Sieben Jahre - Christine Morandin - E-Book

Sieben Jahre E-Book

Christine Morandin

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  • Herausgeber: TWENTYSIX
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Zitat "Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren?" Vincent van Gogh Sieben Jahre Ein wunderschönes Wengern. Geheimnisse. Bewegende Schicksale. Das Eintreffen in ihrem Elternhaus endet für Elisa in einem Alptraum. In der Küche findet sie ein heilloses Chaos vor. Aufgerissene Schränke, Blut auf dem Boden. Wo ist ihre Mutter? Hauptkommissar Kramer und sein Team tappen im Dunkeln. Sieben Jahre Ungewissheit. Fest davon überzeugt wer der Täter ist, macht sie sich auf einen gefährlichen Alleingang?

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Seitenzahl: 420

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Alle Handlungen in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Vermisstenfällen sind rein zufällig. Personen und Charaktere in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Lebenden und Verstorbenen sind rein zufällig.

Ich danke meinen Freundinnen Petra Ortwein, Ingrid, Corinna Schuh, Simone Diegel, Sabine Borgelt sowie Hauptkommissar Michael Kramer, den Tour Guides Michaela Classen und Caramau Batalha. Sowie all den Leser/innen, die meine Geschichten mit Begeisterung lesen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Prolog

Eine Nacht, die nicht nur Ingrid Ortweins Leben aus den Angeln hob.

Der Himmel brannte - schien mitten in der Nacht blutrot, und Ingrid kam gleich das Zitat des Elben Legolas aus „Herr der Ringe“ in den Sinn:

„Ein roter Mond geht auf. Heute Nacht ist Blut vergossen worden“

Oder war es eine gottgesandte Warnung?

Ingrid nahm das Klingeln und die Umrisse der dunklen Gestalt vor ihrer Haustür nicht als Gefahr wahr. Angst war keine Option für Menschen wie sie, Menschen, die in ihrem Leben schon genug durchgemacht hatten. Sie schaute auf ihre Armbanduhr – kurz vor Mitternacht. Es war spät geworden, als sie vom Kino, zurückgekehrt war. Sie wollte nur duschen, ins Bett und schlafen.

Um sieben würde der Wecker klingeln. Sie würde noch mit Elisa ihrer sechzehnjährigen Tochter frühstücken und anschließend zur Arbeit fahren. Es war seit vielen Wochen die erste Frühschicht im Krankenhaus, die sie vor sich hatte.

Schon von der oberen Treppe aus, sah sie den dunklen Schatten vor der Tür, ging aber seelenruhig die Treppe hinunter, um zu öffnen. Dann blieb sie wie erstarrt stehen. Das Böse der Nacht starrte sie an. Gefahr, schrie ihr Verstand. Dunkle Gefahr. Bedrohlich.

Das Aufblitzen der vorbeifahrenden Lichter der Autos, vertrieben weder ihre Angst noch die Übelkeit, die in ihr aufstieg. Ihre Nerven spannten sich zusammen, als würden sie reißen wollen. Sie nahm sich eine Sekunde Zeit, um Kraft zu sammeln. Obwohl sie ahnte, was ihr bevorstand, beobachtete sie aufmerksam jede Bewegung ihres Angreifers in der vagen Hoffnung, ihn an irgendeinem Körpermerkmal zu erkennen. War diese vermummte Gestalt der Hundesohn und Grapscher Erwin?

Auf ihrer Stirn bildete sich Angstschweiß. Sie wischte sich mit der Handinnenfläche darüber und versuchte, die Tür zuzuschlagen. Sie wollte schreien, zeitgleich die Flucht ergreifen. Konnte es aber nicht, da sich ein Fuß sich in die Tür stellte, eine Hand nach ihr griff und sich in ihrem Oberarm festkrallte. Der Schmerz, der durch den festen Griff ausgelöst wurde, bestätigte, dass die Gestalt nichts Gutes im Sinn hatte. Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle – versuchte, sich loszureißen, wurde aber nach hinten gestoßen und stolperte über ihre eigenen Füße zur Treppe.

Die Tür wurde zugeworfen.

Ingrid raffte sich hoch und lief hastig die sechs Stufen hinauf. Sie musste an ihr Handy, das auf dem Küchentisch lag. Doch die Gestalt hinter ihr hatte sie schnell erreicht und stieß sie förmlich in die Küche.

Lediglich zwei Zeugen gab es: Sie und die Gestalt, und eine Tat, die vor anderen Augen im Verborgenen blieb.

Buchstaben suchten in ihrem Kopf nach einem Zueinanderkommen, um auszusprechen, was gerade vonstattenging.

„Was verlangen Sie, wenn ich Sie bitte, die Finger von Steinfeld zu lassen?“, fragte die blecherne Stimme der Person.

„Steinfeld?“, kam es erschrocken aus Ingrid heraus. „Ich habe nichts mehr mit ihm zu schaffen. Was soll das? Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.“

„Lügen Sie doch nicht. Ich weiß, dass er Sie noch liebt, er will Sie zurück. Wollen Sie mir weismachen, dass er sich nicht wieder angenähert hat? Er hat doch auch dafür gesorgt, dass Sie vor zwei Jahren mit Staller Schluss gemacht haben.“

Es war Ingrid keineswegs bekannt, dass Steinfeld dafür gesorgt hatte.

„Blödsinn. Ich wollte und will ihn niemals zurück. Und wenn er sich mir nähert, werde ich zur Presse gehen. Ich lasse mich nicht noch einmal auf ihn ein. Der wird sich wundern, wenn er in der Zeitung liest, dass er mich mit einer Unterlassung und diesem Video erpresst hat. Mittlerweile ist es mir egal, ob ich für ein Flittchen gehalten werde. Ich pfeife auch auf Ihr Geld.“

„Wo sind die Papiere? Geben Sie sie mir. Sie werden die niemals an die Presse weitergeben“, brüllte die Gestalt mit Nachdruck. „Wissen Sie, was das bedeutet, wenn Sie alles preisgeben? Sie ruinieren seine Karriere - sein Leben.“

Ingrid konnte unter der Maske wutentbrannte Augenschlitze erkennen. Für eine Sekunde schloss sie ihre Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie direkt auf den glänzenden Stahl einer Klinge. Es handelte sich um ein Messer aus dem Block auf ihrer Küchenzeile.

Die dunkle Gestalt umkreiste sie wie ein Löwe, der bereit war, sein Opfer zu zerfleischen, wedelte mit dem Messer vor Ingrids Gesicht herum, deren furchtverzerrter Gesichtsausdruck sich in der Klinge spiegelte.

Die drohende Gestalt ließ einen Unterton in ihrer Stimme mitschwingen:

„Wenn Sie kein Geld wollen, dann möchten Sie vielleicht den Tod? Die Beweise, mit denen Sie ihn diffamieren wollen, werde ich schon finden. Sie werden sie sicher hier im Haus versteckt haben. Noch können Sie sich retten.“

In diesem Augenblick wusste Ingrid, dass sie sich wehren musste. Ihre Aufregung und Gegenwehr, die von Angst und Panik getragen wurden, hatten sie so im Griff, dass es nur einen Bruchteil einer Sekunde brauchte, ihre Hand gegen das Messer zu schlagen. Gleichzeitig schlitzte die Klinge ihr Kleid auf und traf eine Rippe – Blut quoll hervor. Ingrid sackte mit einem Aufschrei zu Boden. Noch während ihres Fallens beobachtete sie, wie das Messer zur Tür schlitterte, hörte das Brüllen von Verwünschungen. Bis sie den Faustschlag im Gesicht spürte.

