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Die dreizehnjährige Sillaidh Ó Connor lebt mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Milli in einem großen Manor in Howth/Irland. Der Familie geht es gut. Doch kurz vor Sills vierzehntem Geburtstag wird ihr Vater, James Ó Connor, brutal zusammengeschlagen. Das Mädchen erfährt, dass der verstorbene Großvater finanzielle Probleme hatte und die Familie vor dem Ruin steht, was James verschwiegen hat. Um die Schulden zu tilgen, hat er sämtliche im Besitz befindlichen Hotels verspielt. Ein Schuldschein in Höhe von einer Million Euro verbrieft die Forderung des deutschen Eigentümers Graf Franz von Rosenberg, der die Schulden auf brutale Weise eintreibt. Die Familie ist gezwungen, nach Berlin auf Rosenbergs Gut zu übersiedeln, wo sie arbeiten und sich um des Grafen jüngsten und kranken Sohn Milan kümmern müssen. Zudem wird Sillaidhs Mutter Marie Ann gezwungen, dem Grafen jederzeit im Bett zu Willen zu sein. Als der älteste Sohn, Peer von Rosenberg, zu Besuch kommt, verliebt sich Sill in ihn, doch er weist sie mit der Begründung, sie sei noch ein Kind, zurück und wendet sich ihrer Schwester Milli zu. Als James Ó Connor eines Tages verschwindet und Marie Ann mehr und mehr dem Alkohol verfällt, kann Sill ihren Hass auf Franz von Rosenberg kaum zügeln. Einziger Trost für sie sind ein Rabe und das Erscheinen Rosaidh Ó Dálaighs, einer Vorfahrin, die vor vielen Jahren Blutopfer sein sollte, um die Götter zu besänftigen und Unheil von ihrem Clan abzuwenden. Der Name Rosaidh ist in eine Triskele eingraviert, die eines Morgens auf Sillaidhs Nachttisch liegt. Seitdem trägt sie das Amulett an einer Kette. Dass diese Triskele Geheimnisse ihrer Vorfahren birgt, erfährt Sillaidh Jahre später, in denen sie Schicksalhaftes erleiden muss. Sie erkennt, dass ein schrecklicher Fluch ihrer Ahnen auf ihr lastet. Als sie Peer von Rosenberg wiedertrifft, spürt sie, dass sie ihn immer noch liebt. Beide verstricken sich in einem Netz aus Intrigen und dunklen Machenschaften und es entbrennt ein verzweifelter Kampf, um dem Fluch zu entgehen.
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Seitenzahl: 449
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Magalasia: die Göttin steht an der Spitze der Entwicklung
Shane Ó Connor: Ururgroßvater von Rosaidh Ó Dálaigh
Aidan Cnoc na Rós: versprochener Ehemann Rosaidhs
Cormac Ó Connor: Ehemann von Rosaidh
Doyle Ó Brain: Vater von Anne Marie Ó Connor
James Ó Connor und Anne Marie Eltern: von Sillaidh und Milli
Franz von Rosenberg: Vater von Peer und Milan
Wolfi: Freund von Peer von Rosenberg
Clemens Dornan: Jugendfreund von Sillaidh
Max Fitzgerald: Pferdewirt der Rosenbergs
Heinrich und Frieda Weber: Hausangestellte der Rosenberg
Die dreizehnjährige Sillaidh Ó Connor lebt mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Milli in einem großen Manor in Howth/Irland. Der Familie geht es gut. Doch kurz vor Sills vierzehntem Geburtstag wird ihr Vater, James Ó Connor, brutal zusammengeschlagen. Das Mädchen erfährt, dass der verstorbene Großvater finanzielle Probleme hatte und die Familie vor dem Ruin steht, was James verschwiegen hat. Um die Schulden zu tilgen, hat er sämtliche im Besitz befindlichen Hotels verspielt. Ein Schuldschein in Höhe von einer Million Euro verbrieft die Forderung des deutschen Eigentümers Graf Franz von Rosenberg, der die Schulden auf brutale Weise eintreibt. Die Familie ist gezwungen, nach Berlin auf Rosenbergs Gut zu übersiedeln, wo sie arbeiten und sich um des Grafen jüngsten und kranken Sohn Milan kümmern müssen. Zudem wird Sillaidhs Mutter Marie Ann gezwungen, dem Grafen jederzeit im Bett zu Willen zu sein. Als der älteste Sohn, Peer von Rosenberg, zu Besuch kommt, verliebt sich Sill in ihn, doch er weist sie mit der Begründung, sie sei noch ein Kind, zurück und wendet sich ihrer Schwester Milli zu. Als James Ó Connor eines Tages verschwindet und Marie Ann mehr und mehr dem Alkohol verfällt, kann Sill ihren Hass auf Franz von Rosenberg kaum zügeln. Einziger Trost für sie sind ein Rabe und das Erscheinen Rosaidh Ó Dálaighs, einer Vorfahrin, die vor vielen Jahren Blutopfer sein sollte, um die Götter zu besänftigen und Unheil von ihrem Clan abzuwenden. Der Name Rosaidh ist in eine Triskele eingraviert, die eines Morgens auf Sillaidhs Nachttisch liegt. Seitdem trägt sie das Amulett an einer Kette. Dass diese Triskele Geheimnisse ihrer Vorfahren birgt, erfährt Sillaidh Jahre später, in denen sie Schicksalhaftes erleiden muss. Sie erkennt, dass ein schrecklicher Fluch ihrer Ahnen auf ihr lastet. Als sie Peer von Rosenberg wiedertrifft, spürt sie, dass sie ihn immer noch liebt. Beide verstricken sich in einem Netz aus Intrigen und dunklen Machenschaften und es entbrennt ein verzweifelter Kampf, um dem Fluch zu entgehen.
Obwohl die Christianisierung, insbesondere im 6. und 7. Jahrhundert, fortschritt, gab es in ländlichen Gebieten und unter bestimmten Gemeinschaften noch bis ins 10. Jahrhundert oder sogar länger Überreste alter heidnischer Praktiken.
Im Jahre 1418 diente die Göttin Magalasia dem Ó Connor-Clan. Sie war für ihre Macht über Fülle, Überfluss und die Elemente bekannt, war die zentrale Figur in der Spiritualität des Clans. Ihre Verehrung brachte den Ó Connors schon immer Wohlstand und Ansehen, und sie wurde als die Beschützerin ihrer Siedlung und ihrer Menschen angesehen. Die Ó Dálaighs, die in der Nähe lebten, erkannten die Macht und den Einfluss, die Magalasia auf den Ó Connor-Clan hatte, und suchten ihre Gunst. In der Hoffnung, von ihrem Wohlstand zu profitieren, schlossen sie einen geheimen Pakt mit der Göttin und dem Ó Connor-Clan. Beide versprachen, dass die Ó Dálaighs in Zeiten des Mangels immer mit Reichtum gesegnet sein würden, solange sie ihnen die Ehrerbietung und Hingabe zollten, die sie verdienten.
Inmitten dieser Verbindung wandelte Gott Contrebus, dessen Name ›Der unter uns Lebende‹ bedeutet, durch die Welt der Menschen, manchmal nahm er die Gestalt eines Tieres an. Er verliebte sich in die irdische Heilerin Andräya Ó Dálaigh, und aus dieser Verbindung entstand ein Mädchen mit leuchtend rotem Haar. Dieses Kind wurde zur Verkörperung des Schicksals beider Clans – sie war sowohl ein Zeichen der Liebe zwischen einem Gott und einem menschlichen Lebewesen als auch ein Blutopfer für den Zorn und die Eifersucht der Göttin Magalasia.
Die Geburt von Aniya, dem Kind des Blutes und des Wohlstands, wurde zu einer düsteren Mahnung, während die Clans in der Furcht vor dem Unausweichlichen gefangen waren.
So verband die Göttin Magalasia die Schicksale der beiden Clans in einem Netz aus Götterglauben, menschlicher Sehnsucht und tragischen Opfern auf ewige Zeiten.
With the possible exception of the equator, everything begins somewhere.
(Bis auf die mögliche Ausnahme des Äquators hat alles irgendwo seinen Anfang.)
CS Lewis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Sillaidh Ó Connor
Irland - Howth
1.Oktober 2015
Bote der Götter oder unheilvolles Omen
Es war Sonntag, als das schrille Klingeln des Telefons im Flur die gespenstische Stille des Hauses durchbrach.
