Märkte als soziale Strukturen -  - E-Book

Märkte als soziale Strukturen E-Book

0,0

Beschreibung

Märkte sind die bedeutendste Institution zur Steuerung kapitalistischer Ökonomien. Die Wirtschaftssoziologie untersucht das Markthandeln unter dem Aspekt der sozialen, kulturellen und politischen Einbettung der Akteure. Dieser Band versammelt erstmalig in deutscher Sprache Beiträge zur soziologischen Forschung über Märkte, unter anderem von international führenden Autoren wie Olivier Godechot, Akos Rona-Tas, Donald MacKenzie, Robert Salais, Richard Swedberg und Harrison C. White.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 537

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ganßmann, Heiner; Beckert, Jens; Diaz-Bone, Rainer

Märkte als soziale Strukturen

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2007. Campus Verlag GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

E-Book ISBN: 978-3-593-40395-3

|9|Danksagung

Seit geraumer Zeit gibt es eine Renaissance wirtschaftssoziologischer Forschung: Zunächst in den USA, dann in Frankreich, Deutschland und weiteren europäischen Ländern wenden Soziologen ihr Instrumentarium verstärkt zur Erkundung der Kerninstitutionen der modernen Wirtschaft an. Die Untersuchung von Märkten steht dabei im Vordergrund. Dieser Band zur Marktsoziologie lag also gewissermaßen in der Luft. Doch es war eine reine Koinzidenz, die zu dieser Anthologie führte: Gleichzeitig, doch unabhängig voneinander organisierten Jens Beckert am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und Rainer Diaz-Bone zusammen mit Heiner Ganßmann an der Freien Universität Berlin im Herbst und Winter 2005 Vortragsreihen zum Thema der sozialen Einbettung von Märkten. Viele der Referenten waren bei beiden Veranstaltungsreihen eingeladen. In beiden Institutionen stießen die Beiträge auf großes Interesse. Da es bislang keine deutschsprachige Publikation zur Marktsoziologie gibt, lag es nahe, sich zusammenzuschließen, um aus einer Auswahl der Vorträge einen solchen Band zusammenzustellen.

Wir danken den Autoren für ihre große Bereitschaft, sich an diesem Unternehmen zu beteiligen. Unser Dank gilt außerdem dem Redaktionsteam am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, insbesondere Jeanette Störtte und Thomas Pott, die das Buchprojekt bis zur Druckreife mit großer Sorgfalt betreut haben. Herbert Kalthoff danken wir für seine Unterstützung bei der Übersetzung einiger finanzsoziologischer Fachbegriffe.

Köln, Berlin und Vancouver im Juni 2007

Die Herausgeber

|11|Vorwort

Richard Swedberg

Die Wirtschaftssoziologie hatte in Deutschland einen ihrer wichtigsten Entstehungsorte. Nachdem sie in der Nachkriegszeit an Bedeutung verloren hatte, rückt sie seit den neunziger Jahren wieder in das Zentrum soziologischer Forschung. Betrachtet man die im vorliegenden Band versammelten Beiträge, so zeigt sich darin der Aufschwung der Wirtschaftssoziologie auch in Deutschland. Aus Sicht der Wirtschaftssoziologie wie auch der internationalen Gemeinschaft der Sozialwissenschaftler ist dies eine begrüßenswerte Entwicklung.

Wie könnte man einen solchen Prozess besser in Gang bringen als mit einem Band über die Soziologie der Märkte? Die Wirtschaftssoziologie entstand wie die moderne Ökonomie aus dem Versuch heraus, zu verstehen, was der Gesellschaft im 19. Jahrhundert widerfuhr, als die Marktwirtschaft mit großer Heftigkeit einsetzte. Dies gilt für die Arbeiten von Karl Marx (den einige als den Begründer der Wirtschaftssoziologie ansehen) und Max Weber (der den Begriff Wirtschaftssoziologie einführte und als Erster ein systematisches Vorgehen für diesen Ansatz vorlegte) gleichermaßen.

Die Beiträge von Marx und Weber zur Analyse des Marktes sind weiterhin Grundlagenwerke von ungebrochener Aktualität. Jedoch ist viel passiert seit ihrer Entstehung, nicht zuletzt in der wirtschaftssoziologischen Betrachtung von Märkten. Den wohl wichtigsten Beitrag in der Zeit zwischen den Weltkriegen leistete Joseph Schumpeter, der eine Theorie zur Rolle des Unternehmers in der Marktwirtschaft aufstellte. Formal ist diese Theorie der von Schumpeter selbst so genannten Wirtschaftstheorie zuzuordnen, doch steht sein Ansatz der Unternehmeranalyse in vielerlei Hinsicht der Soziologie mit ihrem Interesse an Normen und sozialen Strukturen nahe. Ebenso bezeichnet Schumpeter die Wirtschaftssoziologie explizit als einen wichtigen Teil des weiten Feldes der Ökonomik oder – wie er sie lieber nennt – Sozialökonomik.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges lieferte Karl Polanyi den Hauptbeitrag zur Soziologie der Märkte. In The Great Transformation (1957 [1944]) skizziert er das zerstörerische Potenzial des Marktes und legt darüber hinaus nahe, dass eine |12|gut funktionierende Marktwirtschaft in die gesamte Gesellschaft eingebettet sein und sich unter politischer Kontrolle befinden muss. In anderen Schriften stellt Polanyi neue theoretische Instrumente für Wirtschaftssoziologen vor. Er weist darauf hin, dass neben der auf Tausch basierenden Marktwirtschaft auch andere, auf Reziprozität und Umverteilung basierende Wirtschaftsformen möglich sind. Ebenso verdeutlicht Polanyi, dass alle diese drei Arten wirtschaftlicher Betätigung Bestandteile der modernen Wirtschaft sind. Während im Unternehmenssektor beispielsweise der Tausch vorherrscht, ist das Wirtschaften der privaten Haushalte von Reziprozität geprägt und das des öffentlichen Sektors von Umverteilung.

Dies bringt uns in die Gegenwart und zu jener Entwicklung, die Mitte der achtziger Jahre als »neue Wirtschaftssoziologie« ihren Anfang nahm: Vertreter der neuen Wirtschaftssoziologie begannen, sich dem Phänomen Markt von verschiedenen Seiten zu nähern, insbesondere mittels der Netzwerktheorie, der Organisationssoziologie und der Kultursoziologie. So kann man etwa die Interaktionsstruktur von Märkten mithilfe der Netzwerktheorie beschreiben. Auch kann man einen Markt als Organisationsform ansehen, darüber hinaus sind die Akteure auf einem Markt oft selbst Organisationen. Und schließlich setzt Marktverhalten in vielerlei Hinsicht Kulturverständnis voraus und greift darauf zurück.

Einige der prominentesten Vertreter der aktuellen wirtschaftssoziologisch geprägten Marktanalyse haben zum vorliegenden Band beigetragen. Die Einführung zu den einzelnen Kapiteln möchte ich jedoch den Herausgebern überlassen und stattdessen auf den nächsten Seiten das Phänomen Markt in einer allgemeineren Form erörtern. Das ist notwendig, weil trotz all der wichtigen Beiträge, die zum besseren Verständnis des Marktes bereits geleistet worden sind, immer noch einiges unklar ist. Dies wird deutlich, wenn man die Fragen stellt: »Was genau ist ein Markt?« und »Was genau macht ein Markt?«.

Um diese Fragen beantworten zu können, muss man verstanden haben, was mit dem Begriff Markt eigentlich gemeint ist. Wie wir gleich sehen werden, wird dieses Verständnis dadurch erschwert, dass der Begriff historisch zwei unterschiedliche Bedeutungen hat. Hinzu kommt, dass er im Lauf der vergangenen Jahrzehnte politisch aufgeladen worden ist.

Beginnen wir mit den beiden Bedeutungen. Der Begriff »Markt« bezeichnet zunächst einmal ein Gebiet, auf dem Tausch stattfindet. Er wird aber ebenso als sozialer Mechanismus für wirtschaftliches Wachstum verstanden, oder, wie die Ökonomen es ausdrücken, als Mechanismus zur effizienten Ressourcenallokation. Diese beiden Bedeutungsgruppen sind offensichtlich sehr verschieden. Während die eine betont, was hauptsächlich quasi innerhalb des Marktes passiert, hebt die andere |13|hervor, was vor allem außerhalb des Marktes geschieht, oder, genauer gesagt, wie der Markt in den Wirtschaftsprozess eingebunden ist.

Da der Begriff »Markt« auch im öffentlichen und politischen Diskurs so wichtig geworden ist, plädiere ich dafür, bei der Diskussion seiner Bedeutung zunächst seine ideologische Verwendung zu betrachten. Auf den ersten Blick erkennbar, enthalten die meisten modernen politischen Weltbilder, vom rechten bis zum linken Spektrum, Bezüge zum Markt. Libertäre vertreten eine Meinung, Kommunisten eine andere und so weiter.

Die Vielfalt der über den Markt bestehenden politischen Meinungen lässt sich schematisch in einer Vier-Felder-Matrix darstellen, wobei die eine Dimension die Ausprägungen effizient/ineffizient und die andere die Ausprägungen positiv/negativ hat. So sehen Libertäre die Märkte als effizient an und stehen ihnen positiv gegenüber, wohingegen Kommunisten Märkte für ineffizient halten und eine negative Einstellung zu ihnen haben. Die europäischen Sozialdemokraten schätzen Märkte zwar als effizient ein, sind (oder waren?) jedoch negativ zu ihnen eingestellt, während Keynesianer eine positive Einstellung zu Märkten haben, sie aber nicht effizient finden. Nach ihrer Überzeugung werden Märkte sich nach und nach selbst zerstören, wenn nicht der Staat in angemessener Form eingreift. Die Keynesianer erinnern uns auch daran, dass die Meinung über den Staat als politischer Akteur oft mit der Meinung über den Markt eng verknüpft ist.

Märkte sind ideologisch befrachtet, weil der Kapitalismus von Anfang an politische Auseinandersetzungen hervorgerufen hat. Üblicherweise bekämpfen jene Gruppen den Kapitalismus, die ihr Einkommen oder ihre Ressourcen aufgrund eines »Status« und nicht eines »Vertrages« (um mit den Begriffen von Henry Maine zu sprechen) beziehen, aber auch viele Gruppen, deren Einkommen zwar auf »Verträgen« beruht, aber sehr gering ist.

Der ideologische Streit um den Kapitalismus ist jedoch nicht immer als Diskurs über den Markt ausgetragen worden. Tatsächlich ist dies eine relativ junge Entwicklung, die man in etwa der Zeit des Zweiten Weltkrieges zuordnen kann. Dieser Periode verdanken wir unter anderem The Great Transformation von Polanyi, das unter den Werken, die den Kapitalismus anprangern und dabei mit Marktbegriffen argumentieren, zu den berühmtesten zählt.

