Marmel Klebowski & das Geheimnis des Schrumpfkopfes - Anneke Freytag - E-Book

Marmel Klebowski & das Geheimnis des Schrumpfkopfes E-Book

Anneke Freytag

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Beschreibung

Marmel Klebowski hegt einen ungewöhnlichen Traum. Das zehnjährige Mädchen will eine große Entdeckerin werden. Allerdings ist Marmels Vorhaben mit einigen Schwierigkeiten verbunden. In ihrem Heimatstädtchen Hintergugelheim ist das Größte, das sie entdecken könnte, das graue Schulgebäude, und schon lange vor ihr betrat das erste Mal ein Kind die Schule. Überhaupt ist jeder schneller als sie, weil sie sehr viele Medikamente gegen die Epilepsie einnehmen muss, an der sie erkrankt ist. Eines Tages ist sie gar so langsam, dass sie rückwärts lebt. Das ist der Beginn einer kuriosen Reise, auf der Marmel etwas sehr Großes entdeckt, nämlich einen fremden Planeten, den äußerst seltsame Gestalten bevölkern. Ehe sie einmal blinzeln kann, wird sie von den schlimmsten Witzfiguren aufgelesen. Mit ihnen und ein paar mehr fragwürdigen Bekanntschaften, bestreitet sie das erste, richtige Abenteuer ihres Lebens. Sie stellt sich todesmutig ihrer Epilepsie und sogar noch unheimlicheren Gesellen.

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Veröffentlichungsjahr: 2013

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Anneke Freytag

Marmel Klebowski

&

Das Geheimnis des Schrumpfkopfes

Copyright © 2012 Anneke Freytag

Die Reise beginnt

Es gibt Menschen, die meinen sie wären anders, so vollkommen anders. Diese Menschen besitzen Kopf, Arme, Beine und was sonst noch zum Menschsein gehört. Trotzdem vertreten sie stur die Meinung, sie wären anders. Vielleicht ist ihre Behauptung wahr, wenn sie so energisch darauf bestehen. Oder auch nicht, wer kann das wissen? Auf den ersten Blick ist nichts Bemerkenswertes an ihnen zu erkennen. Doch sehen wir uns einen dieser Menschen einmal genauer an.

In dem Städtchen Hintergugelheim wohnte so jemand. Ein zehnjähriges Mädchen namens Marmel. Und es geschah etwas sehr Normales, ein neuer Tag brach an. Er war nachtschwarz, dicke Regenwolken versperrten die Sicht auf das Dämmerlicht und die schwachen Sternenpunkte am Himmel.

»Aufgewacht, Morgenstund hat Gold im Mund! Morgenstund hat Gold im Mund!«, zwitscherte der Wecker in Marmels Zimmer.

Er öffnete und schloss den Kunststoffschnabel, hob und senkte die gelben Flügel.

Marmel schreckte hoch. Sie sprang nicht an die Decke, nein. Wie jeden Tag riss sie die Augen weit auf, wenn plötzlich der Wecker piepste. Sie schlief immer so fest, dass das unerwartete Geräusch sie erschreckte. Um nicht wieder einzuschlafen, setzte Marmel sich gleich auf. Der Vogelwecker fiepte wieder, dieses Mal energischer. Träge tastete Marmel nach dem Quälgeist, gleichzeitig rollte sie mitsamt der Daunendecke aus dem Bett und plumpste auf den quietschgelben Teppichboden. Unter ihrem Mors hörte sie dumpf den Wecker randalieren. Marmel zog ihre Stirn kraus, sie rückte beiseite und gab der Beule in der Decke einen Klapps. Endlich herrschte Ruhe, leider durfte Marmel nicht zurück ins Bett schlüpfen, auf sie wartete ein neuer Schultag. Lautes Gähnen half nicht dagegen, es blieb trotzdem sechs Uhr morgens. Sie schleppte sich in die Küche, auf dem Tisch stand bereits Mamis hausgemachtes Müsli und ein gut gefülltes Tablettendöschen. Bäh, schon morgens musste sie sich gesund ernähren, die Tabletten mochte sie erst recht nicht. Marmel schaufelte vier Löffel Kakaopulver in die Müslischüssel. Beim letzten Löffel zitterte plötzlich ihre Hand und das Pulver rieselte neben die Schüssel auf die blumige Tischdecke. Schnell steckte Marmel den Löffel ins Müsli, die restliche Hälfte des Kakaos war gerettet. Sie rührte im Müsli, beachtete die Krümel auf dem Tisch nicht weiter und aß langsam, sehr langsam. Ihre Augenlider fühlten sich so schwer an, sie wollten sich ständig schließen, doch Marmel hielt hartnäckig einen kleinen Schlitz offen. Sie mampfte auf den matschigen Haferflocken herum, verspeiste mühsam Löffel um Löffel. Fürchterlich müde fühlte sie sich. Jetzt wurde auch ihr Kopf immer schwerer. Bald hing er gefährlich nahe über der Müslischüssel. Aber sie könnte doch ihre Augen schließen, nur einmal ganz kurz. Sie genoss ein bisschen Dunkelheit und hörte plötzlich ihre Zwillingsschwester krähen.

»Mama, Marmel steckt die Nase ins Müsli!«

Ach, deshalb war es da so feucht. Aber das war noch längst kein Grund, sie zu verpetzen. Marmel hob verschlafen den Kopf, von ihrer Nase tropfte Kakao und sie grummelte:

»Olle Petze.«

Ihre Zwillingsschwester Mareike beeindruckte das nicht. Sie grinste dreist über den Tisch zu Marmel, knabberte Möhren und Nüsse. Diese dröge Mahlzeit war Mareikes Diät. Den Diätplan hatte sie eigenhändig entworfen und sie hielt sich eisern daran. Sie wollte nur das essen, was klug und sportlich machte. Wenn das Essen nicht so ekelig gesund gewesen wäre, hätte ihre Mutter die Diät niemals erlaubt. Suse Klebowski legte nämlich Wert auf eine ausgewogene Ernährung, auf ein ausgewogenes Chakra und auf eine ausgewogene Inneneinrichtung legte sie auch Wert. Es sollte alles im Fluss sein, sogar der Garten. Deshalb zierte den Vorgarten auch ein Brunnen. Marmel erinnerte er an ein tropfendes Hünengrab. Was das mit einem Fluss zu tun haben sollte, konnte sie sich nicht erklären.

Die unheimliche Geschwindigkeit der Mutter konnte sie sich auch nicht erklären. Sie war blitzschnell bei Marmel, witterte sie Gefahr für ihre Tochter. Wie eine afrikanische Volkstänzerin sprang Suse durch die Küche, der weite Rock schlabberte ihr um die Beine und wehte in alle Richtungen.

»Ach Spatz, hast du wieder schlecht geschlafen? Du siehst müde aus. Aber nun mach dich schnell fertig, sonst verpasst du den Schulbus. Du schaffst das schon.« Sie wischte Marmel die Nase ab und iiieh, sie benutzte den Lappen mit dem sie vorher das Schneidebrett abgewischt hatte.

»Schon gut, ist doch nur Kakao. Ich kann meine Nase alleine sauber machen«, schnaufte Marmel angeekelt, sie verzog das Gesicht, streckte den Kopf so weit es ging nach hinten, zappelte mit den Armen und Händen und kippte fast vom Stuhl. Wie durch ein Wunder gelang Marmel die Flucht, verfolgt von Mareikes hämischen Blicken rannte sie ins Badezimmer. Sie schloss die Tür ab und nieste ihr Spiegelbild an, auf dem jetzt Müslikrümel klebten. Es war höchste Zeit für die Morgenwäsche. Natürlich war Mareike schon fertig. In diesem Augenblick schulterte sie ihren Schulranzen und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle, während Marmel ihre nassen Heuhaare bürstete. Heuhaar, das Wort hatte Marmel selbst erfunden, Heuhaar beschrieb einfach am besten ihr Haar. Es war gelb oder ausgebleicht, fast weiß. Manchmal schien es sogar ein bisschen grün zu sein. Vielleicht lag es an ihrem Kopf, weil es dort schimmelte. Eine gewagte Vermutung. Es dauerte nicht lange, und im Kopf beschwerte sich jemand.

