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Das glänzend erzählte Porträt einer Frauengeneration. Persönlich, reflektiert und hoffnungsvoll. Zwölf Mädchen. Sie alle schreiben 1968 in das Poesiealbum von Pascale Hugues. Die Adjektive, mit denen sie dichten, lauten klein, süß, bescheiden. Niemals stolz, mutig, ehrgeizig. Diese Eigenschaften sind nur für Männer vorgesehen. 50 Jahre später macht sich Pascale Hugues auf die Suche nach diesen Mädchen, erzählt von ihren Leben als Frauen. Und porträtiert eine Generation: Zu jung für die Revolution von 1968, nutzen sie die Pille, die Abtreibung, die einvernehmliche Scheidung, das Recht, in Hosen ins Büro zu gehen und ein Gehalt zu bekommen, ohne ihren Mann um Erlaubnis zu fragen – all diese Errungenschaften, für die Generationen vor ihnen gekämpft haben. Jede von ihnen hat versucht, dem Frauenbild zu entkommen, das sich so deutlich in dem kleinen Poesiealbum widerspiegelt. Aber alle spüren, dass die unsichtbare Macht dieser Rollenzuschreibungen bis heute wirkt. Pascale Hugues reflektiert mit großer stilistischer Eleganz, wie die ihnen eingeschriebenen Eigenschaften Frauen ein Leben lang begleiten.
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Seitenzahl: 371
Veröffentlichungsjahr: 2021
Pascale Hugues
Porträt einer Frauengeneration
Zwölf Mädchen. Sie alle schreiben 1968 in das Poesiealbum von Pascale Hugues. Die Adjektive, mit denen sie dichten, lauten klein, süß, bescheiden. Niemals stolz, mutig, ehrgeizig. Diese Eigenschaften sind nur für Männer vorgesehen. 50 Jahre später macht sich Pascale Hugues auf die Suche nach diesen Mädchen, erzählt von ihren Leben als Frauen. Und porträtiert eine Generation: zu jung für die Revolution von 1968, nutzen sie die Pille, die Abtreibung, die einvernehmliche Scheidung, das Recht, in Hosen ins Büro zu gehen und ein Gehalt zu bekommen, ohne ihren Mann um Erlaubnis zu fragen – all diese Errungenschaften, für die Generationen vor ihnen gekämpft haben. Jede von ihnen hat versucht, dem Frauenbild zu entkommen, das sich so deutlich in dem kleinen Poesiealbum widerspiegelt. Aber alle spüren, dass die unsichtbare Macht dieser Rollenzuschreibungen bis heute wirkt. Pascale Hugues reflektiert mit großer stilistischer Eleganz, wie die ihnen eingeschriebenen Eigenschaften Frauen ein Leben lang begleiten.
Pascale Hugues, geboren in Straßburg, ist Journalistin und Schriftstellerin. Mit ihrem ersten Buch «Marthe und Mathilde» gelang ihr auf Anhieb ein großer Erfolg. Für ihr Buch «Ruhige Straße in guter Wohnlage» erhielt sie den Prix Simone Veil und den Europäischen Buchpreis. Pascale Hugues ist Deutschlandkorrespondentin des französischen Nachrichtenmagazins «Le Point», Kolumnistin beim «Tagesspiegel» und schreibt regelmäßig für verschiedene deutsche Medien. Sie lebt in Berlin.
Lis Künzli, geboren bei Luzern, studierte Germanistik und Philosophie in Berlin und lebt heute in Toulouse. Die Übersetzerin von Amin Maalouf, Atiq Rahimi, Camille Laurens, Pierre Bayard, Pascale Hugues, Marivaux, S. Corinna Bille u. a. wurde 2009 mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2021
Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München, nach dem Original von Les Arènes
Coverabbildung Eric Pillault
ISBN 978-3-644-01168-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für meine Mutter
Ob das wirklich eine gute Idee war? Meine ehemaligen Schulkameradinnen auf der Terrasse dieses kleinen Hotels am Fuß des Münsters zu versammeln? Kein Windhauch heute Abend. Über Straßburg die reglose sommerliche Hitzeglocke. Als ich die Gläser für den Aperitif bereitstelle, bin ich mir meiner Sache auf einmal nicht mehr so sicher. Ein halbes Jahrhundert lang haben wir uns nicht gesehen. Wir waren damals neun Jahre alt. Saßen in derselben Klasse. Das ist das Einzige, was wir gemein haben, dieses kurze Segment ganz zu Beginn unserer Lebenslinie. Ein bisschen mager, um auf ein unbeschwertes Wiedersehen, Gespräche bis spät in die Nacht zu hoffen. Was werden wir uns zu erzählen haben? Und wenn sich niemand an niemanden erinnern kann und wir den Abend damit verbringen, einander zu mustern und verlegene Kehlgeräusche von uns zu geben? Wenn wir in den trüben Tiefen dieser so fernen Zeit stochern und keine einzige Erinnerung an die Oberfläche steigt? Was habe ich mir da nur zusammengereimt? Dass man eine solch weit zurückliegende Vertrautheit einfach wieder abrufen kann? Dass es reicht, drei, vier Jahre in derselben Grundschule zu verbringen, und die Freundschaft hält für immer?
Mit Ausnahme von Françoise, die dabei ist, neben mir einen Turm aus Toastbrotdreiecken vor dem Einstürzen zu sichern, habe ich alle aus den Augen verloren. Ich versuche, mir gut zuzureden: Schließlich haben fast alle meine Einladung angenommen. Das ist doch ein gutes Zeichen. Diejenigen, die nicht kommen können, haben mir geschrieben, es tue ihnen leid. Wir werden zehn sein heute Abend.
Aber was macht sie nur? Ich habe Pascale L. schon vor einer ganzen Weile bemerkt. Hinter einer Buschhecke verborgen, schaut sie auf die Uhr. Bestimmt mag sie es nicht, zu früh da zu sein. Sie dreht noch eine Runde um den Häuserblock. Als vom Münster herunter sieben tiefe Schläge ertönen, steht Pascale L. auf der Hotelterrasse. «Bin ich die Erste?» Sie hat diesen künstlich erstaunten Blick der Ängstlichen, die stets vor den andern da sind und so tun, als wäre das ein merkwürdiger Zufall. Françoise eilt auf sie zu und umarmt sie. Pascale L. und Françoise sind seit der Schule Freundinnen. Der Vater von Pascale L. war Pförtner im Rathaus, Françoises Mutter ihm als Putzfrau unterstellt. Da waren die Kleinen natürlich unzertrennlich. Heute sind sie nicht mehr unbedingt auf einer Wellenlänge, aber sie sehen sich noch ab und zu aus Loyalität. Pascale L. hat noch immer ihr Kleinmädchengesicht, einen zartrosa Teint, kein bisschen Schminke, makellose Zahnreihen, klare Augen. Sie ist noch genauso pummelig wie früher, nur dass es heute niemand mehr wagen würde, ihr wie damals aus Spaß in die Wange oder in die Fettpölsterchen am Po zu kneifen. Noch immer derselbe praktische Kurzhaarschnitt. Trotz der grauen Haare und der Brille erkennt man sie sofort. Sie wird den anderen, die jetzt nach und nach eintrudeln, als Fanal dienen.