Zur etwa gleichen Zeit traten aber auch starke ideologische Befürworter des Marktkonzepts an die Öffentlichkeit. Zu ihnen gehörten Friedrich von Hayek und Ludwig von Mises, die letztlich die Oberhand im Diskurs gewannen. Auch die Unterstützung seitens der Politik, insbesondere seit der Regierungsübernahme durch Ronald Reagan beziehungsweise Margaret Thatcher um 1980, war für den Aufstieg des Marktkonzepts als Ideologie sehr wichtig. So war es Reagan, der die Redewendung »die Magie des Marktes« prägte. Bald darauf brach sich |14|der Neoliberalismus weltweit Bahn. Er bot eine ideologische Rechtfertigung für den Abbau des Wohlfahrtsstaates in entwickelten Ländern sowie – mittels des Internationalen Währungsfonds – für die Einführung einer Reihe von marktorientierten Reformen in weniger entwickelten Ländern (»Washington consensus«).

Der Neoliberalismus lässt sich als eine allgemeine politisch-ökonomische Weltanschauung beschreiben, derzufolge der Markt nicht nur für die Standardprobleme der Wirtschaft die beste Lösung bereithält, sondern auch für viele Herausforderungen, um die sich traditionell der Staat und die örtlichen Gemeinwesen kümmern. Folgt man dieser (auch »Marktfundamentalismus« genannten) Denkrichtung, so sollte der Staat zuallererst dafür sorgen, dass dem Markt die Entscheidungshoheit zukommt: Obgleich der Staat nach wie vor etliche wirtschaftliche und andere Aufgaben erfüllt, besteht sein Hauptzweck darin, die Marktkräfte zu fördern.

Es ist die Aufgabe jeder Ideologie, bestimmten Akteuren Rückhalt zu verschaffen, anstatt zu erklären, wie die Welt wirklich ist. Daher hält sich der Neoliberalismus zu den Fragen, was ein Markt ist und wie er funktioniert, eher bedeckt. Hier hilft historische Forschung weiter, insbesondere, wenn es um ein besseres Verständnis der ersten Bedeutung des Begriffs Markt geht, nach der er als Sphäre angesehen wird, in der Tausch stattfindet.

Die ersten Märkte der Geschichte waren vermutlich an den Gemeindegrenzen angesiedelt, wobei sich die Aktivitäten der Marktteilnehmer an die Mitglieder anderer Gemeinden richteten, nicht an die der eigenen. Diese sogenannten externen Märkte wurden mit der Zeit durch interne Märkte, also Märkte innerhalb der Gemeinde ersetzt.

Die Komplexität der internen Märkte lässt sich anhand unseres Wissens über die Märkte im alten Griechenland einige Jahrhunderte vor Christi Geburt veranschaulichen. Zum Beispiel lag die Agora von Athen innerhalb der Stadt, in einem von Grenzsteinen markierten Bereich. In eigens errichteten offenen Säulenhallen (Stoa) boten Händler ihre Waren dar. Zahlreiche soziale und politische Aktivitäten fanden ebenfalls auf dem Markt statt, wo etwa Sokrates wohlhabende junge Athener behelligte, die mehr an ihren Reichtum als an ihre Seelen dachten. Speziell dazu ernannte Beamte sorgten dafür, dass auf dem Markt Ordnung herrschte, genaue Maße und Gewichte verwendet wurden und kein Falschgeld im Umlauf war. Auf dem Markt verübte Straftaten wurden von speziellen Gerichten geahndet.

Für den Markt gab es einen eigenen Gott – Hermes nämlich, der sowohl Gott der Händler als auch der Diebe war. Die Frage, weshalb Hermes der Gott der Diebe war, wird üblicherweise damit beantwortet, dass die großen Land und Sklavenbesitzer Athens die gewaltsame Besitzergreifung als einzigen anständigen |15|Weg zum Reichtum ansahen. Die auf den Märkten feilschenden Händler galten ihnen als Diebe.

Die Vorstellung vom Markt als eigens abgegrenztes Gebiet, auf dem Tausch stattfinden kann, war in den Jahrhunderten nach dem Niedergang Griechenlands und bis ins 19. Jahrhundert geläufig. Zum Beispiel gab es im Mittelalter in den Städten spezielle Marktplätze, und schon seit der Römerzeit fanden in unregelmäßigen Abständen Messen statt, bis in Amsterdam, Paris, London und andernorts regelmäßige Waren- und Wertpapierbörsen sowie andere Finanzmärkte gegründet wurden.

Mit der Ausbreitung der Geldwirtschaft entwickelten sich wesentlich größere Märkte. So entstanden bis zum 19. Jahrhundert dank des Zusammenspiels von wirtschaftlichen, politischen und technologischen Entwicklungen die ersten voll integrierten nationalen Märkte der Geschichte. Ebenso wie politische Herrscher Nationen einten, taten es auch die Eisenbahn, der Telegraf und weitere technische Neuerungen. Der daraus neu enstehende Markttyp zeichnete sich dadurch aus, dass Kauf und Verkauf nicht mehr an einem bestimmten Ort, sondern über weite Entfernungen hinweg stattfanden.

Diese Entwicklung spiegelte sich auch in der ökonomischen Theorie wider. Während für Adam Smith und frühe Ökonomen der Markt noch gleichbedeutend mit dem Marktplatz war, änderte sich die Sichtweise im 19. Jahrhundert. So erklärte der Ökonom Antoine Cournot (1838: 55) in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts:

Ökonomen verstehen unter dem Begriff Markt nicht einen bestimmten Marktplatz, auf dem Güter gekauft und verkauft werden, sondern die gesamte Region, innerhalb derer Käufer und Verkäufer sich in solch freiem Austausch befinden, dass Preise gleichartiger Güter sich leicht und schnell einander anpassen.

Im 19. Jahrhundert gab es noch weitere Entwicklungen, die für das Verständnis des Begriffs Markt von Bedeutung sind. Dies war insbesondere das Entstehen der neoklassischen Markttheorie gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Zwei Eigenschaften dieser Analyseform fallen besonders auf: Erstens wurde der Markt nun hauptsächlich als ein Preismechanismus oder eine Art der Preisbestimmung durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage angesehen. Zweitens wurden die Vorstellungen über den Markt nun äußerst abstrakt. Im Modell von Angebot und Nachfrage gibt es kein Rechtssystem, keinen Staat, keine Menschen und keine sozialen Beziehungen. Es ist in der Tat, wie Neville Keynes es einst ausdrückte, ein »hypothetischer Markt«.

Bis vor wenigen Jahrzehnten verwendeten Ökonomen dieses abstrakte Marktmodell, ohne es im Detail zu hinterfragen. Dass die Situation heute etwas |16|anders aussieht, ist in hohem Maße dem unter dem Namen »neue Institutionenökonomik« bekannt gewordenen Ansatz zu verdanken. Folgt man dieser Denkrichtung, so muss die traditionelle neoklassische Analyse um eine Theorie der Institutionen, einschließlich der des Marktes, ergänzt werden. Das wird dadurch erreicht, dass man Transaktionskosten (sprich Kosten der Marktnutzung) in die Analyse einbezieht. Weil die heutigen Märkte etliche Eigenschaften besitzen, die die Transaktionskosten senken und die Effizienz steigern, sind sie komplexe Institutionen.

Die zweite Hauptbedeutung des Begriffs Markt ist, wie bereits erwähnt, die eines sozialen Mechanismus für wirtschaftliches Wachstum, oder, wie Ökonomen es nennen, eines Mechanismus zur effizienten Ressourcenallokation. Diese Bedeutung geht auf die Vorstellung des Marktes als Mechanismus zur Preisbildung zurück und war Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet. Der Hauptgedanke hierbei ist, dass der Markt – oder genauer gesagt, eine ganze Anzahl untereinander verbundener Märkte – die Güterproduktion eines Landes effizient beeinflusst. Steigt der Preis für Gut A, so wird sich dies letztlich in allen Gütern widerspiegeln, die zur Herstellung von A benötigt werden, und dadurch werden Ressourcen in diese Richtung gelenkt. Mittels Preisänderungen werden Signale an andere Märkte gesendet, und so breiten sich Informationen, die effizientes Handeln sicherstellen, in der gesamten Wirtschaft aus.

Wie von unsichtbarer Hand geleitet, wird dieser Prozess mit der Zeit den Wohlstand der Nationen mehren. Moderne Ökonomen argumentieren, Adam Smith habe den Wettbewerb gemeint, als er diese Metapher verwendete. Dahinter steht die Vorstellung, dass Konsumenten nur bei den Bäckern, Brauern und Metzgern einkaufen, die die besten Waren herstellen. Andere Waren werden nicht produziert, da sie ja nicht gekauft werden.

Doch ist das wirklich so? Meiner Meinung nach tun sich Soziologen mit diesem Thema deshalb schwer, weil sie sich nicht mit der Rolle des Marktes als Wachstumsmotor befasst haben. Aus unterschiedlichen Gründen haben Soziologen sich bislang von Ökonomen einschüchtern lassen und sind diesem Thema mehr oder weniger fern geblieben.

Das sollte sich jedoch ändern. Um aufzuzeigen, wie dies geschehen kann, werde ich nun in aller Kürze eine Argumentationskette vorstellen, die mit der klassischen Definition des Begriffs Wirtschaft als Prozess aus Produktion, Distribution und Konsum beginnt. Danach werde ich zu zeigen versuchen, wie das Einbringen einiger Vorstellungen Polanyis in diese Darstellung des Wirtschaftsprozesses dazu beitragen kann, das Thema von soziologischer Seite her greifbar zu machen.

Die klassische Definition des Wirtschaftsprozesses besagt, dass in jeder Wirtschaft üblicherweise zunächst etwas produziert, danach distribuiert und |17|schließlich konsumiert wird. Zu diesem Konzept kann Polanyi meiner Meinung nach den Gedanken beisteuern, dass Distribution im Wesentlichen auf drei Weisen geschehen kann. In Abhängigkeit von der gewählten Methode werden die Auswirkungen auf Wachstum und Dynamik der betreffenden Volkswirtschaft jedoch völlig unterschiedlich sein. Die drei Methoden wurden bereits erwähnt, es sind Umverteilung, Reziprozität und Tausch.

Zunächst möchte ich auf die Distribution in Form von Umverteilung eingehen. Hierbei werden die produzierten Güter durch eine zentrale Einrichtung der Gemeinschaft umverteilt, normalerweise durch den Staat. Alle produzierten Güter gehen zunächst an den Staat, wo Politiker und öffentliche Angestellte dann darüber befinden, wer was erhält – ein wenig wie im Sozialismus oder im Sozialversicherungssystem. Die Dynamik, die einer umverteilenden Wirtschaftsform innewohnt, entstammt nicht dem Wirtschaftsprozess, sondern dem politischen Raum.

Die gesamte Produktion kann auch durch Reziprozität verteilt werden, also entsprechend den Normen, durch die sich Mitglieder der Familie oder der Gemeinschaft dazu verpflichtet fühlen, die produzierten Güter miteinander zu teilen. Umverteilung und Reziprozität haben beide die Reproduktion der Gemeinschaft oder des Haushalts zum Hauptziel. Sollte in Systemen, die nach diesen Prinzipien vorgehen, doch Wachstum entstehen, so stammt es in aller Regel schlicht aus übrig gebliebenen oder nicht verteilten Ressourcen und geschieht in Form einer langsamen Evolution.