Was in Gehirnen anderer Menschen wohl nicht geschehen würde, da Marmels Gedanke auch durch die Denkarbeit des Gehirns entstanden sein musste. Wer stellte schon freiwillig etwas her, was ihm nicht gefiel? Wieso dies in Marmels Kopf geschah, ist mir rätselhaft. Doch selbst Wissenschaftler verstehen noch nicht alles. Sie haben jedem Teil des Gehirns einen Namen gegeben und wissen, wie er aussieht. Wie ein Gehirn funktioniert, können sie bisher nicht gänzlich erklären. Zum Beispiel streiten sie sich darüber, wo welche Aufgaben erledigt werden und ob dies immer im gleichen Bereich geschieht. Alle Teile des Gehirns sind durch sehr, sehr viele Nervenbahnen miteinander verbunden und die Nerven geben Nachrichten weiter, die den Körper eines Menschen das tun lassen, was er tut. Zum Beispiel Sehen und Riechen, den Arm heben, oder einen Film gut finden. So ein Nerv hat natürlich keinen Mund und redet in die Nervenbahn wie in einen Telefonhörer. Er versendet elektrische und chemische Signale. Was in Marmels Gehirn der Bereich des Hörens gerade machte. Diese Signale erreichten jedoch nicht Marmels Bewusstsein. Da die allgemeine Schaltzentrale, die jedes Signal nach Wichtigkeit sortierte und an andere Bereiche weiterleitete, solcherlei Nebenbemerkungen für überflüssig hielt. In Worte gefasst lautete die Nachricht des Hörsinnes etwa so:

»Habt ihr das gehört? Marmel denkt wir schimmeln!«

»Nein, wie schockierend. Schimmel, hier gibt es keinen Schimmel. Das ist eine üble Verleumdung«, antwortete die Gefühlsebene.

»Also Leute, denkt doch mal nach. Hier schimmelt sehr wohl jemand«, sagte der Verstand.

»Meinst du mich? Du bist gemein, ich schimmel nicht. Das ist eine Lüge«, jammerte ein Stück andersartig gewachsenes Gewebe.

Marmels Arzt behauptete, es wäre falsches Gewebe und die anderen Gehirnteile beschimpften es als „Jockelobersupersepp“. Weil der Schimpfname so ermüdend lang war, nannten sie es schlicht Joss. Das kurze Wort klang nicht wie eine Beleidigung, doch Joss wusste ja, was es lang ausgesprochen bedeutete. Ihm gefiel der Spitzname überhaupt nicht.

»Papperlapapp, was machst du sonst, Joss? Du gammelst den ganzen Tag herum und tust nichts«, sagte das Gedächtnis.

»Gar nicht wahr, ich tue sehr wohl etwas«, erwiderte Joss.

»Natürlich. Wenn du wirklich etwas tust, ist hier die Hölle los. Alles gerät durcheinander, sogar Marmels Bewegungen«, beschwerte sich die Schaltzentrale.

»Was kann ich denn dafür, dass es so fürchterlich viele Nervenbahnen gibt? Da verliert man eben den Überblick“, motzte Joss.

Angeblich soll es mehr Nervenzellen im Gehirn geben, als Sterne am Himmel. Joss hatte sich nie die Mühe gemacht, alle Nerven, die es hier gab, zu zählen. Das würde bestimmt so lange dauern, dass ihm beim Zählen ein Bart bis nach China wachsen würde. Ihm genügte sein eigenes Gewirr an Nervenbahnen, die zu allen Seiten ineinander verstrickt waren. Es war doch kein Wunder, dass sich manchmal Signale seiner Nerven verirrten und einenepileptischen Anfall verursachten. Besonders, wenn das Gewebe ein wenig anders war, wie seines.

»Achtung, es geht los! Beine bewegen, Füße aufsetzen«, befahl die Schaltzentrale.

»Wird gemacht, Chef!«, rief die Motorik und setzte Marmels Körper in Gang.

Fix und fertig schlurfte Marmel zur Schule, in der sie wirklich wichtige Tricks lernte, wie Papierflieger basteln, oder sich vor geworfenen Papierkugeln verstecken.

Aus der Küche rief ihr Suse hinterher:

»Spätzchen, hast du deine Tabletten genommen?«

Nee, Marmel hatte ihre Tabletten nicht genommen. Sie hatte es vergessen. Marmel gab ein brummiges Grunzen von sich und machte kehrt. Sie schlurfte zum Küchentisch und fummelte die Tabletten aus dem Döschen. Vor ein paar Tagen war wieder eine neue Sorte hinzugekommen, ihre tägliche Dosis sah aus wie eine Handvoll bunte Smarties. Aber die Medizin schmeckte keineswegs süß. Sie war bitter, wie es sein musste. Marmel würgte sie hastig hinunter, wieder zitterte ihre Hand und aus dem Glas plörrte das Wasser. Sie rieb die Hand an der Hose trocken und los ging’s. Marmel kroch der Tür entgegen wie eine ehrgeizige Rennschnecke. Bei ihrer Mutter machte sie einen Boxenstopp, von ihr bekam sie einen Abschiedsschmatzer. Auf dem Gehweg spannte sie den Regenschirm auf, der Nylonstoff sollte in allen Regenbogenfarben leuchten. Doch jetzt schien er grau zu sein, weil es kein Licht gab, das die Farben leuchten ließ. Vom Himmel prasselten dicke Regentropfen, der kalte Herbstwind fegte Marmel ins Gesicht, und sie gab wieder Gas. Hinter ihr lief Ludwig, der sie in Windeseile überholte. Ihr großer Bruder stürmte vorbei, als wolle er ein Wettrennen gegen einen Geparden gewinnen. Marmel geriet ins Trudeln und fiel beinahe in eine Pfütze. Empört sah sie Ludwig hinterher, es war doch jeden Tag das gleiche. Er stand viel später auf als Mareike und sie, raste zur Haltestelle und erwischte nur knapp den Schulbus. Ihr Bruder behauptete, das wäre ein gutes Lauftraining, als Fußballspieler müsse man schnell laufen können. Er war schon so schnell, dass Marmel schwindelig wurde, wenn sie in seinen Fahrtwind geriet. Sie schob das nasse Laub auf dem Straßenpflaster vor sich her und schimpfte leise. Auch in ihrem Kopf schimpfte jemand.

»Wirklich, ich muss sagen, heute geht es ungewöhnlich langsam voran«, bemerkte die Schaltzentrale.

»Ja, das neue Medikament macht sehr träge«, sagte die Motorik.

Marmel zog ihre Nase kraus, die Luft prickelte wie Brausepulver auf der Zunge und plötzlich herrschte Windstille. Erstaunt verharrte Marmel, ein Geräusch wie Plink ertönte und vor ihrem Gesicht erschien ein kleines Licht. Der helle Ton wiederholte sich, jeder klingelte in einer anderen Höhe, wie die Musik eines Glockenspiels, auf dem ein langes Lied gespielt wurde. So musste sich das Glockenspiel eines Engels anhören, mindestens. Jede Note ließ ein glitzerndes Licht erscheinen. Verzaubert blinzelte Marmel, Windböen rupften die Laubbäume am Straßenrand und peitschten Regentropfen durch die Luft, die wie kleine Presslufthammer auf dem Boden einschlugen.

Unter Marmels Regenschirm herrschte eine magische Stille, fasziniert betrachtete sie die Lichtlein. Wie sie summten, im Schwarm schwebten und tanzten. Klein wie ein glitzerndes Sandkorn wuchsen sie zur Größe einer Eichel heran. Sie verströmten angenehme Wärme und süßen Bratapfelduft. Marmel stand in einer trüben Pfütze und fühlte sich so wohlig, als ob sie mit einem Becher heißen Kakao am Kaminfeuer saß. Sie streckte den Finger aus, vorsichtig stupste sie eines der Sternchen an, ein überwältigendes Glücksgefühl durchströmte sie und sie hatte das Gefühl, etwas Weiches anzustupsen. Kaum hatte sie das Lichtlein berührt, klirrte es. Der Lichtschwarm flog Bogen und Spiralen und stob auseinander, als ob er einem großen Raubfisch auswich. Die Luft knisterte und knackte, ein Licht nach dem anderen verpuffte in Sekundenschnelle.

Den Finger immer noch ausgestreckt, blickte Marmel verdattert in die Dunkelheit.

Oh Mann, war das ein epileptischer Anfall?