*****

Mit gefesselten Händen und einer schmerzend blutenden Wunde auf der rechten Seite, erwachte Ingrid in einem stockfinsteren Raum. Um sich ein wenig zu orientieren, humpelte sie mit wackligen Beinen auf dem Boden vorwärts und erschauerte über das seltsame Geräusch: Ein Gerüst aus Knochen, - es knirschte unter ihren Füßen. Oh Gott – sie schrie, rannte durch die Dunkelheit, stolperte nach vorn, und fiel gegen etwas Eisernes. Worüber sie gestolpert und wogegen sie gefallen war, war sie nicht mehr imstande zu ergründen. Der tobende Sturm in ihrem Inneren löste sich auf und spülte Angst und Gestank mit sich fort.

Kapitel 1

Tage zuvor

Elisa hatte das Gefühl, als würde sie vor Wissbegier platzen, während sie den Zeitungsbericht durchlas. Sie zitterte immer noch, als sie die Zeitung zuschlug und beiseitelegte.

Der Bericht des Reporters hatte bei ihr die Wirkung, die er bestimmt nicht beabsichtigt hatte. Er machte ihr zum einen Angst, zum anderen weckte der Bericht aber auch ihre schwer zu bändigende Neugier.

Sofort rief sie ihre Freundin Petra an.

„Hast du den Zeitungsbericht der Rundschau gelesen?“

„Guten Morgen, sagt man!“, antwortete Petra ihr mit müder gedehnter Stimme. „Ist jemand gestorben, den wir kennen?“

„Ja, guten Morgen“, stöhnte Elisa ganz aufgeregt. „Und ja, es ist jemand gestorben. Noch weiß ich nicht wer. In der letzten Nacht ist die Feuerwehr zu einem Brandeinsatz zum Friedhof gerufen worden.“

„Auf einem Friedhof liegen immer Verstorbene. Wurde das Feuer von ihnen gelegt?“, scherzte Petra am anderen Ende der Leitung.

„Mensch Petra, mit Toten macht man keine Scherze. Ganz im Ernst jetzt:

„In dem Bericht der Rundschau steht, dass vorgestern Nacht ein Spaziergänger mit seinem Hund in Richtung Trienendorf unterwegs war. Da hat er gegenüber des Friedhofs weißen Qualm aufsteigen sehen. Im ersten Moment hatte er gedacht, es seien Nebelschwaden. Doch als er die Trienendorferstrasse weiter hinauf gegangen ist, wurde ihm klar, dass es kein Nebel war, der sich Richtung Himmel geschoben hatte. Je näher er dem Parkplatz kam, der Geruch von verbranntem Gras und Holz in seine Nase drang, erkannte er, dass es Feuer war. Es waren helle Rauchgase die durch den Wassergehalt in dem Haufen angesammelter Baumstümpfe, Ästen und was auch immer - verdampften. Ein Baumstamm hatte sich noch nicht entzündet, da hatte der Mann geglaubt, einen zuckenden Körper gesehen zu haben. Ob es ein Tier oder Mensch war, hatte er nicht erkennen können. Dann hat er drei Kanister Benzin entdeckt – einer war zur Seite gekippt -, das herauslaufende Benzin bildete eine Spur direkt zur Feuerstelle. Ganz schnell hatte er die Kanister zur Seite geschafft, um Schlimmeres zu verhindern, und sofort die Bereitschaftspolizei über das Feuer informiert. Die Polizei hatte ihn gebeten, vor Ort auf das Eintreffen der Feuerwehr zu warten. Nach dem Telefonat hatte die Benzinspur aber das glimmende Feuer erreicht. Kannst du dir vorstellen, was das für einen Wuff gegeben hat? Und stell dir vor, als die Feuerwehr den Brand gelöscht hatte, haben die tatsächlich einen menschlichen Körper entdeckt. Naja, wie die Zeitung berichtet hat, war nicht viel übrig von einem Menschen. Nicht viel mehr als ein verkohlter Schädel und das Skelett einer Hand. Ansonsten nur verschmorte Kohle. Erst nachdem die Feuerwehr den Fund gemeldet hatte, rückte ein Streifenwagen mit zwei Beamten aus und nahmen den Tatort in Augenschein. Denn zunächst musste erst festgestellt werden, ob es sich bei den Resten des Menschen, soweit es nicht auf den ersten Blick erkennbar war, um einen Unfall, oder um Fremdeinwirkung handelte. Doch in diesem Fall wurde umgehend das zuständige Kriminalkommissariat verständigt, denn keiner der Anwesenden glaubte, dass das ein Unfall sein konnte. Einer der Polizisten meinte, dass mit größter Wahrscheinlichkeit vom Vorsatz eines Tötungsdelikts ausgegangen werden kann. Also von einem Mordfall.“

„Ich hoffe, dass du nicht wieder auf dumme Gedanken kommst“, rief Petra ihr zu.

„Warum nicht? Ist doch spannend herauszufinden, wer der Täter ist. Lass uns doch heute Nachmittag nach der Schule zum Friedhof gehen.“

„Elisa! Nicht schon wieder! Denk bitte an das letzte Mal, als du den Mann im Penny beim Klauen erwischt hast. Statt der Leiterin einen Hinweis zu geben, bist du ihm bis zum Kriegerdenkmal gefolgt, hast ihn zu Rede gestellt, und mit der Polizei gedroht. Du hast ihn sogar noch aufhalten wollen, als er weglaufen wollte. Und was ist dabei herausgekommen? Ein Faustschlag im Gesicht, eine Beule am Kopf und zwei Tage Krankenhausaufenthalt, weil du eine Gehirnerschütterung hattest. Oder was war denn, als man dich aus der Toilettenschüssel der Eisdiele herausziehen musste?

Elisa lachte.

„Ja genau. Das in der Eisdiele war schon verdammt interessant, und, lustig. Vor dem gekippten Fenster unterhielten sich zwei Männer, von denen mir eine Stimme bekannt vorkam. Natürlich hat mich die Neugier getrieben, auf die Toilettenbrille zu steigen, um zu hören was die zu bequatschen hatten. Die beiden haben sich gestritten. Ich erinnere mich, dass es um Drogen ging, und der Vermutung, dass verraten wurde, wo der nächste Deal über die Bühne gehen sollte. Und gerade als die Kerle den neuen Treffpunkt ausmachen wollten, bin ich ausgerutscht und mit meinem rechten Fuß in der Krümmung der Toilette stecken geblieben. Ich hätte besser vorher den Deckel runterklappen sollen, statt auf die Brille zu steigen. Nur schade, dass die beiden von meinem Schrei aufgeschreckt wurden und abgehauen sind. Ich überlege immer noch, wem ich die Stimme zuordnen kann.“

„Du bist echt verrückt“, lachte Petra. „Ich darf gar nicht daran denken, dann bekomme ich wieder einen Lachanfall. Du sahst echt zum Schießen aus. Ein Fuß in der Toilettenschüssel, dein Hintern und dein anderes Bein halb in der Luft hängend und deine Hände sich an den Fliesen abstützend. Ich weiß noch, dass fast alle Kunden in den Flur vor die Toilettentür gerannt sind, als du wie am Spieß geschrien hast. Emanuel musste die Tür aufbrechen, mit einem Hammer die Toilettenschüssel zerschlagen, damit dein Fuß befreit werden konnte. Acht Wochen Gips hat dir deine Neugier eingebracht.“

„Aber, gib es zu, es war lustig“, konterte Elisa lachend. „Emanuels erschrockenes Gesicht war echt bombastisch.“

„Jetzt mal im Ernst Elisa, denkst du, der Täter treibt sich da oben rum und wartet darauf, dass du ihn stellst?“

„Natürlich nicht. Obwohl, wer weiß?“

„Elisa, wie alt bist du eigentlich - zehn oder siebzehn?“, fragte Petra. „So langsam solltest du dich wie eine Sechzehnjährige verhalten. Wie wäre es, wenn du nach deinem Abi zur Polizei gehst? Dann kannst du all deine Neugier ausleben.“

„Nö nö“, erwiderte Elisa. „Zu gefährlich und irgendwann wird es vielleicht langweilig.“

„Hahaha, und das gerade von dir?“, lachte Petra. „Pass auf, ich habe heute keine Zeit, aber morgen habe ich nur fünf Stunden, ich bin so gegen zwei mit dem Bus in Wengern. Wir treffen uns vor dem Penny. Ich muss noch was für meine Mama besorgen. Danach gehst du mit mir nach Hause, isst Mittag mit mir und dann gehen wir zum Friedhof. Einverstanden? Und jetzt muss ich mich für die Schule fertigmachen, und du sicher auch.“

„Okay“, sagte Elisa und legte auf. Sie war gespannt, was sie und Petra finden werden.

