Marthe und Mathilde - Pascale Hugues - E-Book

Marthe und Mathilde E-Book

Pascale Hugues

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Beschreibung

Eine fast französische, nicht ganz deutsche Familie Pascale Hugues erzählt von der unerschütterlichen Freundschaft ihrer Großmütter und kommt dabei einem brisanten und unbekannten Kapitel der deutsch-französischen Geschichte auf die Spur. Marthe und Mathilde wurden 1902 geboren und lebten beinahe hundert Jahre in der Kleinstadt Colmar. Mathilde entstammte einer deutschen Familie, die in dem Haus der Eltern von Marthe wohnte, guten französischen Patrioten. Dreimal mussten sie die Nationalität wechseln. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg zerstörte Mathildes behütetes Dasein. Von heute auf morgen wurde das junge Mädchen die «Boche». Ihre Freundinnen wechselten die Straßenseite, wenn sie ihr begegneten. Nur Marthe blieb ihrer Freundin treu. Während sich Georgette, die eifrige große Schwester von Mathilde, der Revolution in Berlin widmete und die erste weltliche Schule Preußens im Arbeitervorort Adlershof gründete, tat Mathilde alles, um nicht als Deutsche aufzufallen, und gab leidenschaftlich die Französin. 1989 kam Pascale Hugues nach Berlin, um als Journalistin über die Wende zu berichten, und entdeckte die verborgene Geschichte von Marthe und Mathilde. Eine ganze Familie lebt hin- und hergerissen zwischen Frankreich und Deutschland. «Das Land meiner Großmütter», so Pascale Hugues, «war auch ein wenig meines. Vielleicht war es kein Zufall, dass es mich nach Berlin verschlagen hat.»

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Seitenzahl: 400

Veröffentlichungsjahr: 2009

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Pascale Hugues

Marthe und Mathilde

Eine Familie zwischen Frankreich und Deutschland

Deutsch von Lis Künzli

«O may she live like some green laurel rooted in one dear perpetual place»

W.B.Yeats

Für meine Großmütter

Marthe (20.9.1902–29.9.2001)

und Mathilde (20.2.1902–7.12.2001)

Und für ihre deutsch-französischen Urenkel

Kaspar und Taddeo

Marthe und Mathilde

Meine Großmütter hießen Marthe und Mathilde. Ihre Vornamen begannen mit den selben Buchstaben. Sie sind im selben Jahr, 1902, geboren. Mathilde am 20.Februar, Marthe am 20.September. Sie sind beide im Jahr 2001 gestorben. Mit ein paar Wochen Abstand, ganz am Anfang des neuen Jahrhunderts, kurz vor ihrem hundertsten Geburtstag.

Marthe und Mathilde haben das zwanzigste Jahrhundert Seite an Seite durchwandert. Sie waren Freundinnen, seit sie sechs waren. Auf den Stufen einer Vortreppe, die am Vogesenwall 6 im Viertel Saint Joseph hinter dem Bahnhof von Colmar zu einem winzigen Garten hinunterführt, sind sie sich zum ersten Mal begegnet. Mathilde war in einem barocken Gebäude der Glacisstraße in der pfälzischen Kleinstadt Landau zur Welt gekommen. Von ihrer frühen Kindheit behielt sie als einzige Erinnerung ein Foto ihres weißen Babykörpers auf einem Lammfell. Karl Georg Goerke, ihr Vater, Champagner- und Kaffeevertreter, war – wie viele Deutsche – ins reiche Elsass emigriert, das 1871 durch den Frieden von Frankfurt dem Reich angegliedert wurde. Er hoffte, im neuen Reichsland Elsass-Lothringen, der rheinländischen Handelsdrehscheibe, zu Vermögen zu kommen. 1906 ließ er sich mit Adèle van Cappellen, seiner belgischen Frau, und den beiden Töchtern Georgette und Mathilde in Colmar nieder. Zwei Jahre später mietete die Familie Goerke die Wohnung im zweiten Stock am Vogesenwall 6.Im Erdgeschoss wohnten Henri und Augustine Réling, die Elsässer Eigentümer des Gebäudes, mit ihren Töchtern Alice und Marthe.

Es war noch mild an jenem Tag. Der wilde Wein kletterte mit seinen rotgefärbten Blättern über das schmiedeeiserne Geländer. Die drei belaubten Stauden brachten etwas Anarchie unter die Geranientöpfe, die sich in militärischer Reihe der Mauer entlangzogen. Marthe kam näher. Streckte Mathilde eine Handvoll Karamellbonbons entgegen. Die Tochter des Elsässer Eigentümers und die Tochter des neuen deutschen Mieters begannen miteinander zu spielen. Das ist das erste Foto von Marthe und Mathilde: Sie sitzen mit ihren Puppen im Gärtchen am Boden. Zwei kleine Mädchen in weißen Rüschenschürzen. Marthe ist braunhaarig. Mathilde ist blond. Ein paar Tage später werden die Kleinen Kaiser Wilhelm über den Champ de Mars defilieren sehen.

Marthe und Mathilde verbrachten ihr ganzes Leben in Colmar. Ihre Kinder, mein Vater und meine Mutter, heirateten einander. Beide sind in den Wirren des Börsenkrachs von 1929 geboren. Mit sechzehn Tagen Abstand. Meine Mutter, die Tochter Mathildes, am 8.Dezember. Mein Vater, der Sohn Marthes, am 24.Dezember. Die Hochzeit ihrer Kinder schmiedete das Schicksal meiner Großmütter auf Gedeih und Verderb aneinander. Ihre Enkel, mein Bruder und ich, verbrachten sämtliche Ferien bei den «Kamaradle», wie wir die beiden nannten. Mein Bruder wohnte bei Mathilde, die zwei Mädchen hatte und sich immer einen Jungen wünschte. Ich wohnte bei Marthe, die zwei Jungen hatte und immer von einem Mädchen träumte. Beide hatten wenige Monate nacheinander ihr zweites Kind im Erwachsenenalter verloren. Schweigend teilten sie diesen irreparablen Schmerz bis an ihr Lebensende.

Diese Zufälle sind frappierend. Die Übereinstimmungen verblüffend. Die Ähnlichkeiten verwirrend. Man hätte die beiden Großmütter austauschen können, wären nicht ihre Charaktere so unterschiedlich gewesen. Mathilde war «launisch». Marthe «stets sich selbst treu». Mit diesen Formeln beschrieben meine Eltern ihre jeweiligen Mütter. «Wenn es nicht deine Großmutter wäre», begehrte Marthe hin und wieder vor mir auf, «dann wären wir schon längst zerstritten. Diese Mathilde hat aber auch einen schlechten Charakter!» Marthe jedoch steckte die Gemeinheiten weg. «Ich bin nicht nachtragend, ich kann schon was verkraften. Aber wenn ich etwas nicht verknusen kann, dann, wenn man mir schmollt!» Und wenn Mathilde auf Deutsch ihr Verdikt aussprach: «Ein Licht ist ausgegangen! 1», dann begann Marthes Leidensweg. Drei Tage lang schmollte Mathilde. Starrte in die Ferne, antwortete mit einem finsteren Murren auf die versöhnlichen Fragen, die Marthe nur zaghaft zu stellen wagte. Mathildes Mund zog sich in einer verächtlichen Kurve nach unten, und Marthe war verzweifelt. «Sie hat den ‹Weltschmerz›, deine Großmutter», flüsterte mir Marthe zu und hob die Augen zum Himmel. Dieser imposante deutsche Ausdruck allein vermochte die unermessliche Qual zu fassen, die Mathilde ergriffen hatte. Marthe betrachtete Mathildes bockiges Gesicht, ihre schwere Stirn. Der Nachmittag war verdorben. Und dann, nach drei Tagen, fing Mathilde auf einmal ohne ersichtlichen Grund wieder zu reden an. «Na Marthele, was esch?», fragte sie, die Arglosigkeit in Person. Marthe verzieh ihr auf der Stelle, und das Leben nahm wieder seinen Lauf.

«Die Liebe zanket nicht,

Die Liebe streitet nicht,

Die Liebe wanket nicht,

Die Liebe weichet nicht.