Einen so seltsamen Anfall hatte sie bisher nie gehabt. Alles hatte so echt gewirkt. Die normalen Anfälle, die sie hatte, waren ganz anders. Meistens fiel sie um, später wachte sie auf und die Leute starrten sie entsetzt an. Man erzählte ihr, sie hätte gezuckt, ihre Glieder verrenkt oder Grimassen geschnitten. Sie verstand nicht, was die Menschen daran schockierte. In der Disco zuckten Leute wenn sie Musik hörten, im Zirkus gab es Schlangenmenschen die sich verrenkten und Clowns die Grimassen schnitten. Aber etwas musste sie anders machen. Immerhin stießen sich nicht alle Discobesucher an der Einrichtung. Die Schlangenmenschen bekamen keinen Muskelkater und die Clowns brachten Leute zum Lachen, nicht zum Weinen. Sie würde gerne mal sehen, wie ihre Anfälle wirklich waren. Immer war sie dabei, aber nie erinnerte sie sich an das, was passiert war. Obwohl sie sehr viele Gelegenheiten dazu hatte. Seit sie ihre Eltern verstand, wusste sie, dass sie eine Epilepsie hatte. Zum Glück hatte sie keine zwei, oder drei Epilepsien. Eine Epilepsie war nämlich nicht wie ein Schnupfen. Damit sie verschwand, benötigte man mehr als ein Taschentuch. Dagegen musste man jeden Tag bittere Smarties schlucken. Sie fasste den Entschluss, niemanden von dem Ereignis zu erzählen. Die klingenden Sterne sollten ihr Geheimnis bleiben, damit kein weiterer Smartie in ihrer Tablettendose landete. Aber was war mit dem Schulbus? Auweia, den hatte sie zwischen all den Lichtlein ganz vergessen. Marmel drückte den Regenschirm gegen Wind und Regen, im Rennschnecken-Tempo näherte sie sich der Haltestelle. Auf dem letzten Stück stieß eine heimtückische Böe sie in den Rücken, der Schirm klappte über dem Stiel wie eine Blume zusammen. Beinahe riss der Ruck sie um, und er beförderte Marmel direkt vor die Bustür. Glück muss man haben. Sie war wohl die nasseste Rennschnecke, die es jemals gegeben hatte, doch sie verpasste nicht den Bus.

Das Schulgebäude erwartete stoisch die Schüler. Wie ein grauer Betonklotz ragte es in den Himmel. Für ein spitzes Dach war kein Geld übrig und die verblassten Graffitis an der Wand entfernte niemand. – Das Putzmittel kostete auch Geld. Die Wände blieben ein bisschen bunt und auf dem Flachdach spross eine junge Erle. Eine breite steinerne Treppe führte zur Eingangstür hinauf, die groß wie ein Scheunentor war. Kleine quadratische Fenster umringten die Tür. Sie waren in gleichmäßigen Abständen im Gemäuer verteilt, auf den hölzernen, weiß gestrichenen Fensterbänken saßen Tauben und suchten Schutz vor dem feuchten Wetter. Eine der Tauben lugte neugierig durch die Fensterscheibe, sie beobachtete viele kleine Menschlein, die in das Zimmer hinter dem Glas stürmten.

Marmel hinterließ bei jedem Schritt eine kleine Pfütze. Sie betrat als Letzte das Klassenzimmer und murmelte ein „Guten Morgen“, das an niemanden bestimmtes gerichtet war und von niemandem beantwortet wurde. Die Klassenkameraden hörten Marmels leises Stimmchen nicht. Wie auch, bei dem Lärm? Sie schwatzten, brüllten und lachten, insgesamt dreißig Kinder warteten auf den Lehrer. Kalle machte mit der Hand unter den Achseln Furzgeräusche, Robert lachte und klopfte mit der Faust auf den Tisch, Floh grinste blöde, er versuchte Kalle zu übertrumpfen und rülpste den “Flohwalzer“, Jule verdrehte die Augen, Steffi flüsterte geheimnistuerisch in Eva-Luisas Ohr, sie kicherte und schielte zu Schanelle. Marmels Zwillingsschwester saß bei ihren fünf Freundinnen. Alle nannten sie nur “Die Mädchen“, weil sie die mädchenhaftesten Mädchen der Schule waren. Kalle behauptete gar, sie wären die mädchenhaftesten Mädchen der ganzen Welt.

»Iiehgitt, Marmel. Du bist nass wie ein nasser Pudel. Bist du zu Fuß gelaufen? Oder denkst du, aus dem Boden wächst Gras, wenn du ihn fleißig gießt?«

Mareike grinste sie an und blickte Beifall heischend zu den Mädchen-Mädchen. Marmel zog die Stirn kraus, sie betrachtete nachdenklich das dunkelgrüne Linoleum.

»Ja, da muss Gras wachsen.«

Die Mädchen-Mädchen prusteten los, Mareikes Gelächter übertönte sie alle. Marmel hörte sie noch, als sie am anderen Ende der Klasse saß, hinten am Fenster. Sie verstand nicht, was an ihrer Antwort so lustig sein sollte. Gras wäre durchaus passend, der Boden war schließlich grün.

Der Lehrer Herr Lumpe trat vor die Schüler und bat um Ruhe. Insgeheim nannten sie ihn Herr Lumpi. Er trug allzeit einen struppigen Pullunder, der sehr einem überfahrenen Hund glich. Er unterrichtete Geschichte, Frau Jackmohn folgte und erzählte ihnen etwas von der Börse, danach Herr Gimpel. Für ihn hatte keiner einen Spitznamen erfunden, Herr Gimpel reichte zum Grinsen. Doch das waren nicht alle Lehrer, es kamen immer wieder welche nach. Wie unschön. Der Tag zog sich unerträglich in die Länge. Marmel schaute immer wieder aus dem Fenster und dachte an die warmen Lichter. Wenn ihr die Augen zufallen wollten, grübelte sie angestrengt. Wie kann ein Licht weich sein? Das Rätsel hielt sie wach. Sie hatte es mit der Fingerspitze ganz genau gespürt. Der eichelgroße Schwebestern war weich, so weich wie ihr eigener Bauch. Auch in der Pause dachte sie nach. Sie mümmelte Vollkornbrot, saß müde abseits und beobachtete, wie ihre Klassenkameraden im Flur tobten.

Als der Sportunterricht begann, dachte Marmel nicht mehr nach. Ihre Klasse spielte Völkerball, und sie versuchten sich gegenseitig mit Bällen zu treffen. Marmel hasste Bälle. Sie schossen viel zu schnell durch die Turnhalle. Sie sah sie nie rechtzeitig und sie taten weh. Sie rannte wie eine Rennschnecke, die um ihr Leben kroch. Hinter ihr und vor ihr zischten die Bälle, ein Zischen ertönte plötzlich sehr nahe.

Ich sollte mich ducken, dachte sie und schon spürte sie, wie etwas Hartes an ihrem Kopf abprallte. Der Stoß warf sie um, sie fiel auf den Hosenboden und vor ihren Augen blitzten Sterne auf. Das war normal, wenn ein Ball den Kopf traf. Der Bratapfelduft in Marmels Nase war aber nicht normal. So schnell wie die Sterne aufblitzten, so schnell waren sie wieder verschwunden. Marmel blickte in Flohs Gesicht, sie sah es verwackelt wie ein schlechtes Fernsehbild und klopfte kurz gegen ihren Kopf. Bei dem Fernsehgerät wurde das Bild auch mit ein paar Klopfern besser.

»Alles in Ordnung?«, fragte er schuldbewusst.

»Riechst du auch Bratäpfel?«, schnupperte sie und erntete von ihm einen Vogelzeig.

»Bei dir piept’s wohl. Hätt den Ball nicht so doll werfen sollen. Jetzt ist deine Schüssel ganz gesprungen!«

Marmels Gesicht lief knallrot an. Sie hatte wohl zu laut gedacht. Mehr Erwähnenswertes geschah an diesem Schultag nicht, er endete wie jeder. Die Klingel ertönte, die Schüler sprangen die breite Treppe hinunter und drängten wie die Jungbullen am Gatter zu den Bussen. Die Rückfahrt war für jedermann etwas unangenehm. Die Jacken der Kinder waren nass, auf den Sitzen und im Gang war kaum Platz. Marmel quetschte sich an der Haltestelle Mohnstraße aus dem Gedränge. Sie trottete nach Hause, an vielen Reihenhäusern vorbei. Den kaputten Regenbogenschirm schleifte sie hinter sich her, der Schulranzen zog schwer an ihren Schultern und auf ihrem Kopf wuchs eine Beule. An der offenen Haustür wartete Suse Klebowski mit besorgter Miene. Mareike trug schon ein trockenes Baumwollkleid und saß in der warmen Küche, während Marmel erst das Gartentor öffnete. Sie sah ihre Mutter in der Tür stehen und schlich langsamer. Behutsam trat sie auf, breitbeinig wie ein Cowboy, der sich duellierte, die Hände gespannt an der Seite. Sie überlegte, wie sie den fürsorglichen Händen ihrer Mutter entkommen konnte. Sie wollte den Regenschirm, den Schulranzen selbst wegstellen und ihre Jacke auch selbst ausziehen. Am Kirschstrauch klimperte leise das bunte Glas des Windspiels. Plötzlich rannte sie los, so schnell sie konnte. Das Wasser spritzte nicht sehr hoch aus den Pfützen. Marmel drückte Suse den Regenschirm und den Ranzen in die Hand. So legte sie den Schirm und die Schultasche selbst weg und setzte beide Hände ihrer Mutter außer Gefecht. Überraschend erschien nun ihr Vater im Flur. Direkt vor Marmel stand August Klebowski, ein dicker, gemütlicher und träger Mann. Wenn er einmal stand, bewegte er sich so schnell nicht mehr vom Fleck. Er lächelte freundlich, streckte die Arme nach Marmels Regenjacke aus.