*****

Doch Elisa hielt es nicht bis zum nächsten Tag aus. Sie machte sich nach der Schule allein auf den Weg und war enttäuscht, nichts vorzufinden. Keine Asche – noch nicht einmal ein Absperrband. Der Platz sah aus, als hätte dort nie ein Verbrechen stattgefunden. Sie wollte schon gehen, als sie einen Angestellten der Friedhofsgärtnerei mit seiner grünen Karre auf den Parkplatz fahren sah. Als er anhielt, sprach sie ihn an:

„Was ist hier passiert? Wo ist die ganze Asche geblieben und warum sieht es aus, als hätte hier kein Verbrechen stattgefunden?“

Der Gärtner zuckte die Achseln.

„Die Polizei hat gestern den Tatort noch einmal akribisch abgesucht, hat aber nichts mehr gefunden. Die Spuren, die sie am Morgen nach der Tat gefunden haben, werden jetzt erst einmal ausgewertet. Ich habe den Platz säubern müssen. Die Polizei wollte nicht, dass sich Neugierige hier herumtreiben.“ Er lächelte sie an. „Wie Sie, junge Dame. Außerdem benötigen wir den Parkplatz, wenn eine Beerdigung stattfindet.“

„Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen und habe mich gewundert. Da der Bericht ja erst heute Morgen in der Zeitung stand. Ich hätte nicht gedacht, dass die Polizei so schnell einen Tatort frei gibt. Im Fernsehen läuft das immer anders ab.“

„Das ist das wirkliche Leben, hier. Und nicht irgendeine Krimiserie. Hier wird der Fall nicht in einer dreiviertel Stunde gelöst. Ich kenne den zuständigen Dienststellenleiter. Er hat mir erzählt, dass vom Schädel ein Gesicht rekonstruiert werden soll.“

„Wissen die denn schon, ob es ein Mann oder eine Frau war?“, fragte sie.

„Dem Schädel nach, muss es eine Frau gewesen sein.

*****

Am nächsten Tag, traf Elisa sich mit Petra vor dem Penny.

Während des Einkaufs ging ihr die Bekanntmachung der Zeitung vom Morgen, das feststand, dass es sich bei den Überresten des Menschen um Mord handelte, nicht aus dem Kopf. Dort wurde bekannt gegeben, dass eine Mordkommission, kurz Moko, bestehend aus Beamten verschiedener Abteilungen, gegründet wurde. Zusätzlich wurden in diesem Fall Beamte aus anderen Abteilungen mit einbezogen. Ergänzend wurde ein Pressesprecher hinzugezogen, der bei den täglichen Dienstbesprechungen anwesend war. Hauptkommissar Michael Kramer, ein erfahrener Ermittler, wurde zum Leiter der Moko ernannt.

Darüber hinaus träumte sie wieder von ihm. Nicht von Clemens den Schwarm aller Mädchen und Klugscheißer ihrer Klasse, die Wanze, die sie beständig abzuschütteln versucht. Nein sie träumte wieder einmal von Fabian. Obwohl sie ihn schon über zwei Jahre nicht gesehen hatte, brauchte sie ihn wie nichts auf der Welt. Ihre Liebe zu ihm, bildete den Grundstock niemals einen anderen an sich heranzulassen. Niemand sollte der Notfall sein, um ihn zu vergessen.

„Hast du nicht gehört, was Clemens mich gefragt hat?“, hörte Elisa ihre Freundin von weit her fragen. „Elisa? Hörst du mir eigentlich zu?“

„Nein – doch. Was hat er denn gefragt?“

„Ach Mensch Elisa. Manchmal frage ich mich, wo du immer mit deinen Gedanken bist? Clemens hat mich gefragt, ob du mit ihm gehen möchtest. Dass er sich gerne außerhalb der Schule mit dir treffen möchte.“

Elisa sah Petra verschmitzt an und kicherte.

„Der Klugscheißer?“

„Ja. Soll ich seine Wortwahl noch einmal wiederholen?“

„Quatsch, ich hab das schon verstanden. Das wundert mich nicht, dass er sich mit mir treffen will. Er turnt ja schon seit Wochen vor meiner Nase herum und baggert mich an. Eine Abfuhr, hat ihm wohl nicht gereicht. Jetzt versucht er, über dich an mich heranzukommen? Der hat echt nen Knall. Ehrlich? Ich finde ihn doof. Versteh mich nicht falsch, er sieht gut aus, das ist keine Frage. Zum einem ist er ein Snob und Klugscheißer und zum anderen nutzt er die Mädchen nur aus. Er will doch nur das eine. Aber ich will mich aufheben. Das ist zwar altmodisch und du denkst bestimmt, ich bin verrückt.“

Sie wollte sich für Fabian aufheben. Das sagte sie natürlich nicht. Petra musste nicht alles wissen.

„Wie kommst du jetzt darauf?“, wollte Petra wissen. „Er hat doch nicht gefragt, ob du mit ihm ins Bett gehen willst.“

„Nein, hat er nicht. Aber das ist sein Ziel. Mit Sybille hat er es ja auch getan.“

„Wie bitte? Bille hatte Sex mit Clemens?“, fragte Petra verwirrt und verdrehte dabei ungläubig ihre Augen.

„Ja klar! Bille hat es mir vor ein paar Tagen erzählt. Er hat sie rumgekriegt und danach verhöhnt. Er hat gesagt: „Darf ich dich weiterempfehlen?“

„Nein!“, keuchte Petra auf.

„Doch! Und weißt du, was Bille gemacht hat?“

Petra konnte es nicht wissen, da sie in Witten aufs Gymnasium ging. Sie schüttelte den Kopf.

„Sie hat vor der ganzen Klasse erzählt, dass Mister Supercool seine Popel isst.“

„Er macht was?“, japste Petra.

„Er isst seine Popel“, wiederholte Elisa. „Vielleicht schmecken sie ja nach Kaugummi.“

„Igitt“, schrie Petra auf. „Ist ja ekelhaft.“

Sie lachten beide so sehr, dass sie nicht darauf achteten, wohin sie ihren Einkaufswagen schoben: Und zwar, direkt in einen Kunden.

Das unglückliche Opfer versuchte sich, klar ersichtlich, noch an dem Objekt seiner darauffolgenden Misshandlung vorbeizuschlängeln - aber es war zu spät.

Der Einkaufswagen rammte sich mit voller Wucht in dessen Oberschenkel. Autsch, das tat definitiv weh. Der Schreck war groß, doch nur für eine Seite äußerst peinlich. Petra und Elisa krähten verdattert und bestürzt zugleich auf - während der Geschädigte einen Schrei ausstieß.

Seine Augen klebten an seinem Bein und Elisas klebten an seinem Gesicht.

„Entschuldigung“, ächzte sie vor Schreck - sonst nichts. Petra hingegen hatte nichts anderes zu tun, als zu giggeln. Die fand das lustig.

Ja toll, dachte Elisa, – sie nicht.

Als der Mann zu ihnen hochsah und sie beschimpfte, erkannte sie ihn. Von dem Moment an begann das merkwürdige Zittern in ihrem Körper. Innerhalb eines Sekundenbruchteils waren die Gefühle so unglaublich schön, dass sie hätte stöhnen können.