Meiner lieben Tilde

Zur steten Erinnerung von ihrer Marthe»,

schreibt Marthe am 14.Februar 1916 in Mathildes Poesiealbum. Marthe hat ihr Versprechen der ewigen Liebe gehalten. Weder Mathildes Schmollereien noch die Erschütterungen der elsässischen Geschichte konnten diese lange Freundschaft ins Wanken bringen. Marthes und Mathildes Fotoalben sind beinahe austauschbar. Auf den kartonierten Seiten sind dieselben Erinnerungen, dieselben Personen anzutreffen. Die Treppe unter dem Vordach in Marthes Haus dient den Familienfotos als Dekor. Der Reihe nach sind die Hauptakteure aus Marthes und Mathildes Leben da, schauen in allen möglichen Zusammenstellungen und in jedem möglichen Alter ins Objektiv. Ihre Väter: Henri Réling und Karl Georg Goerke in ein Gespräch unter Männern vertieft. Ihre Mütter: Augustine Réling und Adèle Goerke Arm in Arm. Ihre Schwestern: Alice mit ihrer Gießkanne und Georgette mit ihrer Zeitung. Ihre Kinder: meine frisch vermählten Eltern. Als sich ihre Enkelkinder auf den Treppenstufen in Pose setzen, ist das Glasdach durch ein Wellblech ersetzt worden. Die Zeit ist so schnell vergangen.

Die Lebenslinien von Marthe und Mathilde verlaufen parallel nebeneinander her. Als hätte ein perfektionistischer Geometer ihre Schicksale nach den Gesetzen der Symmetrie zu beiden Seiten einer unsichtbaren Achse gezogen. Nur kurz, während der fünf Jahre des Zweiten Weltkriegs, trennen sie sich. Marthe, die Witwe eines französischen Offiziers, eines Verdun-Veteranen, durfte das 1940 wieder deutsch gewordene Elsass nicht mehr betreten. Als «franzosenfreundlich» und «unerwünscht» eingestuft, war sie gezwungen, den Krieg im besetzten Frankreich, in Tours, zu verbringen. Mathilde, die mit einem Elsässer verheiratet war, der im Ersten Weltkrieg dem Deutschen Reich in Flandern gedient hatte, blieb in Colmar im angeschlossenen Elsass. Nach der Befreiung treffen sich ihre Leben wieder, um von neuem gemeinsame Wege zu gehen. Als Marthe 1945 mit ihren beiden Söhnen ins Elsass zurückkehrt, kommen alle Nachbarn auf die Straße. Der schwarze Citroën gleitet über den Boulevard und hält vor dem elterlichen Haus. Als Erstes steigen die Jungen aus. Sie tragen graue Pelerinen, die Socken bis zu den Knien hochgezogen. Sie sind sechzehn und vierzehn Jahre alt. Augustine und Henri Réling rennen aus dem Haus, um sie in die Arme zu schließen. Fünf Jahre haben sie ihre Enkelsöhne nicht mehr gesehen. Die Nachricht von Marthes Heimkehr hat sich in der Stadt rasch herumgesprochen. Lange hat Mathilde auf die «Heimkehrer» gewartet. Sie lässt alles stehen und liegen und läuft zu ihrer Freundin. Ab jetzt sehen sich die Kamaradle wieder jeden Tag. Stundenlang erzählen sich Marthe und Mathilde vom Krieg, von ihren Kindern, ihren Ehemännern, von dieser ganzen Zeit, die sie getrennt voneinander verbracht haben. Sie schwören einander, sich nie mehr aus den Augen zu verlieren.

Die Sonntagsausflüge in die Berge werden wieder aufgenommen. Ein Foto zeigt Marthe und Mathilde, die mit ihren vier Kindern im Wald auf einer Decke liegen. Es ist ihr erstes Picknick nach dem Krieg. Marthe hat die Rundungen einer jungen Frau verloren. Zum ersten Mal wagt sie es, einen gepunkteten Foulard über ihr Trauerkleid zu legen. Ihr Mann ist vor sieben Jahren gestorben. Im Schatten ihrer Mütter beäugen sich die Söhne Marthes und die Töchter Mathildes. Nach bestandenem Abitur lädt Pierre, Marthes ältester Sohn, Yvette, Mathildes zweite Tochter, auf ein Glas Limonade in der Stadt ein. Von diesem Tag an haben sich meine Eltern nie mehr getrennt.

Bis an ihr Lebensende telefonierten Marthe und Mathilde täglich miteinander, um sich über die kleinen Ereignisse des Tages auszutauschen: Die Schneiderin geht nächstes Jahr in Rente, der Doktor hat neue Tabletten verschrieben, in der Rue des Clefs ist eine Baustelle, und beim Gemüsehändler sind frische Schwarzwurzeln eingetroffen. Marthe und Mathilde sahen am Ende aus wie ein Gespann zweier untrennbarer Gäule, die sich, vom Alter gebeugt, aneinanderklammern, um nicht zu stolpern, wenn sie durch die Stadt spazieren. «Zwei alte Ziegen wie uns reißt man nicht mehr auseinander!», verkündete Marthe eines Morgens mit ihrer lauten Stimme, als Mathilde mal wieder ihre Launen hatte.

Bei Mathildes Beerdigung verwechselten die Leute vom Bestattungsinstitut, die wenige Wochen vorher Marthe zu Grabe getragen hatten, ihre Vornamen auf dem Sargschild. Mathilde war zu Marthe geworden. Ich war kein bisschen geschockt. Der Fehler kam mir ganz natürlich vor. Er bestätigte die Symbiose meiner Großmütter, die es geschafft haben, sogar ihren jeweiligen Abgang aufeinander abzustimmen.

Ein paar Tage später schickt eine Jugendfreundin ihr Beileidschreiben: «Ich habe heute vom Hinscheiden Ihrer zweiten Großmutter Mathilde erfahren. Ich glaube, Marthe ist sie holen gekommen, sie waren so große Freundinnen, sie haben diese Trennung nicht ertragen. Ich wünsche den beiden von Herzen, dass sie sich wiedergefunden haben… falls man sich da oben wiederfindet.»

Der hübsche Tod

«Der Doktor hat keine Ahnung, woran wir mal sterben könnten!», sagten Marthe und Mathilde. Mit dieser Imponiergebärde hatten sie dem Tod den Kampf angesagt. Die Jahre zogen vorüber. Die Kamaradle hielten sich wacker. Mit fünfundachtzig fuhr Mathilde mit dem Rad einkaufen und besuchte einen Gymnastikkurs. Marthe zog jeden Morgen zu Fuß los, um am anderen Ende der Stadt ihre Baguette zu holen. Eine völlig überflüssige Tour, die sie sich nur verschrieb, um die Beweglichkeit ihrer Beine zu erproben. Mit fünfundneunzig war Mathilde älteste Benutzerin der städtischen Bibliothek, während Marthe seelenruhig das Gedächtnis verlor. Ihre Erinnerungen zerbröselten. Ihr Leben zerfranste. Auf dem Teppich fanden sich Aschenspuren und im Backofen verkohlte Töpfe. Den Haushaltshilfen, die wir ihr aufzudrängen versuchten, knallte sie die Tür vor der Nase zu. Meine Großmütter waren die letzten Überbleibsel einer Epoche. Ihre Geschichte hatte keine Zeugen mehr. Ihre Freundinnen waren eine nach der anderen gestorben, genauso wie die Nachbarinnen, die Schneiderin und ihr alter Zahnarzt. Die Leinwandgrößen, die Chanson-Stars, die Fernseh-Moderatoren und Staatspräsidenten haben die Bühne vor ihnen verlassen. Sie hatten das Gefühl, man habe sie vergessen. Und wenn eine der beiden sterben sollte, kam es nicht in Frage, dass die andere ganz allein zurückblieb, am Rande des zu Ende gehenden Jahrhunderts. Sie wollten zusammen gehen.

Mathilde hatte ihre beiden Töchter im Krankenhaus zur Welt gebracht. Sie war modern. Sie wollte nicht zu Hause entbinden. «Eine einzige Krankheit hat mir das Leben zur Hölle gemacht!», verkündete Marthe jedes Jahr zu Weihnachten. Die Inszenierung stand fest. Marthe nahm eine dramatische Pose ein. Straffte sich in ihren kleinen marineblauen Stöckelpumps, die sie sich anlässlich der Hochzeit meiner Eltern am 29.Dezember 1956 gekauft hatte und bis zu ihrem Tod jedes Jahr zu Weihnachen trug. Wir saßen im Kreis um sie herum. Warteten auf eine schreckliche Enthüllung. Gleich wird Marthe uns über eine Erbkrankheit aufklären, über einen unheilbaren genetischen Fehler, den sie uns zur Schonung immer verschwiegen hatte. «Verstopfung!», warf sie in die Runde, ihrer Wirkung sicher.