Werden die produzierten Güter schließlich durch Tausch verteilt, also auf einem Markt, so hat das eine völlig andere Dynamik. Was in einem solchen Wirtschaftssystem hergestellt wird, dient nicht dem Konsum oder der Reproduktion, sondern dem Gewinn. Dieser wird üblicherweise reinvestiert (Marx, Weber) – und es ist das konstante Reinvestieren und Streben nach höherem Gewinn, das das Marktsystem oder den Kapitalismus so dynamisch macht und das Wachstumspotenzial massiv erhöht.

Obwohl dieses von Polanyi inspirierte Modell zeigt, weshalb eine marktbasierte Wirtschaftsform dynamisches Wachstum zur Folge hat, bleibt es zu einer ganzen Reihe äußerst wichtiger Fragen stumm. So sagt es nichts zur Rolle der Kultur oder der Rolle des Staates im Wirtschaftsprozess. Ebenso schweigt es zu den Wechselwirkungen zwischen marktinduziertem Wachstum und der Gesellschaft insgesamt, einschließlich der Art, in der die Schichtung oder die Ausbeutung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, wie etwa ethnischer Minderheiten oder Frauen, durch Wachstum beeinflusst werden.

Kurz gesagt gibt es noch einiges zu tun, bis wir eine vollständige soziologische Theorie des Marktes haben werden. Um hier erfolgreich zu sein, ist es auch wichtig, dass die internationale Gemeinschaft der Sozialwissenschaftler umfangreiche |18|intellektuelle und wirtschaftliche Ressourcen für diese Forschungsrichtung bereitstellt. Dies ist ein weiterer Grund, weshalb die Förderung der Wirtschaftssoziologie in Deutschland etwa durch die Max-Planck-Gesellschaft besondere Anerkennung verdient. Der Markt wird bestehen bleiben – besser also, wir verstehen ihn.1

|19|Einleitung Neue Perspektiven für die Marktsoziologie

Jens Beckert, Rainer Diaz-Bone und Heiner Ganßmann

Seit zwei Jahrzehnten erleben wir eine Renaissance der Wirtschaftssoziologie. Immer stärker erschließt die Soziologie die Wirtschaft als eigenen Forschungsbereich und untersucht wirtschaftliche Sachverhalte als soziale Erscheinungen. Ökonomische Entscheidungen, Koordination auf Märkten und in ökonomischen Institutionen, die Strukturierung von Konkurrenz und Wettbewerb, die soziale Definition von ökonomischen Wertigkeiten, die soziale Bewältigung der Unsicherheit ökonomischen Handelns, die Analyse ökonomischer Denkweisen und Ethiken, wirtschaftlicher Kommunikation und ökonomischer Felder sowie ihrer Dynamiken – all das sind heute (wieder) zentrale soziologische Untersuchungsbereiche, die insbesondere in der soziologischen Analyse von Märkten vernetzt und aufeinander bezogen werden.1 Harrison C. White (1981) gab mit seiner Frage: »Wie entstehen Märkte?« die Initialzündung für die neue Marktsoziologie. Im Gegensatz zur vorherrschenden Wirtschaftswissenschaft hatte White (1981, 2002) zum Ausgangspunkt genommen, dass Märkte nur dann von Dauer sein können, wenn sie den als konstitutiv angenommenen Mechanismus der Konkurrenz und des perfekten Wettbewerbs unter den Produzenten kontrollieren, indem sie ihn partiell aussetzen (White 1981; White/Godart in diesem Band). Märkte sind nur dann als stabile Strukturen möglich, wenn die Produzenten je unterschiedliche Nischen finden, in denen sie sich der Konkurrenz entziehen und Gewinne erzielen können. Mark Granovetter, Schüler Harrison Whites, nahm die der Empirie nicht angemessene Konzeption des neoklassischen Akteurmodells zum Ausgangspunkt seiner netzwerkanalytischen Untersuchung ökonomischen Handelns: Akteure sind demnach immer schon in Netzwerke eingebettet, die als Ressourcen im Markthandeln fungieren. Seitdem »überlässt« die Wirtschaftssoziologie Märkte als Kerninstitutionen kapitalistischer Ökonomien nicht mehr den Wirtschaftswissenschaften, um ihr Forschungsinteresse – wie vormals – auf die nichtökonomischen Voraussetzungen und Folgen der Wirtschaft zu beschränken. In Granovetters (1985, 1990, 1992) Programmatik |20|einer »neuen Wirtschaftssoziologie« gelten Märkte als soziale Institutionen, als soziale Strukturen und insgesamt als sozialer Praxisbereich. Die Formen ihrer Einbettung in soziale Umwelten wie Kultur, Recht, Staat, Politik, Ausbildung und familiale Sozialisation werden analysiert. Dabei kommt im Forschungsfeld der Marktsoziologie eine Pluralität von Ansätzen zum Einsatz, die weit über die in den Anfängen der neuen Wirtschaftssoziologie dominanten Netzwerkansätze hinausgeht.

1.

Die neue Wirtschaftssoziologie hat sich in den achtziger Jahren nicht aus dem Nichts entwickelt. Vielmehr gehört die Auseinandersetzung mit der Wirtschaft seit der Gründung des Fachs zu den Kernbereichen soziologischer Forschung. Trotz aller Unterschiedlichkeit ihrer Ansätze stand für die Gründerväter der Soziologie die Untersuchung der Transformationsprozesse der Gesellschaften mit sich entfaltender kapitalistischer Wirtschaftsordnung im Zentrum ihrer Forschung. Mit jeweils anderen Schwerpunkten untersuchten sie die kulturellen, sozialen, politischen, technischen und ökonomischen Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaft. Für Karl Marx standen dabei die Klassenverhältnisse im Kapitalismus im Vordergrund, verbunden mit der Aufdeckung jener »Widersprüche« des Systems, die letztlich zur revolutionären Aufhebung von Ausbeutungsverhältnissen führen sollte. Émile Durkheim bezog seine Erkenntnisse zu den moralischen Grundlagen gesellschaftlicher Ordnung ganz wesentlich auch auf wirtschaftliche Phänomene wie den Tausch und die Organisation industrieller Beziehungen, vermutend, dass in der Wirtschaftsordnung der Gesellschaft ein zentraler Ausgangspunkt zeitgenössischer Anomietendenzen zu lokalisieren ist. Georg Simmel machte seine Beobachtungen der Gleichzeitigkeit von Individualisierung und Vergesellschaftung in der modernen Gesellschaft gerade auch an der Funktionsweise wirtschaftlicher Tauschprozesse fest und untersuchte in der Philosophie des Geldes (1989 [1900]) eine Kerninstitution der Ökonomie als zentrales Medium der Vergesellschaftung. Max Weber beschäftigte sich zeitlebens mit der Frage, weshalb sich der moderne, rationale Kapitalismus ausgerechnet im Okzident durchgesetzt hat, obwohl die Ausgangsbedingungen auf den ersten Blick in anderen Weltregionen möglicherweise sogar günstiger waren.

Kennzeichnend für die Analyse wirtschaftlicher Phänomene durch die Klassiker der Soziologie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren die Auseinandersetzung mit einer großen Bandbreite ökonomischer Erscheinungen und die Untersuchung der Wirtschaft aus gesellschaftstheoretischer Perspektive. Untersucht |21|wurden Finanz- ebenso wie Arbeitsmärkte, die Rolle von Geld ebenso wie die Spezifik des kapitalistischen Unternehmens, kulturelle Voraussetzungen wirtschaftlicher Institutionen ebenso wie Machtverhältnisse auf Märkten. In dieser Auseinandersetzung um die Voraussetzungen kapitalistischen Wirtschaftens, die Funktionsweise der Ökonomie und die Folgen des Wirtschaftssystems für andere Gesellschaftsbereiche entstand die Wirtschaftssoziologie als Spezialisierung des Fachs. Durkheims Zeitschrift L’Année sociologique enthielt eine spezielle Abteilung unter dem Titel »Sociologie économique«. Max Weber entwickelte seine Systematik der Wirtschaftssoziologie im zweiten Kapitel von Wirtschaft und Gesellschaft (1985 [1922]: 31ff.) und skizzierte eine der ersten soziologischen Konzeptionen des Marktes (ebd.: 382–385).

Wirtschaftssoziologische Forschung stand zu diesem Zeitpunkt noch in einem wenig ausdifferenzierten Verhältnis zu den Wirtschaftswissenschaften. Zwar hatte die Grenznutzenrevolution in der Ökonomie bereits stattgefunden, doch war das Fach im frühen 20. Jahrhundert noch stark geschichtswissenschaftlich, philosophisch und gesellschaftspolitisch geprägt. Max Weber begann seine Laufbahn mit einer Professur für Nationalökonomie in Freiburg. Ob Werner Sombart oder Vilfredo Pareto nun als Soziologen oder Ökonomen zu bezeichnen sind, lässt sich kaum beantworten (Swedberg 1999). Diese enge Verbindung unter den verschiedenen Sozialwissenschaften zu dieser Zeit zur Kenntnis zu nehmen ist wichtig, will man die nachfolgende Entwicklung der Wirtschaftssoziologie verstehen. Es handelt sich nämlich nicht um eine Erfolgsgeschichte, sondern um eine Geschichte zunehmender Marginalisierung – zumindest bis in die siebziger Jahre.

Zunächst gilt für die Soziologie insgesamt, dass sie nach dem fulminanten Auftakt in der Zeit zwischen 1890 und 1920 einen Bedeutungsverlust erlebte, der bis in die vierziger Jahre anhielt. Das heißt nicht, dass es nach dem Tod der Generation der Klassiker nicht weiterhin bemerkenswerte soziologische Forschung auch in der Wirtschaftssoziologie gegeben hätte. Man denke etwa an Maurice Halbwachs und François Simiand in Frankreich, Leopold von Wiese und Adolph Lowe in Deutschland und die Chicago School, die sich mit den Folgen von Industrialisierungsprozessen für das urbane Zusammenleben beschäftigte, in den USA. Doch die Soziologie konnte intellektuell nicht an das spektakuläre Format der Gründergeneration anschließen, was zum Teil auch mit den politischen Entwicklungen in Europa und der erzwungenen Emigration vieler Wissenschaftler zusammenhing.

Für die Entwicklung wirtschaftssoziologischer Forschung kam allerdings ein weiterer Faktor hinzu, der weitreichende Folgen für das Feld hatte. Seit dem späten neunzehnten Jahrhundert fand, angetrieben vor allem von Entwicklungen in den Wirtschaftswissenschaften, ein Prozess der Differenzierung in den |22|Sozialwissenschaften statt, in dessen Verlauf historisch und empirisch orientierte Ansätze in der Ökonomik zugunsten formalisierter Modellbildung immer weiter zurückgedrängt wurden. Mit der Konzentration auf die allgemeine Gleichgewichtstheorie zog die Ökonomie eine »strukturierende Grenze« (Stölting 1986), wobei sie sich auf die Funktionsweise des Preismechanismus unter restriktiven Annahmen hinsichtlich der Handlungsbedingungen wie etwa perfekter Märkte, vollständiger Information und transitiver Nutzenfunktionen konzentrierte. Damit wurde die für historische Ansätze ökonomischer Forschung kennzeichnende empirische Untersuchung institutioneller kultureller und politischer Bedingtheiten des Markthandelns aus der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung zunehmend ausgegrenzt. Ersetzt wurde das historische Forschungsprogramm durch ein erkenntnistheoretisch an der Physik orientiertes deduktiv-nomologisches Vorgehen (Mirowski 1989). Dies führte zunächst zu einer bis in die dreißiger Jahre anhaltenden Auseinandersetzung zwischen institutionalistischen und neoklassischen Ansätzen in den Wirtschaftswissenschaften, die Letztere eindeutig für sich entschieden.