Es war Fabian Staller.

Seit wann war er wieder zu Hause?, fragte sie sich. Egal.

Was zählte, er war plötzlich wieder in ihrem Leben und nach wie vor schaffte er es, ihr mit einem einzigen Blick die Luft zu nehmen.

„Verflucht noch mal! Blöde Weiber! Könnt ihr Gören nicht aufpassen? Seid ihr blind?“, bleckte der Geschädigte mit schmerzhaft verzehrtem Gesicht.

Und wow, mit einer Stimme, die sie augenblicklich dazu hinreißen lassen könnte, ihm auf der Stelle in die Arme zu fliegen, um ihn zu küssen, durchzuckte es Elisa.

Warum mussten sie ausgerechnet ihn anrempeln? Sieh es als Fügung des Schicksals an, überlegte Elisa und freute sich, ihn endlich wiederzusehen. Es war zwar eine etwas unglückliche Begegnung, die verborgen brennende Gefühle zu einem hinterhältigen Ausbruch und demzufolge ihr geschütztes Herz ins Wanken brachte, aber es machte sie glücklich.

Fabian war der Sohn des Pächters des Elbsche-Hotels in Wengern – Klaus Staller. Dem Mann, der bis vor zwei Jahren noch der Lebensgefährte ihrer Mutter war. Sie war fünf, Fabian siebzehn, als die beiden ein Liebespaar wurden. Fabian war gerade mal fünf Jahre jünger als ihre Mama, sein Vater schon sechsundfünfzig.

Gott, sie liebte Fabian – wie verrückt. Wenn man das Liebe nennen durfte, was sie für ihn empfand. Vielleicht war es auch nur eine jugendliche Schwärmerei. Aber nein. Sie war sich sicher, dass es Liebe ist. Sie liebte ihn schon, als sie ein Kind war, und je älter sie wurde, umso heftiger schlug ihr Herz für ihn. Mittlerweile war sie fast siebzehn und er neunundzwanzig. Im Grunde genommen war Fabian ein alter Mann und sie eine Jugendliche: Immer noch ein Kind, das in ihrer Pubertät feststeckte. Hinzu kam, fand sie, war sie keine Schönheit. Sie konnte sich ja selbst nicht im Spiegel ansehen. Ihr Gesicht war so blass, als wäre sie kränkelnd und wenn sie ihren Mund aufmachte, blitzte ihre Zahnspange. Das einzig Ansprechende an ihr, waren ihre langen tiefschwarzen Haare und ihre Rehaugen. Figürlich war sie auch keine Granate. Sie fand sich zu klein und zu pummelig, mindestens zehn Pfund zu viel auf den Rippen. Nun ja, mit ihren ein Meter siebzig galt sie nicht mehr als klein. Sie wollte größer und schlanker sein. Halt eben wie ein Fotomodell.

Insgeheim hoffte sie aber, er würde sie nicht erkennen. Er sollte nicht sehen, wie hässlich sie war. Auch hatte sie es endlich geschafft, nicht mehr an ihn zu denken, sich nicht mehr zu sehnen. Dass sie vor Minuten noch an ihn gedacht hatte, schob sie unwirsch aus ihren Kopf.

Kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte sie ihn das letzte Mal gesehen. Mein Gott, so lange war das schon her? Inzwischen war sie erwachsener und klüger geworden. Sie hatte das Hoffen aufgegeben, dass Fabian sie so liebte, wie sie es tat. Und jetzt, wo ihr Augenmerk bis vor wenigen Sekunden noch auf Jungs in ihrem Alter hätte liegen sollen, war ihre Klugheit ins Höschen geflutscht.

Meine Güte. Es war schön blöd, wenn man zeitlebens in ein und denselben Mann verliebt war.

Nun ja, für sie waren die Burschen in ihrem Alter eh nur pubertierende Hohlköpfe auf der Suche nach Identifikationsfiguren, echten Macho-Männern wie der große Bruder oder möglicherweise der Vater. Nebenbei bemerkt, waren die Hirnareale der grünen Jungs nicht ganz normal. Die kehrten den Helden und ihre Männlichkeit heraus, als wären sie Arnold Schwarzenegger und merkten nicht einmal, dass ihre Gehirne eher mit Helium gefüllten Ballons glichen: Also, das waren für sie alles aufgeblasene Idioten. Zittrige Knie bekam sie beim Anblick der grünen Jungs nicht so leicht.

Schönheit lag zwar im Auge des Betrachters und war von persönlichen Gefühlen, Interessen und Vorurteilen geleitet, aber Fabian war immer noch eine Augenweide für sie. Er trug jetzt seine langen schwarzen Haare, die früher fettig herunterhingen, zu einem Dutt zusammengebunden. Sein Gesicht hatte immer noch jugendliche Züge, wenn man von den dunklen Bartstoppeln absah. Wenn sie es nicht wüsste, dass er schon neunundzwanzig war, würde er für zwanzig durchgehen. Er war aber nach wie vor ein großer knuddeliger Bär mit ein paar Pfunden mehr auf den Rippen. Wahrscheinlich hatte er es immer noch nicht leicht bei den Mädchen bzw. Frauen. Damals schon waren Worte wie – Quetschwurst, Schwabbelsülze oder Fettwanst – dumme und böse Verletzungen seiner Menschenwürde. Aber das hatte ihr nichts ausgemacht, die waren alle doof. Für sie war er keine Schwabbelsülze oder was auch immer die sagten. Sie liebte ihn, wie er war und aussah. Sie liebte sein schönes Lachen, wenn er glücklich war, und weil er ihr in ihrer Kindheit so viele Geschichten vorgelesen hatte. Und nicht zu vergessen, er hatte sie angesehen und behandelt, als wäre sie seine Prinzessin.

Seine Augen, waren und sind immer noch der Wahnsinn: das eine Grün und das andere Braun. Damals schon, sie war gerade mal fünf Jahre, war er ein verwunschener Prinz in Gestalt eines Bären mit zwei verschiedenen Augen, der eines Tages von ihr erlöst werden würde. Und dann würden sie heiraten.

Fabian hatte damals laut gelacht.

„Prinzessin, werd du erst einmal erwachsen. Und dann werden sich so viel Jungen für dich interessieren, dass du mich Fettklops nicht mehr mit deinen hübschen Augen angucken wirst.“

In ihrem Trotz und kindlichem Gemüt hatte sie aufgestampft, sich an seinen Hals geklammert und geflüstert: „Ich werde dich erlösen Fabi, und heiraten, glaub es mir. Ich werde dich immer lieb haben.“

Es war schrecklich, wenn sie jetzt daran dachte, wie viel Zeit ins Land gegangen und wie wenig der Kontakt mit ihm, die letzten Jahre war. Erst war er im Internat und danach machte er im Hotel des Freundes seines Vaters in Mailand eine Ausbildung. Dann kam er nur in seinen Ferien nach Hause. In der Zeit waren sie sich ab und zu mal über den Weg gelaufen. Sie war so traurig darüber gewesen, dass er sich so verändert hatte. Ständig war er in sich gekehrt, nur mit seinen Büchern beschäftigt. Manchmal jedoch, hatte er sie in die Schule gebracht oder ihr bei den Schularbeiten geholfen. Und nach seiner Ausbildung in Mailand ging es für ihn nach England. Hotelmanagement war sein Ziel. Sie wurde älter und er noch älter.

Wann sie es mit voller Wucht wahrgenommen hatte, dass er nicht nur ein Bruder und Freund für sie war, sondern die große Liebe, war nicht mehr aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Aber das war gerade nebensächlich. Was zählte, war, dass er auf einmal vor ihr stand. Als hätte der Himmel ihn ausgespuckt. Ihre heimliche Liebe stand wahrhaftig, zum Anfassen nah, vor ihr. Zwei Jahre, - schuld war dieser Corona Virus - ohne ihn zu sehen oder etwas von ihm zu hören, war die Hölle.