Es ist wie bei einem Ratespiel. Ich präsentiere Ihnen ein Gesicht, das nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun hat mit dem vor fünfzig Jahren, und Sie versuchen, es mit einem Namen zu verbinden. Da kommt Pilar, ganz klein in ihrem marineblauen K-Way, eine Strickweste auf dem Arm und eine riesige Tasche um die Schulter: «Sie haben für später ein Gewitter angekündigt.» Die anderen rufen aus: «Pilar! Wir hätten dich unter Tausenden wiedererkannt!» Ihre Kleinmädchenlocken sind dünner geworden, ihre Augen hinter einer großen Brille versteckt. Sie hat muskulöse Arme und einen Sprachtick. Sie sagt nach jedem Satz: «So was in der Art.» Pilar erinnert sich nicht an mich. Nicht an mein Gesicht und auch nicht an meinen Namen. «Verlangt bloß nicht von mir, mich an Gesichter zu erinnern», entschuldigt sie sich, um mich nicht zu verletzen. «Ich habe ein auditives Gedächtnis. Namen kann ich behalten, Gesichter hingegen … Aber ich habe eine Entschuldigung, ich nehme an, ihr habt euch alle ein bisschen verändert.»
Als Jeannine ruhigen Schrittes auf uns zukommt, ziehen sich die Stirnen in Falten: «Du, nein … Lass mich überlegen … Ich kann dich nicht einordnen.» Roseline hingegen wird von allen erkannt, ihr Sommerweizenblond, ihre Augen, die sich zu Schlitzen verengen, wenn sie lächelt. «Und die Zöpfe!» Für mich sind Roseline und Jeannine zwei Zopfpaare, Jeannine ein braunes, Roseline ein blondes. Wie Lianen, die ihnen bis zum Po fallen. «Aber was ist denn aus euren Zöpfen geworden?» Jeannines Haare sind kurz, dünner als damals, aber noch nicht grau. Ein sanftes Lächeln zwischen zwei Kreolen und Sommersprossen. Roseline trägt einen schulterlangen Pagenschnitt und immer noch denselben geraden Pony, der, ich gehe jede Wette ein, einen resoluten Charakter und einen praktischen Sinn verrät.
Pascale W. und Catherine fallen einander in die Arme. «Na sag mal, das ist ja eine ganze Weile her», ruft Pascale W. und drückt Catherine heftig an sich. Die beiden waren Nachbarinnen geworden, als ihre Familien Ende der sechziger Jahre in die Cité Nucléaire einzogen, eine der ersten großen Sozialwohnungsanlagen, die am Stadtrand, in Cronenbourg, auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz der Armee gebaut wurden. Noch lange nach dem Krieg gab es dort Luftabwehrraketen.
Das Viertel entlehnte seinen Namen von dem kleinen Kernreaktor auf dem Gelände des nationalen Forschungszentrums CNRS. Pascale W. wohnte in der Rue Lavoisier, Catherine in der Rue Paraclet. Kaninchenställe, hieß es bei uns zu Hause. Lauter identische kleine Schachteln, little boxes, wie im Song von Graeme Allwright. Für Pacale W. und Catherine jedoch war die Cité nucléaire der große Luxus. Ein Badezimmer mit warmem Wasser, Rollläden, Zentralheizung, ein eigenes Zimmer und ringsherum Mohnblumenfelder, so weit das Auge reichte. Der Turm des Münsters in der Ferne erinnerte daran, dass die Stadt nicht allzu weit weg war. Catherine und Pascale W. legen wie auf Knopfdruck los mit ihren «Weißt du noch …?». Gummitwist auf dem Gehsteig, Puppen im Treppenhaus an Regentagen, Madame Franz, ihre Lieblingslehrerin, die sie zurücklassen mussten, welche Tragödie, als sie die Schule wechselten. Madame Franz! Wir stoßen einen Schrei des Entzückens aus. Ihretwegen ist Catherine Lehrerin geworden. «Madame Franz hat etwas in mir ausgelöst. Sie hat mir die Liebe zum Beruf geweckt. Ich habe für meine Schüler dieselbe Empathie wie sie. Man muss das Leiden der Kinder verstehen. Madame Franz, die hatte ein vorbildliches Bildungsverständnis.» Catherine beschließt ihre Sätze mit einer feierlichen Miene. Sie hat noch immer ihr ernsthaftes kleines Gesicht und den Ausdruck der fleißigen, tüchtigen Schülerin, die immer alles recht macht.
Als Myriam eintrifft, dunkle Haut, lockige Haare, wird sie von allen für Houria oder Lahouaria gehalten, eine der beiden marokkanischen Schwestern. Oder tunesischen. Oder algerischen. So genau weiß das niemand.
«Das ist wegen deiner Kraushaare … Woher kommst du denn, lass mich nachdenken.» Jeannine kapituliert. «Nein, ich geb’s auf …»
«Tunesien!», verrät Myriam. «Das heißt, nur mein Vater. Meine Mutter war Französin.»
Als sie meine E-Mail erhalten hatte, glaubte Myriam erst an einen Internetbetrug. Ein Buch, das die Lebensgeschichte von Mädchen nachverfolgt, die sich nicht einmal mehr aneinander erinnern. An der Sache muss etwas faul sein. Schließlich beschloss sie, doch zu kommen. «Es ist wie in einer Realityshows. Irgendwann bist du dran. Du wirst eingeladen. Und jetzt bin ich an der Reihe, diese Chance konnte ich mir doch nicht entgehen lassen.»
Pilar und Myriam sind Krankenpflegerinnen im Hôpital civil. Seit Jahren laufen sie sich jeden Tag über den Weg, aber bisher hat keine der beiden gewagt, den ersten Schritt zu tun und die andere anzusprechen. Jetzt reden sie miteinander, als sei es das Natürlichste der Welt, als knüpften sie an ein Gespräch an, das sie vor wenigen Tagen erst unterbrochen hatten. «Bingo!», ruft Martine mit ihrer Flötenstimme. Sie ist gerade angekommen und geht schnurstracks zu Myriam und reibt ihr die Schulter. Sie saßen in der Schule nebeneinander. Myriam ist die Einzige, die sie erkennt. Außer mir. Aber sie geht lachend herum und grüßt, sagt, es sei zauberhaft, dieses ganze Völkchen wiederzusehen. Eine zierliche Martine mit großen blauen Augen. Sie hüpft von einem Bein aufs andere, es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte unseren kleinen Trupp Wiederauferstandener beklatscht.