Relevant war diese Entwicklung jedoch nicht allein für die Wirtschaftswissenschaften, sondern ebenso für die Wirtschaftssoziologie, weil in der Erforschung des Gegenstandsbereichs Wirtschaft methodologische Fragen aufgeworfen wurden, die die Sozialwissenschaften insgesamt tangierten. Die thematisierten Fragen verdichteten sich zunächst im sogenannten Methodenstreit. In dieser Auseinandersetzung um den Status der Sozialwissenschaften entwickelte zuerst Max Weber mit dem Konzept des Idealtypus einen Vorschlag, der einerseits den von Carl Menger und anderen Vertretern der Neoklassik favorisierten allgemeinen und deduktiven Charakter sozialwissenschaftlicher Forschung berücksichtigte, sich andererseits aber gegen eine unhistorische, psychologische Verkürzung der Erklärung des Handelns auf der Grundlage behaupteter universell gültiger Gesetze wandte. Die Handlungsorientierung der Akteure ist nicht auf zweckrationales Handeln beschränkt, und wo zweckrationales Handeln dominant ist, beruht es auf der historischen Entwicklung einer Vielzahl kultureller Voraussetzungen. Idealisierte Annahmen über das Handeln und ökonomische Entwicklungsverläufe sind als Heuristiken im sozialwissenschaftlichen Forschungsprozess zu verstehen, nicht als stilisierte Wiedergaben der Empirie.

Vor diesem Hintergrund begann Talcott Parsons in den frühen dreißiger Jahren seine in der Soziologie der vierziger bis sechziger Jahre international dominante Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Parsons startete von der Auseinandersetzung zwischen institutionalistischer und neoklassischer ökonomischer Theorie aus und versuchte, ausgehend von dieser Kontroverse den systematischen Platz der Soziologie innerhalb der Sozialwissenschaften zu bestimmen (Beckert 1997: 202ff.; Camic 1991). In den frühen Aufsätzen aus den dreißiger |23|Jahren gesteht Parsons den Institutionalisten zwar zu, dass ökonomische Prozesse immer auch historische und kulturelle Bestimmungsmomente haben, doch wendet er sich zugleich emphatisch gegen ein holistisches Verständnis der Soziologie, wonach deren Aufgabe in der »photographic reception of concrete phenomena« (Parsons 1934/1935: 661) bestehe. Stattdessen schlug Parsons vor, Ökonomie und Soziologie sollten ihren jeweiligen Gegenstand in der Untersuchung je eines analytisch getrennten Faktors des menschlichen Handelns finden, der in künstlicher Isolation vom Rest des Handelns zu analysieren sei (ebd.: 646–647). Während die ökonomische Theorie sich mit Zweck-Mittel-Beziehungen unter Knappheitsbedingungen befasst, findet die Soziologie ihren Gegenstand im »Wertfaktor«.

Dieser Vorschlag zur analytischen Trennung zwischen Wirtschaftswissenschaften und Soziologie war hochgradig folgenreich für die weitere Entwicklung der Wirtschaftssoziologie. Denn die Soziologie strebte nun nicht mehr, wie noch Durkheim und Weber, nach einer Theorie wirtschaftlichen Handelns mit ihren eigenen Mitteln und damit nach einer Alternative zum neoklassischen Modell, sondern erkannte die Autorität der neoklassischen Theorie für die Untersuchung der Wirtschaft an und ergänzte diese lediglich um den »Wertfaktor«. Die der Soziologie und Ökonomie übergeordnete allgemeine Handlungstheorie bildete das analytische Raster, innerhalb dessen die Wirtschaftswissenschaften verortet und zugleich anerkannt werden. Von Vertretern der neuen Wirtschaftssoziologie wurde diese Perspektive später zutreffend als »economy and society perspective« bezeichnet (Deutschmann in diesem Band; Granovetter 1990; Swedberg 1987).

Nicht zuletzt unter dem Einfluss dieser von Talcott Parsons gezogenen Trennlinien fristete die Wirtschaftssoziologie während der Nachkriegszeit allenfalls ein Schattendasein. Sie galt als Ergänzung der ökonomischen Theorie unter Anerkennung derselben. Parsons selbst interessierte an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Gesellschaft vornehmlich die Erzeugung der Handlungserwartungen und Rollenzuschreibungen, die Voraussetzung für die Erfüllung der adaptiven Funktionen der Gesellschaft sind – das Zusammentreffen von Familie und Bildung mit dem Wirtschaftssystem in Form der Arbeitnehmerrolle oder die normative Widerständigkeit von Professions- und Arbeitnehmerrollen gegen ihre Subsumtion unter eine rein ökonomische Verwertungslogik.

Die gegenüber den Klassikern des Fachs eingeschränkte Beschäftigung der Soziologie mit wirtschaftlichen Phänomenen lässt sich allerdings auch auf die wirtschaftliche Entwicklung während der Nachkriegszeit zurückführen. Mit zunehmender Prosperität verloren wirtschaftliche Konflikte an Sprengkraft in der Gesellschaft, was besonders im Vergleich mit der sozialökonomischen Situation greifbar wird, die die Klassiker der Soziologie als Zeitgenossen erlebten. Außerdem schien mit dem Keynesianismus ein Steuerungsinstrument gefunden, |24|mit dem makroökonomische Krisen verhindert und der Kapitalismus in seinen die soziale Ordnung bedrohenden Auswirkungen gezähmt werden könnte. Die Dominanz modernisierungstheoretischer Ansätze trug ein Übriges zur Entproblematisierung der Wirtschaft in den Sozialwissenschaften bei. Nicht zufällig bestand in den fünfziger und sechziger Jahren das einzige allgemeine wirtschaftssoziologische Thema in der Untersuchung von Entwicklungsprozessen unterentwickelter Länder (Block/Evans 2005), ein Feld, das übrigens ebenfalls stark durch die gesellschaftstheoretische Konzeption von Talcott Parsons geprägt war. Unter zunehmendem Einfluss marxistischer Kritik an der Modernisierungstheorie entwickelten sich dann in diesem Bereich die »dependency theory« (Cardoso/Faletto 1976) und der »world systems approach« (Wallerstein 1979). Marxistische Theorien in der Soziologie der sechziger und siebziger Jahre hatten überhaupt erheblichen Einfluss auf die soziologische Beschäftigung mit Wirtschaft (vgl. die Interpretation der Weber’schen Wirtschaftssoziologie in Bader et al. 1976). Die Aufmerksamkeit der Gesellschaftstheorie wurde auf Ausbeutungs- und Entfremdungsphänomene gelenkt, die ursächlich auf die Funktionslogik des kapitalistischen Systems zurückgeführt wurden.

Dies erklärt auch zum Teil die Bedeutung der Industrie- und Arbeitssoziologie als der zumindest in der deutschen Soziologie bedeutendsten Spezialisierung soziologischer Erforschung der Wirtschaft in der Nachkriegszeit. Dem gängigen marxistischen Verständnis zufolge ist Ausbeutung im Arbeitsprozess zu verorten, wohingegen der Markt als Sphäre des Äquivalententauschs unproblematisch bleibt. Industrielle Strukturen beinhalten zweifellos wichtige Aspekte wirtschaftlichen Handelns, sie sind jedoch nur ein enger Ausschnitt der relevanten wirtschaftlichen Handlungsfelder – und zwar derjenige des Handelns in Organisationen. Untersucht wird die Position von Arbeitern und Angestellten im Arbeitsprozess, vornehmlich in der Industrieproduktion, was normativ auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch arbeitsorganisatorische Veränderungen zielt. Hintergrund dieser Forschung waren die sozialen, aber auch wirtschaftlichen Folgen tayloristischer Arbeitsorganisation und die Annahme, dass sich anhand des Industriebetriebs »entscheidende Tendenzen der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung frühzeitig offenbaren« (Deutschmann 2002: 19). Von diesem gesellschaftstheoretischen Nimbus der Industriesoziologie ist heute kaum etwas übrig geblieben. Die Industriesoziologie verlor ihre beanspruchte Bedeutung für das Erfassen entwicklungsleitender gesellschaftlicher Prozesse – nicht zuletzt aufgrund des Bedeutungsverlustes der industriellen Produktion selbst. Weder die Ausweitung industriesoziologischer Forschung auf den Dienstleistungsbereich (Baethge/Wilkens 2001) noch auf neue Formen von Selbstständigkeit (Voß/Pongratz 1998) haben dazu geführt, die gesellschaftspolitische Relevanz dieses Forschungsfeldes neu zu begründen.

|25|2.

Die wirtschaftssoziologische Forschung veränderte sich erst in den siebziger Jahren mit der Koinzidenz von zwei Entwicklungen: den Krisen keynesianisch gesteuerter Ökonomien in den westlichen Industrieländern und dem Dominanzverlust der Parsons’schen Gesellschaftstheorie aufgrund der Kritik nicht nur vonseiten marxistischer Ansätze, sondern auch der Konflikttheorie und der interpretativen Ansätze soziologischer Forschung (Powell/DiMaggio 1991; Joas/Knöbl 2004).

Ausgehend vom makroökonomischen Problem des gleichzeitigen Auftretens von Inflation und wirtschaftlicher Stagnation sowie einer Steigerung industrieller Konflikte in den westlichen Industriestaaten untersuchten Politikwissenschaftler und Soziologen die Bedeutung der Organisation industrieller Beziehungen für die Regulierung der Lohnbildung und der industriellen Konflikte (Trigilia 2006: 199). Diese Forschungen gingen zum Teil aus industriesoziologischen Fragestellungen hervor, gaben jedoch den engen Bezug auf betriebliche Strukturen auf, rückten stattdessen die Wechselwirkung zwischen betrieblichen und überbetrieblichen Institutionen in den Vordergrund und bedienten sich eines komparativen Forschungsdesigns (Deutschmann 2002: 23; Streeck 1991). In den Vordergrund des Interesses rückten dadurch Gewerkschaften und Unternehmerverbände sowie die Rolle des Staates in der Steuerung von Konflikten zwischen den Interessengruppen von Kapital und Arbeit. Lohnzurückhaltung könne in korporatistischen Regimen erwartet werden, denen es gelingt, Gewerkschaften in die Verantwortung für die makroökonomische Entwicklung mit einzubeziehen (Schmitter/Lehmbruch 1979; Streeck/Schmitter 1985). Industrielle Konflikte werden durch intermediäre Institutionen entschärft, die den Interessenorganisationen Mitsprache in der staatlichen Regulierung industrieller Beziehungen und der Sozialpolitik geben. Betriebliche Strukturen und Unternehmensstrategien variieren je nach Gestaltung des Bildungssystems, des Arbeitsmarktes, des Systems industrieller Beziehungen und des politischen Systems. Unabhängig von konkreten Forschungsbefunden besteht die Bedeutung dieser Untersuchungen in der Hervorhebung der Rolle kontingenter, politisch gestalteter Makroregulierung für die Steuerung wirtschaftlicher Prozesse in Unternehmen und auf Märkten.