Sie hatte, sagte sie, ein Mittel, das sie vor allen Krankheiten schützte. Jeden Abend vor dem Schlafengehen nahm Marthe eine Tasse Lindenblütentee und eine halbe Aspirintablette zu sich. Als Kind habe ich die Tablette mit dem kleinen Finger im Löffel umgerührt, bis sie sich aufgelöst hatte. Dann stürzte Marthe den weißen Cocktail wie ein stärkendes Schnäpschen in einem Zug hinunter. Vom Ende des Boulevards, von der anderen Seite der Eisenbahnbrücke, war Bremsenquietschen zu hören. Die feierliche Stimme des Bahnhofsvorstehers kündigte die Ankunft des Zuges aus Ventimiglia an. Zu später Nacht legte Marthe am Küchentisch ihre Patience. Saß ganz allein unter der Vierzig-Watt-Birne an der Decke und entschlüsselte das Schicksal jedes einzelnen Familienmitglieds. Prüfungen, Führerscheine, Arbeitsverträge, Scheidungen, Krankheiten und Schwangerschaften… Marthe wollte den Zufall unter Kontrolle bringen. Nachts steuerte sie das Geschick ihrer Sippschaft. «Ach, so ein Mist aber auch! Besser, man weiß nicht, was einen erwartet», verkündete sie, wenn sie sich in eine Sackgasse hineinmanövriert hatte, die nichts Gutes verhieß. Dann sammelte sie ihre Karten schleunigst wieder ein. Ließ das Gummiband um das Päckchen schnellen und legte es zwischen die Kaffeeschalen im Büfett zurück.

Seit dem Tod ihres jüngsten Sohnes glaubte Marthe nicht mehr an die Karten und nicht mehr an Gott. Setzte nie wieder einen Fuß in die Kirche Saint Joseph. Wenn sie mich in den Ferien sonntagmorgens in die Messe schickte, dann nur, damit ich ihr in der Küche nicht im Weg rumstand. Sie hegte einen persönlichen Groll gegen «den da oben, der mir meinen Sohn genommen hat!» Ich stellte mir meinen Onkel als Gefangenen des lieben Gottes unter das Himmelsgewölbe gefesselt vor. Als Marthe ihren Sohn verlor, hatte sie begriffen, dass sie das Schicksal nicht besänftigen konnte, indem sie auf dem rotgepunkteten Wachstuch ihrer Küche Kleeblatt-Asse aufdeckte. In die Kirche zu laufen und auf eine Bank niederzuknien half auch nichts. Wenn sie abends in ihrem Bett wie eine Grabfigur auf dem Rücken ausgestreckt lag, strich sie mit ihrer Handfläche das weiße Laken glatt, das sie über die Brust gezogen hatte, und stieß einen langen Seufzer aus. Eine Welle durchlief ihren kleinen energischen Körper. «C’est la vie», seufzte sie, so ist halt das Leben. Mit diesen Worten beschloss sie den Tag. Überließ sich ihrem Schicksal und dem Schlaf. Aus dem anderen Teil des Ehebettes betrachtete ich ihr besänftigtes Profil. Über die geblümte Tapete schwankten die Schatten des Boulevards.

Dass die Großmütter sterben könnten, schien nicht im Bereich des Möglichen zu liegen. Wir konnten uns ihr Fortsein einfach nicht vorstellen. «Derf net sterva», hatten wir ihnen eingeschärft. Auf Elsässisch schien uns dieser Befehl wirksamer zu sein. Sie hatten lange gewartet, bis sie sich die Erlaubnis gaben, uns zu verlassen. Marthe und Mathilde kokettierten gerne mit ihrer sensationellen Langlebigkeit. «Zwei Kriege und vier Nationalitäten», resümierte Marthe diese stolze Leistung, derer sich einzig eine Elsässerin ihres Alters rühmen konnte: 1902 durch Geburt Deutsche, 1918Französin, 1940Deutsche, 1945Französin. «Das Elsass hat seine Meister gewechselt wie ein leichtes Mädchen die Betten!», kommentierte Marthe diesen Wankelmut. Sie missbilligte solche Grenzgeplänkel. Am Ende, als ihre Erinnerungen zu verschwimmen begannen, kam sie überhaupt nicht mehr zurecht damit. Sie wusste nur, dass sie kein Glück gehabt hatte. «Etwas habe ich wirklich gut hingekriegt: immer auf der Seite, wo es nichts zwischen die Zähne gab!» Marthe hatte sich den Abiturientenjargon ihrer Söhne zu eigen gemacht. »Ach, was habe ich bloß für eine Schreistimme!», beklagte sie sich. Sie sagte, nachdem sie allein zwei Buben aufgezogen und so viele Jahre ihre Hausaufgaben überwacht habe, könne sie nicht mehr mit normaler Stimme sprechen.

«Alt werden ist nicht schön, Schatzele!», sagte sie oft zu mir. »Jung zu Jung und Alt zu Alt», tröstete sie sich, wenn ihre Enkelkinder die Interrail-Reisen den langen Sommermonaten bei den Großmüttern vorzogen. Sie fand das ganz natürlich, dass die Generationen unter sich blieben. Im Wohnzimmer verwaiste ein Sessel nach dem anderen. Drei zentrale Personen waren verstorben und hatten einen unauslöschbaren Kummer hinterlassen. Die Enkel waren über die ganze Welt zerstreut. «Glanz und Elend», sagte Marthe, wenn sie ihr Wohnzimmer betrachtete, das nur noch von Schatten bevölkert war. Sie konnte es einfach nicht glauben, dass sie so plötzlich zum alten Eisen gehören sollte.

Marthe hatte eines Tages beim Zeitungslesen entdeckt, dass ihre Jugend unterhöhlt war. Sie hatte die Gewohnheit, die Hand an den Hals zu legen, um den Kopf abzustützen, wenn sie sich in «Les Dernières Nouvelles d’Alsace» vertiefte. An jenem Tag bekam ihre Hand nichts zu fassen zwischen Kopf und Schultern. «Mein Gott, ich habe keinen Hals mehr! Ich schrumpfe!», schrie sie mutterseelenallein in die Nacht. Marthe mochte diesen Safranflecken nicht, der unter der zarten Haut ihrer linken Schläfe erblüht war. Er wurde jeden Morgen mit einer Schicht Make-up eingerieben und gepudert. Am Ende des Tages machte eine ausgetrocknete Kittkruste dieses kleine Zeichen des Alters noch sichtbarer. Dieser letzte Anflug von Koketterie rührte mich. Nach und nach war ihr ganzes Gesicht von anarchischen Formationen kleiner brauner Punkte übersät. Als sie einmal aus den Ferien zurückkehrte, hatte sie diese pointillistische Zeichnung zum ersten Mal bemerkt. Marthe wetterte über den gelblichen Flaum ihrer Haare. «Ich sehe ja aus wie ein ausgeschlüpftes Küken!» Sie war überzeugt, dass sie nicht so viele Falten hätte, wenn sie in ihrem Leben nicht so viel gelacht hätte: «Lach nicht, Schatzele, sonst siehst du am Ende genauso zerknittert aus wie deine Großmutter!» Eines Abends nahm sie mir das Versprechen ab, niemandem ein Wort zu sagen, und zeigte mir eine kleine Dose Anti-Aging-Creme, die sie ganz hinten im Badezimmerschrank versteckt hatte. «Ein Vermögen, mein Schatz. Deine Ahnin sieht bald aus wie Marilyn Monroe. Gib mir Bescheid, wenn du etwas bemerkst!»