Der junge Kellner, der mit der Flasche Rosé und den Minibrezeln von einer zur andern geht, sieht erschrocken aus. Er fragt sich, wie diese Tanten auf einmal auf seiner Terrasse gelandet sind. Da stehen wir. Mustern einander. Es heißt, auf der Hut zu sein, um nicht ins Fettnäpfchen zu treten. Vor allem, nicht auszurufen: «Was, das bist du? Das gibt’s doch nicht. Wie alt du geworden bist.» Die Zeit hat Furchen um die Münder gezogen, die Lider aufgedunsen, die Stirne in Falten gelegt. Die Körper sind schwerer geworden. «Ab Ende vierzig alterst du entweder gut, oder du alterst schlecht», sagt Françoise, als wäre sie an eine Abzweigung gekommen. «Es bringt nichts, sich das Leben zu vermiesen und nur noch Salat zu essen, es liegt sowieso an den Genen.»
«Ich hätte trotzdem ein bisschen besser aufpassen sollen», bedauert Jeannine und streicht reflexartig über ihre Hüften. Auch unsere Stimmen haben sich verändert. Unser Stimmbruch ist weniger spektakulär als der der Jungen, aber keine von uns hat die nervenaufreibende Kleinmädchenstimme behalten.
Wir setzen uns an den langen Holztisch. Es ist dunkel geworden. Die Ton- und Lichtshow son et lumiere wirft Streifen auf die Fassade des Münsters. Wir gehen über zu winzigen Kindheitserinnerungen: die gefältelte Haut auf der heißen Pausenmilch im Winter. Zehn angewiderte Grimassen. Sie wurde hinten im überdachten Pausenhof von einer blaurotwangigen Frau mit einer riesigen Kelle ausgeschöpft. Wir erinnern uns noch alle an die angeknabberten Ränder der Plastikbecher. Die Zehnuhrmilch war nach dem Krieg eingeführt worden, um Rachitis und Mangelernährung vorzubeugen. Sie war Ende der sechziger Jahre noch immer obligatorisch. In den armen Familien aß man dürftig damals. Vor allem in der Wochenmitte, wenn der Lohn noch nicht da war, der einmal wöchentlich, am Freitag, gezahlt wurde.
«Bei uns gab es nur für die Kinder Fleisch. Meine Eltern begnügten sich mit Kartoffeln und Salat», sagt Pascale L., die ihren Teller immer aufessen musste.
«Wenn man bedenkt, dass man jetzt den Vormittagsimbiss abschaffen will», sagt Roseline. «Es gibt zu viele übergewichtige Kinder. Wir waren nur Haut und Knochen. Bei mir gab es zum Frühstück entweder Butter oder Marmelade aufs Brot. Nie beides.»
Eine Erinnerung nach der anderen poppt schwerelos an die Oberfläche dieses Abends herauf. Leichte, zarte Blasen. Die städtischen Duschen. Dort gingen wir uns waschen, weil die meisten von uns zu Hause kein Badezimmer hatten. Im Gänsemarsch tappten wir durch den heißen Schaum. Mit einer rauen Bürste rieb jede den Rücken des Mädchens vor ihr ab. Und die Termine in der Zahnklinik im Schweizer Viertel! Es ging morgens mit dem Bus los. Der Fahrer hatte eine Mönchsglatze, rund und glänzend. Schon komisch, woran man sich erinnert. Der Film, der uns bei der Ankunft vorgeführt wurde, zeigte in Großaufnahme im Fleisch verkeilte Zähne, anarchische Überlappungen, vom Zucker verfressene Backenzähne. Diese Münder aus einer Zeit vor den Fluortabletten und dem allabendlichen Zähneputzen versetzten uns in Angst und Schrecken.
Jeannines Anekdote jedoch stellt alle anderen dieser unverwüstlichen Erinnerungen in den Schatten: «Apropos Karies. Erinnert ihr euch noch an das Dreckszeug aus dem Laden der Mutter Kratz?» Die Mutter Kratz! Die Kratzermama. Wie lange haben wir diesen Namen nicht mehr gehört, der klingt, als habe man einen Frosch im Hals! Ihr Laden befand sich am Ende der schmalen Straße, die zur Schule führte. Das Bimmeln der Glöckchen an der Eingangstür, die bunten Bänder des Fliegenvorhangs, der muffige Geruch in dem winzigen, stets düsteren Laden. Die Kratzermama sprach nur Elsässisch. Die anderen gaben für mich die Bestellung auf. Jeannine sagt nicht «Schleckerei» oder «Naschwerk» oder «Süßigkeit», diese altbackenen Wörter, mit denen man normalerweise die Bonbons umwickelt. Dreckszeug, sagt sie, und sie hat nicht ganz unrecht. In ihren tiefen Gläsern befanden sich Hexenbonbons, die bei der Berührung der Zunge die Farbe wechseln, Schleckmuscheln, Karamells zu zwei Centime das Stück, die an den Zähnen klebten, blaue, gelbe und rosa Ufos aus ungesäuertem Brotteig. Man steckte einen kleinen Strohhalm hinein und sog die Weinsäure und das Natrium ein. Das Kribbeln auf der Zunge. «Das waren mit Sicherheit keine Bio-Ufos!», sagt Françoise. «Wir freuten uns über so wenig», seufzt Pascale L. Die Anekdoten sprudeln nur so hervor. Ein solides Band verbindet uns nun miteinander. Das Eis ist gebrochen.
Im Grunde ähneln sich alle Kindheitserinnerungen. Eine Ansammlung belangloser Kleinigkeiten. Fossile Splitter, die wir nebeneinanderlegen, um das kollektive Bild unserer Kindheit wieder zusammenzusetzen. Sicher ist, dass die angeknabberten Becher und Kratzermamas Dreckszeug nicht abendfüllend sein werden. Martine fächert sich mit einer Papierserviette. Pilar zieht schließlich ihren K-Way doch noch aus. Geruch von glühendem Asphalt, der beißende Duft der Platanen an der Ill und noch immer diese stickige Hitze.
Das Gespräch beginnt, sich im Kreis zu drehen, als plötzlich das Schauspiel beginnt. Giacomina hat ihren Auftritt. «Giacomina!» «Jacqueline!», korrigiert sie. Schon lange nennt sie niemand mehr bei dem Vornamen des kleinen italienischen Emigrantenkindes, das eines Morgens zu Schulanfang völlig verstört in unserer Klasse auftauchte, ohne ein Wort Französisch zu können. «Im September angekommen, Weihnachten eine Auszeichnung für besonders gute Leistungen», posaunt sie in die Runde. Sie wirbelt herum, gibt Ausrufe des Erstaunens von sich, grüßt die eine, dann die andere, entschuldigt sich, sich eine Stunde verspätet zu haben. Giacomina bereichert unsere bescheidene Zusammenkunft um den Smalltalk eines mondänen Cocktailabends. Sie hatte schreckliche Mühe, einen Parkplatz zu finden. Als sie durch das Viertel kurvte, ist sie wie auf einem Kreuzweg sämtliche Stationen ihres Lebens durchgegangen: «Die Wohnung, in der ich mit meinen Eltern gelebt habe, die Sainte-Madeleine-Schule, das Münster, wo ich meine erste Kommunion empfing. Und jetzt ihr alle an diesem Tisch. Ist das nicht schön.» Sie stellt ihre Chanel-Tasche vor ihre Füße. Ein Schoßhündchen, das sich ans Bein ihres Frauchens schmiegt, die vergoldete Leine ums Stuhlbein gebunden. Giacomina setzt sich kurz entschlossen ans Kopfende des Tisches, als leitete sie einen Verwaltungsrat. Sie legt ihre Hände flach auf den Tisch und schaut uns scharf in die Augen: «Mi dica! Na, sagt mal!» Und beginnt, uns ihr Leben zu erzählen.