Wie ein unheilvolles Vorzeichen hallte es durch die Dunkelheit. Voller Ärger wandte ich mich im Bett, die Augen fest auf die Uhr gerichtet. Mitternacht? Wer zur Hölle rief um diese unheilige Stunde an? Mein Blick fiel auf die Ecke meines Zimmers, wo Rosaidh saß. Sie war seit ein paar Jahren die Beschützerin meiner Nächte, sprach nie, sah mich nur an. Doch wenn der Rabe auf der Fensterbank erschien, laut krächzend, verflüchtigte sich Rosaidhs Gestalt. So auch in dem Moment, als ich mich gerade aufrichten wollte, um diesem nervtötenden Geräusch des Telefons ein Ende zu setzen. Doch es verstummte abrupt. Ein Gefühl der Unruhe überwältigte mich. War es der ominöse Anrufer, der mich schon seit Wochen belästigte und beunruhigte? Derjenige, dessen leises, kaum hörbares Flüstern mir das Blut in den Adern gefrieren ließ?
»Ich weiß, dass es dich gibt. Du kannst nicht entkommen … nicht entkommen.«
Wer war es, der mir eine Höllenangst einjagte? Doch meine fragenden Gedanken wurden jäh durch den schrillen Schrei meiner Mutter durchbrochen. Der Rabe, der zuvor ruhig auf der Fensterbank gesessen, mich mit seinen glänzenden, schwarzen Augen beobachtet hatte, kippte augenblicklich zur Seite, als wäre er in Ohnmacht gefallen. Doch bevor ich nachschauen konnte, rappelte er sich wieder hoch und reagierte mit einem krächzenden Laut, der wie ein ausdrucksstarkes Protestgeschrei klang. Er schien mir direkt in die Augen zu sehen, als wolle er in meine Seele blicken. Dann erhob er sich in die Luft und flog davon. Kurz kamen mir Worte meines Dads in den Kopf, die er sagte, als vor Wochen der Gemüsegarten von zig Raben praktisch umgegraben worden war. »Raben werden oft mit Geheimnissen, Tod oder Vorzeichen in Verbindung gebracht. In vielen Kulturen gilt der Rabe aber auch als Bote der Götter.«
Ich hatte ihn ausgelacht, gesagt: »Es sind nur Vögel, Dad. Nichts weiter.«
Doch jetzt fragte ich mich, ob Dad recht hatte. War der Rabe auf meiner Fensterbank ein unheilvolles Omen? Quatsch!
Ohne zu zögern, sprang ich aus dem Bett. Meine Hände suchten hastig nach meiner Kette und ich legte sie an. Vielleicht war es schon eine Art Abhängigkeit, dass ich ohne sie nicht mehr sein konnte. Wäre der Anhänger nicht so schwer, hätte ich sie wohl sogar im Schlaf getragen.
Ich rannte die Treppe hinunter, das Holz unter meinen Füßen knarrte unter dem Druck meiner Schritte. Im Wohnzimmer fand ich Mom, weinend und zusammengebrochen saß sie im Sessel, ihre Schultern zuckten unkontrolliert. Meine Schwester Milli war bereits bei ihr.
»Was ist passiert?«, fragte sie, ihre Stimme zitterte, kaum brachte sie die Worte heraus.
»Euer Dad liegt im Krankenhaus«, schluchzte Mom.
In diesem Moment schoss ein eisiger Schreck durch meinen Körper, als wäre ich von einem Blitz getroffen worden. Ich konnte nur dastehen und sie anstarren, während mein Herz vor Angst um Dad raste, als würde es wie ein überdehntes Gummiband drohen, jeden Moment zu reißen.
Ihre Worte hallten in meinem Kopf wider, während sie sich aus dem Sessel erhob und wild entschlossen an uns vorbeistürmte, um ihre Jacke und den Autoschlüssel von der Garderobe zu schnappen.
Als Großvater vor einem halben Jahr starb, war Dad nicht mehr der Gleiche. Der Tod seines Vaters veränderte ihn. Abends kam er nicht mehr wie gewohnt von der Arbeit nach Hause. Wenn Mom ihn darauf ansprach, klang seine Antwort stets vage und voller Schmerz: »Ich erkläre es dir, wenn ich alles ins Reine gebracht habe. Vater hat einen Scherbenhaufen hinterlassen.« Worte, die mir die Kehle zuschnürten.
In letzter Zeit war Dad wie ein Schatten seiner selbst. Seine Augen, sonst voller Leben, blickten nur noch in einem blassen Grau, und seine Haut war fahl, als hätte das Licht des Lebens ihn verlassen. Tagelang sah ich ihn mit einem unrasierten Bart umherstreifen. Manchmal begegnete er uns mit einem Blick, der tiefe Ängste verriet – Ängste, die ich nicht begreifen konnte. Was war mit ihm geschehen? Fürchtete er, dass wir in Gefahr waren? Doch uns ging es gut, das musste er doch spüren! Jedes Mal begrüßten wir ihn mit fröhlichem Lachen, als wäre das der Schlüssel, um seine düstere Stimmung zu vertreiben.
»Mom! Was ist passiert? Sollen wir mitfahren?« Die Angst um Dad in meiner Stimme war wohl nicht zu überhören.
»Nein … nein!«, kam ihre Antwort, durchzogen von Schluchzen, während sie den Autoschlüssel krampfhaft in ihrer zitternden Hand hielt. »Euer Dad wurde zusammengeschlagen, das müsst ihr nicht sehen.«
»Zusammengeschlagen«, brach es gleichzeitig aus Milli und mir heraus.
Ein Schock durchfuhr mich, ich begriff nicht, dass Dad, der beliebteste Mann weit und breit, der in jedem Herzen einen Platz hatte, brutal verprügelt worden war. Mom atmete tief durch, als versuche sie, den Schmerz, der in ihrer Stimme lag, zu bändigen. »Ja! Die Ärztin am Telefon sagte mir, dass er am Bahnhof von Passanten gefunden wurde. Er lag bewusstlos hinter einer Mülltonne. Seine Beine und Arme … und sein Kopf … Gott, ich weiß es nicht mehr. Ich konnte vor lauter Weinen nicht alles verstehen.« Unvermittelt sank sie zu Boden und blieb in der offenen Haustür sitzen, sie sah wie eine zerbrochene Puppe aus, die ihren Sinn verloren hatte.
»Ich ziehe mich an!«, rief ich, während ich die Treppe hinaufrannte. »Ich fahre mit. Milli, ruf Blake an! Mom kann in ihrem Zustand nicht fahren. Er soll uns fahren!« Meine Stimme glich verzweifelten Schreien, die durch das Haus hallten. Als ich mich oben umdrehte, sah ich Milli wie erstarrt neben Mom stehen, regungslos, als wäre sie aus Stein. »Mach schon!«, rief ich.
»Blake hat heute frei. Vielleicht ist er nicht zuhause«, antwortete sie.
»Mom hat seine Handynummer. Ruf ihn an! Er weiß, wenn Mom oder Dad ihn auf dem Handy anrufen, dann ist es dringend!« Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus.
Wie in Trance zog Mom ihr Handy aus der Tasche und reichte es Milli, ihre Hand zitterte. Die Dramatik der Situation schien die Luft um uns herum zum Vibrieren zu bringen. Ich brauchte keine fünf Minuten, bis ich angezogen war und wieder nach unten eilte.
»Blake ist unterwegs!«, rief Milli mir entgegen. Kaum eine Minute später fuhr die schwarze Limousine vor. Blake stieg aus und kam um den Wagen herum, seine Miene war eine Maske aus Sorge.
Er nickte kurz, bevor er sich zu Mom hockte, die jetzt völlig apathisch dasaß, als wäre sie in eine andere Welt entglitten. »Milli hat mir schon berichtet«, sagte er zu mir gewandt. »Sie braucht einen Arzt.« Mit einer schnellen, aber sanften Bewegung hob er sie auf seine Arme. »Macht mal einer die Wagentür auf!« Seine Worte waren ein Befehl.
Ruckartig riss ich die Tür auf.
Blake setzte Mom vorn auf den Beifahrersitz. Seine Bewegungen waren präzise, als er den Sicherheitsgurt um sie legte, dabei warf er einen Blick über seine Schulter.
»Einsteigen! Beide!«, befahl er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
»Komm!«, rief ich zu Milli. Doch Milli wehrte sich, ihre Augen hatte sie weit aufgerissen. Ich sah ihr die Angst an, die auch ich um Dad hatte. Und doch sagte sie:
»Nein! Ich nicht! Ich kann kein Blut sehen. Außerdem bin ich nicht angezogen und nicht geschminkt! Fahrt ihr mal. Ihr könnt mir später berichten, wie es Dad geht.«
Das war wieder typisch für meine Schwester. Wenn es um etwas Wichtiges ging, schien sie immer in ihrer eigenen Welt gefangen zu sein. Ein kleiner Kratzer oder ein entlaufener leiser Pups – für sie bedeutete das den Weltuntergang. Ich konnte es nicht fassen, dass sie in diesem Moment so egoistisch war und an ihr Aussehen dachte, während Vater in Gefahr schwebte. Ich musste sie überzeugen, sie musste mitkommen. Die Uhr tickte, jeder Moment zählte.