Dabei erwiesen sich vergleichende Forschungsdesigns als besonders fruchtbar, was zur Verbindung mit dem in der Politikwissenschaft in den sechziger Jahren (Shonfield 1965) begonnenen Forschungsprogramm der vergleichenden politischen Ökonomie führte. Die Unterscheidung zwischen neokorporatistischen und pluralistischen Steuerungsregimen ermöglichte eine Typologisierung hoch entwickelter Ökonomien, die gerade nicht wie die neoklassische Ökonomie oder |26|die Modernisierungstheorie von einem »one best way« ausging. Später wurde dieser vergleichende Ansatz systematisch auf die institutionell gestützten Regelungen des Wettbewerbs zwischen Unternehmen bezogen. Daraus entwickelten sich die Unterscheidungen zwischen verschiedenen Modellen nationaler Kapitalismen, die heute vornehmlich unter dem Begriff »Varianten des Kapitalismus« bekannt sind (Hall/Soskice 2001). Als Haupttypen gelten koordinierte und liberale Marktökonomien. Dieses Forschungsprogramm ist ebenso sehr in der Soziologie wie in der Politikwissenschaft und der heterodoxen Ökonomie verankert.

Das soziologische Interesse an der politischen Steuerung von Ökonomien wurde in den siebziger Jahren durch eine weitere Entwicklung angeregt, nämlich den Aufstieg Japans (und später auch Koreas und Taiwans) zu einer dominierenden Wirtschaftsmacht. Japan fehlten nicht nur die von Weber so stark betonten kulturellen Voraussetzungen im asketischen Protestantismus, sondern die dort institutionalisierten Organisations- und Marktstrukturen wichen von denen der westlichen Industriestaaten deutlich ab. Das japanische Modell stützte sich auf zentrale staatliche Steuerung, industrielle Konglomerate und eine die Gemeinschaftsaspekte hervorhebende Organisation der Produktion (Dore 1986). Die sozialwissenschaftliche Beobachtung dieser (zeitweise) hochgradig erfolgreichen, ganz anders strukturierten Volkswirtschaft legte nahe, dass der von der neoklassischen ökonomischen Theorie behauptete Zusammenhang zwischen liberalisierten Märkten und wirtschaftlichem Erfolg zumindest nicht universell gilt.

Ein weiteres seit den siebziger Jahren von Soziologen und Politikwissenschaftlern beobachtetes wirtschaftliches Phänomen verwies über die politische Makrosteuerung hinaus auf soziale und kulturelle Voraussetzungen wirtschaftlichen Erfolgs: industrielle Distrikte beziehungsweise Regionalökonomien (Piore/Sabel 1985). Insbesondere italienische Sozialwissenschaftler (Becattini 2004) haben die Bedeutung der Vernetzung wirtschaftlicher und politischer Akteure in Regionen untersucht und damit zur Erklärung der Prosperitätsunterschiede innerhalb Italiens beigetragen. Diese wirtschaftssoziologische Forschung wurde auf Regionen außerhalb Italiens ausgedehnt, wie zum Beispiel das Silicon Valley (Saxenian 1989) und nordeuropäische Wirtschaftsregionen (Crouch et al. 2001). Es zeigte sich einmal mehr, dass das von der ökonomischen Theorie verbreitete Bild atomistischen wirtschaftlichen Handelns offensichtlich unzureichend ist. Wirtschaftlicher Erfolg beruht wesentlich auf Netzwerkstrukturen und dem damit verbundenen Sozialkapital, die politisch befördert werden können. Die korporatistische Organisation der Wirtschaft, die Spezifik ostasiatischer Ökonomien, regionale Netzwerke und die Entdeckung der informellen Ökonomie (Hart 1973), das alles waren Themen von großer gesellschaftlicher Relevanz, für deren Untersuchung Soziologen und Politikwissenschaftler eine große Expertise vorweisen und entwickeln konnten.

|27|3.

Weitgehend losgelöst von diesen Entwicklungen, ungefähr fünfzehn Jahre später und mit klarem Schwerpunkt in der US-amerikanischen Soziologie entstand die neue Wirtschaftssoziologie als Richtung wirtschaftssoziologischer Forschung (Granovetter/Swedberg 2001; Smelser/Swedberg 1994; Swedberg 2003a).2 Sie bildet den Schwerpunkt dieses Sammelbandes.

Um die neue Wirtschaftssoziologie zu verstehen, muss man sowohl die spätere Entstehung als auch die anfängliche Konzentration in der amerikanischen Soziologie in Rechnung stellen. Zwischen den frühen siebziger und den späten achtziger Jahren kam es zu zwei für wirtschaftssoziologische Forschung bedeutsamen Entwicklungen. Zum einen drang während dieser Zeit der Rational-Choice-Ansatz immer stärker über den Gegenstandsbereich der Ökonomie hinaus in die Soziologie vor. Dieser ökonomische Imperialismus (Swedberg 1990: 5) beinhaltete die Verallgemeinerung des ökonomischen Handlungsmodells, mit dem auch soziale Phänomene wie Drogenmissbrauch, Heiratsverhalten oder Religionsausübung zu erklären seien. Parallel dazu bot der neue ökonomische Institutionalismus (North 1990; Williamson 1975, 1985) effizienztheoretische Erklärungen für die Bildung von Institutionen an. Sie wurden letztlich auf das rationale Handeln nutzenmaximierender Akteure zurückgeführt. Mit diesen Ausweitungen ihrer Untersuchungsgegenstände traten Ökonomen in Konkurrenz zur Soziologie. Sie lösten mit dieser Agenda den Parsons’schen Kompromiss zur Verortung von Soziologie und Ökonomie von der Ökonomie her auf.

Die Versuche, das ökonomische Handlungsmodell flächendeckend anzuwenden, führten in den siebziger und achtziger Jahren zu Gegenreaktionen bei denjenigen Soziologen, die im Rationalmodell des Handelns eine völlig verkürzte Handlungstheorie sehen (Garfinkel 1967; Giddens 1984 [1976]; Goffman 1971 [1967]; Joas 1992). Eine Reaktion der Soziologie auf den ökonomischen Imperialismus war, gewissermaßen zum Gegenangriff überzugehen und der ökonomischen Theorie ihr Erklärungspotenzial selbst für den Bereich sozialen Handelns abzusprechen, für den Parsons und eingeschränkt auch Weber ihr weitgehende empirische Angemessenheit zugesprochen hatten. Noch nicht einmal ökonomische Phänomene, so das verbreitete Argument, ließen sich mit dem beschränkten handlungstheoretischen Arsenal der Wirtschaftstheorie angemessen |28|erklären. Die Kritik am ökonomischen Handlungsmodell wurde dabei sowohl von Soziologen (Etzioni 1988; Hirsch/Michaels/Friedman 1987) als auch von Ökonomen vorgebracht (Hirschman 1986; Sen 1977). In dieser Kritik lässt sich ein Entstehungsgrund der neuen Wirtschaftssoziologie verorten, insofern sie sich gegen das atomisierte, rationalistische Konzept der ökonomischen Theorie konstituierte.

Zum anderen fand zwischen den frühen siebziger und den späten achtziger Jahren eine grundsätzliche Umorientierung der Wirtschaftspolitik statt. Als die vergleichende politische Ökonomie entstand, das Interesse an den erfolgreichen Ökonomien Ostasiens erwachte sowie erste Untersuchungen von Regionalökonomien durchgeführt wurden, dominierte noch ein positives Bild wirtschaftspolitischer Steuerung durch den Staat. Danach kam es zu einem Umdenken in der Politik, das sich auf die ökonomischen Theorien von Ludwig von Mises, Friedrich Hayek, Milton Friedman und anderen stützte. Einen ersten politischen Ausdruck bildete die monetaristische Reaktion auf galoppierende Inflation in England und den USA in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren. Es folgte die Politik des Rückzugs des Staates aus zentralen Bereichen der Ökonomie durch Privatisierung von Schlüsselindustrien und Deregulierung ab den achtziger Jahren. Als Beleg für die Richtigkeit der neuen Wirtschaftspolitik galt zudem die lang anhaltende Wirtschaftskrise in Japan, die als Krise eines hochgradig politisch gesteuerten Kapitalismus mit einer Vielzahl klientelistischer Verkrustungen verstanden wurde. Darüber hinaus trug der Zusammenbruch der realsozialistischen Länder am Ende der achtziger Jahre zur Delegitimation staatlicher Wirtschaftssteuerung auch in den westlichen Ländern bei. Der allgemeine Enthusiasmus für den Marktliberalismus konnte sich schließlich auch noch darauf stützen, dass China und Indien auf der Basis marktorientierter Wirtschaftsreformen in eine Phase außergewöhnlich starken Wirtschaftswachstums eintraten. Im Zuge dieser realen und ideologischen Veränderungen verlagerte sich seit den achtziger Jahren wirtschaftliche Regulierung immer stärker auf den Marktmechanismus. Der Staat spielt eine zunehmend weniger aktive Rolle in der Steuerung der Wirtschaft. Wenngleich die realen Veränderungen in manchen Bereichen nicht so ausgeprägt sind wie gemeinhin angenommen (zum Beispiel beim Abbau sozialstaatlicher Leistungen), war die ideologische Umkehr so fundamental (Babb/Fourcade 2002; Campbell/Pedersen 2001), dass die Überzeugungskraft bestehender sozialwissenschaftlicher Forschungsprogramme zur Erforschung der Wirtschaft erheblich beeinträchtigt wurde.

So hätte man sich ohne diese Entwicklungen vorstellen können, dass die vergleichende politische Ökonomie mit ihrer Erkenntnis der Effizienzvorteile korporatistischer oder staatlicher Einflussnahme zur Regulierung von Wettbewerb zwischen Unternehmen eine immer deutlichere Alternative zum Marktmodell |29|der Ökonomen hätte werden können. Demgegenüber stellt die tatsächlich eingetretene Entwicklung dieses Forschungsprogramm zumindest auf der normativ-politischen Ebene infrage: Wenn unter dem Druck der Marktliberalisierung makroökonomische staatliche Regulierung jenseits der Sicherung von Eigentumsrechten und des Schutzes von Wettbewerb eine nur noch untergeordnete Rolle spielen kann, kommt es zur Angleichung der beiden Haupttypen des Kapitalismus. Damit verblasst die normative Dimension der gewonnenen Erkenntnisse: Wenn das Modell koordinierter Marktwirtschaften in der weitgehend liberalisierten Weltwirtschaft immer mehr seine empirische Basis verliert und damit seine möglichen Effizienzvorteile unsichtbar werden, sind auch seine unterstellten negativen sozialen Folgen, wie verfestigte Arbeitslosigkeit und hohe Staatsdefizite aufgrund steigender Kosten der sozialen Sicherungssysteme, dauerhaft nicht zu legitimieren.