„Tut mir unheimlich leid,“ sagte sie, als sie sich gefangen hatte. „Aber wir haben Sie nicht gesehen!“

„Vielen herzlichen Dank!“, knurrte er, dabei rieb er sich den Oberschenkel. „Wenn ich Glück habe, habe ich nur einen blauen Fleck. Wenn nicht, muss ich mich stundenlang in der Notaufnahme aufhalten.“

„Weichei!“, murmelte Petra neben ihr.

Elisa gab ihr einen Stups in die Rippen: „Halt die Klappe!“, flüsterte sie mit hochgradiger Verstimmung.

Während Fabian zu ihnen hochschaute, rieb er sich immer noch den Oberschenkel.

„Womit habe ich das verdient? Habe ich euch irgendetwas getan?“

Er sah sie beide fassungslos an, als wären sie Racheengel mit einem flammenden Schwert. Extra vom lieben Gott gesandt, um ihn zu bestrafen.

Noch schien er sie nicht erkannt zu haben, überlegte Elisa still in sich hinein und fragte ihre innere Stimme, ob sie sich zu erkennen geben solle.

„Nein. Wie kommst du darauf?“, fragte sie nach reiflicher Überlegung und verzichtete auf die förmliche Anrede. „Wir haben dich wirklich nicht gesehen. Wir haben einfach nur rumgealbert.“

Ruckartig zuckten seine Augenbrauen in Richtung Stirn. Kühl abwägend und fragend blickte er ihr in die Augen und dennoch checkte er nichts. Stattdessen lachte er mit einem spöttischen Unterton auf. Was natürlich keinen Zweifel aufkommen ließ, dass er sich lustig über sie beide machte.

„Wie ich feststelle, haben sich die Zeiten tatsächlich geändert. Früher waren es die Kerle, die, die Weiber angerempelt haben, um ihr Interesse an ihnen zu zeigen. Heute nehmt ihr das selbst in die Hand. Sehr interessant“, bemerkte er. „Aber ganz ehrlich, seid Ihr nicht ein bisschen zu jung dafür?“

Noch bevor Elisa etwas sagen konnte, schob Petra sie beiseite. Sie hob den Kopf und sah ihn streitlustig an.

„Aber ganz ehrlich“, äffte sie Fabian nach. „Meinen Sie nicht, dass Sie ein bisschen zu alt für uns sind? Wir wollen keinen Vaterersatz und wir sind auch nicht an dem Spielzeug in Ihrer Hose interessiert. An Ihrer Stelle würde ich mir nicht so viel einbilden. So schön sind Sie nicht. Außerdem so eine plumpe Anmache bleibt den Männern immer noch überlassen.“

„Wer sagt das?“, wollte er wissen. „Hast du vergessen, dass wir im 21. Jahrhundert leben? Ihr Emanzen habt doch schon vor Jahren nach Gleichstellung gestrebt. Dazu gehört auch, dass ihr nicht nur eure Schlauheit an den Tag legt, sondern auch die gleiche Dummheit, die uns Männern vorbehalten ist, solche Weiber wie euch anzurempeln. Nur um mit euch spielen zu können. Und was mein Alter betrifft, kann ich nur sagen, dass ich die Reife besitze, keine Gören anzumachen. Und zweitens“, jetzt wurde er zum Prahlhans, „ein Mann in meinem Alter hat kein Spielzeug in seiner Hose. So wie die kleinen pubertierenden Knirpse die euch anmachen!“

„Ha“, prustete Petra. „Und drittens, Ihr Wichtelmännchen da unten“, sie zeigte auf seinen Schritt, „interessiert uns nicht. Und viertens, wir spielen gerne mit Knirpsen. Die haben wenigstens eine Waffe, aus der keine Luft herauskommt.“

„Schluss jetzt!“, brüllte Elisa, ihr Gesicht lief puterrot an. Das Wortgefecht war mehr als idiotisch. Sie musste das Gespräch in eine andere Richtung lenken, ehe es zu Beleidigungen kam.

„Fabian, seit wann bist du wieder hier?“

Ihr Herz wummerte und ihre Nerven flatterten jetzt wie eine Fahne im Wind. Ihre Hände krampften sich verbissen an dem Objekt der Verschuldung fest. Er starrte sie mit einem erstaunten Blick an. Sofort wurde sie wieder rot. Seine Augen brannten förmlich in ihrem Gesicht. Er machte sie nervös. Sie wollte weggucken oder weglaufen. Es war nicht zum Aushalten. Wahrscheinlich sah sie aus wie das leuchtend rote Hinterteil eines Pavians, und fühlte sich, als schmore sie in einer Kokotte - einem Schmortopf. Nicht zu verwechseln mit der Kokotte, die im 19. Jahrhundert ihre Liebesdienste anbot. Oder sah er sie gerade wie diese besagte Dienerin an? Und tatsächlich glänzten seine Augen. Oder bildete sie sich das nur ein? Weil sie selber verwirrt war?

„Elisa? Du? Wirklich?“, stammelte er und schüttelte seinen Kopf, als erwache er aus einer Betäubung. „Ich hab dich nicht erkannt. Wow, du siehst … du … siehst so anders aus. Mannomann hast du dich gemacht! Bist du es wirklich?“

Konnte es sein, dass er eine Brille brauchte? Garantiert.

Unsicher sah sie in sein Gesicht und nickte nur, nicht fähig zu sprechen. Was er dann aber übernahm, um ihre zuvor gestellte Frage zu beantworten.

„Seit heute Mittag. Ich bin hier, weil deine Mutter mich angerufen hat. Sie informierte mich, dass mein Vater neben der Spur ist. Dass er manchmal sein Personal für Gäste hält, und umgekehrt. Aus Sorge um ihn habe ich mich in den nächsten Flieger gesetzt.“

Elisa war erschrocken.

„Wie bitte? Davon hat Mama mir nichts erzählt. Wenn das Gespräch auf ihn kam, ich ihr Grüße von ihm ausrichten wollte, wollte sie nichts hören und gab mir zu verstehen, dass manche Menschen es nicht wert sind, sich Gedanken über sie zu machen. Ich war vor ein paar Tagen noch bei ihm. Mir ist aber nichts aufgefallen. Er hat sich ganz normal verhalten.“

„Warum Menschen, die es nicht wert sind?“, fragte Fabian erstaunt nach.

„Ähm, weißt du es nicht? Die beiden sind nicht mehr zusammen. Der Vollständigkeit halber, seit den Weihnachten vor zwei Jahren, als du wieder nach England zurück bist!“

„Davon hat Vater mir nichts erzählt“, stutzte Fabian. „Aber wenn deine Mutter meinen Vater damit meinte, dass er der Mensch sei, der es nicht wert war, sich Gedanken zu machen, warum hat sie mich angerufen? Mir kam es nicht so vor, dass sie sich keine Sorgen um ihn macht.“

Petra zupfte an ihren Haaren und drückte sich zwischen ihnen. „Kann ich euch mal stören? Wir sollten so langsam mal gehen, Elisa. Mama wartet mit dem Essen auf uns.“

Elisa nahm die Worte ihrer Freundin nicht wahr. Alles, was sich um sie herum abspielte, war nicht existent. Sie befand sich in einem luftleeren Raum, durchlebte gerade eine Flut von Emotionen, wie Glück, Zufriedenheit bis hin zu Trauer und Wut. Ja, sie war auf einmal wütend auf Fabian, weil er sich in den letzten zwei Jahren nicht einmal gemeldet hatte.

