Marionette - Christine Morandin - E-Book

Marionette E-Book

Christine Morandin

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Beschreibung

Gibt es eine Liebe, die Trauer und Sehnsucht, Schmerz und Verzweiflung überwindet? Die Geschichte Belana Weidenreichs und Sven Hansen zeigt, dass der Kummer wie ein Tuch über ihre Liebe liegt, der beide begleitet. Die Ähnlichkeit Belanas zu Svens verunglückter Frau Clara, oder war es Mord?, war schon zu Beginn ein Rätsel und zog sich wie ein Faden durch diese Geschichte. Clara, die Schuld daran war, dass Sven während eines Albtraums sich über Belana hergemacht hatte, die für Belana eine Nebenbuhlerin war, da sie nicht wusste, dass Clara nicht mehr lebte. Belana konnte Svens Handeln, dass er sie grob und mit den Namen Clara auf den Lippen genommen hatte, nicht verzeihen und wendete sich zutiefst getroffen von ihm ab. Doch Belana ist schwanger. Es war eine Nacht, die das Leben der beiden völlig durcheinanderwirbelte. Ein Sehnen nach der Liebe zueinander, aber auch Wut, Hass und kranke Begierde zweier Menschen, die Ihnen nicht gutgesinnt waren, machten ein Zueinanderfinden schwer. Ein Jahr später: Belanas Leben ist wieder schön, wie es nicht schöner sein kann. Endlich hat sie Sven verziehen. Auch Clara spielt immer noch eine große Rolle in ihrem Leben und bringt Un-glaubliches ans Tageslicht. Sven und ihr kleiner Sohn Michel verwandeln ihren Alltag in ein buntes Abenteuer. Doch das Glück weckt den Neid der Götter. Wieder ziehen düstere Wolken auf. Belana gerät ins Visier eines Stalkers. Das kalte unbestimmte Gefühl, verfolgt zu werden, schleicht sich ein. Ein guter Freund wird erschossen, auf ihrer Hochzeit verübt jemand einen Giftanschlag. Eines Abends kehrt Belana nach einem Besuch im Supermarkt, nicht mehr nach Hause zurück.

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Da in diesem Buch explizite Liebesszenen beschrieben sind, ist es für Leser/innen unter 18 nicht geeignet. Personen und Charaktere in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu Lebenden und schon Verstorbenen sind rein zufällig.

Ich danke Hauptkommissar Michael Kramer und einer sehr netten Bloggerin für ihre Reiseberichte über Dubai. Mein Dank geht auch an meine Freundin Petra Ortwein, sowie an all meine Leser/innen, die meine Geschichten mit Begeisterung lesen.

An Dana Deuter, Lektorin und Wörterwundererfinderin, die mir bei meinem Klappentext eine große Hilfe war.

Mein größter Dank geht an meine Lektorin.

Für meine Leser

Gibt es eine Liebe, die Trauer und Sehnsucht, Schmerz und Verzweiflung überwindet?

Die Geschichte Belana Weidenreichs und Sven Hansen zeigt, dass der Kummer wie ein Tuch über ihre Liebe liegt, der beide begleitet.

Die Ähnlichkeit Belanas zu Svens verunglückter Frau Clara, - oder war es Mord? – war schon zu Beginn ein Rätsel und zog sich wie ein Faden durch diese Geschichte. Clara, die Schuld daran war, dass Sven während eines Albtraums sich über Belana hergemacht hatte, die für Belana eine Nebenbuhlerin war, da sie nicht wusste, dass Clara nicht mehr lebte. Belana konnte Svens Handeln, dass er sie grob und mit den Namen Clara auf den Lippen genommen hatte, nicht verzeihen und wendete sich zutiefst getroffen von ihm ab. Doch Belana ist schwanger. Es war eine Nacht, die das Leben der beiden völlig durcheinanderwirbelte. Ein Sehnen nach der Liebe zueinander, aber auch Wut, Hass und kranke Begierde zweier Menschen, die Ihnen nicht gutgesinnt waren, machten ein Zueinanderfinden extrem schwer.

Ein Jahr später:

Belanas Leben ist wieder schön, wie es nicht schöner sein kann. Endlich hat sie Sven verziehen. Auch Clara spielt immer noch eine große Rolle in ihrem Leben und bringt Unglaubliches ans Tageslicht. Sven und ihr kleiner Sohn Michel verwandeln ihren Alltag in ein buntes Abenteuer. Doch das Glück weckt den Neid der Götter. Wieder ziehen düstere Wolken auf. Belana gerät ins Visier eines Stalkers. Das kalte unbestimmte Gefühl, verfolgt zu werden, schleicht sich ein. Ein guter Freund wird erschossen, auf ihrer Hochzeit verübt jemand einen Giftanschlag.

Eines Abends kehrt Belana nach einem Besuch im

Supermarkt, nicht mehr nach Hause zurück….

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Wenn Sven Hansen sich selber gesehen hätte - er wäre zutiefst erschrocken, derart elend sah er aus. Bleich und rotohrig, brutal abgewatscht vom Schicksal, das ihn schon mehr als einmal derart brutal gebeutelt hatte, dass jegliche Lebensfreude entwichen war. So wie er aussah fühlte er sich auch, als er aus der Klinik ins Freie trat, und Belana mit seinem Kinde zurückließ.

Er war ein gebrochener Mann, ein Nichts, eine Hülle. Er wünschte, den moralischen Kater in ihm zu einem Sturm zu entfesseln. Einem Sturm, der ihm helfen könnte, Belana in die Tragweite jener Worte, die er für sie bereithielt, und vor denen sie ihre Ohren verschlossen hielt, hineinzuwirbeln.

Angst, Schmerz und Schuld, überfielen Sven wie eine Horde blutrünstiger Wölfe. Die Ader seiner Schläfe pochte, er hätte nicht übel Lust dazu, sich seine Faust ins eigene Gesicht zu rammen. Wie konnte er nur so töricht, so leichtgläubig sein, zu denken, dass sie ihm verzeihen würde, und zu hoffen, dass sie ihm zuhörte. Er hatte größtes Verständnis für Belanas Verletztheit, und doch hatte sie kein Recht dazu, ihm seinen Sohn vorzuenthalten. Sven durfte sich nicht wie ein winselnder Hund zurückziehen, er würde kämpfen, nicht klein beigeben, niemals den Schwanz einziehen. Auch wenn er sich bewusst war, dass er die Lösung des Dramas am falschen Ende angefasst hatte. Er hätte ihr niemals sagen dürfen, dass sie Clara zum Verwechseln ähnlich war, dass er sie genommen hatte, während er von Clara geträumt hatte. Er hätte mit Claras Unglück beginnen müssen.

„Verdammt“, brüllte er auf. Weder minderte die Einsicht seine Schuld, noch erreichte sie den Kokon den Belana um sich gespannt hatte. Während eines Albtraums hatte er sie geschwängert. Verzweifelt wühlte er sich durchs Haar, als er sich das Szenarium, den Traum mit Clara, wieder vor Augen holte:

Clara lag in einem weißen Brautkleid auf dem Bett. Das hochgeschobene Kleid entblößte ihren schönen Körper nahezu zur Gänze, die Haare hatten sich blutrot auf dem weißen Kissen ergossen. „Rette mich!“, flehte sie.