4.

Verglichen mit den Ansätzen der politischen Ökonomie stehen in der neuen Wirtschaftssoziologie sehr viel stärker Fragen der Koordination der Handlungen der Akteure und die Entstehung geordneter Tauschbeziehungen zwischen Marktakteuren aus einer Mikroperspektive im Vordergrund. Erklärungsbedürftig erscheint die Handlungskoordination der Akteure. Dafür spielen Institutionen zwar eine ebenso bedeutsame Rolle wie in der politischen Ökonomie, doch interessiert darüber hinaus, welche Rolle weitere soziale Kontexte, in die Akteure im wirtschaftlichen Handeln eingebettet sind, in wirtschaftlicher Interaktion spielen. Deshalb konzentriert sich die Forschung der neuen Wirtschaftssoziologie zum einen weniger auf formale Institutionen, verwendet einen weiten Institutionenbegriff und dehnt den Einbettungsbegriff auch auf kulturelle, sozialstrukturelle (Netzwerke) und kognitive Strukturierungen des Handelns aus. Zum anderen wird gerade das Verhältnis zwischen Institutionen, Netzwerkstrukturen und Handeln zu einem zentralen Forschungsthema. Institutionelle Kontexte gelten nicht als handlungsdeterminierend und auf dieser Grundlage als Variable in der Erklärung ökonomischer Makrophänomene, sondern vielmehr als durch die Akteure interpretierte und interpretationsbedürftige soziale Tatbestände.3 Wie diese Interpretationen so gelingen, dass soziale Ordnung in wirtschaftlichen Kontexten tatsächlich entsteht und sich reproduziert, ist das |30|erklärungsbedürftige Phänomen. Politische Ökonomie und neue Wirtschaftssoziologie verfolgen dabei keine widersprüchlichen, sondern komplementäre Perspektiven. Eine bedeutende Herausforderung wirtschaftssoziologischer Forschung besteht darin, sie miteinander zu verbinden. Am ehesten gelungen ist dies bereits in der Erforschung von Regionalökonomien.

5.

Ein erster systematischer Ausgangspunkt wirtschaftssoziologischer Forschung ist das Problem der Ungewissheit. Sie liegt wirtschaftlichen Entscheidungen und deren Koordination so fundamental zugrunde, dass der Bezug auf Unsicherheit selbst in den Wirtschaftswissenschaften zur Kritik an den Gleichgewichts- und Effizienztheorien sowie am Rationalmodell des Handelns geführt hat (Beckert 1996). Der Ökonom Frank H. Knight (2006 [1921]) hatte bereits in den zwanziger Jahren die Annahmen des neoklassischen Marktmodells mit dem Hinweis kritisiert, dass bei perfekten Märkten die Gewinne der Produzenten gegen Null tendieren müssen, da so lange neue Mitkonkurrenten in den Markt eintreten, wie sie mit Gewinn produzieren können. Knight hielt dagegen die Unsicherheit über zukünftige Ereignisse für eine fundamentale Bedingung kapitalistischen Wirtschaftens. Für ihn begründet erst Ungewissheit die Möglichkeit von Profiten und damit von Märkten. Ungewissheit unterscheidet sich nach Knight von Risiko dadurch, dass bei ersterer keine Informationen vorliegen, die die Resultate von Handlungsentscheidungen probabilistisch kalkulierbar und damit versicherbar machen. Während man gegen Risiken Versicherungen abschließen (und diese so als Produktionskosten internalisieren) kann, gilt Ungewissheit als nichtkalkulierbare Bedingung ökonomischen Handelns. Damit wird sie zum Ausgangspunkt für die wirtschaftswissenschaftliche Erklärung »nichtrationaler« Verhaltensformen und Institutionen. So hat zum Beispiel John M. Keynes (2006 [1936]) die Ausrichtung des wirtschaftlichen Handelns an Konventionen und die Bedeutung der wechselseitigen Beobachtung der Akteure sowie der wechselseitigen Nachahmung ihrer Handlungen mit der Unsicherheit ökonomischer Prozesse begründet. In der Wirtschaftssoziologie sehen zum Beispiel Harrison White (2002) und Frédéric Godart (White/Godart in diesem Band) vor genau diesem Hintergrund in der wechselseitigen Orientierung von Produzenten untereinander eine zentrale Bedingung für die Entstehung und dauerhafte Reproduktion von Märkten, weil so Unsicherheit reduziert wird. In ihrem Beitrag zeigen sie, wie Märkte als Sets von Produzenten aufgefasst werden können, die zwar anstreben, als vergleichbare Akteure wahrgenommen zu werden |31|(insofern sie dieselbe Art von Produkten herstellen), denen aber gleichzeitig daran gelegen sein muss, hinsichtlich der hergestellten Qualität als unterschiedlich zu gelten. Die wahrgenommene Ordnung der Qualitätsdifferenzen ermöglicht, direkte Konkurrenz zu vermeiden und den Markt als System von Nischen zu einer dauerhaften sozialen Struktur werden zu lassen. Die Qualitätsdefinitionen und die einheitliche Wahrnehmung der Qualitätsordnung (aufseiten der Produzenten und der Käufer) müssen dafür als soziale Prozesse dem Preismechanismus vorangehen.

6.

Mit dem soziologischen Konzept der doppelten Kontingenz, das von Talcott Parsons eingeführt wurde, tritt Unsicherheit auch in der Sozialdimension auf – nun in der Problematik, wie Koordination ökonomischer Handlungen und die wechselseitige Abstimmung von Erwartungen erfolgen kann. Akteure nehmen nicht nur die eigene Wahlfreiheit wahr, sondern auch die der anderen. Hinzu kommt, dass Akteure die Handlungsperspektiven anderer zu antizipieren versuchen und damit ihre eigenen Handlungen immer schon reflexiv auf die Handlungen und Perspektiven anderer beziehen. Eine so ansetzende Konzeption von Handlung bricht mit dem monologisch-atomistischen neoklassischen Akteurmodell. Heiner Ganßmann und Christoph Deutschmann formulieren in ihren Beiträgen Revisionen und Kritiken an der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die eine genuin wirtschaftssoziologische Perspektive schon mit den Grundkonzepten einführen. Beide beziehen sich kritisch auf Talcott Parsons, indem sie die »Pax Parsoniana« zurückweisen, also die Vorstellung, dass es einen Bereich sozialen Handelns gebe, für den das allein rationale Kalkulieren und geldorientierte Handeln individualisierter Akteure als valide Beschreibung angesehen werden könnte. Dagegen argumentieren sie, dass erst die soziologische Fundierung und Erweiterung des Modells wirtschaftlichen Handelns zu analytischen Beschreibungen führen kann, die den Problematiken der Erklärung von Koordination und der kreativen Bewältigung von Unsicherheit angemessen sind.

Unsicherheit erwächst aus soziologischer Sicht auch aus den Schwierigkeiten, die ökonomische Wertigkeit von Objekten oder Praktiken zu ermitteln, also aus dem Problem, wie sich Akteure zueinander und zu Sachverhalten ökonomisch in Beziehung setzen (»koordinieren«) können. Ästhetische Präferenzen und Wertigkeiten sind kein Datum, sondern selbst Resultat sozialer Prozesse. Jörg Rössel erkennt in seinem Beitrag gerade hierin ein Defizit informationsökonomischer Arbeiten, die zwar die Asymmetrie der Information (Akerlof 1970) zwischen |32|interagierenden Akteuren in die wirtschaftswissenschaftliche Analyse aufnehmen, aber die Entstehung von Wertigkeiten und Präferenzen nicht aus der sozialen Einbettung in Netzwerke und ihrer sozialen Konstruktion in kulturellen Produktionsfeldern erklären. Damit bleibt auch die Varianz der Wertigkeit, die aus unterschiedlicher Einbettung oder sich verändernder Produktion resultiert, wirtschaftswissenschaftlich nicht erklärbar, weil eben die soziale Logik der Produktion zum Beispiel ästhetischer Wertigkeiten nicht einbezogen wird. Hieran schließt Kai-Uwe Hellmann in seinem Beitrag über die soziologische Bedeutung der Marke als Instrument zur Reduzierung der Ungewissheit von Wertigkeit an. »Marken« sind Signale in Märkten, über die sich Akteure der Wertigkeit der bewerteten Objekte und Praktiken »versichern«. Mit der Qualität »Marke« wird der Status von Objekten und Praktiken signalisiert, der anzeigen soll, dass vorgängige soziale Prozesse in Märkten das Problem der Ungewissheit der Qualität »gelöst« haben. Die Beiträge von Deutschmann, Ganßmann, Hellmann und Rössel setzen nicht als Ergänzungen wirtschaftswissenschaftlicher Modelle an, sondern verstehen sich als soziologische Modellierungen ökonomischer Handlungen, Wertigkeiten und Strukturen, die einen eigenständigen soziologischen Zugang zur Analyse der Wirtschaft ermöglichen.

Diese Zugangsweise ist insgesamt paradigmatisch für die neue Wirtschaftssoziologie. Ihr folgt auch der Beitrag von Jens Beckert. Er stützt sich auf verschiedene Ansätze der neuen Wirtschaftssoziologie, um diese, ausgehend vom Problem der sozialen Ordnung von Märkten, zu einem übergreifenden Ansatz zu integrieren: Unsicherheit und Kooperation, die Konstitution von (ökonomischer) Wertigkeit, die Entstehung ökonomischer Präferenzen und Marktstrukturen sowie die soziologisch zu modellierende Dynamik von Märkten stellen Grundprobleme einer soziologischen Theorie der Märkte dar. Dabei hat für Beckert, wie auch für Deutschmann, die Erweiterung des Einbettungskonzepts von Granovetter eine grundlegende Bedeutung für die Konsolidierung der Wirtschaftssoziologie (Beckert 2007), da sich nur so eng beschränkte Spezialtheorien – die von den Wirtschaftswissenschaften häufig auf den Status von soziologischen Ergänzungstheorien verwiesen werden – vermeiden lassen.

7.

Mark Granovetter (1985) hat das Argument der Einbettung von Akteuren in soziale Netzwerke als Gegenposition zur Institutionentheorie von Oliver Williamson eingeführt. Granovetter zufolge gibt es nicht nur keine isoliert agierenden Akteure, auch die Grenzziehung zwischen Institutionen, Märkten und Netzwerken |33|hält der Granovetter’schen Inspektion nicht stand: Netzwerkbeziehungen übergreifen die in der Institutionentheorie differenzierten Governanceformen. In der Entwicklung der neuen Wirtschaftssoziologie wurde die Netzwerkanalyse zu dem am stärksten verbreiteten methodischen Instrument für die Analyse von Marktstrukturen (Powell/Smith-Doerr 1994). Die Netzwerkanalyse hat ein Manko: Sie bezieht politische Regulierungen, kulturelle Praxisformen und normative Orientierungen nicht ein. Hier setzen Erweiterungen an, die die kulturelle, politische und kognitive Einbettung wirtschaftlichen Handelns aufnehmen. In ihren neoinstitutionalistischen, kultursoziologischen und historisch institutionalistischen Arbeiten analysieren Paul J. DiMaggio (1994) und Walter W. Powell (DiMaggio/Powell 2000), Neil Fligstein (2001), Frank Dobbin (1994) oder Pierre Bourdieu (2005a, 2005c) die institutionelle Struktur von Märkten in historischer Perspektive, wobei soziale Investitionen als Voraussetzungen für die Entstehung und das Funktionieren von Märkten in den Mittelpunkt rücken. Dazu zählen staatlich durchgesetzte Institutionen wie etwa das Kartellrecht oder das Arbeitsrecht, durch die Wettbewerb reguliert wird. Für Fligstein (2001) entstehen kapitalistische Marktwirtschaften nur in der Koevolution mit modernen Staatsstrukturen.