„Na toll!“, stöhnte Petra eingeschnappt auf. „Ich sehe schon. Es ist ja nicht so, dass meine Mutter für meine Freundin Elisa mitgekocht hat, und mein Magen nun eine zweite Portion verkraften muss. Meine Mama besteht ja auch nicht darauf, dass die Töpfe leer sind. Und sollte es nicht so sein, ist sie tagelang beleidigt. Bin nur ich es, die das ertragen muss? Bin ich nicht schon fett genug?“, schallten ihre Worte triefend vor Sarkasmus zwischen Elisa und Fabian. „Na Klasse!“, sagte sie zum Schluss, da Elisa nicht reagierte. „Was solls! Also, wir sehen uns. Tschüss, ich gehe jetzt!“, und wandte sich empört um.

„Hast du Lust auf ein Eis?“, fragte Fabian, nachdem sie sich beide angestarrt hatten, als wäre jeder von ihnen eine Art Weltwunder. „Dann können wir uns noch ein wenig unterhalten. Vielleicht fällt dir das eine oder andere ein, warum unsere Eltern sich getrennt haben. Eventuell hat deine Mutter etwas von sich gegeben und du weißt es nicht mehr.“

Elisa war nicht willenlos, sie konnte sich vorstellen mit ihm an einem Tisch, - seine heiße Stimme im Ohr, die sie jetzt schon in einer gewissen Körperregion ganz verrückt werden ließ, zu sitzen. Diese Geste von ihm, sollte aber nicht so eine Nebenwirkung haben. Das war peinlich. Gut nur, dass er es nicht sehen konnte.

„Aber, ich habe keine Zeit, Petras Mama hat für mich mitgekocht“, stotterte sie und drehte ihren Kopf zur rechten Seite, dahin, wo vor einer Minute ihre Freundin noch stand.

Hä! Wo war die denn auf einmal? Ist die etwa gegangen, ohne Bescheid zu sagen?, grübelte Elisa. Sie schüttelte verwirrt den Kopf und blickte in Richtung der Straße, ob sie Petra noch sehen konnte. Sie hatte tatsächlich keine Ahnung, warum Petra ohne ein Wort zu sagen gegangen war. Oder hatte sie nicht zugehört? War sie ohne Übertreibung so vernebelt von Fabians Anblick?

„Wo ist sie?“, fragte sie Fabian. Der sie betrachtete, als würde er ein Bild begutachten, nein, er zog sie mit seinen Augen aus. Scheinbar fasste er zusammen, was er mit ihr anstellen könnte. Und wie er lachte. Holy Shit! Was war das denn? In dem Moment geschah etwas Irres mit ihr: Fast hätte sie ihn geküsst: So sehr ging sein Lachen durch ihr Herz.

„So, wie ich das sehe, ist deine Freundin kein Fan von mir.“

„Aber ...“, gab Elisa von sich. Was wollte sie überhaupt sagen? Sie war völlig verwirrt. Nicht nur weil Petra so plötzlich verschwunden war. Ihr Herz brachte ans Licht, das Fabian ein verteufelt schönes Bild von sich abgab. Verdammt, er war schon immer schön für sie gewesen. Und jetzt hatte er sie gefragt, ob sie mit ihm Eis essen gehen wolle - mit ihr? Wie geil war das denn?

Verdattert nahm sie wahr, dass Fabian ihr den Einkaufswagen aus der Hand nahm und zu den anderen schob. Danach griff er ihre Hand und zog sie hinter sich her.

„Komm schon Fastschwesterchen. Wir essen ein riesengroßes Eis. Such dir aus, was du möchtest. Das Schicksal will es so. Wer weiß, wer weiß, was es mit uns vorhat“, scherzte er.

Elisa ließ sich mitreißen. Sie zog ein Eis eindeutig einer Erbsensuppe vor. Und dass auch noch in seiner Gesellschaft. Was konnte es Schöneres geben. Nichts. Rein gar nichts.

Sie und Fabian, – oh mein Gott. Das war das Nonplusultra. Und shit, die Nacht war unweigerlich vorprogrammiert: Programm – schlaflos in Wengern.

Kapitel 2

Fabian nahm Elisas Hand und ging mit ihr die Osterfeldstraße hinunter, in Richtung Eisdiele Meho.

Den Weg zu Fuß hätten sie in fünf Minuten geschafft, wenn sein Oberschenkel nicht so gebrannt hätte und das daraus resultierende Humpeln. Er war froh, wenn er sich endlich setzen konnte. Unterwegs ließ er seinen Blick über die gegenüberliegenden fensterlosen Gebäude gleiten. Sie sahen aus wie seelenlose Körper mit klaffenden Wunden, deren Nerven oder Sehnen, einstmals die Bewohner darstellten.

Die Eisdiele war genau das, was das Dorf gebraucht hatte. Eine Wohlfühloase wo sich die Wengeraner zum Plaudern treffen konnten, oder um Menschen aus der Umgebung kennenzulernen.

Von den wenigen Freunden, die während seiner Zeit die er in England verbracht hatte, übrig geblieben waren und Gästen des Hotels, hatte er nur Bestes gehört. Die Betreiber seien freundlich und zuvorkommend und ihr Eis hätte eine exzellente Qualität und einen sehr guten Geschmack. Man merkte und schmeckte die Liebe zum Gast und zum Produkt.

Es war kurz vor halb vier, mitten in der Woche, und die Eisdiele war brechend voll. Unterhalb der überdachten Terrasse waren alle Tische besetzt und im Verkaufsbereich standen die Kunden Schlange. Das sagte doch alles aus: Seine Freunde hatten ihm keinen Bären aufgebunden.

Unter der Überdachung waren drei Tische frei. Zwei, am Ende und einer direkt am Eingang. Der Betreiber des Eiscafés, Emanuel, bat sie, am vorderen Tisch Platz zu nehmen, da die beiden Hinteren reserviert waren.

Sie hatten noch nicht Platz genommen, da schob sich eine Gruppe von Leuten, - fünf Männer und vier Frauen - an ihnen vorbei. Einer der Männer blieb überraschend vor Elisa stehen.

„Elisa?“ Er reichte ihr die Hand zur Begrüßung. „Dich habe ich aber lange nicht gesehen“, rief er erstaunt, gleichzeitig erfreut aus.

„Hi Michael!“, sagte Elisa ebenso erfreut und schaute zu den anderen Herrschaften, die ihre Stühle zurechtrückten, und nickte ihnen zu. Scheinbar kannte sie sie. „Was machst du denn hier?“, fuhr sie ihren Blick wieder dem Typen zugewandt, fort.