»Milli!«, schrie ich, als ich mich umdrehte, um sie zurückzuholen, aber die Haustür fiel hinter ihr ins Schloss. Menschenskinder, Milli war zwanzig, benahm sich aber manchmal wie eine Greisin, die jeden Tag ein anderes Zipperlein quälte. Obwohl man das so allgemein nicht sagen konnte. Unsere Nachbarin, Marie Ui Doyle, befand sich im dreiundachtzigsten Lebensjahr und war fit wie ein Turnschuh. Sie joggte jeden Morgen und trank täglich eine halbe Flasche Rotwein. Mehr nicht. Sie wolle ja nicht zur Alkoholikerin werden, hatte sie mir mal erzählt.
Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken an Marie und ihre seltsamen Gewohnheiten zu verdrängen. Das war nicht der Moment für Ablenkungen. Ich musste mich auf das Wesentliche konzentrieren: unseren Vater.
Sillaidh
Schulden, Prügel und die Triskele
Blake startete den Motor und wir fuhren mit quietschenden Reifen in die Nacht hinaus. Er raste wie ein Geistesgestörter auf der Flucht nach Dublin, missachtete jede Ampel und brachte uns innerhalb von sechzehn Minuten zum Krankenhaus. In aller Eile trug er Mom in die Notaufnahme, wo sich sofort ein Arzt um sie kümmerte. Nach einer kurzen Befragung und Untersuchung, spritzte der Arzt ihr ein Medikament, das sie beruhigte, und erlaubte ihr erst nach zehn Minuten, auf die Station zu gehen, auf der Dad lag.
Als Mom sich von der Liege erhob, trat eine Ärztin an ihre Seite und reichte ihr die Hand.
»Ich bin die behandelnde Oberärztin«, sagte sie, »mein Name ist Frau Dr. Lindau. Kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihrem Mann.« Sie schaute zu mir. »Kann ich in Gegenwart des Kindes reden?«
Mom nickte. »Sillaidh ist alt genug.«
»Gut«, sagte Frau Dr. Lindau und räusperte sich.
»Da Ihr Ehemann bewusstlos aufgefunden wurde und somit keine Schmerzen bekunden konnte, seine Beine und Armgelenke jedoch geschwollen und mit vielen Blutergüssen bedeckt waren, gingen meine Kollegen zunächst von Brüchen aus. Später stellte sich jedoch heraus, dass es nicht an dem war. Die Blutergüsse und Schwellungen stammen von Tritten. Doch was uns jedoch mehr Sorgen bereitete, waren seine Kopfverletzungen, die, wie sich herausstellte, von Schlägen mit einem harten Gegenstand herrührten.«
Ich hielt mich erschrocken an Moms Arm fest, während sie wieder weinte. Die Ärztin legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Die Kopfverletzungen und die Bewusstlosigkeit Ihres Mannes haben mir große Sorgen gemacht. Daher habe ich wegen möglicher Gehirnprellung oder Rissen ein CT veranlasst. Aber ich kann Sie beruhigen, es ist alles gut. Ihr Ehemann ist seit einer Stunde wieder bei Bewusstsein und ansprechbar. Doch er wird noch eine Woche zur Beobachtung bleiben müssen.«
Bevor wir Dads Zimmer betraten, holte ich tief Luft und bereitete mich auf das vor, was mich erwartete.
Es war erschreckend.
Geschlagen, getreten, verbunden wie eine Mumie, lag er da. Mom verharrte in der Tür, während ich sofort auf sein Bett zusteuerte. Ich traute mich nicht, ihn zu umarmen, stand da und schaute ihn mit Tränen in den Augen an. Ich wollte nicht weinen. Aber es tat so weh, ihn da liegen zu sehen.
»Dad!«, brachte ich nur heraus und ließ den Tränen freien Lauf.
Er strich über meine Haare
»Nicht weinen, Sillimaus! Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Du wirst sehen, in ein paar Tagen bin ich wieder wie neu.«
Seine Stimme klang schwach.
In ängstlicher Erwartung sah ich ihn an.
»Wer hat dir das angetan?«
Er antwortete mir nicht, sagte stattdessen: »Kannst du mich und deine Mom für ein paar Minuten alleine lassen, Schatz? Ich habe etwas Dringendes mit ihr zu besprechen.«
»Nein, ich will nicht!« Ich schniefte, um weitere Tränen zu verdrängen und klammerte mich an Mom fest. Sie war zu uns ans Bett gekommen und zog mich von Dad weg.
»Sei so lieb, Sill. Ich rufe dich gleich wieder rein.«
Sie nahm mich an der Hand, führte mich zur Tür. Mom sah so bekümmert aus, dass ich nachgab.
Ich setzte mich auf eine der harten Krankenhausbänke, fühlte mich unwohl durch das sterile Licht der Flure, das alles blass und ungemütlich erscheinen ließ. Meine Gedanken kreisten um die Sorgen, die mich und Mom hierhergebracht hatten, als ich plötzlich einen Mann mittleren Alters bemerkte. Er stand am Ende des Flurs, eine düstere Gestalt, die mit der dunklen Sonnenbrille und dem tief ins Gesicht gezogenen Hut fast wie ein kaltblütiger Mörder wirkte. Sein Kinn war spitz und scharf, während die Nase mit einem kräftigen, gewölbten Nasenrücken und sein Kinn mit einer diagonalen Falte versehen war. Seine dünnen Lippen, die sich zu einem sarkastischen Grinsen verzogen, schienen nur darauf zu warten, eine Bemerkung zu machen. Eine Hand hatte er in der Tasche seines Mantels vergraben, mit der anderen blickte er immer wieder auf die Uhr an seinem Handgelenk.
Wer war er und was hatte ihn hierhergeführt? Vielleicht war er ein besorgter Angehöriger, der auf Nachrichten wartete, oder vielleicht war er selbst ein Patient, der sich in den Korridoren verlor.
Ein unangenehmes Kribbeln lief mir über den Rücken, als er plötzlich den Kopf hob und mich vermutlich direkt ansah. Er zog sein Handy aus der Jackentasche, tat so, als fotografiere er die Schwester, die um die Ecke kam. Doch dann richtete er sein Handy in meine Richtung und fotografierte mich. Zumindest hatte ich das Gefühl, dass er es tat. Erst als die Krankenschwester ihn ansprach, wandte er sich ab und verschwand hinter der nächsten Abzweigung des Flurs. Ich hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch, beabsichtigte wieder ins Krankenzimmer zurückzukehren und öffnete leise die Tür, hielt jedoch inne, als ich Dads Worte vernahm.
»Ich habe gespielt und habe verloren.«
Dann Moms Stimme: »Wie? Du hast gespielt? Warum? Und wie viel hast du verloren?«
»Eine Million. Die Hotels hat Vater im Laufe der Jahre verspielt. Unser Zuhause wird in Rosenbergs Besitz gehen, sollte ich die Spielschulden nicht begleichen können.«
»Wir sollten ihn anzeigen«, hörte ich Mom sagen. »War er es, der dich so zugerichtet hat?«
Dad lachte gequält auf.
»Ganz gewiss nicht. Dafür hat Rosenberg seine Leute. Und anzeigen können wir ihn nicht, Marie. Sein Einfluss erstreckt sich bis in die höchsten Etagen des Polizeiapparats. Die Polizei, die eigentlich dazu da ist, Recht und Ordnung zu wahren, ist ein Pfand für seine dunklen Machenschaften.«
»Dann verkaufen wir das Manor«, sagte Mom. »Es ist mehrere Millionen wert.«
»Nein! Können wir nicht. Er behält das Herrenhaus als Unterpfand. Zudem ist es das Erbe meiner Urahnen. Das kann und werde ich nicht so einfach verkaufen. Und ich überlasse es ihm nicht. Wie ich das anstellen soll, weiß ich noch nicht.«
Mich traf fast der Schlag. Dads Erläuterungen suchten in meinem Kopf eine Ecke, um das alles zu verarbeiten.
Großvater, der seit ein paar Monaten unter der Erde lag, hatte die Ó Connor Hotels verspielt, die sich über hundert Jahre im Familienbesitz befanden? Um sie zurückzuerlangen, hatte auch Dad gespielt. Entnahm ich zumindest seinen Äußerungen.
Ich spitzte meine Ohren, und lauschte weiter.
