht ans Künstlerische. Sie ist einer der wenigen Menschen mit Rüben-Trauma, aber davon später. Gerade will Marion die Türe wieder schließen, da fällt ihr Blick auf einen Zettel. Ein Papierchen in der Busenfalte des Herzens. Ob ein Herz überhaupt eine Busenfalte besitzt, darüber würde Marion gerne ausführlich mit Ines debattieren. Aber weil es draußen vor der Türe so kalt ist, streckt sie schnell ihre Hand aus.

Hier will jemand gelesen werden. „Ewig verbunden!“ Steht auf dem Zettel in Humbolds Handschrift. Das Papier stammt vom großen Notizblock auf seinem Arbeitstisch. Schon wieder Humbold! Aber komisch: Warum bastelt er als Träger für seine Botschaft ein Herz aus Rüben? Weil er stur ist wie ein Esel und ewig seiner Karotten-Frau nachläuft? Oder knüpft er an das unglückselige Eselkostüm bei der Weihnachtsfeier an?

Marion hat keine Ahnung. Eines ist ihr jedoch klar: Humbold wird nicht so schnell von ihr ablassen. Auch nach der Kündigung nicht. Da muss sie sich schon mehr einfallen lassen. Einen Ortswechsel beispielsweise.

Was uns gleich zur nächsten Frage führt: Woher wusste Humbold, dass Marion im Haus von Ines zu finden ist? Nun, mit den beiden ist es so eine Sache… Als Kind hat Marion schlimme Dinge erlebt, die sie alleine nicht tragen konnte. Deshalb tauchte Ines auf. Zu zweit ist vieles leichter zu stemmen.

Leider haben Freunde die Tendenz, sich früher oder später aus dem Staub zu machen. Sei es wegen Konkurrenz, diverser Liebschaften oder gleich Todesfällen. Das passiert oft in den unpassendsten Momenten. Doch nicht bei Ines, sie bleibt ihr treu. Denn sie lebt in Marions Kopf.

Ines war es auch, die damals die Sache mit der Erbschaft übernommen hat. Nach der Rückkehr aus Deutschland bekam Marion den elterlichen Hof überschrieben. Zum ersten Mal seit über zehn Jahren betrat sie die Stube ihrer Kindheit, und die Erinnerungen an damals haben sie schier umgehauen. Sie wollte das alles nicht, und Ines hat ihr angeboten, das Erbe zu übernehmen.

Seither lebt Marion als Gast am Krawitzerhof und genießt die Großzügigkeit ihrer Freundin. Jederzeit darf sie sich in der Küche bei den Lebensmitteln bedienen. Sie kann sich ein Schaumbad in der alten Emailwanne einlassen oder im Liegestuhl vor dem Haus faulenzen. Sogar das Bett von Ines steht ihr offen. So viel Freigiebigkeit, das ist heutzutage nicht selbstverständlich! Dafür trägt sie der Freundin den Müll hinaus, zahlt alle Rechnungen und kauft ab und zu etwas ein. Und was früher in dem Haus passierte - das ist nicht mehr ihre Angelegenheit.

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Von solchen Freunden haben die allerwenigsten Menschen eine Ahnung. Oder nehmen die Sache nicht ernst. Humbold zum Beispiel, für ihn ist der Krawitzerhof noch immer Marions Haus. Gerade sitzt er in der alten Werkstatt von Marions Vater – keine zwanzig Meter entfernt - und beobachtet durch das Fenster das Rüben-Herz vor der Eingangstüre. Er war so klug, sich ein trockenes Plätzchen in der Werkstatt zu suchen und steht nicht etwa im Regen herum. Von hier aus hat er eine ausgezeichnete Sicht auf das Geschehen. Denn Humbold möchte wissen, ob Marion sein Geschenk annehmen wird. 

Für die Konstruktion hat er zu Hause zwei Stunden gearbeitet. Das Gemüse mit dünn geschnittenen Streifen von Porree und ein paar Zahnstochern in Form gebracht. Ein anderer wäre an der Aufgabe zweifellos gescheitert, doch nicht Humbold mit seinen geschickten Händen. Basteln war schon damals im Heim seine Lieblingsbeschäftigung gewesen. Durfte er nur nicht allzu oft.

Noch tut sich nichts an der Hausschwelle. Das Rüben-Herz lehnt einsam an der Türe und beginnt im Regen langsam die Fassung zu verlieren. Trübsinnig malt Humbold mit dem Zeigefinger Comicfiguren in den Staub der alten Werkbank. Es riecht muffig. Seit Jahren hat sich hier nichts mehr bewegt. Außer den Spinnen, die veranstalteten regelrechte Netzbau-Wettbewerbe. Quer durch den Raum spannten sie ihre Fäden und mit der Zeit wurden staubige Hängematten daraus. 

Aus Langeweile beginnt Humbold Belastungstests mit den Luft-Bauwerken durchzuführen. Er sammelt kleine Nägel, Holzspäne und was er sonst noch am Boden finden kann. Ergebnis der Experimente: Spinnen bauen auch nicht für die Ewigkeit. Jetzt stören ihn die baumelnden Netzfetzen. Die Überreste seiner Versuche sind wahrlich keine Augenweide und Humbold ist ein reinlicher Bursche. Er schnappt sich den Besen, um ein bisschen sauber zu machen. Dabei will er gleich nachschauen, was sich sonst noch unter der dicken Staubschicht verbirgt. 

Doch der Staub hat seinen eigenen Willen. Der lässt sich nicht einfach in eine Richtung kehren, sondern dreht lieber ein paar Ehrenrunden durch die Luft. Gegen alle Gesetze der Schwerkraft. Senkt sich dann gemütlich dort nieder, wo es ihm gerade passt. Jetzt hat Humbold aber Glück, dass er zu Hause seinen Büroanzug gegen ein sportlicheres Gewand getauscht hat. Schon bedeckt der Staub nicht nur den Boden, sondern auch seine Schultern, die Arme, Beine, Schuhe und das frisch geschnittene Haar. Ja, da gefällt es dem Staub besonders. Das muss an dem Haargel liegen, das Humbold so reichlich verwendet.