Als er auf sie zutrat, lag dieser Mann auf Clara und nahm sie brutal und heftig. Er packte dieses Ungeheuer und riss es von seiner Frau herab. Er fühlte den festen Körper dieses Mannes, doch der Mann rann, wie ein Schatten durch seine Finger, bevor er erkennen konnte, wer dieser Fremde war. Als sich der Schatten ins Nichts aufgelöst hatte, lag Clara wie ein Engel vor ihm, lockte ihn herbei, und er in seiner Verwirrtheit und seinem entsetzlichen Zorn, konnte sich nicht zurückhalten, dort weiter zu machen, wo der Fremde aufgehört hatte wie ein Wahnsinniger, voller Zorn und Schmerz.

Von Belanas Abwehr und lautem Geschrei, wurde er aus diesem Albtraum gerissen. Erst dann wurde ihm bewusst, dass er nicht Clara genommen hatte, sondern Belana.

An diesem frühen Morgen hatte er seinen Sohn gezeugt.

Die Worte, die Belana ihm in der Klinik an den Kopf geworfen hatte, brannten in ihm wie Feuer. Sie hatte gesagt, er hätte sein Kind mit Clara gezeugt, nicht mit ihr.

Und trotzdem liebte sie dieses Kind? Hatte sie am Ende gar recht damit, dass sein Sohn das Kind von Clara und ihm war?

„Was für einen Schwachsinn denkst du denn da?“, fuhr er sich selber scharf an und schlug sich mit der Hand auf die Stirn. „Das ist doch Bullshit“, schnaufte er auf. „Es ist mein Kind, aber auch deins, Lana. Unsere Gene sind in ihm. Und nicht Claras.“

Hin- und hergerissen von Gefühlen, die er nicht unter Kontrolle hatte, fragte er sich, was er nun machen solle. Nie im Leben hatte er etwas stärker begehrt, als diese Frau. Seine Sehnsucht und all seine Gedanken trugen ihren Namen. Wie zum Teufel sollte es jetzt weitergehen? Ihm war bewusst, dass er über diesen Verlust niemals hinwegkommen würde. Er war ja selbst von der Intensität seiner Gefühle und dieser Liebe, die ihr Domizil in seinem Herzen eingerichtet hatte, überrascht worden. Oder war alles nur eine bittersüße Täuschung, die ihn irregeführt hatte? All dies, weil Belana aussah, wie Clara? Oder war es Schicksal? Sollte er es annehmen, wie es gekommen war, und wie es zu seinen Ungunsten in pure Verzweiflung umgeschlagen war?

„Nein, niemals, niemals, niemals“, brüllte er so laut auf, dass er selber erschrocken zusammenzuckte. Doch plötzlich kamen ihm Zweifel. Könnte es sein, dass Belanas Liebe zu ihm erloschen war? Sollte er sich dem Schicksal beugen? Ihr den Frieden geben, den sie wollte und brauchte, damit wenigsten sie glücklich wurde?

Erschöpft setzte er sich auf eine Bank und stierte vor sich hin. All sein Elend, all die Erinnerungen an Verlorenes, trat ihm in den Sinn. Ein Schmerz, den er überwunden geglaubt hatte, war wieder da.

Alles stand ihm wieder vor Augen, die Reminiszenz hinterließ einen schalen Geschmack, einen Schatten auf der Seele. Urplötzlich waren die Geschehnisse vor Jahren wieder so präsent, als erlebte er sie noch einmal. Vor ihm schien sich ein Film abzuspulen.

Das lausige Schicksal nahm seinen Anfang in Spanien, - in Lugo. Auf der Hochzeitsreise. Diese Reise sollte eine bleibende schöne Erinnerung werden.

Doch es kam anders.

Vor zehn Jahren

Sie saßen mit Bernd, Kai, Claras Mama Sofia und Sarah, Freundin von Clara, beim Frühstück in jenem Hotel, das Sven so liebevoll für Clara ausgesucht und gebucht hatte.

Kai hatte den Vorschlag gemacht, man könne einen Führer mieten, und sich auf eine Bergtour begeben. Clara war die Erste, die ganz aufgeregt in die Luft sprang.

„Ja ja“, applaudierte sie. Ihr Applaus klang wie prasselnder Regenschauer. „Super, ich bin dabei. Wir fragen an der Rezeption nach, ob es die Möglichkeit gibt, einen Bergführer zu mieten. Warum bin ich bloß nicht selber auf diese Idee gekommen!“

Clara tanzte um Kai herum, nahm ihn in die Arme und küsste ihn ab. Ein hüpfender Jungvogel war nichts gegen ihr Gehopse.

„Du bist klasse, Kai. Wann solls denn losgehen?“

„Von mir aus sofort. Aber ich nehme mal an, dass wir uns erst anmelden müssen. Wir sind ja nicht die einzigen Gäste, die auf Ideen dieser Art kommen.“

„Hoffentlich können wir morgen früh gleich aufbrechen. Ich nehme meine Kamera mit und mache Fotos für einen Bildband. Oh man ist das geil. Komm Kai, wir fragen vorne an der Rezeption nach.“

Sie sprang um Kai herum, wie ein kleines Kind, schnappte sich seine Hand und zog ihn mit sich. Mit strahlendem Glitzern in den Augen, rief sie in die Runde der Anwesenden. „Hey, ihr kommt doch auch mit?“

Winkend hüpfte sie von dannen, ohne eine Antwort abzuwarten.

Ja, das war Svens Clara. Immer hellauf begeistert, wenn sie klettern konnte. Sie war wie in einem Rausch gefangen, und ihre Euphorie blitzte dann aus ihrem ganzen Auftreten hervor.

Als Kai und Clara zurückkehrten, strahlten sie über das ganze Gesicht. Clara glühte vor Vorfreude, und die erhitzten rosa Wangen hüllten ihr Antlitz ein, wie ein weiches Kissen.

Ein Führer namens Josef war gebucht, und die Tour konnte am nächsten Morgen losgehen, - in aller Herrgottsfrühe.

Am frühen Morgen könne man den schönsten Sonnenaufgang genießen, schwärmte Clara begeistert. Es sei das beeindruckendste Naturschauspiel, das man sich überhaupt nur vorstellen könne: Wie sich die Sonne mit ihrer rotgüldenenCorona über Berg und Tal gen Himmel erhebt, um Bäume, Gestrüpp, Wiesen und das noch feuchte Moos in all seiner Farbenvielfalt anzustrahlen. Die Perlen des Morgentaus leuchteten wie Diamanten, in denen sich das bunte Licht der Sonne spiegelte. Dafür lohne es sich wahrlich, sich früh zu erheben.

Clara jubelte und wirbelte mit erhobenen Armen durch den Speisesaal.

„Juchhu! Es hat geklappt. Morgen früh heißt es rechtzeitig aus den Federn hüpfen, und dann hält uns nichts mehr, Einmarsch im Himmel der Glückseligkeit zu halten.“

Kai wandte sich an die Runde.