»Anfangs habe ich noch gewonnen«, hörte ich ihn sagen. »Der Erfolg schien sich abzuzeichnen. Doch je mehr ich gewann, umso gieriger wurde ich.«
Er schwieg und auch Mom sagte kein Wort.
Gerade als ich das Zimmer wieder betreten wollte, fuhr er mit seiner Beichte fort.
»Nun, es musste ja zu einem unvermeidlichen Absturz kommen. Denn hinter den Kulissen des Casinos agierte die Gaunerei und das Unheil drängte sich in den Vordergrund. Nicht nur die Hotels sind für immer verloren, sondern auch unser schönes altes Manor und der Familienschmuck der Ó Connors.« Ein Hustenanfall ließ ihn innehalten.
In Gedanken griff ich nach meiner Halskette mit dem Anhänger - einer Triskele, in deren Mitte sich ein roter Diamant befand. Als ob sich eine Substanz in dem Stein befände, erstrahlte er rot oder lila, je nachdem, wie er das Licht auffing. Die Bögen der Triskele waren mit weißen Diamanten besetzt. Die Rückseite eines Bogens zierte der Name ›Rosaidh‹. Dad hatte uns Kindern schon oft die Geschichte von Aniya Ó Dálaigh, einer Ahnfrau seines Vorfahren Cormac Ó Connor und dessen großer Liebe zu Rosaidh Ó Dálaigh erzählt. Es war eine Geschichte, so gruselig, dass ich sie nicht glauben wollte. Für mich war sie ein Märchen, das sich einer unserer Vorfahren erdacht hatte, um uns Kindern Angst einzujagen. Jedes Mal, wenn Milli darum bat, die Legende erneut zu hören, versuchte ich, mich in mein Zimmer zurückzuziehen. Doch Dad bestand darauf, dass ich blieb. Er glaubte, dass er die Geschichte nicht oft genug wiederholen könne, denn es sei wichtig, das Gewesene an die nächste Generation weiterzugeben.
Dad erzählte die Geschichte jedes Mal mit den nahezu gleichen Worten:
»Es geschah vor langer langer Zeit. In der Dämmerung, als der Himmel in sanften Rottönen glühte und die Schatten der Bäume sich lang und unheimlich über den Boden legten, versammelten sich die Ó Connors und die Familien der Ó Dálaighs in einer heiligen Halle. Der Geruch von brennendem Holz und frischen Kräutern lag in der Luft, vermischt mit einem Hauch von Angst und Erwartungen. Jedes Mädchen, geboren mit rotem Haar, musste der Göttin Magalasia geopfert werden.
Aniya Ó Dálaigh, ein stolzes und mutiges Mädchen mit flammend rotem Haar, trat in den Mittelpunkt des Kreises, ihre Augen funkelten im Schein des Feuers. Sie war die Auserwählte, die das Blutopfer darbringen sollte, um den Zorn der Göttin Magalasia zu besänftigen und um den Reichtum sowie die Ernten für alle Zeit zu sichern. Ihr Clan hatte einen Pakt mit den Ó Connors und der Göttin geschlossen.
Die Obersten, gekleidet in gewobene Gewänder aus Tierhäuten, umringten sie und murmelten alte Beschwörungen. In den Händen hielten sie glänzende Dolche, die im Licht der Fackeln funkelten. Aniyas Eltern waren voller Respekt, andere Mitglieder zeigten Furcht, doch alle wussten, dass dies ein Ritual war, das ihnen ewigen Reichtum brachte.
Ein älterer Mann, der Hohepriester, trat vor und sprach mit einer Stimme, die sowohl sanft als auch autoritär klang.
›Aniya, Tochter des Blutes, du bist auserwählt, unser Opfer zu sein. Du trägst den Zorn Magalasias und die Hoffnung deiner Eltern in dir. Dein Blut wird der Göttin als Zeichen ihrer Verehrung dargebracht.‹
Mit einem letzten Blick gen Himmel schloss Aniya die Augen und atmete tief ein. Sie dachte an ihre Familie, die nie wieder hungern würde. Als der Dolch, angestrahlt vom heiligen Feuer, schimmerte und die Worte des Hohepriesters verklungen waren, wusste sie, dass dies kein Ende, sondern ein Übergang war. Ein Teil von ihr würde für immer in der Verbindung zwischen den Lebenden und den Göttern weiterleben. Ihr Opfer wäre nicht umsonst; es würde den Kreislauf des Lebens erneuern und ihre Familie mit der Gabe Magalasia glücklich machen.
Während ihr Blut in zurechtgestellte Schalen tropfte und der Himmel sich glutrot verfärbte, wurde sie eins mit ihrer Geschichte, ihrer Familie und dem unaufhörlichen Rhythmus des Lebens.
Anfang des 17. Jahrhunderts setzten die Nachfahren der Ó Dálaighs jedoch alles daran, diesen Pakt zu umgehen.
Getrieben von Rachegelüsten, sandte Magalasia 1740 einen strengen Winter und versetzte die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Um der darauffolgenden Hungersnot ein Ende zu setzen, wurde Rosaidh Ó Dálaigh für das Blutopfer bestimmt. Doch bevor es dazu kam, entführte Aidan Cnoc na Rós seine Braut Rosaidh, die jedoch in den leidenschaftlichen Cormac Ó Connor verliebt war. Cormac befreite sie und heiratete sie heimlich. Aidan schwor Rache und verfluchte Cormac. Jeder erstgeborene Sohn dessen zukünftiger Linie musste sterben, während das Schicksal der rothaarigen Töchter besiegelt blieb.
Um seine Nachkommen zu schützen, kreierte Cormac zwei Triskelen, die ein Geheimnis bargen, schwor den Göttern ab und nahm den christlichen Glauben an. In dieser Legende ist die Liebe ein Kampf gegen die dunklen Mächte.« Zum Ende seiner Geschichte sagte Dad stets: »Manchmal wandelt Rosaidh im Haus, und wenn der Wind um die Ecken des Manors heult, siehst du ihren Schatten an den Wänden tanzen. Und wenn du genau hinhörst, kannst du ihr Weinen vernehmen.«
Wie gewohnt konnte Milli sich nicht verkneifen zu sagen: »Sill! Sie hat rotes Haar. Muss sie das Blutopfer erbringen?«
Dad verneinte das jedes Mal.
Milli gefiel es, die düstere Liebesgeschichte so oft wie möglich zu hören. Sie jagte mir des Nachts Angst ein, wenn sie in meinem Zimmer, verkleidet als Geist von Rosaidh, herumspukte und mir weiszumachen versuchte, ich sei das nächste Blutopfer.
Aus einer Neugier heraus fragte ich Dad eines Abends, nachdem er es wieder nicht lassen konnte, die Legende zu erzählen, wo Rosaidh und Cormac nach ihrem Tod beigesetzt worden waren. Dad erklärte, dass beide im Garten neben einer der alten Steinbänke ruhten.
Von da an setzte ich mich manchmal auf eine dieser halbmondförmigen Bänke, um herauszufinden, ob ich eine Verbindung zu Rosaidh und Cormac aufnehmen könnte. Ich suchte nach einem Grabstein, aber es gab keinen.
Wenn diese Geschichte wahr sein sollte, müsste es doch eine Familiengruft geben, in der die Ó Connors beigesetzt waren. Also auch die beiden?
An einem Abend, als ich wieder einmal auf der Steinbank saß, waberten dichte Nebelschwaden wie geheimnisvolle Schleier um die Bäume und um mich herum, und ein leises Flüstern schien durch die Luft zu wehen, als ob die Geister der Verstorbenen mich riefen. Ich nahm natürlich an, es sei wieder einmal Milli, die mich ängstigen wollte. Doch am nächsten Morgen befielen mich Zweifel. Eine Kette mit dem Anhänger einer Triskele lag auf meinem Nachttisch. Das konnte nicht Milli gewesen sein. Ich fragte mich, wo sich die andere Triskele befand, wenn Cormac Ó Connor zwei angefertigt hatte. Milli besaß keine Kette, das hatte ich schnell herausgefunden.
Am nächsten Abend, als ich mich zum Schlafen in mein Zimmer verzogen hatte, wartete eine mystische Überraschung auf mich. Ein strahlendes Licht durchflutete mein Zimmer, wurde immer intensiver und blendete mich für einen Augenblick.
Dann sah ich sie.
Ihre roten Locken fielen in sanften Wellen über ihre Schultern. Das weiße Kleid, das sie trug, ließ sie wie einen Engel erscheinen.
Verwirrt schüttelte ich den Kopf und versuchte zu fassen, wer sich gerade vor mir manifestierte.