«Die war noch nie auf den Mund gefallen», flüstert Jeannine. «Das ist das italienische Blut», antwortet Roseline.
Giacomina gönnt sich eine gute halbe Stunde, um von ihrer Ankunft in Straßburg zu berichten. «Nach dem Süden, der Sonne, unserem großen Haus kam mir hier alles eng und schmutzig vor!» Das war, kurz bevor Italien zum gelobten Land für Nordeuropäer wurde, bevor die Elsässer die Strände von Rimini und die Campingplätze am Comersee entdeckten. «Man beschimpfte uns als Makkaroni, und einmal reichte es mir. Ich ging nach Hause und knallte die Tür: ‹Ich hasse die Franzosen! Das sind Rassisten!› Da sprang mein Vater auf und verpasste mir eine Tracht Prügel. ‹So, du hasst die Franzosen. Nie wieder, hörst du mich, nimmst du dir heraus, so etwas zu sagen. Frankreich ist das Land, das uns willkommen geheißen hat. Dem Land haben wir zu verdanken, dass wir zu essen haben. Wenn du es schaffen willst, gibt es nur einen Weg: Du musst besser sein als sie.› Mein Vater ertrug es nicht, wenn man Frankreich, unsere neue Heimat, kritisierte.» Heute ist Giacomina CEO eines Marmor-Unternehmens der Spitzenklasse. Sie setzt jede Silbe dieses imposanten Titels einzeln ab und trommelt mit der flachen Hand auf den Tisch. Unsere Gläser zittern. Wir ebenfalls.
Wir drücken uns aneinander, pressen die Knie zusammen. Einige haben die Arme auf der Brust verschränkt, wie in der Schule. Niemand wagt, den Mund zu öffnen. Einzig Martine mischt sich ein: «Aber trotzdem, Kinder so zu schlagen, das ist doch schrecklich!» Giacomina ignoriert sie. Sie spricht von den wahren Werten, die ihr Vater ihr eingetrichtert hat, und das wiederum gefällt Pascale L. Auch sie findet, dass die Kinder heute viel zu verwöhnt sind, verweichlicht, keinen Sinn für die Anstrengung mehr haben, dass sie nichts und niemanden respektieren und dass ein solider Tritt in den Arsch von Zeit zu Zeit nicht schaden kann. Da scheinen sich zwei gefunden zu haben.
Jeannine versucht, die Atmosphäre aufzulockern: «Unsere Nachbarn waren Italiener. Sie haben uns beigebracht, Brot ins Olivenöl zu tunken. Und meine Mutter fing an, ‹Schpaghetti› zu kochen. Wir mochten den exotischen Geschmack.» Damals nannte man die Teigwaren noch Nudeln. Wir kannten nur Butterhörnchen, Makkaroni mit Gruyère und Spätzle mit Hasenpfeffer. Françoise stimmt zu: «Italien ist ein schönes Land.» Sie sind diesen Sommer mit dem Chor nach Verona gefahren. Im Bus. Sie haben sich in der Arena Nabucco angehört. Unvergesslich.
Giacomina erzählt, sie «ziehe um die Welt», um die Häuser ihrer superreichen Kunden von Dubai bis Rio mit Marmor auszustatten. Da sieht Françoise alt aus mit ihrer Busreise nach Verona. Und Pilar, die mit ihren vierzehn Tagen China, vom Betriebsrat organisiert, angeben wollte. Plötzlich verstummt Giacomina. Um uns Zeit zum Staunen zu lassen? In den Reihen macht sich Spannung breit. Pascale W. ergreift das Wort. «Ich habe dir eine meiner beiden Barbiepuppen geschenkt, weil du zu Hause keine Spielsachen hattest. Weißt du noch?» Giacomina erinnert sich nicht daran. «Es gibt nicht nur das Geld, um seinen Erfolg unter Beweis zu stellen», zischt Jeannine empört. Sie möchte, dass wir zur Abwechslung ein wenig über unser Privatleben sprechen. Ein Terrain, auf dem sie mit ihren vierzig glücklichen Ehejahren und ihren vier Enkelkindern punkten könnte. «Oh ja», ruft Martine, «die Liebe, reden wir über die Liebe!» Martine lächelt die ganze Zeit und berieselt das Gespräch mit ihrem kaskadenartigen Kichern.
Giacomina meint, der Vorschlag richte sich an sie allein, und erzählt von ihrer ersten Ehe, die gescheitert ist. Fünf Jahre hat sie durchgehalten, aber eigentlich hätte sie sich schon nach einer Viertelstunde scheiden lassen sollen. Ein Casting-Fehler. Danach blieb sie lange allein, nicht ohne ein paar Affären natürlich. «Die Durststrecke hat zwanzig Jahre gedauert, aber dann habe ich das große Los gezogen, in Sachen Liebe meine ich, nicht in finanzieller Hinsicht.» Giacomina hat vor elf Jahren einen im Departement Moselle niedergelassenen Großunternehmer aus der Ardèche geheiratet, Witwer, zwanzig Jahre älter als sie, «aber noch frisch und knackig», wie sie betont. «Das nennt man eine gute Partie», staunt Pilar, die noch immer Single ist. Das große Los der Liebe, das würde sie auch gern ziehen.
Als sie meine Einladung bekam, fragte Giacomina, ob wir die Ehemänner mitbringen. Sie hatte vor, mit ihrem zu glänzen. Aber die anderen haben protestiert: «Das ist doch kein Rotary Club hier!»
Ist das die unvermeidliche Gruppendynamik? Jede findet sich rasch in einer bestimmten Rolle ein. In derselben wie als Kind. Giacomina ist die Anführerin der Truppe. Catherine und Jeannine sind unsere Philosophinnen. Catherine mit ihren gestelzten Maximen. Jeannine mit ihren Weisheiten für den Hausgebrauch. Françoise ist unsere Mutter Courage. Die den Abend organisiert, Wein nachschenkt und die anderen mit ihrem derben Humor zum Schmunzeln bringt. Pascale L. schwankt zwischen dem Spaßvogel und der Stimme der Vorsicht. Martine ist nicht ganz von dieser Welt. Myriam beobachtet mit einem Lächeln um die Mundwinkel, und Pilar ist auf der Hut. Roseline sorgt für das richtige Maß. Und ich bin wie in alten Tagen etwas am Rand.
«Und du? Jetzt bist du dran!»