Dabei schien Marthe gar nicht wirklich unter dem Alter zu leiden. Für die Pralinenschachtel und die Wünsche nach einem langen Leben, die ihr der Bürgermeister von Colmar zu ihrem neunzigsten Geburtstag überreichen ließ, hatte sie nur Spott übrig. «Und zu meinem Hundertsten setzt er mich dann in die Zeitung!» Als Mathilde am 20.Februar 1992 ihren neunzigsten Geburtstag feierte, erschien ein lobender Artikel in «L’Alsace»: «Mme Mathilde Klébaur kann heute in einer bewundernswerten Form ihren 90.Geburtstag begehen.» Auf dem Foto posiert Mathilde mit einem aufgeschlagenen Buch in den Händen. Auf derselben Seite feiert das Ehepaar Vogt «fünfzig Jahre beständige Liebe». Mathilde fühlte sich geschmeichelt. Marthe aber wollte nicht wie ein Wunderwerk der Natur auf den Lokalseiten ausgestellt werden: «Das Guinness-Buch der Rekorde muss ohne meine Wenigkeit auskommen!» Sie hatte Horror vor diesen scheußlichen Hundertjährigen mit dem schiefen Lächeln, die über den Todesanzeigen paradierten. Ihre Töchter hatten sich ins Zeug gelegt, um sie präsentabel zu machen. In ein paar Monaten brauchten sie auf der Seite nur noch wenige Zentimeter nach unten zu rutschen, um den Platz einzunehmen, der ihnen zustand zwischen den «ewigen Andenken» und den «Wir werden Dich nie vergessen». Diese Taktlosigkeit des Layouts widerte Marthe an. Nein, diese Abschiedszeremonien, das war nichts für sie. Marthe machte der Angst den Garaus, indem sie sich selbst in Szene setzte. Das funktionierte wunderbar. Sie machte sich selbst zur Komödiendarstellerin. Sie mochte es, uns zum Lachen zu bringen. «Ach nein, das macht alt!», protestierte sie, als wir ihr vorschlugen, zum Ausgehen ein graurosa Chiné-Kostüm anzuziehen. Sie entschied sich für eine knallblaue Streifenbluse und eine speckig gewordene Wildlederweste. Sie wollte modern sein. Meinen Großmüttern war das Alter nicht anzusehen. Ihr Leben schien unendlich ausdehnbar zu sein. Sie haben meine Zeitvorstellung durcheinandergebracht. Für mich ist eine achtzigjährige Frau noch immer jung. Erst nach ihrem neunundneunzigsten Geburtstag näherte sich das Alter auf leisen Sohlen.

Aber die Zeit hat die beiden ewigen Großmütter schließlich doch eingeholt. Auf dieser Treppe im Haus ihrer Kindheit, auf der sich Marthe und Mathilde zu Beginn des Jahrhunderts zum ersten Mal getroffen hatten, unter dem kleinen Vordach, fand auch ihre letzte Begegnung statt. Mathilde war im Taxi gekommen, um ihre Freundin in der Avenue de la Liberté, wie ihre Straße inzwischen hieß, zu besuchen. Marthe war auf ihren dünnen, aber noch soliden Beinen die Stufen hinuntergekommen, um ihre Freundin zu begrüßen. Mathilde brauchte zum Gehen einen Stock. Das Treppensteigen bereitete ihr Mühe. «Die Beine, das geht noch! Bei mir ist es der Kopf, der nicht mehr will! Und bei Mathilde ist es umgekehrt!», lachte Marthe. «Marthe läuft bei Wind und Wetter, mit Grippe und einem verstopften Ohr draußen herum. Und ihr Mandala lässt sie ganz hinten im Schrank!», sorgte sich Mathilde. Marthe schaute Mathilde einen langen Augenblick in die Augen. Erforschte dieses Gesicht. Sie hat sie nicht wiedererkannt. Eine neunzigjährige Freundschaft und keine einzige Erinnerung mehr. Wie sie als kleine Mädchen auf der Straße gespielt, sich nachmittags in der Mansarde verkleidet hatten, die Heirat ihrer Kinder, die Picknicks in den Vogesen, Weihnachten in der Familie… Marthe hatte alles gelöscht. Die beiden uralten Damen nahmen einen surrealistischen Tee ein. Marthe, die Mathilde siezte. Mathilde den Tränen nahe. Marthe, die von ihrem letzten Tennisspiel sprach. Mathilde, die das Neuste von ihren gemeinsamen Urenkeln erzählte, um ihre Freundin an die Oberfläche dieses Frühlingstages zurückzuholen. Tieftraurig kehrte Mathilde nach Hause zurück. Und beschloss, diese grausamen Begegnungen zu vermeiden. Marthe und Mathilde haben sich nie wiedergesehen.

Schon lange stellte ich Prognosen: Wer würde als Erste gehen? Marthe oder Mathilde? Mathilde oder Marthe? Marthe hat gewonnen. Sie starb mit offenem Mund, die Zähne auf dem Nachttisch, der Körper in einem riesigen geblümten Nachthemd verloren. Marthe hätte sich über den Totenschein köstlich amüsiert, den der diensttuende Arzt ausgestellt hatte: «Natürlicher Tod. Das Hinscheiden stellt keinerlei gerichtsmedizinische Probleme, und die Verstorbene war von keiner der folgenden ansteckenden Krankheiten befallen: Pocken, Pest, Cholera, Milzbrand, Typhus, Paratyphus, Ruhr, Wundbrand, Blutvergiftung.» Kurz vor ihrem Tod hatte Marthe einen letzten Energieausbruch. Sie sang von morgens bis abends mit schriller Kleinmädchenstimme «Ah, vous dirais-je maman!», das Wiegenlied, das ihr der Vater beigebracht hatte. Henri Réling, aus dem Dorf Rombach-le-Franc in einem französischsprachigen Vogesental stammend, das den Herzögen von Lothringen gehört hatte, Frankreich-treuer Lehrer, hatte während der ganzen deutschen Periode darauf geachtet, dass seine Töchter ihre Muttersprache nicht verloren. Marthe und Alice sprachen mit ihrer Mutter elsässisch und mit ihrem Vater französisch. Sogar während des Krieges, als die Deutschen verboten, die Sprache des Feindes zu sprechen, machte Henri Réling zu Hause weiter, was er wollte. Französisch war Marthes erste und letzte Sprache. Auf ihrem Totenbett hatte sie ihr Deutsch vergessen.

«Nein, nein, ich habe keine Angst vor dem Sterben. Nur etwas Angst vor dem Übergang», beteuerte Marthe. Meine Cousine, die Krankenschwester war, hatte ihr erzählt, der Tod sehe aus wie ein großes Feld voller Mohnblumen. «Sieh an, was für ein Glück, der Mohn ist doch meine Lieblingsblume!», rief sie entzückt. Marthe glaubte ihr: «Eine Krankenschwester weiß, wovon sie spricht!» Sie hatte beschlossen, so wie ihre Großmutter Adelgonde zu sterben. Adelgonde Surkopf verlangte mit einundneunzig Jahren vor dem Schlafengehen nach einem Canard: ein in ein Schnappsele getunktes Stück Würfelzucker. Sie tat einen hübschen Rülpser, schlief ein und wachte nicht mehr auf. Ihr Herz hatte zwischen den frischen Leinenlaken ihres großen Ehebetts sanft zu schlagen aufgehört. Sie war durch die Stimmen ihrer vier Töchter im Nebenzimmer in den Tod gewiegt worden. Nach und nach war die Wärme aus ihrem Körper gewichen. Die vier Töchter wachten drei Tage bei der Toten. Noch wochenlang lag der Maiglöckchenduft von Adelgondes Parfum in dem Raum. Marthe nannte dies «einen hübschen Tod», wie man vor einem hübschen Kleid in Entzücken ausbricht. Marthe stellte für den Tod Zeugnisse aus. Da gab es den «hässlichen Tod» wie den der Nachbarin am Ende der Schauenberg-Straße. Ihr waren die von Wundbrand verfaulten Beine amputiert worden. Da war der «traurige Tod», wenn sich das Alter jahrelang freudlos hingezogen hatte. Und der «brutale Tod» jener, die nicht rechtzeitig nach Hause zurückgekehrt waren und deren Herz ohne Vorwarnung eines Dienstagmorgens um Viertel nach zehn in der Bäckerei zu schlagen aufgehört hatte. Und da war noch «der kleine Tod», der von den wenig betroffenen Angehörigen stillschweigend übergangen wurde. Und der «große Tod», der viel Platz einnahm, eine ganze Seite Todesanzeige in den «Dernières Nouvelles d’Alsace». Am besten von all den Toden aber gefiel Marthe der «hübsche Tod». Der, den sie gewählt hatte. Der «hübsche Tod» passte zu ihr. Ein beinahe fröhlicher Tod.