»Rosaidh?«, hauchte ich.
Sie legte sanft ihre Hände auf ihr Herz, lächelte und nickte. Es dauerte keine zwei Minuten, da saß ein Rabe auf der Fensterbank.
Diese Kette wird niemand bekommen, schwor ich mir in diesem Augenblick und ließ die Vergangenheit vergangen sein. Und je länger ich darüber nachdachte, desto trauriger wurde ich.
»Ich hatte keine Ahnung, in welchen Schwierigkeiten mein alter Herr steckte«, hörte ich Dad sagen. »Rosenberg gehören jetzt die Hotels, und ... und mein Leben. Es tut mir unendlich leid, ich dachte, ich schaffe es, Vaters Schulden zu begleichen und die Hotels zurückzugewinnen. Stattdessen ist mein Vorhaben nach hinten losgegangen. Wenn ich nicht bis zum nächsten Ersten bezahle, bin ich tot und ihr seid obdachlos.«
Er schwieg.
Mir stockte der Atem, als ich durch den Türspalt sah, wie Tränen über seine Wangen liefen. Ich hatte ihn nie weinen gehört, geschweige denn gesehen.
Mom ergriff seine Hand, ihre Stimme war ruhig, als sie sagte: »Das lasse ich nicht zu. Ich werde mit Franz reden. Du weißt, er und ich, wir waren ein Paar, bevor ich dich kennenlernte.«
Dad stöhnte laut auf. »Das wirst du nicht tun. Ich verbiete es dir. Lieber sterbe ich, bevor du ihn bittest, mich zu verschonen. Du weißt, dass er jede Möglichkeit ergreifen wird, um dich zurückzuero...«
Mein Herz klopfte wie verrückt. In meinem Kopf dröhnte es, Dads Worte verloren sich, als ich sah, wie Mom zur Tür schaute und nicht nur den offenen Spalt entdeckte.
»Sill!«, rief sie. Mir wurde schwindelig, meine Beine gaben nach und ich fiel nach vorne, direkt ins Zimmer hinein. Sofort herrschte gähnende Stille. Unbeholfen rappelte ich mich auf und zwang mich zu lächeln, ich wusste nicht, wie ich es schaffte, meine Eltern nicht schuldbewusst anzusehen. Mir war klar, dass sie böse auf mich sein mussten. Doch zu meinem Erstaunen schimpften Mom und Dad nicht. Sie taten, als ob ich nicht gelauscht hätte und nicht durch die Tür ins Zimmer geflogen wäre. Anstelle einer Standpredigt half Mom mir auf die Beine und zog mich in ihre Arme.
»Wenn wir wissen, wie es weitergeht, werden Dad und ich euch unterrichten, Sillimaus. Bis dahin sagst du deiner Schwester kein Wort von dem, was du gehört hast. Versprichst du mir das?«
Ich nickte. »Wenn wir Glück haben, müssen wir nicht einmal ausziehen«, fügte Mom hinzu.
Vierzehn Tage später, Dad war wieder zuhause, riefen unsere Eltern Milli und mich ins Wohnzimmer. Es war erschreckend, was wir erfuhren.
Vor Monaten noch war mein Vater, James Ó Connor, als Sohn und Erbe der Connor Hotels in Dublin seines Reichtums wegen ganz oben auf der Beliebtheitsskala.
Gern gesehen, umschwärmt von Motten, die sich an dem Nektar des Reichtums labten. Doch nun war nichts mehr da.
Dass es Großvater gelungen war, seine finanziellen Probleme vor uns und der Welt zu verheimlichen, war wahrscheinlich auf sein geschicktes Management von Informationen, das Vermeiden von Gesprächen über Geldangelegenheiten und das Schaffen einer Fassade zurückzuführen, um den Eindruck von Erfolg und Stabilität aufrechtzuerhalten.
Doch ein eine Million Euro schwerer Schuldschein verbriefte die Forderung des deutschen Juristen und fünfzigjährigen Eigentümers Franz von Rosenberg. Jeder, der in Dublin der Spielsucht verfiel, wusste mit welch grausamen Methoden Rosenberg sein Geld eintrieb. Er war es auch, der Schläger beauftragte, die Schulden die Großvater und Dad gemacht hatten, einzutreiben. Da Dad nicht zahlen konnte, kein Kreditinstitut gewährte ihm ein Darlehen, zeigten sie keine Gnade und setzten Gewalt ein, um ein Exempel zu statuieren. Und Rosenberg war so gerissen gewesen, zu vereinbaren, dass das Manor aus dem 17. Jahrhundert solange in seinem Pfand bleiben sollte, bis die Schulden getilgt waren. Somit verhinderte er es, dass wir unser Haus verkaufen konnten, um mit dem Erlös schuldenfrei zu werden.
Angesichts der desaströsen Lage, in der die Familie steckte, und durch die Tatsache beflügelt, vor vielen Jahren Rosenbergs Geliebte gewesen zu sein, hatte Mom ihn um Erbarmen und eine Lösung zur Tilgung der Schulden gebeten. Rosenberg zögerte nicht. Er bot Dad an, die Schulden zuzüglich der Zinsen auf seinem Gut in Deutschland abzuarbeiten.
Dads Aufgabengebiet wäre es, die Ställe, Scheunen und andere Gebäude sauber zu halten, einschließlich der Entsorgung von Abfällen und Reparaturen an Zäunen, Weiden und Gebäuden. Um nicht völlig mittellos dastehen zu müssen, würde er ihm den Mindestlohn zahlen, der in Deutschland üblich ist. Mom wurde die Verantwortung übertragen, sich um den zehnjährigen Milan, den jüngsten Sohn Rosenbergs, zu kümmern, der aufgrund einer Krankheit besondere Betreuung benötigte. Und sie sollte sich dem neunzehnjährigen erstgeborenen Sohn Peer annehmen, der in einem Internat in Dublin lebte und nur in den Ferien nach Deutschland kam. Über die Mutter der Jungen wusste mein Dad nicht viel zu erzählen. Nur, dass sie sich mit Ehemann Nummer zwei ein schönes Leben in Australien machte.
Ich konnte damals noch nicht begreifen, warum Dad sich so sehr über den Vertrag mit Rosenberg aufregte.
Sillaidh
Berlin – Schwanenwerder 2016
Schreckliche Realität
Ein Vierteljahr bevor wir unsere Abreise nach Deutschland antraten, erzählte Dad uns, dass aufgrund des ungewissen Zukunftsausblicks für unlizenzierte Casinos in Dublin auch Franz von Rosenberg beschlossen hatte, mit seinem kranken Sohn Milan zurück nach Berlin zu ziehen. Da er seit einigen Jahren von der Mutter seiner Kinder geschieden war, bevorzugte sein Sohn Peer, im Internat in Dublin zu bleiben. Nachdem die Großeltern verstorben waren und er Freunde in Irland hatte, fühlte er sich nicht mehr nach Schwanenwerder hingezogen. Seine Mutter war nach Australien ausgewandert. Rosenberg hatte seine Casinos erfolgreich an ein Unternehmen verkauft, das sie in vollstationäre Pflegeheime umwandeln wollte. Ich war mittlerweile vierzehn, als wir Anfang 2016 nach Deutschland zogen.
In die Stadt Berlin, genauer gesagt nach Schwanenwerder, einer Nobeladresse ohne Namen an den Klingelschildern, und noch genauer gesagt in das Verwalterhäuschen des Gutshauses Rosenberg.
Am Flughafen in Schönefeld-Brandenburg wartete ein Fahrer auf uns. Eine Träne rann mir über die Wange, während meine Augen am Glas der Fondtür der Rosenberg-Limousine klebten und die, trotz der kulturellen Vielfalt und des historischen Erbes, nicht gerade schöne Stadt Berlin an mir vorüberhuschte. Gott, wie sehr ich meine Heimat jetzt schon vermisse, dachte ich. Die malerische Küste Dublins mit ihren majestätischen Klippen, die raue See, die ihre Wellen mit tosendem Donner an die schroffen Felsen schmetterte. Und wie von selbst tauchten die Silhouetten der Häuser und Gebäude entlang der Küste vor meinen Augen auf. Sie hoben sich dunkel gegen den farbenprächtigen Sonnenuntergang am Himmel ab, während die Möwen elegant durch die Luft flogen und ihre Rufe in der ruhigen Abendluft zu hören waren. Ein sanfter Wind strich über die Küste. Ich konnte den salzigen Geruch des Meeres wahrnehmen. Erst als die Limousine über eine Brücke fuhr, die den für mich seltsamen Namen Nadelöhr trug, riss ich die Augen auf.