»Komm, ich helfe dir aus der Jacke.«

Marmel tauchte unter den Armen hindurch, sie schlug einen Purzelbaum und plumpste auf alle Viere vor die Treppe. Gerettet, aber was hörte sie da? Ludwig trampelte die Treppe herunter, eine Sporttasche geschultert. Er nahm schwungvoll die letzte Stufe und stolperte über Marmel. Ludwig flog, die Tasche flog, und Marmel war platt. Jetzt wusste Marmel, dass sie keine gute Stuntfrau war. Dafür war sie viel zu langsam und zu müde. Sie grunzte dumpf und lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf den Fliesen. Ihre Rippen schmerzten, aber sie hätte gerne an Ort und Stelle ein Nickerchen gehalten. Suse, August und Ludwig schrien aufgeregt durcheinander und Mareike lachte dazwischen. Sie machten ein kleines Schläfchen unmöglich. Marmel sammelte ihre ganze Kraft.

»Entschuldigung, das tut mir furchtbar leid, Ludwig. Ich wollte dir kein Bein stellen!«, rief sie.

Aber der Ruf war kein Ruf. Marmels Stimme wollte nicht laut werden, so sehr sie sich anstrengte. Die Entschuldigung gelangte nicht an Ludwigs Ohren und er fluchte noch, als er zur Haustür hinaus stapfte. Marmels Bruder aß nicht mit ihnen zu Mittag. Er hatte sich mit belegten Broten begnügt, weil das Fußballtraining früh anfing. Die Halle war nur zu dieser Zeit frei. Er verpasste das schönste Essen des Tages.

Auf dem Tisch dampften Schüsseln, gefüllt mit Spaghetti, Tomatensauce, vegetarisch oder mit Fleischbällchen. Weil das Gericht nicht gesund genug war, stand dazwischen eine riesige Schüssel bunt gemischter Salat. Der Nachtisch sah aus, als ob er sehr süß schmecken würde. Jedenfalls wäre es eine schöne Abwechslung. Meistens wirkte der Nachtisch lecker und war unappetitlich gesund. Suse füllte allen die Teller reichlich.

»Guten Appetit, greift ordentlich zu. Denn Essen hält Leib und Seele zusammen.« Sie räusperte sich und tadelte Marmel vorsichtig. »Spätzchen, wäre es nicht schön, wenn du mit harmonischen Schwingungen das Haus betrittst?«

Marmel stocherte verschnupft in den Spaghetti auf ihrem Teller. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil Ludwig über sie gestolpert war. Aber harmonische Schwingungen verbreiten, das war übertrieben. Sie senkte grimmig die Augenbrauen und schwieg.

»Du solltest dich nicht zu sehr anstrengen. Das tut dir nicht gut«, fuhr Suse fort. August nickte. Er kaute auf einer großen Portion Fleischbällchen und brummte: »Die Mama hat recht.«

Mareikes Mund war ein schmaler Strich. Marmel war doch doof. Zu doof, um durch eine Tür zu gehen. Ihre Eltern sollten lieber sie, Mareike, beachten. Gleich nach dem Mittagessen zeigte sie die Klassenarbeit vor, die sie heute zurückbekommen hatten.

»Seht her, ich habe eine Eins in Physik!«, triumphierte Mareike. »Und welche Note hast du, Marmel?«

Sie grinste wie ein gemeines Honigkuchenpferd, denn die Note ihrer Zwillingsschwester war schlechter.

Die Eltern lobten Mareike kaum. Stattdessen trösteten sie Marmel, Zensuren seien nicht alles im Leben. Nicht einmal eine Eins beeindruckte Suse und August. Mareike funkelte Marmel böse an:

»Ich mache meine Hausaufgaben jetzt, und ich bin schneller fertig. Dann kann ich zum Reitunterricht gehen und du nicht. Da guckst du dumm!«

So geschah es auch. Mareike war längst im Reitstall, während Marmel an einem Aufsatz schrieb. Marmel malte große unförmige Buchstaben. Ihre Hand zitterte. Sie musste kräftig aufdrücken, damit der Stift nicht wegrutschte, so dass sie die Buchstaben in das nächste Blatt stanzte.

Sie krakelte „A“, „a“, „l“, legte den Kopf auf den Tisch, gähnte und war ungemein müde. Vielleicht war es das falsche Wort. Die Müdigkeit war mehr gemein als ungemein. Sie war viel schlimmer als sonst, und daran war die neue Tablette schuld. Marmel blinzelte hartnäckig, sie beendete die Hausaufgaben und durfte endlich ins Bett wanken. Bis in den späten Nachmittag hinein schlief sie. Als Marmel sich aus dem Bett rollte, war vom Tag nicht mehr viel übrig. Sie schaute aus dem Dachfenster ihres Kinderzimmers. Auf der Scheibe klebte vereinzelt gelbes Laub, vom Himmel nieselten feine Regentropfen, der Garten lag im Dämmerlicht. Weit hinten ruhte ihr Baumhaus zwischen den fast kahlen Ästen der alten Buche. Die windschiefe Hütte war Marmels Lieblingsort. Von dort beobachtete sie mit einem Fernrohr Tiere und Sterne. Vielleicht entdeckte sie einmal etwas ganz Neues, was noch nie jemand zuvor gesehen hatte. Hier fand man nicht so schnell neue Tiere oder fremde Sterne. In menschenleeren Gegenden würde sie leichter etwas Neues finden, tief im Dschungel oder hoch auf dem Berg. Aber es gab eine Ausnahme. An diesem Morgen hatte sie mitten auf der Straße wohlriechende Sterne gesehen, wenn das keine neue Entdeckung war. Marmel zog die kleine Nase kraus, sie würde die Sterne jetzt aufspüren. Sie brauchte einen Beweis für ihre Entdeckung. Auf dem schmalen Schreibtisch kramte sie unter Schulbüchern, Heften und Stiften eine große Lupe hervor. Sie untersuchte jeden Winkel ihres Zimmers mit der Lupe, das Kramregal, in dem allerhand gefundener Krempel lag, wie Flaschendeckel, Knöpfe, Murmeln, Federn, Kiesel, alte Wollfäden, Kristalle, Tierzähne, Muscheln, Bücher, Hefte, Radio und vieles mehr. Sie nahm den alten Kleiderschrank unter die Lupe, auf dessen Türen ein buntes Mosaik klebte. Sie öffnete die Türen, ein Knäul Wäsche fiel aus einem großen Haufen ineinander verknoteter Sachen und raubte ihr die Sicht. Marmel robbte sogar unter das Bett, sie entdeckte dort nur stille Wollmäuse. Alle Räume der Reihenhauswohnung beäugte sie mit der Lupe. In Augusts Hobbywerkstatt reckte sie sich und linste auf die Werkbank. Sie sah Sterne, aber nicht die, die sie suchte. Diese bestanden aus Weidenzweigen, Wolle, Federn und Perlen.

»Wird das ein Segel für ein Modellschiff?«, fragte sie ihren Vater.

August pfriemelte an einem Wollknoten und brummte erheitert:

»Nein, das wäre schon ein seltsames Schiffsegel. Ich baue Traumfänger für die Mama.«

Marmel war entsetzt.

»Traumfänger? Warum will Mama Träume fangen?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht möchte Mama deine schlechten Träume in den Müll bringen«, lachte August gemütlich.

Marmel runzelte die Stirn. Ihren Eltern fielen immer wieder neue Verrücktheiten ein. Weil die Tabletten nicht gut wirkten, probierten sie viele andere Behandlungen an Marmel aus. Sie waren beim Kräuterarzt, beim chinesischen Medizinmann, beim Vodoopriester, beim buddhistischen Mönch und bei der Feng-Shui-Beraterin gewesen. Es fehlte nur noch der irre Schamane. Ihr Vater wickelte schon fleißig am nächsten Traumfänger. Marmel pirschte heimlich zur Tür hinaus, mit so komischen Traumfängern wollte sie nichts zu tun haben. Nur die weichen Sterne wollte sie finden. Durch die Lupe entdeckte sie kein einziges der Lichtlein. Ob sie wieder draußen auf der Straße waren? Nein, bei dem schlechten Wetter war doch niemand draußen. Vielleicht waren sie jetzt zu winzig für die Lupe. Marmel trottete in ihr Zimmer, sie warf die Lupe in einen Wäschehaufen und packte das Mikroskop aus. Sie schwenkte die Petrischale und sammelte eine gute Portion Luft ein. Neugierig legte sie die Schale unter das Mikroskop. Sie schaute durch die Linsen, drehte an Rädchen und stellte die Gläser scharf. Marmel betrachtete die Luft und sah nur Luft. Hinter ihr kicherte etwas leise, wie ein vorwitziges Glöckchen. War das eines der Sternchen? Marmel drehte sich lahm um und sah ihre Zwillingsschwester mitten im Zimmer stehen. Mareike grinste.