Der zeigte auf seine Freunde und grinste wie ein Honigkuchenpferd: Eine Feststellung, die Fabian für sich traf. Er fühlte sich gleichzeitig gekränkt. Er hatte Elisa nicht eingeladen, damit sie sich mit alten Bekannten unterhielt. Das könnte sie jederzeit tun, aber nicht jetzt. Jetzt wollte er sie für sich alleine und konnte sich einen muffligen Blick nicht verkneifen. Es war ein Gefühl in ihm, das er sich nicht erklären konnte. Etwas Seltsames ging in ihm vor. Futterneid? Wie selber essen macht fett? Der Kerl sollte es nicht wagen, mehr als nur Freundschaft für Elisa zu empfinden. Aber auch Stolz pochte gegen die Wand seines Herzens. Stolz darauf, dass Elisa ihn vor dem Penny angeschaut hatte, als wäre er… ja, als sei er der Traum ihrer schlaflosen Nächte: im positiven Sinne natürlich. Sein Puls schoss dermaßen in die Höhe, dass er die Schmerzen an seinem Oberschenkel für ein paar Sekunden vergessen hatte. Eine Anwandlung von Melancholie ergriff ihn, als er an die Zeit dachte, wo er sich unsterblich in Elisa verguckt hatte. Anfangs natürlich nicht in dem Sinne wie sich ein Siebzehnjähriger in ein Mädchen verliebt, nein, Elisa war seine kleine Schwester. Mit ihren fünf Jahren hatte ihn das kleine Wesen, mit ihrem kindlichen Liebreiz, ihrem naseweisen und vorlautem Geplapper, um den Finger gewickelt. Es waren schöne Jahre. Elisa war das einzige Mädchen, das ihn liebte, egal wie er aussah. Er erinnerte sich an den Tag, als er seine Ausbildung beginnen wollte und für drei Jahre nach Mailand umsiedeln musste. An diesem Tag, vor seiner Abreise, hatte Elisa so geweint, geschrien und mit ihren kleinen Füßen getrampelt, dass ihm sein Herz wehtat. Dieser Anblick, ihr tränenüberströmtes Gesichtchen hatte ihn nie wieder losgelassen. Vor zwei Jahren geschah dann das unglaublichste aller Unglaublichkeiten. Er hatte sich von einer Sekunde auf die andere in ein fünfzehnjähriges Mädchen verliebt. Elisa war wie ein Blitz in sein Herz eingeschlagen. Sie war so schön, so unschuldig, so verdammt verboten. Ihre Oberlippe war wie ein Amorbogen in Form einer Herzkontur. Bei dem Blick auf gerade diese Lippen war ihm schwindelig geworden - mit Atemnot und Herzrasen. Ganz zu schweigen von seiner Beule in der Hose. Sie war ein überirdisch schönes Geschöpf. Und zum Teufel, damals, als er mit ihr zusammengeprallt war, ihren frischen, nach Schnee riechenden Duft in sich eingesogen hatte, hatte er sich in sie verliebt. Er, der Fettwanst und größte Idiot aller Zeiten hatte sich in ein Kind, in eine Minderjährige verliebt. Sie sah damals weiß Gott nicht aus wie eine Fünfzehnjährige. Sie hatte schon Rundungen, die einen erwachsenen Mann, einen Mistkerl, um den Verstand bringen konnten. Und ja, er war einer dieser Mistkerle. Er hatte sich Elisa auf seiner Speisekarte gewünscht. Sich so sehr gewünscht an ihr zu knabbern und noch viel mehr. Diese verbotenen Gefühle waren dann auch der Grund gewesen, dass er nach seinem Urlaub seiner Heimat ferngeblieben war. Der Coronavirus hatte es ihm leicht gemacht nicht schwach zu werden, nach Hause zu fliegen, und irrwitzigerweise spukte in seinem Kopf der Gedanke, ihr nicht mehr wie ein Rollmops unter die Augen zu treten. Aber es war nur eine Frage der Zeit, dass ihm bewusst geworden war, dass das Schwachsinn war. Selbst wenn Elisa ein Alter erreichen würde, in dem sie nicht mehr verboten war, wäre er immer noch zu alt für so ein junges Ding. Elisa wäre längst in einem Burschen ihres Alters verliebt. Was sollte sie dann mit einem alten Knacker anfangen, der sie vom Leben und der Liebe abhielt. Folglich hatte er sich seinem Verstand gebeugt und seine Fettmassen nicht abtrainiert. Natürlich half es, dass es Frauen gab, denen seine Figur nicht wichtig war. Sein Porsche und der Lottogewinn waren der Grund, dass die Weiber hinter ihm her waren, wie liebestolle Bienen, die auf seinen gefüllten Honigtopf aus waren. Natürlich hatte er jede sich ihm dargebotene Gelegenheit und Frucht angenommen: Ohne jemals mehr als ein oder zwei Tage mit einer Frau ins Bett zu steigen. Eines schönen Tages trat Abby in sein Leben. Ihre Ähnlichkeit mit Elisa hatte ihn umgehauen. Doch heute, als Elisa plötzlich vor ihm stand, war ihm bewusst geworden, dass Abby weit weg von Elisas vollkommener Schönheit war. Klar war Elisa nicht so schlank wie Abby, Elisa besaß ihren Babyspeck noch. Und gerade das, machte sie so anziehend süß und begehrenswert.

In Gedanken fasste Fabian sich an den Kopf. War er denn irre geworden? Waren sein verdammtes Herz und sein Verstand bei ihrem Anblick wieder in die Hose gerutscht? Dieses verdrängte Gefühl, sie zu lieben, war nun wieder zum Vorschein gekommen. Eine Tortur, eine Folter, unter der selbst der Papst gestehen würde, einem Aberglauben verfallen zu sein. Was bleibt, ist die Qual, den Schein zu wahren, nur ein Freund, ein Bruder zu sein.

„Wir sind jeden Mittwoch hier. Ein paar Biere trinken, ein bisschen Blödsinn erzählen und Lachen“, holten ihn die Worte Michaels zurück aus seinen Gedanken. „Wir haben immer sehr viel Spaß. Wenn du Lust hast, kannst du dich ja mal zu uns gesellen. Vielleicht hat deine Mutter einen freien Tag und kommt mit. Was macht sie?“, wollte er im Anschluss wissen. „Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen! Geht es ihr gut?“

„Ja! Aber zur Zeit arbeitet sie viel! Sie hofft, dass ihre Kollegin bald aus ihrem Krankenstand zurück ist. Acht Wochen Vertretung ist schon eine Herausforderung.“

„Bestell ihr einen schönen Gruß!“

„Mach ich!“, antwortete Elisa und setzte sich auf ihren Stuhl. Michael klopfte ihr noch freundschaftlich auf die Schulter und wandte sich mit den Worten: „Wir sehen uns! Mach es gut Elisalein!“, seinen Freunden zu. Und schon wurde es ein klein wenig lauter unter der Terrasse.

Elisalein?, schoss es wie ein Katapult durch Fabians Gehirn. Ich geb dir gleich „Elisalein“ du Hornochse. Seine Hände ballten sich automatisch zu Fäusten. Dann setzte er sich knurrig - seinen Missmut unterdrückend - zu Elisa an den Tisch. Es konnte nicht sein, dass sich sein bisschen Verstand, so daneben benahm.

Ehe Fabian sich weiter mit gerade diesen, nach einer Schlägerei schreienden Verstand, beschäftigen konnte, trat ein junger Mann zu ihnen und wischte den Tisch sauber. Anschließend reichte Emanuel ihnen eine Eiskarte, eine weitere mit Waffeln und Obst sowie eine mit Crêpes in verschiedenen Variationen. Eine Karte mit heißen und kalten Getränken befand sich schon in einem Ständer auf dem Tisch. Wie er sehen konnte, waren die Preise zivil: In Mailand und England waren die weit höher.

Nachdem die Eiskarte durchgesehen war, bestellte Elisa sich ein Spaghetti-Eis und er einen Amarena-Becher.

Während Elisa ihr Eis genoss, beobachtete er sie. Sie hatte wahnsinnig schöne schwarze Haare – voll und lang. Er liebte es, wenn Frauen lange Haare hatten. Das machte sie erst weiblich. Elisas Gesicht, es hatte eine blasse Vornehmheit, war im Gegensatz zu ihrem Körper, schmal und zart, und ihre dunklen Kulleraugen stachen wie zwei selten große schwarze Diamanten heraus. Selbst ihre kleine Stupsnase war extrem süß. Ihre Lippen waren immer noch derart auf einen Sinnengenuss ausgerichtet, dass ihm die Frage durchpeitschte, wie es sich anfühlen würde, sie zu küssen.

Augenblicklich erschrak er über diese frevelhafte Frage und schallt sich einen Idioten.

Menschens Kinder, Elisa ist immer noch ein Kind.

„Weißt du, warum deine Mutter sich von meinem Vater getrennt hat?“, fragte er, um sich abzulenken.