Ein Beispiel für die Rolle von Staatstätigkeit entwickelt Reto M. Hilty in seiner Analyse von Schutzrechten für geistiges Eigentum. Gesetzgebung betrifft hiernach nicht nur die Setzung von Rahmenbedingungen im Vertragsrecht für die ansonsten automatisch einsetzende Markttätigkeit, sondern kann in verschiedener Weise auch die Herstellung der Marktfähigkeit von Gütern beeinflussen, wie Hilty für immaterielle Güter und rechtliche Absicherungen für Investitionen in Innovationen zeigt. Hilty unterstreicht dabei, dass, entgegen einer langen Tradition im Wirtschaftsrecht, Schutzrechte wegen gesetzlicher Überregulierung für die Marktentstehung auch hinderlich sein können.

Eingriffsnormen sind Teil der Markt- und Wettbewerbskultur, wie zum Beispiel Frank Dobbin (1994) in seiner vergleichenden Studie zur Regulierung der Eisenbahnindustrie gezeigt hat. Dem Staat wurde im 19. Jahrhundert in den USA, in England und in Frankreich eine je unterschiedliche Rolle in der Herstellung von Wettbewerb, in der Reglementierung beziehungsweise für die Intervention in das Marktgeschehen in dieser Branche zugesprochen. Dabei führten unterschiedliche nationale Marktphilosophien zur Förderung ganz verschiedener Formen von Unternehmensorganisation. Dass der Staat auch mittelbar auf den Markt einwirkt, zeigte Pierre Bourdieu (2005a) am Beispiel des Häusermarkts. Staatliche Wohnungsbauförderung und Kreditpolitik beeinflussen sowohl die Angebotsseite wie auch die Nachfrageseite. Darüber hinaus kommt dem Staat über das Ausbildungssystem eine entscheidende Rolle in der Vermittlung des Marktdenkens zu (Bourdieu 2005a; Diaz-Bone in diesem Band; Reddy |34|1984): Kaufmännische Berufsschulen und die akademische Ausbildung von Ökonomen sind maßgebliche Voraussetzungen dafür, dass sich kalkulierendes Denken als ökonomischer Habitus ausbildet. Arnold Windeler und Cornelius Schubert zeigen in ihrem Beitrag anhand einer empirischen Studie zur Entwicklung von Mikroprozessoren, wie staatliche Instanzen bereits im Vorfeld des eigentlichen Wettbewerbs zur Koordination dieser Branche beitragen, indem sie die Produzenten verschiedener Bauteile zusammenbringen, damit ein technischer Standard etabliert wird. In dieser staatlich initiierten Koordinierungsphase werden sowohl Technologien als auch die späteren Marktstrukturen konstituiert, was auch bedeutet, dass vorselektiert wird, wer in welcher Weise am Wettbewerb teilnehmen kann. DiMaggio und Powell (2000), Fligstein (2001) und Bourdieu (2005a) verwenden den Feldbegriff, um solche komplexen, politisch, kognitiv und kulturell generierten Ordnungsstrukturen zu analysieren. Damit werden Märkte als kulturelle und kognitive Ordnungen erkennbar, in denen Akteure sich wechselseitig wahrnehmen und in denen Entscheidungen von spezifischen Regeln, Kategorisierungen und kulturellen Schemata geprägt sind.

Hier besteht eine Gemeinsamkeit mit dem Marktmodell von Harrison White (2002; White/Godart in diesem Band), das bei der wechselseitigen Beobachtung der Produzenten als konstitutivem Mechanismus für Marktstrukturen ansetzt. DiMaggio und Powell (2000) haben in ihrer Kritik an solchen institutionalistischen Ansätzen, die die Konvergenz von Organisationsformen als Rationalisierungsprozess verstehen, den Mechanismus der Nachahmung (Mimesis) von im Feld als »legitim« geltenden Organisationsformen als erklärendes Prinzip ausgemacht. Legitimität – und nicht ökonomische Effizienz, wie Weber angenommen hatte – ist die entscheidende Bedingung für die Ausrichtung von Unternehmen in Feldern. Für Fligstein (2001) impliziert die Feldtheorie, dass Marktakteure stabile Interaktionsmöglichkeiten unter den durch das Feld induzierten Bedingungen finden müssen. Märkte produzieren lokale Kulturen, die festlegen, wie der Wettbewerb in einem Markt erfolgt. Sie stellen Rahmungen zur Verfügung, nach denen die Handlungen und Rollen anderer Organisationen zu interpretieren sind. Fligstein nennt diese lokalen Verständnisse »Kontrollkonzeptionen«. Sie sind zwischen den Marktakteuren umkämpft. Etablierte Firmen verteidigen die für sie günstigen Kontrollkonzeptionen, neu hinzutretende Akteure versuchen, bestehende Kontrollkonzeptionen aufzubrechen und sich damit im Markt zu positionieren. Das Auftreten neuer Marktakteure und die von ihnen bewirkte Mobilisierung von »Anhängern« lässt sich mit dem Entstehen und der Karriere von sozialen Bewegungen vergleichen.

Pierre Bourdieu (2005a) und Viviana Zelizer (1979, 2001) haben zugleich aus kultursoziologischer Warte auf die Bedeutung des Ethos für die Entstehung (oder die Unmöglichkeit) von Märkten für bestimmte Güter und die Einnahme |35|von spezifischen Positionen in Märkten hingewiesen. Märkte sind abhängig von den ethisch-normativen Einstellungen, die sowohl individuell sein (als Habitus) als auch kollektive Wertordnungen zum Ausdruck bringen können. In Feldern entstehen die Definitionen der Qualität von Produkten als gemeinsame Festlegungen der anzuwendenden Kategorien und Standards. Dort werden zudem, wie Jörg Rössel anhand des Kunst- und des Weinmarkts zeigt, die Passungen zwischen Lebensstilgruppen und den für deren Geschmack adaptierbaren Produkten hergestellt. Hier findet – nun auf die Ebene des Feldes bezogen – die soziale Verarbeitung von Unsicherheit statt.

8.

Die französische Wirtschaftssoziologie hat ihre Anfänge in der Durkheim-Schule (vgl. Steiner 2005a, 2005b) und der französischen Sozialgeschichte im Umfeld der Zeitschrift Annales, der in besonderer Weise die Integration von Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gelang.4 Seit den siebziger Jahren haben außerdem die Arbeiten Pierre Bourdieus die Wirtschaftssoziologie Frankreichs beeinflusst, wobei Bourdieu zunehmend auch außerhalb Frankreichs in der Wirtschaftssoziologie (Florian/Hillebrandt 2006; Smelser/Swedberg 2005a: 17ff.) Beachtung findet. Frank Hillebrandt legt in seiner praxeologischen Analyse des Tauschs die Bourdieu’sche Theorie und die Tauschtheorie von Marcel Mauss (1990 [1924]) zugrunde und zeigt dabei die strukturbildende Rolle des Tauschs auf: Vom Tausch ausgehend können Handlungsmuster entstehen, die dann als Marktstrukturen objektiv werden. Als Praxisform ist der Tausch zudem mehrdimensional und kann nicht auf den Tausch von wirtschaftlichen Äquivalenten reduziert werden: »getauscht« wird immer ein »Mehr« an Symbolisierungen und Erwartungen. Symbolisierungen und Dispositionen geben dem Tausch erst eine Form. So emergieren Fortsetzungen: die (auch zeitliche) Ökonomie von Gabe und Gegengabe. Hillebrandt stellt dar, wie Kauf und Verkauf einhergehen können mit Praktiken des Schenkens und Nehmens von Gaben. Umgekehrt kann, was in der Alltagswahrnehmung als Geschenk erscheint, simultan der Logik des Tauschs folgen. Auch Rainer Diaz-Bone geht in seinem Beitrag von Bourdieu aus und zeigt, wie man mit Kategorien wie Habitus, Feld und Theorieeffekt das Ineinandergreifen von sozialen Investitionen zur Konstruktion von Märkten erklären kann.

|36|Ein weiterer bedeutender aus Frankreich stammender Ansatz der Wirtschaftssoziologie, der sich von dem Feld- und Habituskonzept absetzt und erneut das Problem der Ungewissheit ins Zentrum marktsoziologischer Forschung stellt, ist die »Ökonomie der Konventionen«. Deren Vertretern geht es ebenfalls um die Analyse der Wertigkeitsordnungen und Koordinationslogiken in Märkten (Boltanski/Thévenot 1991). Koordinationslogiken sind, wie Robert Salais in seinem Beitrag deutlich macht, Antworten auf Ungewissheit im ökonomischen Handeln, die insbesondere auf unvollständige Verträge und beschränkte Rationalität zurückführbar sind (siehe auch Biggart/Beamish 2003; Jagd 2006). Die Ökonomie der Konventionen ist ein »nachbourdieusches« Paradigma, das sowohl in der französischen Soziologie als auch in den französischen Wirtschaftswissenschaften etabliert ist (Eymard-Duvernay 2006a, 2006b; Favereau/Lazega 2002). Robert Salais, einer der Mitbegründer des Paradigmas, stellt in seinem Beitrag die Gründung der Ökonomie der Konventionen und den der Namengebung zugrunde liegenden Begriff der Konvention dar, der eine den Koordinationen in Märkten und Organisationen zugrunde liegende soziale Logik bezeichnet. Die Ökonomie der Konventionen betont die Pluralität von Konventionen, die in Handlungsfeldern konfligieren, weshalb Akteure den Bezug zwischen ihnen wechseln können und in Konfliktsituationen reflexiv auf sie Bezug nehmen müssen (Boltanski/Thévenot 1999). Mit diesem Konventionsbegriff verbunden ist die handlungstheoretische Anknüpfung an den amerikanischen Pragmatismus. Im Umgang der Akteure mit der Pluralität von Konventionen in der Handlungssituation zeigt sich eine interpretative Rationalität. Salais untersucht, wie verschiedene, auf die Arbeit bezogene Konventionen sich über unterschiedliche Ebenen hinweg zueinander verhalten und veranschaulicht dabei in pragmatistischer Perspektive die Entstehung und Interpretation von Konventionen.

9.