Wir fuhren über die Inselstraße zum Gutshaus des Franz von Rosenbergs, das einen direkten Blick auf einen Fluss hatte. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ein Fluss. Wasser. Die ganze Zeit, während ich aus dem Fenster geschaut hatte, plagte mich die Befürchtung, nie wieder am Wasser sitzen und träumen zu können.
Eine lange Auffahrt, von Rosenbüschen gesäumt, führte zu einem eindrucksvollen Tor, das von steinernen Pferdeköpfen bewacht wurde. Im Vorbeifahren sah ich zu meiner Überraschung auf einem Pfeiler einen Raben sitzen. War es der, der auch in Howth auf meiner Fensterbank gesessen hatte? Ich schüttelte den Kopf. Er war nur ein ganz normaler Vogel, nichts weiter.
Hinter dem Tor erstreckte sich ein weitläufiger Park mit einem Meer aus blühenden Rosenbüschen und dem glitzernden Fluss, in dem sich die Wolken spiegelten.
Der Wagen hielt nicht weit vom Gutshaus. Dort ließ uns der Chauffeur aussteigen, fuhr anschließend ums Haus. Ich vermutete, dass sich dort eine Garage befand.
Das herrschaftliche Gutshaus, weiß mit kunstvollen Stuckelementen und großen Fenstern, die mit Sicherheit viel Licht ins Haus ließen, erschien mir wie ein Palast. Ein Palast, dessen Eingangsbereich von einer breiten Treppe flankiert wurde. Sie führte zu einer großzügigen Veranda und strahlte für mich eine Aura von Eleganz, Geschichte und Pracht aus, die mich unwillkürlich an eine vergangene Welt voller Glanz und Gloria denken ließ. Mein Blick fiel auf einen Pferdestall, der etwa hundert Meter vom Haus entfernt lag. Ein großer Mann trat heraus, er führte einen fuchsroten Wallach an der Longierleine und winkte uns zu. In diesem Moment überkam mich die Erinnerung an den geheimnisvollen Mann im Krankenhausflur in Dublin, von dem ich überzeugt war, dass er mich mit seinem Handy fotografiert hatte.
Ich blieb kurz stehen. Es schien fast unmöglich, dass genau dieser Mann mir hier in Deutschland begegnete. Da ich durch seinen Bart, den dieser hier trug, die diagonale Falte am Kinn, die ich bei dem Fremden im Krankenhaus gesehen hatte, nicht erkennen konnte, war es eigentlich absurd zu glauben, er könnte derjenige sein, der mich beobachtet und fotografiert hatte. Sein Anblick legte sich jedoch wie ein grauer Nebel auf meinem Körper und hinterließ eine Gänsehaut. Wozu das kleinere, wenige Schritte vom Stall entfernte Gebäude diente, konnte ich nur erahnen. Es musste die Unterkunft der Bediensteten sein. Das ließ sich an den Wäscheleinen erkennen, an denen Kittelschürzen und schlichte Kleidung hingen. Ein dünnes Mädchen, vielleicht in Millis Alter, hängte Handtücher auf.
»Guten Morgen, Viona«, rief der Mann ihr zu. »Wenn du heute deine Küchenarbeit erledigt hast, können wir in die Stadt fahren und deine neue Brille abholen. Und wenn du Lust hast, gehen wir schön Kaffeetrinken und essen eine Zimmtschnecke.«
»Okay, Max!«, antwortete Viona. »Wir sollen Frau Weber vier Tüten Lakritz aus dem Laden ›Schwarzes Gold‹ mitbringen. Der Laden befindet sich in der Uhlandstraße.«
»Machen wir«, kam es von diesem Max zurück.
Er ging in Richtung einer großen, umzäunten Wiese, und ich richtete meinen Fokus wieder auf die schöne Gegend. Dabei bemerkte ich erneut einen Raben, der neben einem Rosenbusch stand und sich einen Wurm aus der Erde zog. Ein Schauer lief mir über den Rücken, und ich schüttelte den Kopf, während ich wieder an meinen Großvater dachte, der einmal gesagt hatte: »Raben bringen Unglück.«
Doch trotz dieser düsteren Gedanken umgab mich die Schönheit des Guts, das von alten Bäumen umgeben war, deren angenehm würziger Geruch meine Nase kitzelte.
Das Verwalterhaus, in dem wir in Zukunft leben sollten, zeigte von außen bereits eine erdrückend ärmliche Bescheidenheit. Die Fassade war abgenutzt und von der Witterung gezeichnet, mit abblätternder Farbe und einigen reparaturbedürftigen Stellen. Der Garten rund um das Haus wirkte vernachlässigt und mit den verwelkten Pflanzen und dem Unkraut ungepflegt. Man sah, dass sich Jahrzehnte kein Mensch um dieses Haus gekümmert hatte. Dem Gutshaus hatte sich bis zu Rosenbergs Rückkehr das Ehepaar Weber angenommen, so hatte es Dad erzählt. Sie waren schon Bedienstete seiner Eltern gewesen, bevor es Rosenberg in jungen Jahren nach Irland gezogen hatte. Frieda Weber als Köchin und ihr Ehemann Heinrich als Diener. Obwohl beide zum alten Eisen gehörten, waren sie anscheinend noch rüstig genug, um weiterhin ihre Stellung im Haus zu halten. Ich mutmaßte, dass sie mindestens so alt wie Methusalem waren. Was natürlich Quatsch war. Kein Mensch wurde 969 Jahre alt. Heinrich Weber, der alte Diener, war es auch, der uns zum Verwalterhaus führte.
Vor dem Haus bemerkte ich, dass Milli einen verächtlichen Ausdruck in ihrem Gesicht hatte.
Beim Betreten des Hauses fiel mir sofort auf, dass es mit einfachen Möbeln und wenig Dekoration eingerichtet war. Die Küche war sauber, aber winzig, im Essbereich befanden sich ein kleiner Tisch und ein paar wackelige Stühle, die bessere Tage gesehen hatten.
Während ich mit Mom zum Schlafzimmer ging, das ebenfalls mit schlichten Betten, dünnen Decken und abgenutzten Möbeln einfach und zweckmäßig eingerichtet war, ertönte der helle Schrei Millis. Bestimmt war ihr beim Betreten des Hauses die schreckliche Realität bewusst geworden, dass sie alles verloren hatte und nun arm war. Milli traf es tausendmal mehr als mich. Für mich war es eher eine Last, bekannt und reich gewesen zu sein. Denn der Reichtum bedeutete falsche Freunde und immer wie aus dem Ei gepellt herumlaufen zu müssen. Ich hatte mir nie was aus der Schickimicki Mode gemacht. Kleider trug ich mit Widerwillen und meine langen roten Haare versteckte ich unter einem Cappy. Ich wäre allerdings gerne so schön wie meine Mom. Bevor mein Bruder, der gleich nach der Geburt starb, meine Schwester Milli und ich auf die Welt kamen, war Mom eines der begehrtesten Fashion Weeks Models. Eine der schönsten Frauen der Welt. Mit einer ein Meter achtzig großen, gertenschlanken Figur, ellenlangen Beinen und Hüften, die sich elegant bewegten. Mit einem warmen und einladenden Lächeln, und Augen, die vor Freundlichkeit und Offenheit strahlten. Ihre Haare, schwarz und glänzend wie eine frisch geteerte Straße, reichten ihr bis zum Po, wenn sie sie nicht zu einem Dutt hochgebunden hatte. Schon von klein an ärgerte ich mich über meine Haarfarbe. Ich wollte so aussehen wie Mom und wie Milli, die eher ihre Schwester hätte sein können; wenn es da nicht den Altersunterschied gegeben hätte. Meine äußere Gestalt glich einem mit weißer Haut überzogenem Skelett. Die Haut verhinderte, dass meine Knochen nicht klapperten, wenn ich mich bewegte. Mit den vielen Sommersprossen im Gesicht sah ich eher witzig als schön aus, und die Haare, die dieses besprenkelte Gesicht umrahmten, waren ein Wust von feuerroten Locken. Endgültiges Ergebnis: ätzend. Ich war eine Beleidigung für die Augen. Das empfand zumindest ich, wenn ich mich im Spiegel anblickte und von allen Seiten begutachtete. Ich glaubte es nicht, wenn Mom mir sagte: »Sillimaus, du bist ganz normal gebaut, so wie es ein Mädchen in deinem Alter sein muss. Du bist sogar sehr hübsch.« Doch immer dann, wenn ich meine Haare betrachtete, fragte ich mich, von wem ich diese Haarfarbe geerbt hatte.