Alle Köpfe drehen sich zu mir. Ich würde mich lieber raushalten, hin und wieder eine Frage stellen, das Gespräch in eine bestimmte Richtung lenken, in meinem Block Notizen machen und meine Anwesenheit vergessen lassen. Ich möchte mich auf die Rolle der Beobachterin beschränken, als hätte ich nichts mit ihnen zu tun. Eine Ethnologin, die gekommen ist, um diesen kleinen, aus der Vergangenheit aufgetauchten Stamm zu erforschen. Am liebsten würde ich nur zuhören. Nichts von mir selbst preisgeben. Aber natürlich wollen alle wissen, was aus mir geworden ist. «Du warst eine Privilegierte», wirft mir Giacomina vom anderen Tischende her zu. Ist das eine einfache Feststellung? Oder ein Vorwurf? Eine offene Aggression? Ich fühle mich unwohl. «Du hattest alles und wir so wenig.» Catherine verbündet sich mit Giacomina. Sie erinnert sich an das Schokocroissant, das ich in der Pause aus meinem Schulranzen zog. Jeden Morgen holte mein Vater frisch rasiert für mich in der Bäckerei unseres Viertels ein Pain au chocolat. Der Geruch seines Aftershaves auf dem Blätterteig war für mich der schönste Liebesbeweis. Catherine schämte sich zu Tode, wenn ihre Großmutter, deren Fenster auf den Pausenhof hinausging, mit einer Stimme, die unsere Spiele übertönte, rief: «Catherine, dein Pausenbrot!» Catherine fing das in Zeitungspapier gewickelte Bündel auf, ein einfaches Brötchen, in dem ein Schokoladenriegel steckte. Catherine hätte sich gewünscht, ihre Großmutter würde ihr ebenfalls ein Pain au chocolat herunterwerfen. Aber als Putzfrau überstieg das ihre Mittel. Und darum gönnt sich Catherine heute, wenn sie mal einen Durchhänger hat, ein Pain au chocolat. Jetzt schaut sie mich ohne Bitterkeit an: «Du warst für mich der Inbegriff der perfekten Familie. Du hattest alles, was du brauchtest, und noch viel mehr. Aber im Nachhinein denke ich, dass ich auch hatte, was ich brauchte.» Catherine gesteht mir zum ersten Mal, wie sehr sie mich beneidet hat. Sie sieht unsere Wohnung vor sich, der ihre Kinderaugen monumentale Ausmaße verleihen, Deckenhöhen von Kathedralen, ein riesiges, lichtdurchflutetes Esszimmer, Regale, die sich unter Büchern bogen, ein Zimmer voller Spielsachen. Sie übertreibt. Ich glaube nicht, dass ich in solchem Luxus groß geworden bin. Catherine sagt, sie sei eingeschüchtert gewesen, wenn sie zu mir zum Spielen kam, meine Eltern seien immer so gut angezogen gewesen.
«Nicht wie meine Mutter, die immer in der Schürze war, um ihre Kleider nicht abzunutzen.»
«Oder meine, immer in Schwarz, der Farbe der Witwen», sagt Pilar.
«Oder meine, immer schwanger, die Hände auf ihrem Kugelbauch», sagt Martine, die zehn Geschwister hat.
Ich würde mich am liebsten ganz klein machen. Ich sage nur: «Ja, das stimmt, ich hatte Glück.» Es ist die einzige mögliche Antwort. Ich war mir damals des Grabens nicht bewusst, der uns trennte. Sie aber haben alles gesehen und nehmen heute Abend eine gründliche Bestandsaufnahme meiner Privilegien vor.
«Wir lebten nicht in derselben Welt», sagt Roseline.
«Wir werden uns doch wohl nicht für unsere Herkunft schämen», gebietet Jeannine der Runde.
«Unsere Leben sind völlig gewöhnlich und letztlich ohne großes Interesse. Was willst du eigentlich genau von uns?», fragt Catherine, die sich nur schwer vorstellen kann, dass ihr Leben das Zeug zu einem Roman hat. Es ist kein Bedauern, einfach eine friedliche Feststellung. Sie hat die Augen auf einen Korianderstängel geheftet und macht eine ernste Stirn. Catherine war schon immer bescheiden gewesen. Blond und zierlich, mit spitzem Gesicht, hört sie lieber den anderen zu.
Und Martine ist einverstanden: «Stimmt, ich finde es ganz schön mutig von dir, in unseren armseligen, kleinen und bis zum Gehtnichtmehr anonymen Leben nach einem Sinn suchen zu wollen. Viel Glück!»
Einzig Giacomina versichert uns, dass für ihre Lebensgeschichte drei Bände kaum reichen würden.
Catherine hat recht. Es gibt nichts Spektakuläres an diesen Berichten, die wir heute Abend miteinander teilen. Die einzelnen Bausteine sind alles in allem stets dieselben. Geburt in sehr bescheidenem Milieu, Schule, Frühkommunion und Erstkommunion, kurze Ausbildung, in seltenen Fällen das Abitur, der erste Job oft für immer, Hochzeit in Weiß, auch für immer, erstes Kind, zweites Kind, manchmal ein drittes, auf jeden Fall weniger als die Mutter, Beförderung bei der Arbeit, bei der sie es weiter bringen als ihre Eltern, Hausbau auf Kredit, Ehekrise, sich zusammenraufen, Hüftoperation, Stimmungstief, neuer, schwieriger Chef, überschüssige Pfunde und die Tortur nutzloser Diäten, eine schöne Reise in die Provence, Autounfall – «zum Glück nur Blechschaden», Ärger mit dem Sohn, der in der Schule nichts tut, Diplom der Tochter – «ich war so stolz, ich, die ich nie die Chance hatte, das Abitur zu machen» –, «pures Glück», wenn die Enkelkinder kommen, während die Rollen sich vertauschen und nun sie es sind, die ihre Eltern mit dem Löffel füttern. All diese kleinen Ereignisse, die das Leben einer Frau ausmachen, zum Teil auch meines.
Als die Zehnerglock ertönt, die Glocke für die Juden, die im Mittelalter vor zehn Uhr die Stadt verlassen mussten, stehen wir auf, um ein Foto zu machen. Der Himmel ist schwarz wie Teer. Wir stellen uns, die Großen hinten, die Kleinen vorne, vor dem beleuchteten Münster auf. Das Bild ist unscharf. Der Abend zu Ende. Jede packt beim Aufräumen mit an. Pascale B. sagt, das nächste Mal warten wir kein halbes Jahrhundert mehr, um uns wiederzusehen. Sie lässt ein Blatt Papier herumgehen. Alle schreiben Adresse und Telefonnummer auf. Wir küssen uns zum Abschied. Und Martine spricht das Schlusswort: «Glück, das ist genau das. Ein solches Treffen, zusammenkommen, miteinander sprechen. Ein winziger Augenblick, den ich nie vergessen werde.» Myriam flüstert mir beim Weggehen zu, dass der Abend sie sehr bewegt hat. «Alles kehrt wieder zurück. Die Kindheit, die Erinnerungen. Das kommt von sehr weit her.» Spät in der Nacht erhalte ich eine SMS von Françoise. «Gute Nacht … Ich kann nicht schlafen … So viele Emotionen.»