Marthes Tod musste Mathilde wohl oder übel mitgeteilt werden. Ich ging im Flur des Altersheims auf und ab, bevor ich mich entschließen konnte, ihr Zimmer zu betreten. Ich hätte natürlich lügen können: Die beiden alten Damen lebten nicht in derselben Einrichtung. Ich hätte einfach nichts sagen können. Vielleicht hätte Mathilde gar nichts gemerkt. Aber eine solche Feigheit wäre dieser langen Freundschaft zwischen meinen Großmüttern unwürdig gewesen. Als ich endlich ins Zimmer trat, saß Mathilde in ihrem Sessel am Fenster. Erst sprachen wir über den strahlenden Herbst dieses Jahres. Bewunderten die Vogesen in der Ferne, das sanfte Blau der Gipfel, die üppigen Flanken der Weinberge. Die Weinlese hatte begonnen. Dann versiegte das Gespräch. «Weißt du was, Marthe ist gestorben.» Ich legte meine Hand in die Mathildes. Drückte sie ganz fest. Mathilde verbarg ihr altes Gesicht in den Händen: «Marthele, sie fehlt mir so sehr.»

Mathilde hat Marthes Abwesenheit nicht lange ausgehalten. Sie war wenige Tage vor ihrem Tod noch immer schön mit ihren weißen Haaren, ihren zarten Beinen, ihren blauen Augen. Sie bat mich, mit meiner Hand unter dem Laken ihr taubes Bein zu bewegen, das ihr wehtat. «Ich will nicht mehr, verstehst du, ma chérie. Sei nicht traurig, es ist jetzt einfach genug.» Mathilde hatte sich den Oberschenkelhals gebrochen. Sie war über eine Teppichecke gestolpert und hingefallen. Schlechtgelaunt lag sie auf ihrem Krankenhausbett und wusste, dass sie nie mehr würde gehen können. Durch das Fenster betrachtete sie die Vogesen in der Ferne. Sie dachte an ihren Mann Joseph, noch jung und so schön mit seinem Rucksack und seinem Hirtenstock. Sah ihre Töchter wie Zicklein über die Bergpfade hüpfen. Erinnerte sich an die letzten Wanderungen mit Marthe. Mathilde verabschiedete sich von den Bergen und von ihrem Leben. Es war kurz vor Weihnachten. In eineinhalb Monaten wäre meine Großmutter hundert geworden. Sie hatte keine Angst. Gleichgültig hörte sie sich die Ermutigungen der Pflegerin an, die mit ihr sprach wie mit einem quengeligen Mädchen: «Aber aber, meine liebe Madame Klébaur, wir werden uns doch ein bisschen anstrengen, um die hundert Jahre zu schaffen! Wir werden uns richtig schön machen! Wir werden uns ein hübsches neues Kleidchen kaufen!» Ich organisierte bereits das Fest. Wir hatten so oft davon gesprochen. Ein Mittagessen, die ganze Familie, in einem Restaurant in den Vogesen, in dem man sie kannte, weil ihr Mann Joseph vor dem Krieg dort einen Kachelofen eingebaut hatte. Sie mochte es so gerne, wenn sie am Eingang begrüßt wurde, wenn ihr Mantel und Stock abgenommen wurden, wenn sie mit der den Stammgästen vorbehaltenen Beflissenheit am festen Arm des Patron, eskortiert von der ganzen Familie, an ihren Tisch geführt wurde. Dieser Status als alte Colmarerin beruhigte sie. Sie war nie ganz sicher gewesen, ob sie von der Stadt wirklich akzeptiert war. «Die Aussicht auf den hundertsten Geburtstag», versicherte mir der Arzt wie ein Trainer vor dem Endspurt seines Athleten, «hilft ihnen durchzuhalten!» Er hoffte, eine neue Trophäe an seine Tafel heften zu können. Aber Mathilde rebellierte gegen diese letzte Sportdisziplin, welche die Institution ihr aufzudrängen suchte. Sie wollte niemandem mehr zu Gefallen sein. Sie beobachtete unsere Geschäftigkeit. Und schwieg. Sie hatte keine Lust mehr zu leben, und wir spürten es. Unsere Anstrengungen, sie zurückzuhalten, regten sie nicht einmal mehr auf.

Bei meinem letzten Besuch saß ich lange auf ihrer Bettkante. Mathilde hatte den Kopf auf meinen Schoß gelegt. Sie presste ihre offene Hand auf meine Wange. Ich strich ihr über die Haare. Sie rief mich mit dem Namen ihrer 1924 in Berlin gestorbenen Schwester. «Aber wovon werden wir leben, Georgette?», fragte sie besorgt. Es war das erste Mal, dass ihre Erinnerungen gegeneinanderprallten. Mathilde brachte Epochen und deren Protagonisten durcheinander. Das Morphin, das ihr in kleinen Dosen gegen die Schmerzen verabreicht worden war, brachte Georgette an ihr Bett. Ihre geliebte, vor langer Zeit so jung verstorbene Schwester war bei ihr. Mathilde war glücklich. Ich schwieg. Ich wollte sie diesem Glück nicht entreißen. Aber Mathilde kam wieder zu sich. Sie hatte die fernen Territorien der Kindheit verlassen, um zu mir, ihrer Enkelin, zurückzukehren, die aus Berlin gekommen war, um sich von ihr zu verabschieden. «Bleib, bis ich eingeschlafen bin, ma chérie, dann machst du das Licht aus, schließt leise die Tür und gehst.» Ein paar Tage später sagte Mathilde, aufrecht am Fenster sitzend, sie sei bereit, sie habe keine Angst. Und hörte zu leben auf.

Die Wächterin

In ihren letzten Lebensjahren bekam Marthe Sehnsucht nach der fernen Heimat ihres Mannes. Sie fühlte sich beengt in ihrem kleinen Elsass. Die Provence meines Großvaters Gaston war ihr Fenster zur großen weiten Welt. Jedes Jahr im September fuhr sie nach Ventavon, in Gastons Dorf in den Alpen der Haute Provence, am anderen Ende Frankreichs. Mein Vater brachte sie im Wagen hin. «Dieses Jahr nehme ich nur vier Koffer, zwölf kleine Taschen und einen Korb mit!», frohlockte Marthe, die ihrem Sohn zusah, der mit gekrümmtem Rücken wie ein Sträfling die Treppen hoch- und runterging. Sie rühmte sich, jedem meteorologischen Ereignis trotzen zu können. Marthe brachte für ihre Schwägerinnen Mireille und Germaine einen Münster-Käse mit, der wie ein Neugeborenes in eine Wolldecke gewickelt wurde. Mein Vater schimpfte jedes Jahr mit ihr: «Das stinkt noch 750Kilometer lang nach Elsass! Du könntest ihnen doch auch Brezel, Eierspätzle oder einen Kugelhopf mitbringen! Unsere Reise wäre um einiges angenehmer!» Aber Marthe betrachtete den Münster als einzigen würdigen Botschafter des Elsass. Und jedes Jahr zückte sie ihr Fläschchen «Heure Bleue»: «Ein paar Tröpfchen Parfum auf die Hinterbank, und neutralisiert ist er, der Käse», versicherte sie. Um ihren aufdringlichen Fahrgast für einen Augenblick zu vergessen und der bestialischen Geruchskombination zu entkommen, die aus der Verbindung von Guerlain und dem Münster erwuchs, legten Marthe und ihr Sohn in einem guten französischen Restaurant in der Nähe von Lyon einen Zwischenhalt ein. Eine Blutwurst mit Äpfeln, ein paar Andouillettes, diese Würstchen aus Innereien, und schon war der Münster, der im Auto in der prallen Sonne vor sich hin schwitzte, nur noch eine schlechte Erinnerung. Bei Einbruch der Nacht kamen sie in Ventavon an. Von all den überquerten Pässen und Straßenkehren war Marthe übel geworden. Mireilles beringte kleine Hände entkleideten den Münster von seinen Schichten aus Zeitungspapier und Wollstoffen. «Oh, schaut mal, wie er sich gehen lässt», sagte sie gerührt, wenn der nackte schwitzende Münster endlich zum Vorschein kam. Im ganzen Haus lag ein Duft von Aioli. Mireille und Germaine hatten zur Ankunft der Elsässer eine Drossel-Pastete und gefüllte Tauben vorbereitet. Ihre Männer Louis und Julien kehrten von ihrer Boule-Partie zurück. Julien, Ehemann Mireilles und Bürgermeister des Dorfes, hatte eine Stimme, die Marthe durch Mark und Bein ging. Louis, Ehemann von Germaine und ehemaliger Drucker bei Paris-Match, war ein schüchterner, schmächtiger kleiner Mann, eines dieser Geschöpfe, die sich ständig zu entschuldigen schienen, dass sie da waren. «Die Güte in Person», sagte Marthe. Wenn auf der Terrasse der Pastis serviert wurde, hatte Marthe das Gefühl, auf einem anderen Planeten angekommen zu sein. Frankreich war ihr fremd.