Elisa hob ihren Kopf, öffnete die Lider und blinzelte. Dieser kleine unscheinbare Augenaufschlag, wurde zu einer Bedrohung seiner Sinne. Herr im Himmel, wann hatte er solch lebendig erotisch anziehende Augen, die dafür sorgten einen Mann, ihn, um den Verstand zu bringen, gesehen? Sie waren der Wahnsinn. Als ihre Zunge dann auch noch den Eislöffel ableckte, stockte ihm der Atem, und Gott, seine Augen quollen ihm fast schon aus dem Gesichtsfeld.

Verdammt, das war krank.

„Ich weiß es echt nicht“, sagte Elisa. „Ich habe Mama gefragt, was geschehen ist, aber sie hat mir gesagt, ich solle mich nicht um ungelegte Eier kümmern. Ich solle lieber meine Jugend und Unbeschwertheit genießen. Diese Zeit wäre viel zu schnell vorbei. Hör dich beim Personal um. Die wissen meist mehr als die Betroffenen.“

„Ich denke mal, das ist eine gute Idee. Interessieren würde es mich ja schon. Obwohl es mich nichts angehen sollte. Schließlich sind beide erwachsen. Mich hatte es damals schon gewundert, dass deine Mama, - sie war ja nicht viel älter als ich, sich mit meinem Vater eingelassen hat. Er war immerhin sechsundfünfzig, als er sich in Ingrid verliebt hat, und sie erst zweiundzwanzig. Ich war tierisch sauer. Meine Mutter war gerade ein dreiviertel Jahr tot und er hatte nichts Besseres zu tun, als sich an eine seiner Angestellten ranzumachen. Wie krank war das denn? Letztendlich war mir aufgefallen, wie gut deine Mutter ihm tat. Er war ruhiger und zufriedener - nicht mehr so aufbrausend. Das Personal war glücklich über seine Wandlung und mich hatte er nicht mehr drangsaliert. Du kannst stolz auf sie sein. Zum einen ist sie wunderschön und zum anderen scheint sie eine Heilige zu sein. Dass sie sich Sorgen um meinen alten Herrn macht, beweist, dass sie eine göttliche Seele hat. Dass das Personal sie liebt, ist kein Wunder.

„Ja, ich weiß! Und ich liebe sie über alles. Jedes Kind sollte so eine Mutter haben“, antwortete dieses zauberhafte Wesen vor ihm. Das sich in keiner Weise wie eine Siebzehnjährige anhörte. Eher wie eine junge Dame. Ihre Stimme klang nicht so kindlich wie die ihrer Freundin Petra. Elisas Stimmvolumen war weich und voll zugleich - verdammt erotisch.

Die knisternde Stimmung in der Luft, die wie ein Lagerfeuer um ihn prasselte, war nicht das, was er gerade gebrauchen konnte. Seine Gedanken schweiften schon wieder in eine verbotene Richtung ab, und er hätte sich ohrfeigen können - solange bis er wieder vernünftig denken konnte.

„Erzähl mir von dir“, kam es krächzend, er war bemüht sich nichts von seiner Wollust anmerken zu lassen, aus seinem Mund. „Was hast du vor, wenn dein Abitur hinter dir liegt?“, fragte er sie, um Nüchternheit bemüht.

„Ach mit meinem Abi habe ich noch ein wenig Zeit. Aber danach“, ihre Augen strahlten, „werde ich Hairstylistin oder Pilotin. Pilotin, wäre mein absoluter Traum. Ich möchte die ganze Welt sehen.“

„Da musst du doch keine Pilotin werden“, lachte er. „Du brauchst nur eine Ausbildung zur Stewardess. Oder du ergreifst einen Beruf, der dir viel Geld einbringt. Der dir die Möglichkeit gibt, andere für dich arbeiten zu lassen. Genau das würde ich im Moment gerne tun. Andere ackern für mich und ich reise durch die Welt.“

Elisa sah ihn fassungslos an.

„Für mich aber nicht. Es ist nicht so, dass ich nur die ganze Welt sehen möchte. Ich will vorne im Cockpit sitzen. Die Gewalt über so einen großen Flieger haben. Stell dir vor, wie es ist, solch eine Herrschaftsgewalt zu besitzen. Wenn so ein riesengroßes Monstrum durch deine Kraft und dein Wissen abhebt und in den Himmel fliegt, durch die Wolken, der Sonne entgegen. Es muss traumhaft sein.“ Sie sah ihn an und fragte neugierig: „Und du Fabian? Was ist mit dir? Wie lange bleibst du noch in England?“

„Tja … ich bin mit meinem Studium schon eine Weile fertig und habe jetzt ein paar Jahre im Lanesborough am Hyde-Park in London, eines der teuersten und edelsten Hotels, als Hotelmanager fungiert.“

„Was macht ein Hotelmanager?“, hinderte Elisas Frage ihn am Weiterreden.

Er faltete seine Hände. Jetzt war er in seinem Element.

„International wird die Position des Hotelmanagers auch als General Manager bezeichnet. Das bedeutet, dass ich für die Stelle des Hotelmanagers viel Erfahrung und gute Kenntnisse über die Abläufe eines Hotels besitzen muss. Im Prinzip besteht mein Aufgabengebiet darin, dass das Hotel wirtschaftlich gut aufgestellt ist und bleibt. Manchmal kann es vorkommen, dass der Manager in Notfällen an der Rezeption aushelfen muss, z. B. wenn Personalmangel herrscht. Und wie du mitbekommen hast, ist das im Moment die Regel. Der Coronavirus hat nicht nur uns, die Arbeitskräfte, unsere Studenten, die sich ihr Studium finanzieren müssen, gekostet.“

„Macht dir deine Arbeit Spaß?“

„Ja sicher, sonst hätte ich nicht so viele Jahre des Lernens in Kauf genommen. Doch jetzt habe ich erst einmal genug und werde Ferien machen und die Welt genießen.“

Er wollte ihr nicht erzählen, dass er und Abby im Begriff waren, zu heiraten. Der Termin stand fest, der Weeding Planer gebucht. Die Hochzeitsfeier sollte im Lanesborough stattfinden. Am nächsten Morgen musste er kurz nach London fliegen, da der Termin für das erste Traugespräch mit dem Priester anstand. Merkwürdigerweise war ihm jetzt ganz flau im Magen, Abby zu heiraten. Zum einen war Elisas Gegenwart, stärker als ein Opiat, und zum anderen waren Gerüchte im Umlauf, dass Charles Wood sein Vermögen zum größten Teil verspielt oder in dubiose Geschäfte gesteckt hatte. Etwas, was Charles natürlich weit von sich wies. Er solle sich keine Sorgen machen, dass Abby ihn nur des Geldes wegen heiratete. Und seltsamerweise war Abbys Vater es, der auf eine Heirat drängte. Hinzu kam, er selber hatte das Bedürfnis, eine Familie zu gründen. Seine Spermien würden nicht ewig so zahlreich und unternehmungslustig bleiben. Doch je älter er, vor allem Abby wurden, je heiß umstrittener wurde das Thema „Baby“. Abby war immer weniger bereit, ein Kind zu bekommen. Sie hatte gesagt:

„Ich bin jung und möchte reisen, die Welt sehen, solange es geht. Wenn du unbedingt ein Kind möchtest, dann suchen wir uns eine Surrogate-Mother, eine Leihmutter. Ich lass mir doch nicht von einem Kind meine Figur ruinieren, und erst recht nicht meiner Entwicklungsmöglichkeiten berauben. Was für Entwicklungsmöglichkeiten?, hatte er bei ihren Worten gedacht. Sie war nur eine Barbiepuppe, die das privilegierte Leben, in das sie hineingeboren worden war, in vollen Zügen auskostete. Immer öfter hatte er sich gefragt, warum er sich nicht aus dieser Beziehung zurückgezogen hatte. Was sollte er mit einer Frau, die sich zu fein war, seine Kinder auszutragen. Wo war da Liebe?

Mitten im Grübeln hörte er Elisa fragen:

„Und danach? Übernimmst du das Elbschehotel?“