„Was ist Leute, wer ist dabei? Ist doch die Gelegenheit, mal aus diesem Bunker herauszukommen. Wir sollten uns einen Picknickkorb mitnehmen. „Ha, das wird geil!“, ließ er seiner jäh aufwallenden Freude, aufgedreht ihren Lauf. „Allerdings, sollten wir uns auch ein paar Klamotten kaufen, da unser lieber Freund Sven uns vorher nicht verraten hat, wo die Reise hingeht.“

„Auf mich müsst ihr verzichten“, sagte Sven: „Für mich ist das nichts. Ich werde Sofia ins Spa begleiten, danach gehe ich aufs Zimmer und kümmere mich ein bisschen um meine Geschäfte. Macht ihr nur.“

„Danke, danke Schatz“, stammelte Clara und hängte sich an Svens Hals. „Wenn ich zurück bin, belohne ich dich“, flüsterte sie glückselig, mit einem verheißungsvollen Zwinkern im Auge.

Bernd und Olaf waren natürlich mit von der Partie. Sarah jedoch, lehnte ab. Sie hatte sich am Vortag den Knöchel verstaucht, und konnte kaum auftreten.

Noch am selben Tag fuhren alle gemeinsam in die Stadt, um sich klettertaugliche Kleidung zu kaufen, die nach Svens Meinung extrem schrill und sehr, sehr teuer war.

„Warum muss man bloß so viel Geld ausgeben, für einen Tag Quälerei?“, fragte er sich.

Abends gab es kein anderes Gesprächsthema, als die Berge und die Tour.

Am Nachbartisch saßen zwei Pärchen, die sich in das Gespräch einklinkten. Sie erzählten, dass sie im letzten Jahr schon einmal solch einen Ausflug gemacht hatten. Es sei fantastisch gewesen. Der Anblick der Natur dort oben, raubt einem den Atem und und und….

Die Schwärmereien nahmen kein Ende. Dementsprechend spät war es geworden, als man sich allgemein ins Bett retirierte.

Einiges an Hochprozentigem war durch die Kehlen geflossen, - wohl auch ein Grund, dass Clara selig und zufrieden sofort eingeschlafen war.

Eng an Sven gekuschelt, schnarchte sie in seinen Armen während er einen Laternenpfahl in seiner Boxershorts trug. Sein Lord hatte kein Verständnis dafür, dass diese begehrenswerte Frau neben ihm eingeschlafen war, - den ganzen Tag schon hatte er einer heißen Nacht entgegengefiebert.

Am nächsten Morgen wurde die Euphorie, von der alle gepackt waren, jäh gelöscht. Der Bergführer teilte in dürren knappen Worten mit, dass ein Gewitter vorausgesagt war, er solch ein Risiko nicht eingehen wolle. Herrje, da war der Teufel los. Alle redeten auf den Führer ein, um ihn doch noch umzustimmen. Vergebens!

Clara ließ den Kopf hängen und sah tieftraurig zu ihren Freunden hin.

Kai machte den Vorschlag, dass man alleine losziehen könne. Schließlich waren sie alle erfahrene Bergsteiger, und er selber hatte einst den Mont Blanc bestiegen.

„Jetzt macht euch mal keinen Kopf. Wir gehen einfach. Ab Marsch! Spätestens gegen Nachmittag bevor das Gewitter lostobt, sind wir wieder zurück.“

Josef riet händeringend davon ab, und Sven tat es ihm gleich. Er versuchte Clara davon abzuhalten, sich in Gefahr zu bringen.

„Clara, lass es lieber, wir sind noch eine ganze Woche lang hier. Lass uns einen schönen Tag im Spa machen, und zum Strand gehen. Wir könnten doch irgendetwas anderes unternehmen? Es gibt hier so viel Kulturgeschichtliches, das wirklich sehenswert ist.“ Er legte den Arm um Claras Hüften, zog sie eng an sich. „Wir könnten aber auch auf unserem Zimmer bleiben“, hauchte er ihr zärtlich ins Ohr.

„Nein!“, kam es düster umwölkt und zornig aus ihrem Munde. Sie stieß ihn zur Seite und stampfte auf, wie ein bockiges Kind. „Ich habe mich sooo darauf gefreut. Ich lasse mich doch nicht von so einem blöden Gewitter ins Bockshorn jagen. Schau doch mal hinaus. Das schönste Wetter – oder siehst du irgendwo eine Wolke?? Da kommt bestimmt nichts.“

Es sah tatsächlich so aus, als wolle sich ein wunderschöner Tag entfalten. Das Blau des Himmels erinnerte an einen Opal, und es war an diesem frühen Morgen bereits herrlich warm.

„Miss, das geht hier immer sehr schnell mit Wetter. Ist nix zu unterschätzen“, sagte Josef in seinem gebrochenen Deutsch.

Bernd meldete sich zu Wort.

„Mann, macht nicht rum, ich will jetzt gehen. Was soll da schieflaufen?? Wir sind doch keine Senioren, die stundenlang alles zerreden müssen.“

Der kleine dicke Olaf nickte zustimmend, und versuchte die Abenteuerlustigen mit einer Husch-Husch-Geste zu einer Herde zu ballen.

Sven packte Clara am Arm, um sie zurückzuhalten. Er war nun stocksauer über so viel Unvernunft.

„Nein, du gehst nicht! Es ist zu gefährlich.“

Clara musterte ihn streitlustig.

„Ich gehe! Da kannst du machen was du willst. Geh du hinauf ins Zimmer und kümmere dich um dein Geschäft. Morgen ist auch noch ein Tag für all deine, ach so vernünftigen – (und hier vibrierte ihre Stimme vor Hohn) Vorhaben!

Stunden später

Frustriert saß Sven in seiner Suite über seinen Geschäftsplänen und vergaß die Zeit. Die Pläne für den Windpark an der Ostsee, verlangten seine ganze Aufmerksamkeit. Bei den Rotoren passten die Verbindungen der Naben nicht. Die Bolzen waren zu groß, die Gewinde hatten einen zu kleinen Durchmesser. Er war fassungslos und wütend über so viel Dilettantismus. Jetzt musste er mit dem Hersteller eine Möglichkeit finden, das Problem zu beheben.

Er war gerade im Begriff zum Telefonhörer zu greifen, als ihn grollender Donner und ein nachfolgender Blitz, zusammenzucken ließ. Erschrocken schaute er auf seine Uhr.

Verdammt, es war schon viertel vor Zwei, und das Unwetter kroch auf direktem Wege über die Berge auf Lugo zu. Wo waren die vier? Hoffentlich befanden sie sich auf dem Heimweg.

Getrieben von einem unerklärlichen Gefühl, hastete er zur Rezeption. Er musste wissen, ob die vier sich gemeldet hatten. Er selbst hatte keine Nachricht auf seinem Handy, da die Leitung tot war. Aber was erwartete er?? Dass ihm an der Lobby jemand sagt, dass die vier in Sicherheit sind? Also schlich er mit unheilvollen Gefühlen in seine Suite zurück und stellte sich ans Fenster. Das dumpfe schmerzliche und viel zu rasche Pochen seines Herzens, zeugte von krankmachender Sorge.

Es wurde dunkler und dunkler, das Gewitter hatte noch nicht einmal seinen Höhepunkt erreicht, es goss aber bereits in Strömen. Der Wind hatte volle Fahrt aufgenommen, orkanartig fegte er alles von sich, was er packen konnte, und im Sekundentakt blitzte und donnerte es. Bei jedem Grollen hörte es sich an, als würden die Berge karambolieren und auseinanderbrechen.