Marthe bezog mit ihren Unmengen von Gepäck das für sie viel zu große Haus. Die Fenster überragten die Befestigungsmauern des Dorfes. In der Ferne sah sie das Durance-Tal und den Berg Faye. Jeden Tag unternahm sie riesige Spaziergänge, auf denen sie nie vergaß, wenn sie bei Einbruch der Dunkelheit zurückkehrte, einen Abstecher über den Friedhof zu machen, um einen Moment an Gastons Grab zu stehen. Seit dem Tod ihres Mannes am 13.September 1939 weigerte sich Marthe, am 20.September ihren Geburtstag zu feiern. «September ist eigentlich ein schöner Monat, finde ich. Meine Mutter hat es ganz richtig gemacht. Es wäre die schönste Zeit des Jahres, wenn mir der liebe Gott nicht ausgerechnet dann meinen Mann genommen hätte», klagte sie. Sie verweigerte die Blumen und Glückwünsche an jenem Tag. Noch ahnte sie nicht, dass auch sie im September sterben würde.

Abends spielte sie mit ihren Schwägerinnen, die sie lange Zeit «die Boche» genannt hatten, Tarot. Es war eher ein alter Reflex als ein Zeichen von Antipathie. Marthe hat übrigens nie Anstoß daran genommen. Seit ihrer Hochzeitsreise zur Familie ihres Mannes hat sie sich ihren Schwägerinnen stets ein wenig überlegen gefühlt. Sie hatte nicht vergessen, dass die Einwohner von Ventavon 1926 morgens mit ihrem Abortkübel aus dem Haus traten, um den Inhalt in das Wäldchen neben dem Friedhof zu kippen. Bei ihr zu Hause gab es Toiletten mit Spülung. Marthe war stolz, im Elsass zu wohnen. Die Deutschen hatten es modernisiert. Frankreich war für Marthe ein rückständiges Land mit barbarischen hygienischen Sitten. Germaine und Mireille mochten ihre stets fröhliche Elsässerin. Sie machten sich nur über ihren rauen Akzent lustig. Sie lachten, wenn Marthe die Grammatik misshandelte, sich über die richtige Reihenfolge der Wörter hinwegsetzte. Marthe war gekränkt: «Ich versteh das nicht! Meinen die etwa, ihr südlicher Akzent sei eleganter!? Ich finde das überhaupt nicht schön! Einfach lächerlich, diese rollenden ‹r›. Wie soll man die denn ernst nehmen? Man hat das Gefühl, sie singen von morgens bis abends! Und wenn sie mal nicht schnattern, dann essen sie.» Der Appetit ihrer Schwägerinnen beeindruckte Marthe. Sie, die abends eine Scheibe Brot und eine große Schale Milchkaffee zu sich nahm, konnte kaum fassen, dass man zweimal am Tag eine vollständige Mahlzeit mit Vorspeise, Hauptspeise und Nachtisch vertilgen konnte. Mireille rupfte am Frühstückstisch ihre Tauben. Ließ während der Siesta unter der Gartenlaube ihre Paprikas marinieren, und in der Abendkühle rollte sie ihren Mürbeteig aus. Bevor sie schlafen ging, ließ sie einen letzten mütterlichen Blick über die Töpfchen mit dem Ziegenfrischkäse im Kühlschrank gleiten. Manchmal inspizierte Marthe den Graben in der Mitte des Bettes von Mireille und Julien. Ihre Körper rollten nachts einander entgegen. Stießen aneinander, bis sich schließlich eine tiefe Spalte in die erschöpfte Matratze gegraben hatte. Frankreich war für Marthe das Land, in dem man von morgens bis abends ans Essen dachte.

Marthes Abwesenheit kam Mathilde endlos vor. Ohne ihre Freundin war sie verloren. «Marthe geht bald. Das macht mir Angst, ma chérie, das macht mir Angst», gestand mir Mathilde gegen Ende des Sommers, wenn Marthes Abreise näher rückte. Manchmal schmuggelte Mathilde einen Zettel in Marthes Koffer: «Auf Wiedersehen. Bleib nicht so lange fort. À bientôt. Dina alt Kamaradla.» Die alljährliche Expedition nach Ventavon war der einzige Luxus, den sich Marthe gönnte. Sie hing an diesen zwei Monaten Sonne in der Heimat ihres Mannes. Mathilde flog im Frühling mit zwei Lederkoffern zu ihrer ältesten Tochter nach Marseille. Eine Ansichtskarte mit dem Prado-Strand kündigte Anfang Sommer ihre Rückkehr an: «Marthala, Du besch mi noch net los!! Je reviens!» «Du bist mich noch nicht los. Ich komme wieder.» Mathilde kehrte ganz braungebrannt nach Hause zurück, neu eingekleidet in den schönsten Boutiquen der Côte d’Azur. Marthe lauerte vor Mathildes Haus dem Taxi auf. Sie hatte die Blumen gegossen, ein bisschen saubergemacht, den Kühlschrank gefüllt und ein kleines Essen für den ersten Abend vorbereitet. «Salut toi», «Grüß dich», rief sie ihrer Freundin entgegen und nahm ihr den Koffer ab. Mathilde war so glücklich, Marthe wiederzusehen, dass sie ganz vergaß, die erschöpfte Reisende zu spielen. Sie war erleichtert, wieder zu Hause zu sein. Marthe war da. Alles war gut.

Mathilde hatte Marthes Sprache übernommen. Untereinander sprachen die Kamaradle elsässisch. Für Mathilde war das Elsässische eine kleine sorglose Sprache zwischen zwei großen. Die zwar etwas verpönt war, den Elsässern aber nie unter Zwang aufgepfropft wurde wie – abwechselnd – das Deutsche und das Französische. Eine alemannische Sprache, die es Mathilde erlaubte, Deutschland ganz nah zu sein, ohne damit aus der Reihe zu tanzen. Das Elsässische machte niemandem Angst. Mathilde fühlte sich gut darin. Meine Großmütter hüpften übergangslos von einer Sprache zur anderen, wie die Wörter gerade kamen.

Ein Satzanfang auf Französisch, die Fortsetzung auf Elsässisch, und ein gemischtes «Allez, salut Du!» zum Ende. Ein auf Französisch angefangener Satz bog rasch ab ins Elsässische. Ich hörte sie gerne in dieser Sprache reden, die mir verboten war. Mit mir haben Marthe und Mathilde nie elsässisch gesprochen. «Ach», sagte Marthe, «Elsässisch ist scheußlich, mein Schatzele. Und wenn du es einmal kannst, wirst du diesen fürchterlichen Akzent nie mehr los!» Marthe war der Überzeugung, dass das Elsässische von Mülhausen viel gröber war als das von Colmar, und das Straßburgische hielt sie für das Melodiöseste von allen dreien.