Wie oft hatte ich mir das Familienstammbuch herausgesucht, um nachzuschauen, ob meine Eltern mich eventuell adoptiert hatten. Keine Ahnung. Es war absurd, ich wusste es, aber alle in meiner Familie waren so anders als ich. Aufgeschlossen, lustig, und sie hatten Freunde und gerne Menschen um sich. Ich war still und schüchtern, verkroch mich lieber, um nicht aufzufallen.
Mom schimpfte ständig mit Dad, dass er mich dabei unterstützte, es mir sogar befahl, meine Haare nicht offen zu zeigen.
»Das Kind schlägt aus der Art mit seiner Haarfarbe«, sagte er. »Entweder sie trägt eine Mütze oder wir färben es ihr. Ich will diese roten Locken nicht sehen. Sie hätte ein Junge werden sollen.« Aus diesem Grund behandelte er mich auch als solchen.
Mom war es sicher nicht so leichtgefallen, sich von ihrer teuren Kleidung, die sie besaß, zu trennen. Ich hatte kein Problem damit. Wir konnten unsere Kleidung in einem Second Hand Shop gut verkaufen, um uns von einem Teil des Erlöses anschließend mit schlichterer Garderobe aus einer Discount-Modekette einzukleiden.
Ich zog es natürlich vor, mich wie ein Junge anzuziehen und kaufte mir billige weite Baggy-Jeans, eine Latzhose, Hoodies und ganz normale Sneaker.
Mom schüttelte zwar beim Anblick der Klamotten den Kopf, lachte aber.
»Silli, Silli! Ich glaube, dein Dad wird vor Stolz platzen, wenn er endlich seinen langersehnten Sohn in den Armen hält! Ich kann schon hören, wie er mir vorwirft, ihm ein Mädchen untergejubelt zu haben. Aber vielleicht kann ich ihm ja erklären, dass das Leben manchmal seine eigenen Überraschungen bereithält!« Sie streichelte über mein Haar. »Wenn du schon so herumlaufen möchtest, schneide aber bitte deine Haare nicht ab!«
Vom Rest des Geldes wurden die Flugtickets nach Deutschland bezahlt.
Milli hingegen hatte sich von keinem ihrer Kleidungsstücke und Habseligkeiten trennen können. Sie sah nach wie vor wie das Modepüppchen eines renommierten Frauenmagazins aus. Ihre schwarzen Haare trug sie lang und ihr Gesicht war wie immer grell geschminkt.
Die Lage, in die Großvater und Dad uns gebracht hatten, machte Milli unleidlich und wütend. »Ich will nach Hause!«, hörten wir sie jetzt nach dem Schrei jammern. Das Zuschlagen einer Tür hallte durchs Haus. »Hier bleibe ich auf keinen Fall, lieber sterbe ich oder … oder … da kann ich ja gleich ins Kloster gehen. Gibt es hier überhaupt Internet?«
Mom und ich gingen sofort in den Flur, um zu sehen, was ihren Unmut ausgelöst hatte. Milli kramte gerade ihr iPhone aus der Hermes-Birkin-Tasche und schaltete es an. Ich vermutete, dass sie die zu erhoffende Internetverbindung prüfen wollte.
»Naaaain! Ein Balken!«, jaulte sie auf und warf ihr iPhone vor die Tür, die sie vor wenigen Sekunden zugeschmettert hatte. Die Tasche flog sogleich hinterher.
»Dad!«, schrie sie. »Das kann nicht dein Ernst sein, dass ich in diesem Haus leben soll, es schreit vor Armut und ekeliger Widerwärtigkeit. Das Internet ist auch scheiße. Ich will zurück nach Dublin!«
Natürlich, was hatte ich von ihr auch anderes erwartet. Die Hochnäsigkeit, wenn sie sich für die Größte und Schönste hielt und verachtend auf die nicht so vermögende Bevölkerung schaute, war ihr aus dem Gesicht gefallen. Nun konnte ich nur die Wucht des Entsetzens lesen.
Dad ging nicht auf das Gezeter Millis ein. Ich vermutete, er war froh, am Leben zu sein. Mom stand mit zusammengebissenen Lippen da, ich sah, dass sie sich die Tränen verkniff. Bestimmt war sie über so viel Armut entsetzt, die auch sie nicht gewohnt war. Doch sie behielt bei all dem schmerzlichen Leid, das sie vermutlich spürte, die Würde. Ich hingegen fühlte trotz der unzähligen Nachteile, die das Leben uns nun bot, ein unwiderstehliches Bedürfnis, hier zu wohnen.
Ich sah, wie Milli eine Tür auf der rechten Seite des Flures öffnete und den Raum betrat. Kurz darauf erhob sich erneut ein Schrei, schrillte mir durchs Gehirn, sodass ich zusammenzuckte. Meine Schwester kam wieder heraus, knallte die Tür hinter sich zu, hatte die Fäuste geballt.
»Was ist mit dem Zimmer?«, fragte ich.
Wieder erhob sich ein Schrei.
»Ein Zimmer?« Milli sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Ihre Lippe zitterte, der Atem ging stoßweise. »Ein Zimmer? Darin werde ich auf keinen Fall schlafen. Das ist eine Besenkammer, in der noch nicht einmal eine Ratte wohnen will. Und überhaupt, was erlaubt sich der Drecksack Rosenberg, uns in so einer Bruchbude unterzubringen.«
»Jetzt ist halt nichts mehr so glamourös wie früher. Finde dich damit ab«, sagte Dad. Er drehte sich um und verließ das Haus. Mom folgte ihm sofort.
»Na toll. Kann’s kaum erwarten, mich mit der verschissenen Armut abzufinden«, schrie Milli ihnen hinterher. »Und leck mich«, brummte sie.
Ich sah sie scharf an.
»Bist du doof? Sei froh, dass Dad noch lebt und wir nicht auf der Straße sitzen. Wenn du deine Unzufriedenheit schon nicht unterdrücken kannst, hätte er es nicht unbedingt mitbekommen müssen. Würdest du dich besser fühlen, wenn er tot wäre?«
Ich fragte mich, ob Milli sich jemals ändern würde. Vielleicht brauchte es bei ihr Zeit, zu verinnerlichen, arm zu sein. Zeit. Ja, so wird es sein, redete ich mir ein.
»Lass mich einfach in Ruhe, Sumpfhuhn. Nachdem er unser Erbe verspielt hat, soll ich ihm jetzt auch noch dankbar sein, wie eine Pennerin zu leben? Hätte ich ihm vor die Füße fallen sollen? Er ist für mich ein A…
»Sprich es nicht aus«, stoppte ich sie. Jetzt schäumte ich vor Wut. Hatte Mühe, meine Stimme einigermaßen ruhig klingen zu lassen. »Du hast doch gehört, was Mom gesagt hat. Er hat versucht, Großvaters Schulden zu erspielen und ist selbst übers Ohr gehauen worden.«
»Soll er doch zur Hölle fahren«, hörte ich Milli noch sagen, bevor sie in der Küche verschwand und es nicht zu überhören war, dass sie wieder einmal einen ihrer Wutanfälle hatte. Sie musste die Stühle durch den Raum pfeffern, so schepperte es.
Wenn ich irgendeine Hoffnung gehabt hatte, dass Milli sich gewöhnen würde, dann verpuffte sie in diesem Moment.
Ich ging zu dem von ihr verschmähten Zimmer, öffnete die Tür und schaute mich lange schweigend um. Die zwei Fenster waren klein und ließen nur wenig Licht herein, was den Raum noch trister wirken ließ. Das Zimmer selbst war ungefähr sieben Quadratmeter groß und sah wirklich sehr heruntergekommen aus. An der Decke blätterte die Farbe ab und an den Wänden löste sich teilweise die verblichene Tapete. Hatten etwa Ratten daran herumgefressen? Mich schauderte es bei diesem Gedanken, ich schloss rasch die Tür und wandte mich dem angrenzenden Zimmer zu. Es sah nicht besser aus. War ebenfalls schlicht und einfach eingerichtet. Ich seufzte. In Gedanken machte ich mir Mut. Hauptsache ich hatte ein Bett zum Schlafen und einen Schreibtisch, an dem ich meine Geschichten schreiben konnte.
Zu meinem Glück wohnten wir nicht in der schrecklichen Großstadt. Nein, ich war zufrieden, in der Nähe eines Waldes und Flusses leben zu dürfen. Selbst über den Raben, der auf der Fensterbank saß, freute ich mich.