»Hast du nicht etwas vergessen? Da liegt gar nichts in der Petrischale. Oder untersuchst du heute Staubkörner?«

Marmel blinzelte verdutzt, seit wann roch ihre Schwester nach Bratapfel?

»Ne, keine Staubkörner. Gab’s im Reitstall heute Bratäpfel?«

Mareike stemmte die Fäuste in die Hüften.

»Ich soll dir von Mama sagen: Gleich gibt’s Abendessen! Du bist so doof, Marmel. Im Pferdestall gibt es natürlich nur Pferdeäpfel.«

Sie reckte die Nase hoch und stolzierte davon, der lange Zopf wippte schwungvoll auf ihrem Rücken. Zum Abendbrot fand sich die gesamte Familie Klebowksi in der Küche ein. Ludwig verschlang die Reste vom Mittagessen in Rekordzeit. Mareike aß vornehm eine Gemüsepastete, mit Gabel und Messer. Suse und August achteten darauf, dass Marmel ihr Wurstbrot aufaß und dass sie vorher nicht einschlief. Wie jeden Tag legte Suse Klebowksi die Karten für die Zwillinge, bevor sie zu Bett gingen. Aber nicht für Ludwig, der meinte, er wäre zu alt für den Kinderkram. Marmel und Mareike hockten nebeneinander auf dem Wohnzimmersofa. Sie versanken tief in dem weichen Möbelstück, das mit einer gemusterten Patchworkdecke bedeckt war. In die Decke war wohl jede Farbe, die es auf der Welt gab, eingewebt. Suse legte die Karten mit der grünen Rückseite auf den runden Tisch. Jeweils eine Karte für jeden Zwilling. Sie sollte das Motto für den nächsten Tag voraussagen. Mareike deckte als Erste eine Karte auf. Die Karte zeigte einen König auf dem Thron.

»Gerechtigkeit. Sie zeigt uns, dass wir die Dinge einmal ohne Selbstmitleid betrachten sollten. Wenn wir die Dinge so betrachten, wie sie sind, fällt es uns leichter, einen Platz zu finden«, erklärte Suse.

Marmel hob ihre Tarotkarte, auf der Karte war ein brennender Turm abgebildet.

»Der Turm, er sagt eine gewaltige Veränderung voraus. Wie aufregend!«, flötete Suse.

Sie klatschte in die Hände und schickte die Zwillinge ins Bett, mit den besten Energien des Kosmos.

Marmel war einmal einverstanden mit der Tarotkarte. Etwas hatte sich wirklich gewaltig verändert. Die neue Tablette machte sie langsamer als eine Schnecke. Sie fühlte sich beinahe so, als ob sie rückwärts ging. Marmel brauchte sehr, sehr, sehr viel Zeit beim Zähneputzen. Auch in den Schlafanzug schlüpfte sie sehr, sehr, sehr träge. Sie verhedderte sich im Hosenbein, hüpfte blöde im Kreis und fiel fast um. Doch die widerspenstige Hose konnte sich nicht ewig wehren. Marmel konnte die Schlafanzughose schließlich hochziehen. Hui, plötzlich drehte sich alles, sie taumelte in ihr Kinderzimmer und sackte erschöpft auf das weiche Bett. Der Schwindel verschwand langsam, leise gähnte sie und kuschelte sich unter die warme Bettdecke. Über ihr drehte sich ein Traumfänger, die langen Federn wehten lahm bei jeder Bewegung, wie der dünne Bart eines Totenkopfgesichts. Allmählich verschwamm er vor Marmels Augen, sie fühlte sich seltsam rückwärts und das immer stärker.

Weit entfernt grummelte das Universum, es kratzte sich am Pelz. Wie unverschämt, auf einem winzigen, blauen Planeten gab es ein Mädchen, das rückwärts lebte. So etwas ging wirklich nicht, auf der Erde lebten die Menschen vorwärts und nicht rückwärts. Dieses Mädchen war viel zu langsam für ihre Welt. Das Universum kratzte sich nochmal am Pelz, diesmal nachdenklich, und es kam zu dem Schluss, dass das unerhörte Mädchen in eine andere, langsamere Galaxie gehörte. Auf dem nicht erwähnenswerten Erdenplaneten ertönte ein Geräusch wie Poing.

Unter Marmels Bettdecke strahlte ein blauer Blitz, die Decke hüpfte hoch und sank auf eine leere Matratze. Marmel war von ihrem Heimatplaneten in der Milchstraße verschwunden.

Der Planet Jagomus

Am pelzigen Rand des Universums schwebte in tiefer Dunkelheit eine Galaxie; „Wirrsing“ war ihr Name. Wirrsing sah aus wie ein glitzernder Konfettihaufen, der durch blauen Dunst hüpfte und den Nebel gehörig aufwirbelte. Wagte man sich näher heran, erkannte man Sterne und Planeten verschiedenster Farben und Formen. Manche dampften dreieckig aus allen Löchern, andere zischten wie ein Feuerrad und wiederum andere krümelten die unteren Planeten voll. Keiner der Himmelskörper beachtete die festgeschriebenen Umlaufbahnen. Sie sausten kreuz und quer in den Grenzen der Galaxie herum, sie flogen Rennen, sie wanderten nebeneinander her und umrundeten sich gegenseitig. Planeten überholten Sonnen, und Sterne stahlen Planeten die Vorfahrt. Wenn es einem der Flieger an einem Ort nicht gefiel, schwebte er frohgemut weiter. Natürlich wäre es klüger, würden sie Naturgesetze einhalten, wie die magnetische Anziehungskraft und die Umlaufbahn. Aber in der Galaxie Wirrsing verstand keiner diese Gesetze. Wenn bereits die Planeten verrückt waren, welche Lebewesen tummelten sich dann auf ihnen? Nur wenige waren mutig oder dumm genug und reisten nach Wirrsing, geschweige denn zu einem der Planeten.

So wunderten sich die Gestirne ein bisschen, als ein blauer Lichtstrahl quer durch ihre Galaxie schoss und einen der Planeten ansteuerte. Der Planet war wie ein Ei geformt. Von weitem wirkte es so, als sei er mit einer grünen Moosschicht bedeckt, durchbrochen von weißen, gelben und blauen Kuhflecken. Ringstreifen aus hellblauem Gas umrundeten das Ei. In dem Gas trieben rot gemusterte Geröllsteine. Manchmal fiel ein Stein zum Planeten hinab, oder ein anderer sprang in einen Sternenhaufen. Doch meistens stießen die Steine gegeneinander, sie schlugen Funken, prallten voneinander ab und trafen wieder auf andere Steine. In dem hellblauen Gas stoben die Funken wie beim schönsten Feuerwerk. Auch auf der Oberfläche des Planeten gab es große Gesteinsbrocken. Aus der Erde ragten hohe Berge und lange Gebirgsketten.

Einer der Berge hieß Drachenfels, und weit oben öffnete sich dessen Gestein zu einem haushohen Höhleneingang. Vor dem Eingang hing ein Felsvorsprung wie ein Halbmond hinter düsteren Wolken. An diesem unwirtlichen Ort schnaufte ein alter Ritter. Sein dicker Bauch wabbelte bei jedem Atemzug unter der goldenen Rüstung hervor. Das volle, schwarze Haupthaar war ihm vor Jahren ausgegangen. Aber er besaß noch zwei Locken Stirnhaar, neben jedem Ohr hing eine lange Locke, die er hingebungsvoll pflegte. Wie auch den kurzen Spitzbart. Manchmal überlegte er, ob er die Locken über die Stirn legen sollte, diese war faltig wie ein Warzenschwein. Das Schlachtross war schwer zu beschreiben. Der Ritter saß auf einem Sattel, aber das Pferd fehlte. Der Sattel schwebte in Höhe eines Pferderückens und gurrte.

»Wo bleibt Er, Zweistiefel? Mein treuer Knappe!«, grunzte der Ritter und blickte hinter sich.