Sven betete, dass die vier einen Unterschlupf gefunden hatten und außer Gefahr waren.

Wieder begab er sich ins Erdgeschoss und erblickte Sofia, die zitternd vor Angst um ihre Tochter in einem Sessel saß. Er beugte sich zu ihr hinab, versuchte sie zu beruhigen und bekam nicht mit, dass Olaf, Kai und Bernd völlig durchnässt in die Lobby traten. Erst als Sofia aus dem Sessel sprang und hysterisch zu schreien begann, registrierte er, dass Clara nicht dabei war.

„Wo zum Teufel war sie?“, schoss es ihm durch den Kopf und pulsierte durch seine Venen. Er hatte das Gefühl, dass er jeden Moment zu zerspringen drohte. Er hastete zur Glastür, riss sie auf und versenkte seine schreckgeweiteten Augen tief in die Dunkelheit, als könne er Clara damit ansaugen.

Doch vergebens. Sie war nirgendwo zu sehen. Wutschnaufend kehrte er in die Lobby zurück, und sein erster Blick fiel auf die weinende Sofia. Es war ein solch herzzerreißender Anblick, - eine weinende Mutter, deren Hoffnung, ihr Kind jemals wieder in die Arme zu schließen, zu platzen drohte dass sein Zorn für einen Moment innehielt.

„Wo ist mein Kind? Bernd, wo ist sie?“, wimmerte Sofia kraftlos. Panik stand in ihren Augen, Tränen quollen heraus, und plötzlich schrie sie so quälend und laut auf, dass die Hotelgäste in der Lobby allesamt zusammenzuckten und mit schreckgeweiteten Augen auf Sofia starrten.

„Wo, wo ist sie?“ Ihr Blick fiel immer wieder suchend zur Tür.

Sven sah ihre Verzweiflung: Sie hoffte, ihre Tochter würde jeden Moment mit einem Lächeln hereinspazieren.

„Ach Mama, mach doch nicht so ein Theater. Ich bin hier. Nichts passiert!“, würde Clara unbeschwert lachend ausrufen.

Aber dem war nicht so. Clara kam nicht herein. Niemand lächelte Sofia an.

Plötzlich fühlte er seine eigene Verzweiflung wieder in sich auflodern. Mit wütend gehetztem Blick blickte er die drei bis auf die Knochen durchnässten Ankömmlinge an. Sie standen in der Eingangshalle, und in den Mienen las man nichts Gutes.

Ihre Gesichtszüge sprachen Bände.

Bernd war der Erste, der Worte fand. Mit zitternden Lippen stammelte er:

„Wir wissen nicht, wo sie ist. Wir haben sie aus den Augen verloren. Clara wollte Fotos von den Blitzen über den Bergen knipsen. Olaf und Kai sind derweil schon mal vorausgegangen, um unten auf dem Felsvorsprung auf uns zu warten. Ich blieb in Claras unmittelbarer Nähe stehen, doch sie kletterte immer weiter in die Höhe und ignorierte mein Drängen, umzukehren. Als sie dann nach ein paar Minuten nicht mehr herunter stieg, kraxelte auch ich empor … aber sie war weg“, keuchte er, und fuhr sich mit der Hand durch sein nasses Gesicht. Er sah gehetzt aus.

„Naaaaain!“, brüllte Sven, von einem unheilvollen Szenario gepackt, auf.

„Sie war verschwunden. Es war mir, als hätte ich einen Schatten davonlaufen sehen. Ob es jetzt ein Tier oder ein Mensch war, konnte ich nicht erkennen. Dafür war es zu dunkel, und der Regen peitschte mir derart wüst ins Gesicht, dass ich kaum etwas sehen konnte. Ich habe sie gerufen und geschrien, was das Zeug hält, doch das Donnern hat mich übertönt. Ich konnte sie nirgendwo entdecken, Sven! Meine Hoffnung war, dass sie in einem Felsspalt Schutz gesucht hat. Ich habe noch nach Kai und Olaf geschrien, aber auch die konnten mich nicht mehr hören. Ich musste erst zu ihnen hinunterklettern. Dabei habe ich mir fast die Beine gebrochen, weil ich keinen Halt mehr gefunden hatte. Die Felsen schienen sich in eine Schlinderbahn verwandelt zu haben.“

Er zeigte auf seine Hosenbeine, deren Risse ein schriftartiges Muster bildeten, das zu beschreiben schien, wie er den Berg hinabgestiegen war.

Sofia sackte schreiend vor Bernd auf die Knie.

„Nein! Lieber Gott, lass es nicht wahr sein. Holt sie mir zurück. Claaara!“, schrie und weinte sie gleichzeitig. „Bernd?“, ihr flackernder Blick hüpfte verzweifelt zwischen Sven und Bernd hin und her. Ihre Hände krampften sich um Bernds feuchte, ausgefranste und zerrissenen Hosenbeine.

Bernd aber fühlte sich klein, unnütz und schäbig. Er war nicht imstande gewesen, Clara aus der Gewalt des Unwetters zu befreien. Das in ihn gesetzte Vertrauen hatte er nicht verdient, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Art einer gusseisernen Skulptur herumzustehen, und schuldbewusst in die Runde zu starren. Die Blicke seiner Freunde sagten ihm das, was auch er dachte: Er allein war schuld.

Es brauchte eine Weile, bis er sich gefasst hatte. Sein Herzschlag beruhigte sich so nach und nach, und pumpte das Blut langsamer und gleichmäßiger durch seine Adern.

So lange, bis Kai ihm plötzlich eine kochende Buchstabensuppe über den Kopf zu schütten drohte.

Wütend stürzte er sich verbal auf Bernd.

„Ich hätte sie gesucht. Aber nein, du hattest ja die Hosen voll und hattest es auf einmal verdammt eilig abzusteigen. Zu dritt hätten wir sie sicherlich gefunden!“

Aber Kai war doch selber abgehauen! Er hatte sich Scheuklappen aufgesetzt, unter denen die vage Hoffnung schwelte, dass Clara sich in Sicherheit gebracht hatte. Erst als sie unten angelangt waren, meldeten sich verdammt elende Gewissensbisse. Er fühlte sich wie ein hundserbärmlicher Feigling.

Auch Olaf plagte das schlechte Gewissen. Er ahnte, dass etwas Schreckliches passiert war. Zwar hatte er die Bergwacht angerufen, aber um selber nochmals hinaufzusteigen, war er zu feige. Er hatte Angst um sein eigenes Leben. Er war ein Jammerlappen.

Seine Überfurchtsamkeit war seit einer schlimmen Erfahrung in der Kindheit dauerhaft und unlöschbar in seinem Hirn engrammiert. Ihn hatte im Alter von fünf Jahren ein Blitz getroffen, direkt in den Lenker seines Rollers.

„Mensch, ihr wisst, dass das unmöglich war!“, tobte er im hilflosen Versuch, sein Gewissen reinzuwaschen. „Bei dem Wetter hätte sie niemand gefunden. Es hat doch in Strömen gegossen, und uns hat es doch bereits beim Abstieg andauernd auf die Schnauze gehauen.“

„Mensch, haltet alle die Fresse“, schrie Bernd auf.