Alles hat damit begonnen, dass mir eines Tages mein Klassenfoto in die Hände fiel. Die Namen schossen hervor wie bei einem Appell. Anne-Marie, Manuela und Pilar, der Spanierinnenclan. Houria und Lahouaria, die beiden maghrebinischen Schwestern. Giacomina, die einzige Italienerin. Und das Gros der Truppe, die Französinnen, mehrheitlich Elsässerinnen: vier Pascales, zwei Martines, zwei Catherines, Béatrice, Dominique, Elisabeth, Tochter einer Lehrerin, Françoise, Christine, eine Marie-Anne und eine Marianne, und dann diese altmodischen Vornamen, die mich zum Schmunzeln bringen, Yvette, Raymonde, Roseline, Josiane, Susanne, Jeannine, Clarisse. Ich habe keine Einzige von ihnen vergessen. Wer weiß, warum. Das Gedächtnis ist launenhaft. Es wählt aus, was ihm gefällt. Ich bin außerstande, meine Klassen aus dem Gymnasium oder meinen Jahrgang an der Uni abzurufen, aber ich kann jedem dieser Namen das Gesicht eines kleinen Mädchens und eine Anekdote zuordnen.
Ein Flash nach dem anderen zieht an mir vorbei, Bilder und Töne einer fernen Vergangenheit prallen aneinander. Roseline, der Name einer Prinzessin aus dem Märchenschloss. Anne-Marie, ihre winzigen Eckzähne. Pascale L, steht auf und rennt, ohne um Erlaubnis zu fragen, mit zusammengekniffenen Pobacken und dem Schrei «Ich habe Dünnpfiff, Madame!» zur Tür des Schulzimmers und stürmt die Treppe hinunter zur Toilette im Hof. Ein kleines Mädchen wie der Vesuv. Der entgeisterte Blick der Lehrerin. Unser Gelächter. Martine K., sehr groß, sehr blond, Topffrisur, im Klassenzimmer immer sofort in die hinterste Reihe gesetzt, damit sie den anderen nicht die Sicht nimmt. Marianne, deren Eltern nie genug Geld hatten, um Hefte und Stifte zu kaufen. Dafür hatten sie – welch ein Skandal! – das Kindergeld für einen nagelneuen Fernseher verjubelt, das Geld bar hingeblättert. Das Fläschchen, das Anne-Marie mir unter dem Pult zeigt. Sie war am Blinddarm operiert worden. Ein Wurm schwimmt in einem grünlichen Formalinbad.
Wir waren in der grande école, der Grundschule, der «richtigen», wie wir damals sagten. In der Sainte Madeleine im Krutenau-Viertel von Straßburg. Es war eine Mädchenschule. So war es in die Fassade aus rosa Vogesensandstein eingraviert. Gleich daneben befand sich die Jungenschule. Die Jungen hatten Lehrer, wir Mädchen Lehrerinnen. Die Jungen hatten Patres, wir Mädchen Nonnen. Da wir im Elsass noch immer dem Konkordat unterstanden, war der Katechismusunterricht obligatorisch. Eines von vielen Überbleibseln aus der deutschen Zeit. Als Frankreich 1905 die Trennung von Kirche und Staat einführte, auf der die Laizität französischer Prägung gründet, war das Elsass noch deutsch. Das Konkordat wurde also dort nicht außer Kraft gesetzt wie im ganzen Land jenseits der Vogesen und gilt noch heute. Morgens trennten wir uns auf dem gegenüberstehenden Trottoir von unseren Brüdern. Zweimal am Tag holten wir sie an derselben Stelle wieder ab. Am Mittag, um zum Essen nach Hause zu gehen. Und um vier, wenn die Schule aus war. Über dem Portal baumelte die Trikolore. Außer bei Wind. Dann richtete sie sich auf und schlug gegen den Mast. Heute hängen dort zwei Flaggen. Die Trikolore und das Sternenbanner Europas. Wenn der Wind sich dreht, kommen sie ins Strudeln und umschlingen sich wie antike Kämpfer oder Liebende, je nachdem. Die Schule ist heute ein gemischter «Schulkomplex». Die Schüler heißen Enzo, Emma, Lee-Lou, Iman und Liam. Entsprechend der Mode, der Einwanderung und amerikanischen Serien. Arya wie in Game of Thrones, Jackson wie in Grey’s Anatomy. Es würde niemandem mehr einfallen, sein Kind Martine oder Pascale zu nennen.
Anders als der Name vermuten lässt, war die Sainte Madeleine keine religiöse Einrichtung, sondern eine öffentliche Schule in einem Arbeiterviertel. Ihre Schüler setzten sich zusammen aus den armen Kindern des Krutenau-Quartiers und dazu einigen aus der Bourgeoisie, die wie ich im Stadtzentrum, in der Nähe des Münsters auf der anderen Seite der Ill wohnten. Damals schickte man seine Kinder noch in die Kiezschule. Und basta. Nur einige wenige sorgliche Eltern brachten ihre Kinder in privaten religiösen Einrichtungen in Sicherheit. Meine Eltern waren konfessionslos und links. Es kam nicht in Frage, die Tochter zu den Nonnen zu schicken. Ich wohnte also auf der anderen Seite des Flusses, der eine natürliche Grenze bildete zwischen der Krutenau und der um das Münster gedrängten Altstadt. Wir wohnten seit meiner Geburt in einem Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert, das unter Denkmalschutz stand, wie meine Mutter nie hinzuzufügen versäumte. Sie hatte es wegen der Volutengiebel, der Balkone mit den efeubehangenen Schmiedeeisen und dem gepflasterten Innenhof gewählt.
Sainte Madeleine ist auch der Name der Kirche auf dem Platz. Ein großes Bauwerk ohne jede Eleganz, das 1904 bei einem Brand teilweise zerstört und einige Jahre später vom deutschen Stadtbaumeister Fritz Beblo restauriert wurde. Ich finde sie hässlich. Ich habe nie den Fuß hineingesetzt. Aber ich mag den lustigen Namen des Architekten der Deutschen. Von ihrem Durchzug sind im Viertel noch ein paar andere Spuren geblieben: an einer Wand das deutsche Schild «Gas in allen Etagen». In der ehemaligen Jungenschule das «Frei/Besetzt» auf dem Toilettenriegel.