In den Fotoalben klebt Marthe wie eine siamesische Schwester an Mathilde. Ihre Silhouette ist schon durch das Seidenpapier zwischen den Seiten zu erkennen. 1908: Marthe und Mathilde Arm in Arm vor dem Gartengeländer. 1911: Marthe und Mathilde hoch auf dem Holzwägelchen. 1915: Marthe und Mathilde fröhlich beim Nachmittagskaffee im Esszimmer der Goerkes. 1920: Marthe und Mathilde auf dem schmiedeeisernen Bett in dicke Bücher vertieft. Mathilde hat ihre Haare zu Zöpfen geflochten. Zwei Schnecken umrahmen ihr Gesicht. Marthes Stirn ist unter einem Seidenband verdeckt. 1921: Marthe und Mathilde mit breitkrempigen Hüten auf dem Kopf posieren am Fuß der Treppe ihres Hauses am Arm zweier junger Männer. Und nach dem zweiten Krieg geht es mit diesen Tandem-Fotos wieder von vorne los. 1946: Marthe und Mathilde mit ihren halbwüchsigen Kindern auf einem Ausflug in die Vogesen. 1950: Marthe und Mathilde schieben ihre Fahrräder durch die Kopfhausgasse. Sie haben sich nach dem Markt auf einen Kaffee getroffen. 1959: Marthe und Mathilde über meine Wiege gebeugt. 1968: Marthe und Mathilde spielen mit ihren Enkelkindern Boule. Marthe und Mathilde unter dem Weihnachtsbaum, vor den Houses of Parliament, am Ufer des Comer Sees, ihre Urenkel auf dem Arm. Marthe und Mathilde immer gebückter, immer zerknitterter, immer schmächtiger. 1999: Marthe und Mathilde sehr sehr alt, nebeneinander an einer festlich geschmückten Tafel. Es ist das letzte gemeinsame Foto. Marthe sieht verloren aus. Ihre Bluse ist falsch zugeknöpft. Gelbe Haarbüschel stehen von ihrem Kopf ab. Sie lächelt selig vor sich hin. Mathilde ganz Herrin der Lage in ihrer rosa Bluse, mit rundem Rücken und verkniffener Miene. Marthe sieht auf diesen Fotos wie ein Accessoire aus. Als würde sie eine Nebenrolle einnehmen, deren einzige Funktion darin besteht, die Hauptperson in Szene zu setzen. Immer ist es Marthe, die Mathilde ansieht. Den Kopf leicht abgeschrägt, den Oberkörper nach hinten geneigt. Manchmal kann man nicht einmal ihr Gesicht sehen. Marthe bewundert Mathilde, die spricht oder lächelt, die Augen direkt aufs Objektiv gerichtet.

Mathilde beanspruchte den ganzen Raum. Aber Marthe nahm es ihr nicht übel. Die Rolle der emsigen Herrin des Hauses, die ihr in der familiären Aufteilung zugefallen ist, behagte ihr. Sie träumte nicht, wie Mathilde, von einem vornehmeren, von allen Zwängen befreiten Leben. Sie las nicht wie ihre Freundin nachts im Bett dicke Wälzer. Diese liebestollen Heldinnen, die mit den bürgerlichen Konventionen brachen, waren ihr fremd. Sie hatte ihre Rolle im Gleichnis von Martha und Maria schnell erkannt. «Schau, Martha ist den ganzen Tag auf den Beinen, um anderen zu dienen! Wie ich. Meine Eltern haben meinen Vornamen gut gewählt.» Sagte sie und verschwand in der Küche, während Mathilde sich in einen Sessel gleiten ließ. «Was sich Marthe mit all den Besuchen für eine Arbeit aufbürdet, das ist schon fast heldenhaft. Aber sie mag es eben, anderen Freude zu bereiten», kommentierte Mathilde und schloss ihre Augen zu einem kleinen Nickerchen. Wenn Marthe später zurückkehrte, beugte sie sich über Mathilde und murmelte mit einer gleichzeitig zärtlichen und schelmischen Stimme das spöttische «Madame est servie!», «Es ist angerichtet!» Und dann stießen die beiden Damen gemeinsam auf dem violetten Samtsofa miteinander an. «Santé, Marthe!» – «Zum Wohl, Mathilde!» Bevor es zu Tisch ging, genehmigten sie sich ein großes Glas Suze.

Marthe hatte zeitlebens im selben Haus gewohnt. Als sie heiratete, zog sie einfach eine Etage höher. Sie war die Wächterin des Dekors von Mathildes glücklicher Kindheit. Mathilde war immer etwas eifersüchtig auf dieses Haus, das Marthe geerbt hatte. Théodore Surkopf, Marthes Großvater mütterlicherseits, ein reicher Gemüsegärtner, späterer Präsident der Colmarer Gartenbau-Gesellschaft, hatte es 1906 erbaut. Mein Ururgroßvater hatte dieses dreistöckige Gebäude im neuen Viertel Saint Joseph hinter dem Bahnhof errichten lassen, um seine Tochter Augustine und seinen Schwiegersohn Henri Réling unterzubringen. 1910 ergänzte er seine Rente durch den Bau eines Mietshauses ein paar Straßen weiter in der Rue de Soultz. Dieser leidenschaftliche Botaniker verbrachte seine letzten Lebensjahre damit, in den Gärtchen seiner Häuser eigenartige Kreuzungen zu züchten. Die Todesanzeige in der Zeitung ehrt diesen alten Colmarer, der im Alter von dreiundachtzig Jahren gestorben war: «Eine Persönlichkeit unserer Stadt ist aus dem Leben geschieden, die sich allgemein des besten Ansehens erfreute. Zur Hebung des Garten- und Obstbaues hat H.Surcopf durch Abhaltung von Fachkursen und durch Vorträge während einer langen Reihe von Jahren in erheblicher Weise beigetragen. Die Gartenbesitzer, welche diese Veranstaltungen immer gerne besuchten, erinnern sich noch gut der klaren, von großer Sachkenntnis zeugenden Ausführungen des Papa Surcopf und seiner interessanten praktischen Demonstrationen.»

«Dieses Haus ist ein Palast», jubelte Mathilde selbst dann noch, als die Wand abzublättern begann. «Halten Sie vor dem weißen Haus da an der Straßenecke!», wies sie die Taxifahrer an, die nur eine Fassade sahen, die gelb war wie ein alter Zahn. Marthes Haus symbolisierte für Mathilde alles, was ihr das Leben vorenthalten hatte: einen Großvater, der seine Nachkommen aller materiellen Sorgen enthob, indem er in Immobilien investierte. Ein unverbrüchlicher sozialer Status und so tiefe Wurzeln, dass sie durch keinen Friedensvertrag gekappt werden konnten. Dieses Haus war vor allem eine Erinnerung an die glücklichen Zeiten vor 1918, als die Familie Goerke noch vollständig im zweiten Stock wohnte. «Frag Marthe, sie kann es dir erzählen!», sagte Mathilde oft zu mir, wenn ich sie über ihre Eltern ausfragte. Und Marthe erzählte mir von dieser verwöhnten Prinzessin, die in weißen Satinlaken schlief und feine Lederstiefel trug.

Marthe war nicht eifersüchtig, dass sie im Schatten ihrer Freundin stand. Sie fühlte sich nicht erdrückt durch Mathildes launische Anfälle, ihre exzentrischen Ideen, ihre «starke Persönlichkeit». Ich glaube nicht, dass es Marthe bewusst war, welch wichtige Rolle sie in diesem auf den ersten Blick so ungleichen Paar spielte. Als ich die verborgene Lebensgeschichte Mathildes entdeckte, wurde mir klar, dass Marthe die einzige Konstante ihres Lebens war, das Verbindungsstück, das die beiden Teile vor und nach 1918 zusammenhielt. «Ach, das wird schon wieder, Mathilde. Du machst dir Sorgen für gar nichts! Komm, wir machen einen Spaziergang, und du denkst nicht mehr daran», redete Marthe ihrer Freundin zu, wenn diese in einem Sumpf trüber Gedanken versunken war. Marthe war sich ihrer Identität sicher. «Ich bin Elsässerin, und man lasse mich in Ruhe mit diesen ganzen Grenzgeschichten!», hatte sie verkündet, als ich herauszufinden suchte, ob sie sich eher als Deutsche oder Französin fühlte. Marthe stellte sich keine unnützen Fragen. War sie traurig, hörte sie sich auf ihrem riesigen Pathé-Marconi-Plattenspieler hintereinander Maurice Chevalier und Tiroler Jodler an.