Er war genervt und völlig neben der Spur. In seinem Gesicht spiegelten sich Wut und Verzweiflung, - es war nass von Tränen - oder waren es die Tropfen seiner feuchten Haare vom Regen?

„Wir haben doch das Wichtigste unternommen, damit sie gefunden wird. Wir hatten keine andere Wahl, als die Bergwacht zu rufen“, setzte er in einem gemäßigten und doch resignierten Tonfall hinzu.

„Wir??“, blökte Olaf zurück. „Ich habe sie angerufen. Du hast doch als Erster den Abstieg gemacht, als seist du auf der Flucht.“

Kai hörte sich das Gegeifer an. Er war nicht mehr fähig zu sprechen, sich rauszureden und sich zu entschuldigen, geschweige denn, sich selber Absolution zu erteilen. Er trug ebensolche Schuld, wie die anderen.

Sven drehte durch und schlug Bernd seine geballte Faust ins Gesicht. Er, in seiner wütenden Erschütterung, die ihn gepackt und gebeutelt hatte, brauchte dringend einen Schuldigen, um seiner Verzweiflung Herr zu werden. Alles in ihm schrie, dass es nicht wahr sein dürfe! Das durfte nicht wirklich geschehen sein! Man hatte seine Clara, hoch oben in den verfluchten Bergen im Unwetter, ihrem Schicksal überlassen. Der Gedanke, dass ihr etwas passiert sein könnte, brachte ihn schier um den Verstand.

Clara war sehr intelligent und verfügte über ein logisches Denkvermögen, redete Sven sich ein. Er konnte nur beten, dass sie sich irgendwo verkrochen, und in Sicherheit gebracht hatte.

„Himmel Herr Gott, lass es nur ein böser Traum sein!“, fügte er seinem Gebet verzweifelt an.

Bernd brauchte mehrere Minuten, um seine Benommenheit abzuschütteln, und sich das heraussickernde Blut, das an Philtrum, Mund und Kinn entlang herabrann und auf den Teppichboden zu tropfen drohte, abzuwischen.

Plötzlich warf er sich auf Sven, drückte dessen massigen Körper auf den Boden und ließ seine Stirn auf dessen Kopf prallen. Ehe er jedoch mit der Faust zuschlagen konnte, wurde er von Kai rücklings gepackt, hinweggezogen und beiseitegeschoben.

„Schluss jetzt!“, brüllte Kai die beiden Tollwütigen an. „Ändert es etwas, wenn ihr euch totschlagt?“

Sofia weinte immer noch. Sven war nicht in der Lage sie zu trösten. Er selber hätte Trost gebraucht.

Seine Hand schmerzte von dem Schlag, den er Bernd verpasst hatte, aber in seiner Wut machte es ihm nicht viel aus. Sein malträtierter Seelenzustand, fachte seine Wut nur noch an. Wenn man ihn so sah, konnte man meinen, er wäre ein eingesperrtes Ungeheuer, das schnaubend ausbrechen wollte.

Er drehte sich um und rannte in sein Zimmer, zog sich seine Regenjacke an und stürmte wieder herbei. Er würde Clara finden. Er allein.

In der Halle angekommen sah er, wie sich ein Arzt über Sofia beugte und ihr eine Beruhigungsspritze gab. Sie saß völlig apathisch mit einem kreidebleichen Gesicht im Sessel.

Und diese drei verdammten Hundesöhne, maulten sich immer noch an!

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte kaum ein Wort seine Lippen verlassen. Doch nun hatte er seine Sprache wiedergefunden.

„Wenn ich sie nicht finde, oder ihr etwas passiert sein sollte, dann Gnade euch Gott.“

Und in diesem Moment grollte es am Himmel über den Bergen. Krachend und scheppernd, wie ein böses Omen.

Sven stürmte zur Türe, doch ein Sanitäter stellte sich ihm im Weg, und hielt ihn fest.

„Sie können da jetzt nicht hinauf, Herr Hansen. Bei dem Wetter wäre das reiner Selbstmord. Bleiben sie hier! Die Bergwacht ist schon unterwegs. Die wird ihre Frau schon finden! Beruhigen Sie sich doch bitte!“

Sven konnte und wollte sich aber nicht beruhigen. In seinem Herz tobte ein Sturm der Verzweiflung, der wie ein Tsunami über ihn hinwegrollte und sich nicht aufhalten ließ. Mit unbändiger Wut schlug er um sich, riss sich aus der Umklammerung des Sanitäters, und stieß ihn beiseite.

Der Sanitäter hatte Svens entfesselte Kraft, die aus seiner Wut geboren war, völlig unterschätzt.

„Fassen Sie mich nicht an, Sie Arschloch!“ Er wandte sich wieder den anderen zu: „Ich werde Clara finden. Ich steige da hinauf. Sie ist wahrscheinlich halb wahnsinnig vor Angst und weint sich die Seele aus dem Leib. Fuck, Fuck, verfluchte Scheiße, warum habt ihr nicht auf sie aufgepasst? Warum seid ihr nicht zusammengeblieben? Ich hasse euch. Ich hasse euch!“

Drei Sanis mussten Sven dann doch festhalten. Einer allein konnte ihn nicht mehr bändigen, da er schrie, tobte und sich wehrte, als wolle man ihm selbst ans Leben. Er trat und schwang seine Fäuste durch die unheilgeschwängerte Luft, bis er schluchzend und kraftlos zusammenbrach.

Einer der Sanis winkte den Arzt herbei, der dem Unglücklichen eine Beruhigungsspritze geben sollte.

Was kein Mensch ahnte, war, dass irgendwo in Deutschland ein verzweifelter Mensch spürte, dass Clara nicht mehr lebte. Dieser Mensch lag am nächsten Morgen, an dem Clara mit ihrem Leben kämpfte und den Kampf schlussendlich verlor, schweißgebadet in seinem Bett und wusste plötzlich, dass er sie niemals wieder sehen würde.

Sven lag apathisch und ohne jegliche Emotion an die Decke starrend auf dem Bett. Irgendjemand hatte ihn in sein Zimmer gebracht, wo alsbald eine furchtbare Nacht auf ihn gewartet hatte, denn die Wirkung der Beruhigungsspritze hatte nicht lange angehalten.

Weil er Clara nicht suchen durfte, hatte er sich um Sofia und Sarah gekümmert, - ihnen Trost gespendet. Aber seine eigene Hoffnung zerschmolz von Stunde zu Stunde.

Die Bergwacht konnte nichts mehr ausrichten. Das Gewitter war zu heftig und die Felsen durch den Regen viel zu glitschig. Das Moos, das überall auf den Steinen wuchs, war zu schlierig. Um niemanden zusätzlich in Gefahr zu bringen, wurde die Suche für diesen Tag abgebrochen.

Am nächsten Tag setzte man die Suche fort:

Sven, Kai, Bernd und Olaf schlossen sich dem Suchtrupp der Bergwacht an - jeder war mit einem Seil gesichert. Umgestürzte Bäume und Geröll, ferner das feuchte Moos verunmöglichte es, zügig den Berg hinaufzusteigen.