Der treue Knappe ächzte. Er wuchtete einen goldenen Ritterschild über den Rand des Felsvorsprungs. Der Schild schepperte vor des Ritters Füße, die in den Steigbügeln des schwebenden Sattels steckten. Zweistiefel folgte dem Schild. Allerdings schepperte er nicht, er murrte:

»Juppi, endlich oben. Ich bin da, alter Mann.«

Missmutig schaute er noch einmal auf die raue Kante. Wenige Zentimeter vor ihm tat sich eine tiefe Schlucht auf, ein in Stein gehauener Pfad schlängelte sich bis zum Felsvorsprung hoch. Von hier aus sah der Pfad viel steiler aus als er war. Unten am Fuße des Berges wanderten kleine, schwarze Punkte. Das mussten die Bergziegen sein. Zweistiefel fielen vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf, er sprang drei große Schritte vom Felsrand zurück. Der Ritter sah Zweistiefel an und hob eine Augenbraue. Zweistiefel kratzte sich verlegen am Hosenboden und suchte nach einer guten Ausrede. Er wollte nicht wie ein Feigling aussehen.

»Ich trete zurück damit… Damit du nicht husten musst. Meine Kleider sind sehr staubig.«

Zum Beweis klopfte er den Staub aus seiner Kleidung. Dass er sich abstaubte, machte ihn wirklich nicht schöner. Den Stoff seiner Kleidungsstücke hielten zahlreiche Nähte, Knöpfe und Drähte zusammen. Ob er eine Hose, eine Weste, einen Rock oder einen Umhang trug, konnte man in dem Durcheinander aus Flicken und Nähten nicht erkennen. Auf der Nase des Knappen sprossen Haare, aus seinem Mund ragten spitze Schneidezähne, die Haare waren verfilzt und in ihnen tobte das Leben. Nein, Zweistiefel war keine Schönheit. Doch der Ritter störte sich nicht daran, er winkte seinem Knappen.

»Auf, auf, reiche Er mir den Schild!«

Zweistiefel ließ die Schultern hängen. Wieder durfte er nur die Waffen anreichen. Wie gerne wäre er nach dem entbehrungsreichen Weg einmal, ein einziges Mal, gegen das Ungeheuer angetreten. Seine Mundwinkel rutschten nach unten, und widerstrebend reichte er dem alten Ritter den Schild. Aber der Ritter gab den Schild zurück.

»Nein, nicht so. Reiche Er mir erneut den Schild und zeige Er mehr Elan! Uns erwartet ein glorreicher Kampf gegen ein bösartiges Ungeheuer! Es hat lange genug in Dungeling gewütet. Es ist unsere heilige Pflicht, die Bauern und Bürger von dem Übel zu befreien. Sieben Dorfhütten und zwei Scheunen pustete es weg, neun Ackerfelder vernichtete es. Nun soll das Biest für seine Taten büßen!«

Zweistiefel suchte tief in seinem Innersten nach einem Krümel Elan, aber er fand nichts. Sehr oft gab er den Schild in des Ritters behandschuhte Hände und der gab den Schild sehr oft zurück. Jedes Mal versuchte der Ritter etwas Begeisterung in Zweistiefel zu wecken. Der Ritter fabulierte unermüdlich von ihren zukünftigen Taten. Mit all den Heldenmärchen hätte er ein gigantisches Buch füllen können.

Zweistiefels Schultern sanken immer weiter nach unten. Er wusste, dass er keine einzige Heldentat vollbringen würde. Wenn der Ritter nur die Rüstung an ihn abtreten würde, dann könnte er endlich seinen Heldenmut beweisen. Zweistiefel hoffte seit fünfzehn Jahren auf die Rüstung, aber der alte Ritter gab sie nicht her.

»Wenn wir weiterhin hier stehen, wird das Ungeheuer wohl an Altersschwäche sterben«, seufzte Zweistiefel.

»Er hat nicht Unrecht! Es wurde genug geschwätzt. Jetzt zählen Taten. Auf ins Gefecht!«, rief der Ritter.

Er zog das Schwert und schlug die Hacken in einen unsichtbaren Widerstand. Unter dem Sattel stampften Schritte und Geröll zerbrach unter einer schweren Last. Der Sattel flog scheinbar zum Höhleneingang. Auf dem Sattel hopste der kugelige Ritter und stieß das Schwert in die Luft. Die goldene Klinge blitzte in der aufgehenden Morgensonne.

»Komme Er heraus, garstiges Ungetüm. Stelle Er sich seinem Schicksal!«

Die vier Holzzähne im Mund des Ritters vibrierten in den Zahnlücken.

In der Höhle schniefte etwas, es knurrte heiser. Es kratzte und schlurfte langsam auf dem Felsboden. Die Geräusche wurden lauter, ein riesiges, grünes Wesen trat aus der Dunkelheit. Ein Insekt, das einer Gottesanbeterin glich. Aber es gab vier Unterschiede. Dieses Insekt war mehrere Meter hoch, in der Mitte seines Kopfes saßen zwei schmale Nasenlöcher, es bewohnte eine Grotte im Gebirge, und es aß Bergziegen.

Der Ritter legte den Kopf in den Nacken, er sah dem Insekt fest in die ovalen Facettenaugen. Oder vielleicht sollte er in die schwarzen Kulleraugen auf der Stirn blicken. Im Grunde war es gleich, wohin er schaute. Alle Augen boten einen fürchterlichen Anblick, sie waren gerötet und tränten. Aus den winzigen Nasenschlitzen tropfte eine grüne Flüssigkeit.

»Aha, ein Mantis nasus!«

Der Ritter war erstaunt. Diese Riesenartigen waren dafür bekannt, dass sie friedlich und zurückgezogen lebten. Anscheinend traf das nicht auf kranke Exemplare zu. Er deutete mit der Schwertspitze auf das triefende Mantis nasus.

»Bereite Er sich auf sein Ableben vor. Ich, Sir Armin vom Schwalbenacker, werde Ihm das Handwerk legen!«

Das Mantis schniefte. Ihm wäre es lieber, wenn man ihn Fangschrecke nannte. Seit er erkältet war, wurde er stetig verärgerter. Mit der verstopften Nase roch er die Bergziegen nicht, und die Ziegen waren sein Lieblingsessen. Als sein Hunger zu groß wurde, lief er in ein Dorf und aß ein paar Hausziegen. Naja, er nieste noch ein paar Hütten um, aber es waren nicht viele. Seitdem störten ihn die Winzlinge im Blechkostüm. Er hatte gerne Besuch, aber jetzt fühlte er sich schlechter als schlecht. Er war grantig. Die Winzlinge piekten ihn mit Zahnstochern aus Metall und kratzten ihn. Womit hatte er das verdient? Fangschrecke streckte den Arm aus und deutete auf die Nachbarhöhle im gegenüberliegenden Berg. Dort wohnte ein Drache, der die Zahnstocher mochte. -Im Gegensatz zu Fangschrecke.

Der Ritter verstand die Geste falsch, er raste mit gesenktem Schwert auf Fangschrecke zu und rief:

»Er will mich mit dem Säbelarm zerteilen? Ich werde Ihn lehren, einen Ritter zu schlagen, schändliches Unwesen!«

Fangschrecke tapste nervös auf der Stelle. In welche Richtung sollte er flüchten? Und unter welchem seiner Flügel lag das Schnupfentuch? Seine Nase kribbelte unerträglich, ein großer Nieser kündigte sich an, und Fangschrecke bog den langen Hals nach hinten.

Armin vom Schwalbenacker glaubte an einen leichten Sieg, er stählte seine Muskeln für den Todesstoß.

Plötzlich knallte eine blau strahlende Lichtkugel in die Wolkenfetzen am Himmel. Die Kugel zog einen brennenden Schweif hinter sich her, sie zischte über Armins Kopf hinweg und schlug vor den Fußklauen des Mantis ein. Das blaue Licht sprengte einen kleinen Krater in den Boden, Steinsplitter flogen umher. Die Kugel britzelte im Loch, und helle Dampfwolken stiegen von ihr auf. Langsam zog das Licht sich zurück und schrumpfte bis auf einen winzigen Punkt, der geräuschvoll verpuffte. Ein kleines Mädchen kam zum Vorschein. Dieses Mädchen war Marmel, die verschlafen ihre Augen öffnete. Das Erste, was sie sah, war eine grüne Schleimfontäne. Sie schrie und rollte sich zusammen, so eng sie konnte. Die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf eingezogen, kauerte sie in der dampfenden Kuhle. Was war das für ein verrückter Traum? Vorsichtig lugte sie unter ihren Armen hervor. Sie begriff, dass sie auf einem Berg war, und seltsame Gestalten umgaben sie. Der kleine Krater schien ihr der sicherste Ort zu sein. Sie verharrte in ihm und beobachtete stocksteif die komischen Figuren. Vor ihr stand ein meterhohes Krabbeltier, das in alle Richtungen nieste. Hinter ihr fiel ein dicker Ritter aus dem Sattel. Marmels Augen wurden immer größer, als sie sah, dass der Sattel nicht auf einem Pferd lag. Er hing in der Luft.