Ich bin nicht die Einzige, die nach Freunden der Vergangenheit sucht. Copains d’avant («Freunde von früher»), Trombi.com, Facebook … Soziale Netzwerke, die das Finden erleichtern, haben Hochkonjunktur. Zumal das deutsche Ritual des Klassentreffens hierzulande nicht existiert. In Deutschland treffen sich die ehemaligen Mitschüler, die gemeinsam das Abitur abgelegt haben, regelmäßig alle fünf, zehn, zwanzig Jahre zum Abitreff. Wie oft habe ich in einem Berliner Lokal diese Gruppen von Frauen beobachtet, alle im selben Alter, ihr Lachen über eine weit zurückliegende Erinnerung, ihre verschwörerischen Seufzer, «Na ja, Mädels, so ist das Leben!» Wie oft habe ich meine deutschen Freundinnen beneidet, wenn sie völlig aufgekratzt von einem Abendessen mit ehemaligen Mitschülerinnen aus ihrer Heimatstadt zurückkehrten. Meistens überwog allerdings der Schrecken die Nostalgie: «Du solltest mal sehen, wie die heute aussehen. Bauch, Falten, und wie konventionell, wie spießig.» Die gealterten Gesichter rufen ihnen ihre eigenen Jahre in Erinnerung.
Ich würde auch gerne wie die Deutschen lebenslang einer kleinen schwesterlichen Schulgemeinschaft angehören. Ich wäre auch gerne in der Stadt meiner Kindheit verankert. Ich, die ich mich manchmal so entwurzelt fühle. Bei uns verlaufen sich die Freundschaften, sobald die Schule beendet ist. Man behält nur die kostbarsten von ihnen. Und wenn man wie ich die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens im Ausland verbracht hat, wenn man bei der erstbesten Gelegenheit weggegangen ist, dann ist die Chance gering, dass man auf der Straße einer ehemaligen Freundin in die Arme läuft. Das Band ist durchschnitten. Vielleicht bin ich im Alter angekommen, da man Lust hat, die Risse zu kitten, an den Anfang zurückzukehren, um den Kreis zu schließen. Schon möglich.
Ich suche nach zweiundzwanzig kleinen Mädchen – fillettes, wie man sie damals noch nannte. Ich suche nach einem Wäscheduft, zart wie ein Maiglöckchenstrauß, nach einer Zahnspange, einer rotzigen Nase, Mundgeruch, einem Muttergottesmedaillon auf einem Krausstrickpulli, einer kristallklaren Stimme, einem epileptischen Rotschopf, nach einer Krakelschrift, dem Geruch nach der Lotion Marie-Rose, die einem Kopf voller Läuse den Garaus machen soll, einer karierten Bluse, einer kindlichen Eifersucht, einem Mittelscheitel zwischen zwei Zöpfen, einem fetten Elsässer Akzent, wie man bei uns zu Hause sagte, und das war kein Kompliment, einem auf dem Grund eines Schulranzens zerdrückten Brot mit Mettwurscht, die es nur im Elsass gibt, einem Klebstofftöpfchen, das lecker nach süßer Mandel roch, grauen, um die Waden geringelten Socken, einer Kruste auf geschürften Knien, Mercuchrom-Jod. Ich trage Bruchstücke zusammen, die eine ganze Epoche ausmachen. Ich suche nach unserer Kindheit Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. Ich möchte ein Gruppenporträt meiner Generation erstellen.
Wir sind zu spät geboren, um Kinder der Nachkriegszeit zu sein. Zu spät geboren, um Achtundsechziger zu sein. Wir haben die zwei großen Kapitel verpasst, die die zweite Hälfte des Jahrhunderts geprägt hatten. Den Krieg haben wir in der Schule durchgenommen. Wir haben ihn nur im Kino und sonntags am Familientisch kennengelernt, wenn die Eltern und Großeltern uns von ihrem Ärger mit den Boches erzählten. Die Barrikaden im Quartier Latin, das war etwas für die Großen. Von Woodstock und dem Summer of Love haben wir Bilder in Zeitschriften gesehen, aber es war uns schleierhaft, was all diese jungen Leute daran fanden, sich im Schlamm zu umarmen. Unsere Generation hat keine besonderen Konturen. Wir beneideten die Achtundsechziger. Sie verströmten einen Geruch nach Tränengas und Sex. Während wir 1968, mit unseren Milchreis- und Seifendüften, noch Gören waren. Wir sind eine bedeutungslose Generation ohne Label. Die anderen sind die Generation X, Y, Z, die Millennials, die schweigende, die verlorene, die geopferte, die Nullbock-, die Smartphone- oder Nesthockergeneration. Von uns spricht keiner. Außer wenn wir zur Last werden. Wir sind eine große, unförmige demographische Kohorte, die jetzt auf die Rente zusteuert. Wir haben gute Chancen, lange zu leben. Wir stürzen die Alterspyramide auf den Kopf: oben breit und unten spitz. Wir heben das System aus den Angeln. Unseretwegen versuchen sie, das Renteneintrittsalter nach hinten zu verschieben. Unseretwegen die Streiks, die Demos und diese ganze Wut, die im Lande grollt. Die Kinder werden bluten müssen, um für uns zu zahlen. Wir sind eine Bürde. Sie nehmen es uns übel. Klingt logisch.
Wir sind in Zeiten der Vollbeschäftigung und des unbegrenzten Wachstums geboren. Als wir zum ersten Mal liebten, waren wir von der Pille geschützt und noch nicht von Aids bedroht. Wir haben weder Krieg noch Katastrophen erlebt. Wir haben nie um irgendetwas gekämpft. Wir sind Faulenzer, Verwöhnte. Wir werden uns niemals rühmen können, die kollektive Geschichte geprägt, den Lauf der Welt verändert zu haben. Wir sind mit zehn Jahren Verspätung geboren. Was bedeutet es, im Jahr 1979 zwanzig gewesen zu sein? Die anderen, die Achtundsechziger, haben die schmutzige Arbeit für uns erledigt. Wir sind Profiteure, sagen wir es freiheraus.
Wir sind schwer einzuordnen. Und vor allem sind wir viel zu viele. Babyboomer der zweiten Stunde. Laut den Demographen beginnt die zweite große Geburtswelle 1955 und erreicht 1964 ihren Höhepunkt. Die Jüngsten von uns sind 1960 geboren, die Älteren, die Wiederholer und die Eingewanderten, die in eine niedrigere Klasse gesetzt wurden, damit sie schnell Französisch lernten, 1959 und 1958. Wir wurden geboren, als 1958 General de Gaulle an die Macht kam. Er bleibt bis 1969. Im Jahr 1968 kennen wir nichts anderes als ihn, seine Parkwächtermütze, seine zwei Meter Länge und seine Gattin Yvonne mit ihrer Handtasche auf dem Schoß, unser aller Tante Yvonne.