Der Balkon

Marthe und Mathilde haben einen Logenplatz. Seite an Seite auf dem obersten Balkon genießen sie den Panoramablick auf den von Menschen überströmten Boulevard. Marthe trägt wie alle jungen Mädchen von Colmar an diesem Tag ihre Elsässer Tracht. Mathilde fällt mit ihrem Schottenrock und ihrer Baskenmütze etwas auf. Seit Tagesanbruch johlt die ganze Stadt mit Leibeskräften. Vive la France! Es leben unsere Befreier! Ein Jubel ohne Ende. Der Krieg ist vorbei. Die französische Armee paradiert durch die Straßen von Colmar, das glücklich ist, wieder zu Frankreich zu gehören. Heute, am 18.November 1918, defiliert die 169.Division des ersten Armeekorps des General Lacapelle in Begleitung von General Messimy, ehemaliger Kriegsminister, über den Vogesenwall, der bald schon in Avenue de la Liberté umgetauft werden wird. Vier Tage später lässt sich General Castelnau zujubeln. Dann sind Poincaré, Foch und Clemenceau an der Reihe. Meine Großmütter beklatschen diese schnurrbärtigen Generäle in Lederstiefeln, die meine Schulbücher zieren und den Avenuen der französischen Städte ihre Namen geben werden.

Marthe wird unter einer viel zu großen Haube zerdrückt. Gestern hatte sie mit ihrer Schwester Alice in Elsässer Tracht vor einer griechisch-römischen Amphore im Atelier des Fotografen posiert. Die Rélings gehen nur bei großen Gelegenheiten zum Fotografen: Taufe, Erstkommunion, Heirat. Der Einzug der französischen Truppen ist ein kleines Extra. Marthe und Mathilde auf ihrem Balkon spüren die Kälte nicht, die ihnen die Wangen rötet. Sie betrachten die Bajonette, die Clairons, die Trommeln, die Generäle auf ihren Rotfüchsen, mit den roten Käppis auf dem Kopf und den Medaillen auf der geschwellten Brust. Marthe und Mathilde halten sich gerührt an der Hand. Mathilde schweigt. Marthe jubelt den Soldaten zu. So viele Männer hat sie noch nie gesehen. Sie waren alle in den Krieg gezogen. Marthe ist erst sechzehn. Aber ihre vollen Lippen, ihre in den schwarzsamtenen Bolero gezwängten jugendlichen Rundungen zeigen, dass sie der Kindheit entwachsen ist. Sie hatte einen Text von Paul Géraldy in ein Heft geklebt, der die Rückkehr von Elsass-Lothringen nach Frankreich beschreibt: «Es müssten der Sprache der Liebe die wärmsten, die stürmischsten Wörter entliehen werden, es müssten die Wörter der Leidenschaft gewagt werden, denn wir sind Zeuge geworden, wie sich ein Volk und eine Armee in die Arme geschlossen und sich in einem Aufschrei den Kuss der geistigen Heirat gegeben haben. Wie schön sind die Küsse! Die Frauen schleudern sie unter Einsatz ihres ganzen Körpers von sich. Zitternd entreißen sie die Finger ihrem Mund, bogengleich spannen sie ihre Arme, um sie den Soldaten zuzuwerfen…» Paul Géraldy, der Autor des Gedichtbands «Du und ich», ist als Dichter für Herzensangelegenheiten groß in Mode. Diese überströmende Lyrik ist der gewagteste Text, den Marthe in ihrem Leben je lesen wird. Mathilde sieht zu, wie ihre Freundin Kusshände auf den Boulevard hinunterwirft. Sie weiß genau, dass an diesem Tag kein französischer Soldat den Kopf heben wird, um einer jungen Deutschen zuzulächeln. Die Géraldy’schen Küsse sind nur für richtige Elsässerinnen bestimmt.

Marthe findet diese Soldaten, die den Krieg gewonnen haben, schneidiger als die öffentlich erniedrigten deutschen Offiziere, die ein paar Tage zuvor die Stadt mit gesenkten Köpfen in ihren zerschlissenen Uniformen verlassen haben. Der französische Generalstab ließ frische Truppen aus dem Hinterland anmarschieren. Sie tragen neue Uniformen. Sind bereit für Paraden und Bälle. Die französischen Generäle loben die «natürliche Würde und die geschmeidige Organisation» der französischen Truppen. Sie mokieren sich über die «stumpfsinnige Disziplin» und den «Kastengeist», die in der deutschen Armee herrschen. Die französischen Soldaten, die über den Vogesenwall defilieren, erinnern an eine Seiltänzertruppe. Elastischen Schrittes, beinahe tanzend schreiten sie voran. Ihre Uniformen sind farbenfroh. Sie machen mit der Hand kleine kokette Zeichen auf die Menge zu. Sie haben an den Ufern der Marne, der Aisne und der Meuse, unter den Mauern von Verdun gekämpft. Ihre Väter haben sich auf der Krim, in Italien, Mexiko, im Tonkin, in Madagaskar, Tunesien und Marokko ausgezeichnet. Diese exotischen Orte versetzen Marthe in die Dschungel und Wüsten der illustrierten Enzyklopädie ihres Vaters.

Am 18.November 1918 lobt General Messimy die natürliche Disziplin seiner Truppen: «Wir defilieren nicht in einem mechanischen ‹Parade-Marsch›. Der Soldat, der seinen Vorgesetzten grüßt, steht nicht stramm wie ein Automat. Zwischen uns und unseren Männern gibt es keinen Graben. Die distanzierte, hochmütige Disziplin voller Dünkel und Arroganz des deutschen Offiziers von gestern ist für uns eher eine Karikatur von Disziplin. Die unsere erwächst sowohl aus der großen Zuneigung des Obersten für seine Truppe als auch aus dem Vertrauen der Truppe in ihren Chef.» Marthe findet ihn sympathisch, diesen Messimy, der die Kinder, die man ihm entgegenstreckt, auf den Arm nimmt. Mathilde wird ihre Freundin später mit schelmischem Vergnügen daran erinnern, dass Mata Hari sich rühmte, hintereinander in Berlin den Kronprinzen und in Paris den Kriegsminister Adolphe Messimy in den Armen gehabt zu haben. Mathilde war voller Bewunderung für den freizügigen Patriotismus der Femme fatale der Spionage.

Marthe hat nie ein Geheimnis daraus gemacht. «In die Uniform habe ich mich verliebt. Und zwar auf den ersten Blick.» Sie hatte sämtliche Uniformen ihres Mannes in einer Truhe auf dem Dachboden zwischen den hölzernen Bauernhoftieren meines Bruders und meinen augenlosen Babypuppen aufbewahrt. Der Stoff war mit Mottenkugeln gespickt wie ihr Sonntagsbraten mit Knoblauchzehen. Die Medaillen und Tressen in Seidenpapier eingewickelt. Die Käppis wie russische Matroschkas ineinandergeschachtelt. Marthe wählte die Männer, wie man Pferde aussucht. «Die Hände und die Zähne, Schatzele », riet sie mir. «Schau gut auf die Hände und die Zähne. Darauf kommt es an!» Für die Wahl ihres Ehemannes ist sie allerdings von diesem Prinzip abgewichen. Sie hatte als Erstes das goldgesäumte Käppi gesehen, die azurblaue Jacke, die blaue Hose und den Säbel an der Seite. Er fällt ihr sofort auf am Tag, als Gaston Hugues, junger Leutnant der Großen Armee, erhobenen Hauptes unter dem Balkon vorüberreitet. Er ist nicht sehr groß. Er hat ein schönes, vornehmes Gesicht. Einen dichten kleinen Schnurrbart. Dunkle Augen. Er ist am 19.Juli 1894 am Fuß der Alpen in Ventavon, einem winzigen Dorf hoch oben auf einer Bergnase, geboren. Als Sohn des Briefträgers Alfred Maximin Hugues und der Louise Marguerite Conchy ist Gaston ein Kind des Volkes. Er ist begabt. Die republikanische Schule gibt ihm seine Chance. Mit sechzehn verlässt er sein Dorf, um in die Unteroffiziersschule Saint-Maixent einzutreten. Ein echter Franzose. Ein Halbgott. Der Wunschtraum jedes elsässischen Mädchens. Sie hätten alle ihre Seele verkauft, um sich in den Armen eines dieser schönen Befreiungssoldaten zu wiegen. Marthe hat ihn auserwählt, diesen da, am Tag einer Militärparade kurz nach dem Krieg. Gaston Hugues, Oberleutnant des 152.