Und nicht nur Marmel war baff. Fangschrecke nieste sehr erschrocken. Er konnte gar nicht mehr damit aufhören. Aus seiner Nase spritzten grüne Tropfen, so groß wie eine Matschpfütze. Der dicke Ritter plumpste vom Sattel und rollte ein gutes Stück. Armin vom Schwalbenacker entging den riesigen Tropfen nur knapp. Während Zweistiefel gelangweilt einen sonderbar geformten Stein stupste und getroffen wurde. Die Fontäne schoss ihn mit voller Wucht an einen Felsbrocken und umspülte ihn von allen Seiten. Zweistiefel schüttelte sich und wandt sich wie ein Aal am Haken. Er konnte sich nicht befreien, klebte am Felsen fest und blubberte die schlimmsten Flüche, die ihm einfielen.

Armin hörte den Knappen in höchster Not, noch bevor er das Malheur sah. Der Ritter wuchtete seinen Bauch hoch und fuchtelte mit dem Schwert herum.

»Harre Er unbesorgt aus, Knappe. Ich werde Ihn vor den Klauen der Bestie bewahren!«

Er rutschte durch grüne Tümpel und Pfützen, ruderte heftig mit den Armen und fiel immer wieder hin. Das Mantis nieste und nieste, überall regnete grünes Zeug herunter. Der Felsvorsprung verwandelte sich in eine große, glitschige Pfütze. Kein Stückchen kam der Ritter vom Fleck, er saß auf seinem geflickten Waffenrock, der unter dem speckigen Gürtel hervor lugte, und hielt den Schild über seinen Kopf. Der dickflüssige Schleim tropfte bedächtig über den goldenen Rand des Schildes. Wieder hörte er den Mantis nasus niesen und grünes Zeug flog im hohen Bogen durch die Luft. Der Ritter runzelte die faltige Stirn. Unter diesen Bedingungen konnte er weder Zweistiefel befreien, noch das Monster erlegen. Von Anfang an hatte ihm der Kampf nicht gefallen. Der Sieg über ein krankes Mantis nasus wäre ein unrühmlicher Triumph. Dies leidende Wesen bot keine Herausforderung für einen tapferen Ritter. Doch er musste sich eingestehen, dass dessen Erkältung ein würdiger Gegner war. Vor dem heftigen Niesen musste Armin vom Schwalbenacker kapitulieren. Er hockte geduckt unter dem Schild, starrte Fangschrecke durchdringend an und dachte nach. Der Ritter bemerkte nicht, wie der treue Sattel sich näherte. Der Sattel stupste den Ritter vorsichtig an, Armin drehte sich nicht um und starrte weiter. Der Sattel knuffte ihn wieder und schließlich rammte er ihm das Leder in den Rücken. Armin vom Schwalbenacker fiel beinahe mit der Knollennase voran in den Matsch.

»Au, bei allen Teufeln. Welcher Gimp hat Ihn gebissen, Sattel? Sieht Er nicht, dass sein Reitherr einen Plan ersinnt?«

Der Sattel pfiff lang gedehnt. Er zeigte Armin die Seite, an der die Satteltasche hing.

»Jetzt ist nicht die Zeit für eine Rast, Sattel«, sagte der Ritter und schob den Sattel weg, der ein wenig ungehalten schnaufte.

Am Verschluss der Satteltasche knabberte ein unsichtbares Maul und die Tasche klappte auf. In ihr befand sich die Reiseapotheke des Ritters, Salben, Kräutertinkturen und Tränke gegen Haarausfall, Rückenschmerzen, faule Zähne, quer sitzende Fürze, rosa Flecken, ein Rheumakissen, Verbandszeug und vieles mehr. In der Tasche raschelten Kräuter und Fläschchen klimperten. Ein Pott Eukalyptus-Salbe stieg empor und trudelte vor Armin in der Luft.

»Aha, sehr gut, Sattel. Dies Mittel könnte hilfreich sein.«

Armin vom Schwalbenacker ergriff den Pott, den er ruppig öffnete und auf der flachen Hand unter dem Schild hervorstreckte. Die ätherischen Öle der Salbe verströmten einen wohltuenden Duft. Das Aroma drang selbst durch die verschnupfte Nase des Mantis. Fangschrecke machte einen langen Hals, seine Kauwerkzeuge klickerten neugierig und mit einem Happs verschlang er den Pott. Sein Magen grummelte und gluckerte, Fangschrecke legte den stacheligen Arm auf den Bauch und rülpste. Der Rülpser hallte ohrenbetäubend laut an den Felswänden wieder und löste weit entfernt eine Lawine aus. Eine Dampfwolke schoss dem Mantis nasus aus Mund und Nasenlöcher. Die Wolke roch angenehm nach Eukalyptus, sie reinigte Fangschreckes Nase und senkte sich auf die grüne Pfütze. Verdutzt zog Fangschrecke Luft durch die Nase, sie war schnupfenfrei. Er tänzelte glücklich, einmal im Kreis, hin und her und wieder zurück. Fangschrecke fühlte sich gesund wie nie zuvor. Übermütig sprang er in die Luft, breitete die Flügel aus und entschwand hinter der Gebirgskette der Drachenfelsen. Der Wind der Flügelschläge fegte den Eukalyptusnebel vom Felsvorsprung und mit dem Nebel verschwand auch der grüne Schleim. Nur eine seichte Wasserpfütze blieb zurück.

Als die Luft klar war, sah Armin vom Schwalbenacker kein Ungeheuer mehr. Er machte ein Gesicht wie ein altes Brot. Das Mantis nasus hatte sich im Nebel davongestohlen, wie unhöflich.

»Sattel, das Mantis ist auf und davon. Schlimme Zeiten sind das, alter Junge. Kaum jemand hält noch die ungeschriebenen Gesetze ein. Früher kämpften Ritter und Ungeheuer bis zum Tode. Heute macht jeder, was er will. Wie soll ein ehrlicher Ritter so zu Ruhm und Ehre gelangen?«

Armin tätschelte betrübt den Sattel und betrachtete den Platz vor der Höhle. Hier hätte der Ort einer legendären Schlacht sein können. Vielleicht wäre sie nicht legendär geworden, aber zumindest wäre es eine Schlacht gewesen. Eine Mantislänge vom Höhleneingang entfernt, entdeckten seine altersschwachen Augen einen mickrigen Krater.

»Potzblitz, wie entstand das Loch? Mein treuer Knappe, komme Er her. Findet Er eine Erklärung für dieses Rätsel?«

Der Nebel hatte auch Zweistiefel von der klebrigen Flüssigkeit befreit. Der Knappe wrang sein Fetzengewandt aus, schlurfte tropfnass neben den Ritter und pulte sich grünes Zeug aus dem Ohr.

»Hast du das grelle Licht nicht gesehen, alter Mann? Es flog direkt über deinen Kopf.«

Armin kratzte sich die Glatze.

»Ich kann mich nicht entsinnen. Doch mir drängt sich eine wesentlich wichtigere Frage auf. Wer ist dies Mädchen in dem Krater? Wir sollten uns nach seinem Namen erkundigen.«

Zweistiefel pulte stoisch im anderen Ohr, der Ritter zog ungeduldig eine Augenbraue hoch und stieß den Knappen an.

»Nun bewege Er sich, fauler Kerl. Frage Er das Mädchen wie es heißt!«

»Au, beruhige dich alter Mann. Ich wollte in diesem Augenblick die Frage stellen.« Zweistiefel rieb sich den Arm, er beugte sich vor und seufzte: »Na Kleine, wie heißt du denn?«

Marmel streckte vorsichtig den Kopf unter ihren Armen hervor, sie umklammerte ihre Knie und starrte die zwei Figuren an. Sie brachte kein Wort hervor. Es waren so merkwürdige Dinge passiert. Sie mochte exotische Dinge, aber diese waren überwältigend exotisch. Eine meterhohe, niesende Gottesanbeterin, die ein Mantis sein sollte. Ein Ritter, dessen Bauch aus der Rüstung quoll und der auf einem Sattel ohne Pferd ritt. Überall grüne Suppe und ein dreckiger Junge, der an einem Felsblock geklebt hatte. Marmel schwirrte der Kopf, sie war so durcheinander, dass sie zitterte. In ihrem Kopf herrschte Großalarm, die verschiedenen Teile ihres Gehirns versandten im Sekundentakt scheinbar lebenswichtige Meldungen.

»Habt ihr das gesehen? Habt ihr das gesehen? Ein riesiges Insekt. Bestimmt acht Meter hoch, so groß wie einRiesenrad! Und schaut mal, da hinten fliegt ein Sattel und hier steht ein Ritter. Was sind das für dicke Wulste auf seiner Stirn? Ich glaube, das sind die größten Falten, die ich je gesehen habe. Und erst der hässliche Clown neben ihm, der hat Haare auf der Nase«, rief der Sehsinn und der Riechsinn antwortete: »Das ist nichts gegen den Geruch, der Clown muss sich seit Jahren nicht gewaschen haben.«

»Du meine Güte, das Tier war wirklich sehr hoch. Wie beunruhigend. Was für ein Glück, dass es jetzt weg ist. Die zwei Personen stehen direkt vor Marmel? Nein, wie unangenehm. Hoffentlich sind sie nicht ansteckend. Marmel sollte hier weg, dieser Ort ist gefährlich«, jammerte die Gefühlsebene.