Die soziologische Analyse des ökonomischen Mediums Geld gehört zu den frühesten Gegenstandsfeldern der Soziologie (Simmel 1989 [1900]). Der Forschungsbereich der Geldsoziologie stellt bis heute einen wichtigen Strang der Wirtschaftssoziologie dar (Helleiner 2003; Ingham 2004; Zelizer 1997) – insbesondere in Deutschland findet sich hier eine große Stärke der Wirtschaftssoziologie (Baecker 2006; Deutschmann 1999; Ganßmann 1996; Luhmann 1988; Paul 2004). Auch spezifische Märkte für Devisen und Aktien zu analysieren ist ein frühes Anliegen der Klassiker, wie der frühe Aufsatz Max Webers (1988 [1894]) |37|zur Börse und zum Aktienhandel belegt.5 Gerade in der Soziologie der Finanzmärkte haben sich in den letzten Jahren neue Ansätze entwickelt, die dieses Gebiet zu einem der innovativsten Bereiche der Wirtschaftssoziologie haben werden lassen. Die »social studies of finance« untersuchen die materiale Kalkulation ökonomischer Werte (»accounting«) und die praktische Konstruktion ökonomischer Realitäten (»performativity«) aus phänomenologisch-mikrosoziologischer Perspektive. Die Beiträge von Kalthoff sowie von MacKenzie, Beunza und Hardie in diesem Band wenden das Konzept der Performativität in der Analyse der Finanzwirtschaft an und zeigen, wie die praktische Realisierung finanzwirtschaftlicher Sachverhalte durch die Art und Weise erfolgt, wie auf Finanzmärkten Informationen kalkuliert, angezeigt, dargestellt und kommuniziert werden.6 Die »Ausstattung« mit kalkulatorischen Technologien (Software, Computer, Displays) und finanzwissenschaftlichen Konzepten (Theoremen, Formeln) »befähigt« die Akteure, im Finanzgeschäft Werte und Risiken zu berechnen (wie Optionspreise, Kreditwürdigkeit), die an sich nicht vor der Kalkulation bestehen oder über deren Ermittlung in diesem Markt große Unsicherheit besteht. Die performative Durchführung der Kalkulation, die nur mithilfe von konkreten Routinen, Techniken und Konzepten erfolgen kann, bringt also erst die finanzwissenschaftlichen Werte und Sachverhalte in die Welt.

Eine der beeindruckendsten Analysen in diesem Forschungsfeld der Wirtschaftssoziologie haben MacKenzie und Millo (2003) mit der Analyse der Entstehung der Chicagoer Optionsbörse vorgelegt. Sie haben rekonstruiert, wie es mithilfe einer von Finanzwissenschaftlern entwickelten Formel zur Berechnung von Optionspreisen einem Netzwerk von Chicagoer Börsenhändlern möglich wurde, die Chicagoer Optionsbörse zu gründen und damit einen Markt erst zu schaffen. Der Clou dieser Befunde besteht darin, dass die Wirtschaftswissenschaften die reale Ökonomie nicht beschreiben (auch nicht einfach nur in der Weise, dass sie ein normatives Modell vorgeben), sondern die Wirtschaft »performen«, das heißt, die ökonomische Praxis anleiten und so diese Praxis konstituieren. Dazu gehört, dass die Akteure in der Finanzwelt durch Sozialisations- und Lernprozesse in die Lage versetzt werden, sich adäquat zu verhalten, die Tools und Techniken der Kalkulation zu adaptieren und ein Selbstbild zu erwerben, das sie selbst als rationale Entscheider einsetzt, obwohl sie tatsächlich weder autonom noch a priori rational sind. »Ökonomische Rationalität« entsteht so als Koprodukt von vorlaufenden nichtrationalen und nicht |38|einzelnen Akteuren zurechenbaren Intentionen. Akteure »erzeugen« »rationale« Handlungsstrategien und bilden notwendig sozial konstruierte »Rationalitätsfiktionen« (Schimank 2005), die auf die Vorleistungen sozialer Netzwerke, der Kultur, politischer Institutionen und kognitiver Vorstrukturierungen verweisen (Callon/Muniesa 2005).

Der empirische Ansatzpunkt für die Untersuchungen von Donald MacKenzie, Daniel Beunza und Iain Hardie, von Olivier Godechot und Herbert Kalthoff in diesem Band sind die Praxisformen in den Handelsräumen von Banken. Godechot zeigt mithilfe des Feldkonzepts, der Ökonomie der Konventionen und der Actor-Network Theory, dass diese Handelsräume zugleich die Arenen sind, in denen sich die Mikropolitik um die Aneignung des Profits aus dem Aktien- und Derivathandel abspielt. Godechot analysiert diese Mikropolitiken der Aneignung von Handlungskompetenzen und der Zuschreibung von Erfolg, mit denen Eigentumsrechte (am Profit im Aktien- und Derivatenhandel) auf unterschiedliche Weise performativ erworben werden. Dafür liegt eine Pluralität von Rechtfertigungsstrategien vor, die in diesem Feld gegeneinander angeführt werden. Herbert Kalthoff konzentriert sich demgegenüber auf die kalkulatorischen Praktiken von Banken, die er als epistemische Praktiken der Erzeugung ökonomischen Wissens und damit der Konstruktion ökonomischer Realität versteht. In seiner finanzsoziologischen Analyse geht es um die Rekonstruktion der Art und Weise, wie Banken ihr wirtschaftliches Umfeld mit Strategien des Berechnens (anhand bankenspezifischer Kennziffern) und der Verzifferung erst als ökonomisch bewertbare Größen wahrnehmen können, wie sie also erst den ökonomischen Sinn ihrer Investitionen anhand von selbst generierten »Kenngrößen« prozessierbar machen. Die detaillierte Beschreibung der Praktiken der bankinternen Repräsentation, wie mit welchen Techniken und Berechnungsweisen Sachverhalte praktisch dargestellt werden und wie die Darstellung in der Bank diskursiv verhandelt wird, zeigt, wie Banken intern die als relevant betrachtete Umwelt, ihre Risiken für Investitionen symbolisch erst konstruieren müssen, damit sie entscheiden können. Die Untersuchung von Akos Rona-Tas zum Bankensektor in Osteuropa schließt hier an. Er zeigt, wie sich die Routinen der Kundengewinnung, aber insbesondere der Kreditbewertung und Kreditvergabe im Rahmen der Systemtransformation verändern und wie verschiedene Formen der (nach Weber differenzierten) Rationalität in den kalkulatorischen Praktiken in Widerspruch zueinander geraten. Dabei macht die zwischen drei Rationalitätsformen differenzierende Analyse deutlich, dass die auf kalkulatorische Rationalität fixierte Rational-Choice-Theorie der Wirtschaftswissenschaften der empirischen Analyse der Entscheidungsprozesse von Banken bei der Kreditvergabe nicht gewachsen ist.

|39|10.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes demonstrieren, dass die Soziologie des Marktes heute ein sich international breit entwickelndes Forschungsfeld ist. Die Autoren zeigen zudem, dass dieses Feld ein Anwendungsbereich aktueller soziologischer Theorieströmungen und Konzepte ist, wie etwa denen des Netzwerks, der Performativität, der Einbettung und der Institution. Die neue soziologische Aufmerksamkeit für den Markt als zentrale Institution kapitalistischer Wirtschaften hat in den letzten Jahren die wirtschaftssoziologische Reflexion auf das Verhältnis von Soziologie und Wirtschaftswissenschaften neu angeregt (Beckert 1997; Ganßmann 1996; Zafirovski 1999). Die Wirtschaftssoziologie tritt aus ihrer selbst gewählten Rolle der Ergänzungswissenschaft heraus. Nachdem sich gezeigt hat, dass die immer wieder nur kritische Position gegen die sklerotische Neoklassik (wie sie viele Wirtschaftswissenschaftler selbst formulieren) nicht weiterführt, muss die Soziologie eine eigenständige Grundlage für die soziologische Analyse der Wirtschaft entwickeln. Bevor Gleichgewichtstheorie und Rational Choice zum dominanten Paradigma der Wirtschaftswissenschaften wurde, gab es in den damals noch breit verstandenen Sozialwissenschaften durchaus die Auffassung, die Soziologie sei die Grundlagendisziplin und die Wirtschaftswissenschaften einer ihrer elaboriertesten Bereiche (wie etwa bei Franz Oppenheimer oder in Teilen der Österreichischen Schule bis zum jungen Mises). Auch ohne eine derartige Umkehrung vom ökonomischen Imperialismus zu einem soziologischen Neoimperialismus kann die Wirtschaftssoziologie, mit oder ohne das Prädikat »neu«, einen fruchtbaren, integralen Zugang zum Verständnis der modernen Wirtschaft bieten.

|41|Teil I Koordination, Unsicherheit und Vertrauen in Märkten

|43|Die soziale Ordnung von Märkten

Jens Beckert

Märkte sind die zentrale Institution kapitalistischer Ökonomien. Die Entfaltung des modernen Kapitalismus lässt sich als Prozess der Ausweitung von Märkten als Steuerungsinstrument der Produktion und Allokation von knappen Gütern verstehen. Dies gilt nicht nur für Arbeitsmärkte, die in bedeutendem Umfang erst mit der Industrialisierung entstanden, sondern auch für die Erstellung und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen, die sich aus der Haushaltsökonomie löste und immer stärker über Märkte organisiert wurde. Die Ausbreitung von Märkten zeitigt historisch einschneidende Veränderungen: Zum einen werden Produktionsentscheidungen nicht mehr am Bedarf einer lokalen sozialen Gemeinschaft orientiert, sondern richten sich an den Gewinnaussichten in einem räumlich unbeschränkten Markt aus. Zum anderen führt der Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern und Nachfragern um Tauschchancen zur Versachlichung der Handlungsorientierung der Marktakteure. Die Eigengesetzlichkeit des Marktes kennt idealtypisch »nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person« (Weber 1985 [1922]: 383).

Dies bedeutet nicht, dass Märkte in kapitalistischen Ökonomien das einzige Steuerungsinstrument wirtschaftlicher Prozesse wären. Die Produktion von Gütern und Dienstleistungen findet in hierarchisch – oder als Netzwerke – strukturierten Organisationen statt. Sozialstaatliche Institutionen verteilen Ressourcen an Gesellschaftsmitglieder, die kein Markteinkommen erzielen können. Innerhalb der Familie herrscht eine Ökonomie des solidarischen Aushelfens. Neben dem Marktmechanismus spielen in kapitalistischen Ökonomien demnach auch hierarchische Strukturen sowie Redistribution und Reziprozität als Allokationsmechanismen (Polanyi 1957 [1944]) eine wichtige Rolle.

Doch trotz dieser Heterogenität von Steuerungsinstrumenten stehen Märkte im Zentrum der Organisation der kapitalistischen Wirtschaft. Zwar sind Unternehmen selbst nicht als Märkte organisiert, doch orientieren sich die Strukturen und Entscheidungen von Unternehmen an den erwarteten Marktchancen, wodurch Märkte der ausschlaggebende Orientierungspunkt von Unternehmensentscheidungen sind. Sozialstaatliche Redistribution tritt als sekundärer Allokationsmechanismus erst auf den Plan, wenn Akteure ihr Einkommen nicht über |44|