Still, ohne ein überflüssiges Wort, kletterten sie Schritt für Schritt hinauf, um nach Clara zu suchen. Svens Hoffnung, sie lebend zu finden, welkte wie eine Blume, die nicht mehr gegossen wird.

Nach Stunden der Bange und immer wieder aufglimmenden schwachen Hoffnungsresten, fand man Clara. Sie lag auf einem Felsvorsprung und zeigte keine Anzeichen von Leben mehr.

Sven schrie sich die Seele aus dem Leibe und flehte Clara an, die Augen zu öffnen.

„Clara, ich bin bei dir. Es wird alles gut! Schau mich an. Bitte!“, stammelte er hilflos mit bebenden Lippen.

Aber Claras Augen blieben geschlossen, würden nie wieder aufgeschlagen. Das Licht in ihr war erloschen. Ein eigenartiger Augenblick, in welchem alles um ihn herum kühl und grau wurde. Es war ein endgültiger Moment. Nicht nur ein Leben war erloschen. Nein, auch seins, ohne Glaube an die Güte des Schicksals.

Seine schmerzerfüllten Schreie hallten durch die Berge. Mordlust packte ihn – eine unbändige Wut. Er wollte die Menschen töten, die nicht auf Clara achtgegeben hatten.

Die Männer der Bergwacht mussten ihn schließlich gewaltsam von seiner toten Frau trennen.

Er und Clara wurden mit dem Hubschrauber ins nächste Krankenhaus geflogen. Clara wurde in die Autopsie gebracht, und er in die Notaufnahme, wo man seine Trauer mit Spritzen betäubte.

Laut Aussage der Pathologin musste Clara abgerutscht sein. Unerklärlich waren jedoch die Blutergüsse an den Oberarmen. Und hätte man Clara früher gefunden, so wäre sie noch zu retten gewesen. Erst in den frühen Morgenstunden, sei sie an ihren inneren Verletzungen gestorben. Im Polizeibericht stand, dass kein Mensch Clara bei diesem Gewitter hätte finden können.

Der Fall wurde mit dem Aktenvermerk „tragischer eigenverschuldeter Unfall“ ad acta gelegt. Niemand war schuld an ihren Tod.

Sven brauchte Monate, bis er seinen Freunden ohne Groll und Schuldzuweisungen wieder in die Augen schauen konnte. Sie waren die ganze Zeit für ihn da.

Bernd und Kai hatten sich um die Geschäfte gekümmert, während Sven sich dem Suff und der Trauer hingab.

Nur mit größter Willenskraft, wochenlangem Zureden seiner Mutter und seiner Freunde, hatte Sven den Sprung in ein neues Leben ohne Clara geschafft. Eine Betäubung vor dem Schmerz, die ihm Bernd in Form eines frisch ergatterten lukrativen Auftrags zugeworfen hat, bot ihm die Chance, nochmals von vorn zu beginnen.

„Wofür das Ganze?“, eine Frage, die sich mit Wucht auf all die anderen ungeordneten Gedanken in seinem Kopf setzte, und noch sehr lange blieb.

Bernd war sein bester Psychologe und Ratgeber. Er war immer für ihn da, und dies würde Sven ihm niemals vergessen. Bernd war auch derjenige, der ihn anfangs mit anderen Frauen zu verkuppeln suchte. Es hatte ewig gedauert, bis Sven wieder auf das weibliche Geschlecht ansprach.

Doch eine zweite Clara war nicht dabei. Clara blieb einzigartig und unerreichbar.

„Willkommen in der Welt der Schicksalsgeprüften!“, sprach Sven, als er wieder zu sich gekommen war. Er erhob sich und begab sich auf den Weg ins Büro.

Dort angekommen, knallte er die Tür so fest zu, dass Silvia seine Sekretärin, beinahe vom Stuhl gefallen wäre. Wütenden Schrittes hastete er zu seinem Schreibtisch und ließ die automatisch betriebenen Rollos hinunterfahren. Genervt drückte er auf die rotblinkende Taste seiner Telefonanlage, die anzeigte, dass er jederzeit mit jemandem verbunden werden konnte.

Das Telefon klingelte laut und lange.

Völlig verschreckt und verwirrt hob Silvia den Hörer ab, während sie noch immer auf die Glastür starrte, die unter dem wüsten Knall erzittert und erbebt war.

„Hansen, Klüssner!“ Am anderen Ende der Leitung meldete sich der Lebensgefährte der Mutter ihres Chefs. „Ja, ich werde ihn fragen. Bleiben Sie bitte in der Leitung.“

Silvia klopfte ganz vorsichtig an die Tür.

„Was ist?“, fragte der Chef muffig von seinem Schreibtisch aus, durch die geschlossene Tür.

Silvia wagte nicht sie zu öffnen, und stand wie angenagelt davor.

„Jetzt kommen Sie schon rein, oder muss ich noch lauter werden!“, bekläffte der Chef seine treue Sekretärin mit harscher und wütender Stimme.

Zaghaft öffnete Silvia die Tür, blieb im Türrahmen stehen und wartete auf das nächste Donnerwetter.

„Was ist? Warum starren Sie mich so an? Habe ich Läuse im Pelz, oder was? Was wollen Sie?“

Seine Stimme war geladen, spitz wie ein Messer, in dem Blick, den er ihr zuwarf, loderte Mordlust.

„Ähm“, Silvia räusperte sich, „Herr Sommer lässt ausrichten, dass er und Ihre Mutter heute Abend ins Theater gehen, und fragt, ob Sie mitkommen möchten? „Der zerbrochene Krug“ wird gespielt.“

„Was?“, donnerte er schrill, „für so einen Mist kommen Sie extra in mein Büro? Haben wir keine Sprechanlage? Es interessiert mich einen feuchten Kehricht, ob oder wann meine Mutter mit ihrem Liebhaber ins Theater geht. Ich habe keinen Nerv für so einen Schwachsinn. Frau Weber, merken Sie sich ein für alle Mal: Mein Büro wird nur wegen wichtiger Dinge betreten! Ist das jetzt klar!“

„Wie denn?“, kam es verschreckt und gleichzeitig verstimmt über Silvias Lippen.

„Wenn Sie die Sprechanlage ausschalten, kann ich beim besten Willen keine Verbindung herstellen.“

Ihr Chef knallte wütend seine flache Hand auf den Tisch.

Oh verdammt. So erregt hatte sie ihn noch nie erlebt. Er hatte sie auch nie mit ihrem Nachnamen angesprochen. Selbst nicht zu der Zeit, als seine Frau im Urlaub tödlich verunglückt war. So wie jetzt, hatte er sich ihr gegenüber noch nie benommen. Da war er ihr in betrunkenem Zustand ja doch lieber.

Erschlagen von seinem Ausbruch, flüchtete Silvia von dannen.

„Bringen Sie mir einen Kaffee!“, brummte er, bevor sie die Tür schloss.

Von diesem Tag an, war Sven nicht mehr der freundliche und nette Chef. Er hatte sich in einen entsetzlichen Querulanten verwandelt. Kein Tag verging, an dem er nicht herumschrie.