Womit der Verstand jedoch nicht einverstanden war, er widersprach heftig und erklärte:

»Es besteht keine direkte Gefahr. Marmel sollte besser herausfinden, wo sie ist und wer die Stinker sind. Sie sollte dem Clown ihren Namen sagen. Und ich vermute, dass der Clown gar kein Clown ist. Er ist wohl ein Knappe.«

Die Schaltzentrale, die allem zugehört hatte, war nun vollends verwirrt und beschwerte sich:

»Wie, was? Insekt, stinkender Clown, Riesenrad? Hui, das ist zu viel, was soll Marmel jetzt machen? Himmel, Sack und Zwirn, ruhe alle miteinander! Bei dem Lärm kann ich nicht nachdenken.«

»Was ist nun, großer Organisator? Ich warte. Welches Glied soll ich bewegen? Marmels Muskeln werden bald steif«, mischte sich die Motorik ein.

»Entschuldigung, und was ist mit mir? Antwortet mir mal jemand? Wieder redet keiner mit mir, ihr seid gemein! Dann überlege ich mir eben selber, was ich tun sollte. Marmel hat steife Muskeln? Kein Problem, ich bewege sie mal ein bisschen«, sagte Joss leichthin und setzte sein Vorhaben sogleich in die Tat um.

Urplötzlich verlor Marmel das Bewusstsein. Sie fiel um, zuckte und zitterte am ganzen Körper, ihre Hände verkrampften sich und schlossen sich wie Klauen. Sie riss ihre Augen weit auf, grunzte und machte Geräusche, die keinem menschlichen und keinem tierischen Laut ähnelten.

Zweistiefel wich entsetzt zurück. Das Mädchen verhielt sich entgegen allem, was er bisher gesehen hatte. Angst erfasste ihn, zutiefst schockiert beobachtete er das Schauspiel. Er wollte sich abwenden und konnte sich dennoch nicht von dem furchtbaren Anblick lösen. Erstarrt sah er auf das Mädchen.

Armins Gesicht war wie versteinert, der Ritter bemühte sich um Haltung. Er hatte allerhand grässlichen Wesen gegenüber gestanden, aber das ungewohnte Verhalten des Mädchens erschütterte ihn zutiefst. Von einem Menschen erwartete er Normalität, die gleichen Bewegungen, die er selber machte.

Marmels Zuckungen ebbten ab, die verkrampften Glieder entspannten sich, sie verstummte und kam langsam zur Besinnung. Verschwommen sah sie die Gesichter des Ritters und des Knappen. Zwei Fragen drängten sich ihr zäh auf. Warum wurde sie von den beiden entsetzt angestarrt? Und warum lag sie auf dem Rücken?

Marmel ahnte die Antwort auf ihre Fragen, doch sie schaffte es nicht, die Antwort ganz zu begreifen. Eine schwere Müdigkeit lastete auf ihr. Ehe sie die Antwort auf ihre Fragen fand, schlief sie ein. Marmel war sehr erschöpft und schlief tief. Ihre Miene war friedlich und entspannt, wie die jeder schlafenden Zehnjährigen.

Der Ritter schnaufte hörbar, er zupfte nervös an seinem schwarzen Spitzbart, um seine Nerven zu beruhigen.

»Das Mädchen schläft. Er muss die Frage nach dem Namen auf später verschieben.«

»Oh nein. Bitte, Sir Armin. Besteh nicht darauf, dass ich mit dem Mädchen rede. Es ist sicher eine Hexe. Wie es gezappelt hat und auf ihrer Nase sind hellbraune Flecken. Der Teufel hat sie angeniest.« Zweistiefel kaute auf seinen Fingernägeln.

Armin vom Schwalbenacker warf dem Knappen einen mahnenden Seitenblick zu. Er kannte seinen Knappen gut. Zweistiefel knabberte an seinen Fingernägeln, wenn er verängstigt war. Wenn er große Angst hatte, redete er Armin vom Schwalbenacker mit „Sir“ an. Der Ritter versuchte ruhig nachzudenken.

»Mmh, vielleicht ist seine Vermutung richtig. Dann sollte Er Holz zusammen tragen und die Hexe verbrennen.«

Zweistiefel sah sich um, überall wohin er blickte, sah er rauen Fels. Nicht einmal ein winziger Holzspan steckte in einer Felsspalte.

»Hier gibt es kein Holz«, heulte er.

»Nur die Ruhe, Er Jungspund. Ich habe Ihn gefoppt. Die letzte Hexe wurde vor drei Tagen verbrannt. Schaue Er genau hin, die Flecken auf der Nase des Mädchens sind Sommersprossen. Ich vermute, das Mädchen ist krank. Vielleicht leidet es unter einem Fieberkrampf. Hole Er zwei Wolldecken aus der Satteltasche und baue Er dem Mädchen aus den Decken ein Bett.«

Zweistiefel befolgte die Anweisung ohne zu murren. Der Schreck saß ihm tief in den Gliedern. Als Marmel in dem bescheidenen Bett lag, hockten Ritter und Knappe schweigsam neben den Decken. Zweistiefel fürchtete, dass er jeden Augenblick verhext wurde, trotz des Ritters Worte. Aber das Mädchen schlief und schlief. Die Zeit verstrich, nichts geschah und seine Angst verflog.

Armin grunzte:

»Ihre Tracht gleicht nicht den üblichen Kleidern. Sie muss aus einem fernen Land kommen. So etwas habe ich noch nie gesehen, kleine Mädchen, die Hosen tragen. Hohoho!«

»Ja, merkwürdig. Sieh nur. Sie trägt rote Perlenketten im Haar. Sie halten zwei ungeflochtene Zöpfe zusammen. Ein Schmuck, wie ihn eine Wergäunerin hat«, nickte Zweistiefel.

»Oho, aufgepasst. Das Fräulein erwacht. Nun, stelle Er die Frage.«

Armin vom Schwalbenacker versuchte ein freundliches Gesicht zu machen. Er grinste und die alten Holzzähne kamen zum Vorschein. Zweistiefel kratzte aufgeregt ein paar Tiere aus dem verfilzten Haar.

»Guten Tag, Mädchen. Hast du gut geschlafen? Bitte fall nicht wieder um. Wir würden gerne wissen, wie du heißt?«

Marmel rieb sich Schlaf aus den Augen. Sie fühlte sich dösig, sie wurde wacher, aber die komischen Gestalten saßen immer noch vor ihr. Sie kniff sich in den Arm und sagte:

»Au!«

Oh Mann, das tat verflixt weh. Der Ritter und der Knappe waren noch da, und der Sattel schwebte immer noch hinter ihnen. Außerdem schauten sie Marmel so verdutzt an, als ob sie nicht alle Tassen im Schrank hätte. Sie hatten wohl ihren epileptischen Anfall gesehen. Sie selbst fand den Ritter und den Knappen viel verrückter als ihr Gezappel. Vielleicht sollte sie sich nochmal kneifen? Marmel entschied sich dagegen. Der Ort war seltsam wie ein Traum, doch er schien Wirklichkeit zu sein. Die Wolldecken kratzen, und der Boden war ungemütlich hart. So etwas träumt man doch nicht. Sie erinnerte sich an ein Gefühl der Schwerelosigkeit, bevor sie auf dem Felsvorsprung gelandet war. Vielleicht war sie auf einem fremden Planeten. Dann wäre sie die Erste, die ihn entdeckte. Der Gedanke war aufregend und großartig. Er gab ihr den Mut einer Entdeckerin. Sie wollte alles über diesen Ort herausfinden.

»Danke, ich habe gut geschlafen. Ich heiße Marmel Klebowski und wie heißt du? Und wer ist der dicke Ritter?«, antwortete sie dem Knappen.

Armins Grinsen schrumpfte, und Zweistiefel grinste umso breiter. Nicht einmal er nannte Armin vom Schwalbenacker „dicker Ritter“, das traute er sich nicht.

»Mein Name ist Zweistiefel und der Dicke, ich meine, der alte Mann ist Armin vom Schwalbenacker.«

»Freut mich euch kennenzulernen«, lächelte Marmel. »Ich glaube, ich habe mich irgendwie verlaufen. Wo bin ich hier?«

Zweistiefels Brust schwoll an, ihm gefiel Marmels Neugier. Er fühlte sich einmal wichtig.