Ich öffnete das Fenster und begrüßte ihn. Auch wenn ich nicht wusste, ob es der Rabe aus Howth war, sagte ich: »Hallo! Du kannst wohl nicht ohne mich leben. Wie sonst erklärt es sich, dass du mich bis hierhin verfolgt hast?« Kra- Kra-, krächzte er und fiel um. Nun, jetzt war ich mir sicher: Er war es. Diesmal blieb er liegen. Das mochte ich nicht mitansehen. Vorsichtig berührte ich sein Federkleid und als er die Augen öffnete, stellte ich ihn behutsam auf die Füße. »Bin ich eigentlich so hässlich, dass du bei meinem Anblick jedes Mal umfällst?«, fragte ich. »Und sag mir doch bitte, was du von mir willst. Ist Rosaidh etwa auch hier?« Dass er mich verstand, bezweifelte ich.
Ich sah mich im Zimmer nach Rosaidh um, aber von ihr war nichts zu sehen. Allerdings kam sie immer erst, wenn es dunkel war.
Ich schüttelte den Kopf und ließ den Raben sitzen und freute mich darauf, jeden Morgen zum Gesang der Vögel und dem sanften Rauschen der Blätter aufzuwachen. Der Wald, dieser wunderschöne Wald, der an den Fluss grenzte, würde meine Fantasie lebendig werden lassen. Seit jeher besaß ich eine lebhafte Vorstellungskraft und konnte mich leicht in andere Welten und Szenarien hineinversetzen. Oftmals fand man mich so sehr in Gedanken versunken, dass ich nicht ansprechbar war und mit einem Klaps auf die Wange aus meinen so schönen Träumereien herausgerissen werden musste.
Sillaidh
Zähneklappernde Angelegenheit
Der Herr von und zu Drecksack, nachdem er uns persönlich willkommen geheißen hatte, für Milli nun Graf Charming, hatte sie und mich schon Wochen vor unserem Eintreffen in einer geeigneten Schule angemeldet.
Am Morgen nach unserer Ankunft wurden wir vom Chauffeur zur ISB-Oberschule gefahren
Das Schulhaus war auf den ersten Blick nicht gerade ansehenswert - dunkel und kalt starrte das Gebäude mich an. Das große Tor, durch das wir den Schulhof betraten, erweckte den Eindruck eines großmäuligen Untiers, das mich zu verschlucken versuchte. Zur großen Freude stellte ich fest, dass meine Lehrerin, Frau Hilltrude Güte, ihre Schüler mit mütterlicher Sanftheit bedachte und ihr Wissen mit eifrigem Engagement mitteilte und lehrte.
In Howth konnte ich viele Lehrer nicht leiden. Statt mir etwas beizubringen, behandelten sie mich, als wäre ich ein dummes verzogenes Gör, das jeden Tag einen hinter die Löffel verdiente. Natürlich gab es auch auf der jetzigen Schule einen Lehrer, der, zum Unmut aller Schüler, ein Kotzbrocken war. Herr Wiesel, Mathematikstudierter, pieselte jeden Morgen in den Rhododendronbusch am rechten Seitenflügel der Schule, da er wohl annahm, dass er dort unbeobachtet blieb. Dem war natürlich nicht so. Längst wurde er Herr Pieselmann genannt. Ihm war natürlich nicht entgangen, dass seine Schüler sich heimlich über ihn lustig machten. Daher gestaltete er den Mathematikunterricht für sie und nun auch für mich auf unangenehme Weise, indem er brüllte und ungerechtfertigte Strafen verhängte, was die Stunden zu einer zähneklappernden Angelegenheit machte.
Sillaidh
Geheimnisvolle Pläne und Mordgedanken
Inzwischen waren wir bereits seit einem Vierteljahr in Schwanenwerder, und mit jedem Tag wuchs mein Verlangen, in meine Heimat zurückzukehren. Doch es gab jemanden, der mich dieses Bedürfnis zeitweise vergessen ließ. Es war ein magerer, kränkelnder Junge mit tiefblauen Augen und einem Herzen, das nach Liebe und Zuneigung verlangte. Milan bettelte regelrecht danach, in die Arme genommen zu werden.
Wie schon so oft begleitete ich Mom am Nachmittag zum Gutshaus, um ihn zu sehen. Als ich Max Fitzgerald, den Pferdewirt, mit meiner Schwester Milli und Rosenberg sah, blieb ich abrupt stehen, während Mom weiterging, ohne sich nach mir umzusehen.
Eine seltsame Befürchtung stieg in mir hoch.
Die drei steckten ihre Köpfe so dicht zusammen, dass ich das Gefühl nicht wegwischen konnte, sie würden geheimnisvolle Pläne schmieden, die nicht mit den besten Absichten verbunden waren. Ich konnte nicht genau sagen, was ich befürchtete, aber es gab etwas in der Art, wie die drei miteinander interagierten, das mich nicht nur misstrauisch machte, sondern mir auch Angst einjagte.
Plötzlich hoben sie die Köpfe und richteten ihre Blicke auf mich. Konnte es sein, dass sie über mich sprachen? Ich meinte, den Namen Ó Connor gehört zu haben. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit der drohenden Gefahr, die ich spürte, umgehen sollte, da sie mir mehr als nötig Herzrasen verursachte. Und ich machte mir Sorgen, dass Max und Rosenberg, die sehr vertraut miteinander wirkten, Milli in etwas hineinziehen könnten, das sie später bereuen würde. Ich beschloss, ein Auge auf die drei zu haben. Schließlich wollte ich meine Schwester, die mir am Herzen lag, beschützen.
Am nächsten Tag, ich war wieder mit Mom unterwegs zu Milan, sah ich die drei erneut in der Tür des Pferdestalls stehen. Sie tuschelten und gestikulierten, wirkten ziemlich aufgeregt.
»Ich komme gleich nach«, nuschelte ich Mom mit vorgehaltener Hand zu. Neugierig schlich ich mich näher und versteckte mich hinter der großen Eiche, um zu hören, was sie miteinander zu bereden hatten.
»Ihr versteht das nicht«, hörte ich Rosenberg sagen. »Wir werden warten, bis die Zeit gekommen ist.«
»Aber warum?« Milli stampfte mit dem Fuß auf. »Wir sollten es so schnell wie möglich hinter uns bringen. Ich habe nämlich keine Lust, länger zu warten.«
Ich sah, dass Max nickte. »Je eher wir es tun, umso schneller haben wir unser Ziel erreicht.«
»Schweigt! Beide!«, zischte Rosenberg. »Milli, du bist kaum ein paar Wochen hier und führst dich auf, als hättest du das Recht, hier etwas zu fordern. Ich rate dir, halte dich zurück. Wir warten, bis die Zeit gekommen ist, und ich werde keinesfalls die Kontrolle über mein und euer Schicksal aus den Augen verlieren. Sollten wir zu früh agieren, kann die ganze Sache nach hinten losgehen und du bleibst arm wie eine Kirchenmaus, Milli. Es sei denn, du findest einen Mann, der dich mit seinem Reichtum das werden lässt, was du vormals gewesen bist – eine wohlhabende Frau.« Er legte einen Arm um Milli, eine vertraute Geste. Zu vertraut meiner Meinung nach.
»Sillaidh, Sill«, unterbrach Moms lautes Rufen nach mir diese geheimnisvolle Unterhaltung. »Sill, wo bleibst du denn?«
Die drei zuckten zusammen und sahen sich nach mir um. Was für ein Glück, dass ich mich gut versteckt hatte.
Es dauerte auch keine zwei Minuten, bis sie auseinandergingen. Jeder in eine andere Richtung. Milli schlenderte zu unserem Zuhause, Max in den Pferdestall, und Rosenberg lief, mit seinem Spazierstock in der Luft wedelnd, als hätte er die beste Laune, zum Tor hinaus.
Ich machte mich, nachdem alle außer Sicht waren, auf den Weg zum Gutshaus. Der Versuch, meine Beobachtung und das Gehörte zu vergessen, konnte die ängstliche Unruhe, die mich quälte, jedoch nicht vertreiben.
Als ich in Milans Zimmer trat, erschrak ich. Er war so mit seltsamen Flecken übersät, wie die bunte Bettdecke, die seinen mageren Körper halb bedeckte. Ein Bein hing an der Bettkante herunter. Es bewegte sich hin und her, hin und her, und die Äuglein des Kleinen blickten apathisch an Mom und mir vorbei. Mir schossen die Tränen in die Augen, ich versuchte, das Weinen zu unterdrücken und sah Mom an.
»Was hat er?«
Sie strich über sein Köpfchen.
»Er fiebert«, antwortete sie. Sie musste auch erschrocken sein, ihn so zu sehen, sie war blass und ihre Hand zitterte leicht. »Warte hier«, sagte sie und verließ das Zimmer.
Während ich mit Milan allein im Zimmer blieb, überkam mich ein Gefühl der Unsicherheit. Sein Zustand und das Fieber waren besorgniserregend.
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