Mit einem Beutel voller guter Dinge, machte sich Sabine Hansen auf den Weg, um die frischgebackene junge Mutter Belana in der Asklepios-Klinik zu besuchen: Strampler in Blau-weiß und ein paar farblich passende Schnuller.

Belanas Augen leuchteten vor Freude über diesen Besuch.

„Frau Hansen!“, rief sie warm und voll Überschwang.

„Belana meine Liebe, wie geht es dir? Alles gut überstanden? Gott, was frage ich, ich sehe es dir an. Du siehst richtig glücklich aus. Wo ist denn der kleine Mann?“ Enttäuscht schaute sie sich um. Nirgendwo stand ein Kinderbett. „Jetzt bin ich extra gekommen, und er ist nicht da.“

„Er ist vor einer halben Stunde abgeholt worden. Die Ärztin wollte ihn wiegen und messen“, sagte Belana.

Und gerade in diesem Moment schob eine Schwester das Bettchen ins Zimmer.

„So, da ist der kleine Wurm. Alles in bester Ordnung hat Frau Doktor gesagt. Sie schaut später noch vorbei.“

Die Schwester schob das Wägelchen an Belanas Bett, hob den kleinen Kerl behutsam empor, und legte ihn in die Arme seiner Mutter.

Sabine war ganz aufgeregt vor Freude, beugte sich zu dem Kind hinab und erstarrte. Der Kleine sah genauso aus wie ihr Sohnemann, direkt nach der Geburt. Dieser Mund, diese Nase und die Augen. Die blonden Haare.

„Das gibts doch nicht!“, dachte sie erschüttert. „Darf ich ihn mal nehmen?“, fragte sie.

Belana nickte und reichte ihr das engelsgleich duftende kleine Bündel.

Ein seltsames Gefühl beschlich Sabine und stürzte sie in ein nicht zu greifendes Gefühl der Irrealität.

„Oh, mein Gott!“ Sie fühlte sich um viele Jahre zurückversetzt, und ihr war zumute, als habe man ihr Sven als Baby – jemanden, den es in dieser Form heute gar nicht mehr gibt - nochmals in die Arme gelegt. Sie schaute sich das Baby genau an, und schob das kleine weiße Mützchen, das die blonden Haare nur knapp bedeckte, am rechten Öhrchen zur Seite. Ihr stockte der Atem. Hinter dem Ohr befand sich ein Feuermal - wie bei ihrem Sohn. Sie schaute sich die kleinen Händchen an. Nun gab es keinen Zweifel mehr: Der kleine Finger des Kleinen hatte keinen Fingernagel - ein kleiner genetischer Defekt in ihrer Familie.

Du lieber Himmel! Hatte sie etwas verpasst? Sabine wusste nur so viel, dass Belana sich vom Vater ihres Kindes getrennt hatte. Es musste sich um Svens Kind handeln, denn dies konnte kein Zufall mehr sein. Ausgeschlossen! Sabine war mit einemmale so gerührt, dass ihr eine Träne über die Wange lief.

„Wie heißt er?“, fragte sie mit belegter Stimme, als sie sich wieder gefangen hatte.

„Sven Michel. Michel, nach meinem Großvater. Ich werde ihn auch mit dem Namen meines Großvaters ansprechen.“

Sabine riss die Augen auf und starrte Belana an.

„Ich hatte recht“, sinnierte sie, „das war wirklich kein Zufall. Der Kleine hieß wie sein Vater, wie ihr Sohn und sie überlegte, ob sie nachfragen sollte? War Belana nur eine kurze Affäre?“

„Das ist ein sehr schöner Name“, sagte sie stattdessen. „Wirst du ihm mitteilen, dass er Vater geworden ist?“, und bebte vor freudiger Erwartung auf ein „Ja!“

Doch Belana schüttelte wild den Kopf.

„Ich hatte gedacht, er sei noch in Dubai. Stattdessen habe ich ihn neulich an meinem Geburtstag mit seiner Clara – ich nehme an, dass sie es war - im Café Koppheister gesehen. Ich wäre am liebsten gestorben. Stellen sie sich das mal vor Frau Hansen, erst hat er mich angestarrt, und dann war ich Luft für ihn. Er schäkerte mit seiner Clara herum, als wäre ich gar nicht da, die beiden haben so laut gelacht, als wollten sie mich zusätzlich quälen. Am gleichen Tag wurde Michel geboren. Wegen meiner Verwirrtheit und inneren Aufruhr hatten sich die Wehen eingestellt.“

Weinend streckte Belana die Arme nach ihrem Kind aus und flüsterte ganz leise - Sabine hatte Mühe, sie zu verstehen:

„Sven war hier! Aber ich habe ihn weggeschickt.“

Sabine legte den Kleinen wieder in Belanas Arme und strich über deren roten Haarschopf.

„Gott“, dachte sie. „Sven weiß es. Ihr Sohnemann wusste, dass er Vater geworden ist.“

Jetzt hatte sie Gewissheit, die Oma des Kindes zu sein. Belana hatte seinen Namen ausgesprochen. Wusste Belana denn nicht, dass Clara tot war? Aber mit wem war ihr Sohn denn im Koppheister? Er hatte nichts davon erwähnt, dass er eine Neue hatte.

„Gott, Belana, das tut mir so leid für dich. Aber ich muss dir sagen, du hast einen wunderschönen Sohn. Er wird dir viel Freude bereiten. Ich weiß das, denn ich habe auch einen Sohn, der mir heute noch Freude macht.“

„Zur Zeit nicht, zur Zeit ist er nicht mein Sohnemann“, nagte ein kummervoller Gedanke an ihr. „Du wirst mir was zu erklären haben, mein Lieber!“

Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause und ihn in die Mangel nehmen.

„Darf ich wiederkommen?“, fragte sie Belana, und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Ja!“, hauchte Belana und blickte in das gerührte Leuchten Sabines Augen.

Fortan kam Frau Hansen jeden Tag und kümmerte sich rührend um Belana und den Kleinen. Das Wickeln übernahm sie mit der Selbstverständlichkeit einer Oma.

Belana kam es nicht in den Sinn eine Verbindung zwischen Sven und ihr zu sehen, oder zu erahnen.

Wenn Frau Hansen sich verabschiedete, atmete Belana tief und erlöst auf. Ihre eigene Mama, die ebenfalls täglich erschien, und Frau Hansen, waren sehr anstrengend. Wenn Belana dann endlich alleine war, begab sie sich mit dem kleinen Michel auf einen Spaziergang im Park hinter der Klinik.

Dabei wurde sie heimlich beobachtet.

Fünf Tage später war sie aus der Klinik entlassen worden.

Werner und Hans hatten als Überraschung ein Bettchen mit Himmel und einer Spieluhr aufgebaut, und die Wand dahinter mit einer Bildtapete neu tapeziert: Kleine Kobolde tanzten dort auf einer großen blumigen Wiese herum.

„Das habt ihr ja richtig toll gemacht!“, jubilierte Belana, und die beiden Männer sahen so stolz und froh aus, als sei ein jeder von ihnen persönlich Vater geworden.

„Gott! Ihr seid echt verrückt“, stammelte die junge Mutter gerührt. „Danke, danke, danke!“

Michel wurde sofort in sein neues Bettchen gelegt und schien sich dort sehr wohlzufühlen. Mit seinem Däumchen im Mund grunzte und schmatzte er noch eine Weile, und schlief bald ein.

Belana umarmte Hans und Werner, drückte die beiden herzlich und musste sich ein paar Freudentränen von der Wange wischen.

„Ihr seid so lieb. Eigentlich wollte ich das ja letzte Woche machen.“

Sie drehte sich freudestrahlend im Kreis. Das Zimmer war fast ein Kinderzimmer. Überall lagen Spielsachen herum: Teilweise waren sie schon ausgepackt. Sie fragte sich, was ein Baby mit so vielen Spielsachen anfangen sollte. Michel war noch viel zu klein dafür. Das einzige Spielzeug, das ihn interessierte, waren ihre Brüste, an denen er herumknetete und saugte, wenn er hungrig war.

Hinter der Tür entdeckte sie ein kleines Laufrad aus Holz.

„Von wem ist das denn?“ Sie zeigte lachend auf das Rad.

Werner schaute sie belustigt aus leuchtenden Augen an und tippte mit dem Finger auf seine Brust.

„Ach, du bist doch verrückt“, lachte Belana. „Der kleine Mann ist doch viel zu jung dafür. Da musst du mindestens zwei Jahre warten, bis er reif dafür ist. Aber wenn es so weit ist, musst du auch mit ihm üben! Versprochen?“

In der Küche setzten sich die beiden Männer an den gedeckten Tisch und schlürften genüsslich ihren Kaffee. Belana gesellte sich zu ihnen und atmete erschöpft aus. Irgendwie war es zu Hause anders. In der Klinik hatte sie sich so stark und energiebefüllt gefühlt, und wollte nach Hause, um so schnell als möglich wieder im Alltag Tritt zu fassen. Jetzt aber fühlte sie sich müde und ausgepowert. Sie wandte ihren Blick zu Werner, um ihn über etwas in Kenntnis zu setzen, das sie sich in der Klinik ausgedacht und vorgenommen hatte.

„Werner, darf ich dich um etwas bitten? Ich möchte in den nächsten Tagen nach Westerland fahren, und dort auch ein Weilchen bleiben. Der Architekt ist fertig mit dem Umbau und eine Nachbarin hat geputzt. Sie hat für Michel ein Bettchen und alles Notwendige besorgt. Könntest du in der Zeit die Praxis alleine führen? Ich will mich von der Geburt erholen, und mit Michel allein zurechtkommen. In der Klinik haben sich zwar alle sehr rührend um uns gekümmert, aber manchmal war mir alles zu viel. Ich möchte die Zeit, bevor ich wieder loslege, ein wenig in die Länge ziehen. Meine Ärztin hat mir ebenfalls dazu geraten.“

„Bist du verrückt geworden!“, meldete sich ihre Mutter zu Wort. „Du kannst doch nicht ganz allein dort sein! Es ist kein Mensch da, der dir helfen kann. Außerdem ist das Haus zu klein. Ich könnte dich begleiten, und so lange bei Violetta Braun wohnen. Sie hat mich sowieso schon gefragt, wann ich sie mal wieder besuche.“

„Nein Mama. Ich fahre allein. Ich komme schon zurecht. Frau Glatter ist eine ältere Dame, die für mich da sein wird. Meine Ärztin hat sie mir empfohlen und sie benachrichtigt, dass ich komme. Sie ist Hebamme auf der Insel, alleinstehend und braucht eine Beschäftigung. Und nun ist gut! Wir trinken erst einmal schön einen Kaffee und essen deinen leckeren Käsekuchen. Mama, mach dir bitte keine Sorgen. Ich bin ein großes Mädchen!“

Belana strich ihrer Mama über die Haare und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Doch ehe sie sich setzen konnte, machte sich der kleine Michel bemerkbar: lauttönend schrie er aus dem Schlafzimmer: Herzerweichend und hungrig.

Werner drückte Belana, die schon auf dem Sprung war, auf den Stuhl zurück, stürmte seinerseits das Schlafzimmer und kehrte mit dem kleinen Michel im Arm zurück in die Küche.

„Alles gut, mein kleiner Schreihals! Nicht weinen.“

Ein Tag später fuhr Belana mit Michel nach Westerland.

Sven hielt sich Tage zuvor, täglich auf dem Klinikgelände auf. Keine Macht der Welt konnte ihn davon abhalten, Belana und ihr Baby beim Spaziergang im Park zu beobachten. Seitdem sie ihn aus dem Krankenzimmer geworfen hatte, war sein Leben zur Hölle auf Erden geworden. Er suchte Zuflucht im Alkohol, seine Wutausbrüche wurden berüchtigt und sorgten für Angst und Schrecken. Seine Sekretärin traute sich kaum noch ins Büro. Anrufe nahm er gar nicht erst entgegen. Er schlief im angrenzenden Zimmer neben dem Büro, wo er die Erinnerungen an Belana förmlich greifen zu können glaubte. Er verwahrloste zusehends. Keine Rasur, kein Duschen, nur Erinnerungen und ein beschissenes Leben. Er versank und versumpfte im Selbstmitleid und begann Belana zu stalken, da er es ohne sie einfach nicht mehr aushielt.

Wie ein Penner, ungepflegt, und nach Alkohol stinkend, marschierte er eines Nachmittags zur Klinik. Er musste ihr doch erzählen, was sich wirklich hinter der Geschichte verbarg. Das hatte er zwar bereits versucht, den Versuch jedoch falsch eingefädelt. Die unglücklich gewählten Worte hatten sich wie ein Strick um seinen eigenen Hals geschlungen. Sie wollte nichts hören und hatte sich von ihm abgewandt.

Nun wagte er einen erneuten Versuch.

Als er auf Belanas Krankenzimmer zuschritt, öffnete sich die Tür und völlig überraschend trat seine eigene Mutter heraus, der die Freude über etwas ganz und gar Unglaubliches ins Gesicht gemalt zu sein schien. Als sie mit ihm kollidierte, fuhr sie jedoch ganz erschrocken zusammen, und sein eigener Schreck war nicht minder groß.

„Muttern!“, lallte er. „Was machst du hier? Hier bei…“ Weiter kam er nicht, denn ohne ein Wort und mit einer Miene, die selbst einen Gestorbenen posthum noch erschaudern lassen würde, schnappte sie ihn am Jackenzipfel und zog ihn, keinen Widerstand duldend, Richtung Fahrstuhl, und drückte den Knopf. Eine Symphonie an Rabiatesse, Gezeter und Gemecker war angesagt. Für den Moment wäre er lieber tot gewesen, als ihre Schimpftirade über sich ergehen zu lassen.

Der Fahrstuhl hielt an, die gänzlich aus der Haut gefahrene Mutter – „Muttern“, wie er sie aufs Eigentümlichste zu nennen pflegte - schubste ihren zum Penner verkommenen Sohnemann in die Kabine, und legte alsbald los. Ihr enthemmtes Gekeife und Gegeifer versetzte ihn in die düstersten Kapitel seiner Kindheit zurück.

„Kein Wort vor Zeugen!“, schien das Aufzuchtsmotto seiner Mutter, aber wehe sie waren unter sich! Dann pflegte ein Unwetter über ihn hinwegzustürmen, das man so leicht nicht mehr vergaß.