Charles de Gaulle hatte sein Gegenstück. Konrad Adenauer von der «anderen Seite». Denn im Elsass führte man eine Art Doppelleben. Es ließ uns keine Ruhe, was in Deutschland vor sich ging. Wir schielten ständig zum anderen Rheinufer hinüber: Was machen die da? Woher nehmen sie diese Energie, um nach dem ganzen Horror, den sie verbreitet haben, wieder aufzustehen? Was ist ihr Geheimnis, und warum machen sie es immer besser als alle anderen? Warum glänzt ihr Wirtschaftswunder strahlender als unsere Trente Glorieuses? Denn es war eindeutig zu sehen, wenn wir den Rhein überquerten: Auf der anderen Seite war alles neu. Die Bombenangriffe der Alliierten hatten ihre Städte dem Erdboden gleichgemacht, und die Stadtplaner der Nachkriegszeit haben alles bereits wieder aufgebaut. Bei uns sahen die Städte aus wie mehrstöckige Torten, die von innen heraus schimmeln. In den Toiletten der Sainte-Madeleine-Schule gab es Ratten. Im Treppenhaus des Altbaus, in dem ich wohnte, Mäuse und Kakerlaken. «Sie haben den Krieg verloren, und jetzt sind sie reicher als wir», klagte meine elsässische Großmutter. «Sie», das waren die Deutschen, um nicht zu sagen, die Boches, die Chleuhs, die Schpountz, die Teutonen, die Fridolins.
Wir sind in diesen Ausnahmejahren groß geworden, als in Frankreich alles wie am Schnürchen lief. Im Mai 1968 gab es zweihundertfünfzigtausend offene Stellen, die nicht besetzt werden konnten, und hundertvierzehntausendachthundert registrierte Arbeitslose. Man konnte sie sozusagen an den Fingern einer Hand abzählen. Jeden Tag gab es in den Zeitungen seitenweise Stellenanzeigen. «Dynamisch», hieß das Adjektiv der Stunde. Die Sixties waren nichts für Weichlinge. Überall wurden Buchhaltungsexperten gesucht, Verkaufslehrlinge, Lageristen, technische Zeichner, LKW-Fahrer, Automechaniker, Karosserielackierer, Zentralheizungsinstallateure, Elektriker, gute Maurer und Verputzer, Blechkaltverformer, Gipser und Schlosser. Wenn es dem Baugewerbe gut geht, geht es allen gut, sagte mein Vater gerne, ein Architekt, der den Boom nutzte und die ersten großen Wohnanlagen für Eigentümergemeinschaften im Umland von Straßburg baute. Keine von uns hatte einen arbeitslosen Vater. Am Freitagabend klappte man seinen Werkzeugkasten zu, forderte seinen Lohn ein, und am Montagmorgen ging man in der Garage nebenan arbeiten. Frankreich holte Einwanderer herein, die mit anpackten. Italiener und Spanier lebten schon eine Weile in Straßburg. Später kamen Portugiesen und die ersten Nordafrikaner hinzu. In Kehl, auf der anderen Rheinseite, waren es die türkischen Gastarbeiter.
Wir ritten auf einer steilen Diagonale immer höheren Gipfeln zu. Um uns herum stieg alles an: die Geburtenrate, die Lebenserwartung, das Wirtschaftswachstum, die Industrieproduktion, die Abiturientenzahl, das Einkommen, das Kindergeld, die Renten, der gesetzlich garantierte Mindestlohn, der am ersten Juni 1968 einen Sprung von fünfunddreißig Prozent machte, der Lebensstandard, die Kaufkraft, der Konsumentenverbrauch, die Länge des bezahlten Urlaubs und die unserer Sommerferien, die zehn Wochen dauerten. Sogar die Zahl der Verkehrsunfälle nahm zu. Kein Wunder, es gab mehr und mehr Autos, und sie fuhren immer schneller. 1967 gab es allein in der Agglomeration von Straßburg siebenundvierzig tödliche Unfälle und nur dreizehn Kilometer Autobahn. Sonntagsfahrern wurde geraten, sich zu Hauptstoßzeiten nicht auf die Straße zu wagen. Die motorisierte Brigade ging gegen Verkehrssünder, unvorsichtige Fahrradfahrer und Picknicker vor, die sich auf dem Grünstreifen niederließen. Man fühlte sich allmächtig. Man war überzeugt, bald wäre der Krebs besiegt und man werde auch Herzmuskelinfarkt, Falten, überflüssigen Pfunden, Sodbrennen und schlaffer Erektion Herr.
Wir stammen aus der Steinzeit. Unsere Kinder verspotten uns als Dinosaurier. All diese veralteten Gesten, die sie nicht mehr kennen: einen Knoten ins Taschentuch knüpfen. Einen Canard aus der Kaffeetasse der Eltern schlürfen. Ihre Zigarette anzünden und den ersten Zug nehmen. Die sprechende Uhr anrufen, um seine eigene richtig zu stellen. Eine Telefonnummer auf einer gelöcherten Wählscheibe einstellen. Einen postlagernden Brief abholen, wenn man am anderen Ende der Welt ist und Heimweh hat. Wir sind wohl die letzte Generation, die auf einer Schiefertafel schreiben gelernt hat, mit einem Griffel, der am Ende einer Schnur baumelte, und einem nassen Schwämmchen in der Dose. Später kamen die Sergent-Major-Feder und die ins Holzpult eingelassenen Tintenfässchen, die heute in Volkskundemuseen ausgestellt werden. Wir haben nacheinander Telex, Fax, Minitel kennengelernt, die ersten Mobiltelefone, sperrig wie ein kleiner Koffer, die ersten IBM-Kugelkopfschreibmaschinen, den ersten Amstrad-Computer. Das heißt, wir haben einen sehr langen Weg hinter uns.
Heute versuchen wir tapfer, Schritt zu halten, doch die Kinder machen sich lustig über uns. Wir tippen unsere SMS mit dem Zeigefinger. Wir sprechen von unserem Computer in der dritten Person: «Aber was macht er denn jetzt schon wieder?», und holen die Kinder zu Hilfe, wenn «er» wieder mal seine Launen hat. Wir denken, wir seien cool, weil wir auf Facebook sind. Die Plattform der Alten, kichern die Kinder, die sich aus dem Staub gemacht haben, als wir gekommen sind. Wir verschicken auf WhatsApp Selfies mit dem Daumen nach oben. Wir zeigen gerne, wo wir in den Ferien waren, wie einig unsere Familie ist und wie geräumig unser Zuhause. Instagram und Snapchat sagt uns nicht viel, und wir verschicken keine Storys mit einem Bild von unserem Mittagessen. Die Influencer mit ihren Tausenden Followern sind für uns mysteriöse Wesen. Wir benutzen Emojis, schmücken unsere Nachrichten mit strahlenden Sonnen, erhobenen Daumen, zerknirschten Grimassen. Und wir schreibenvollständige Sätze mit korrekter Zeichensetzung und ohne Rechtschreibfehler. Ohne hello, Hf, 2g4u, 4U, akla und andere Hieroglyphen in unseren SMS.
Es wäre leicht, die späten sechziger Jahre zu idealisieren. Die Züge kamen pünktlich, und niemand fuhr ohne Fahrschein. Es gab noch qualifizierte Handwerker, die gute Arbeit leisteten, am Postschalter höfliche Beamte, in den Kaufhäusern hilfsbereite Verkäuferinnen, Händler in den Nachbarschaftsläden, die unsere Mütter mit «Was darf es sein, junge Frau» ansprachen, und Fleischer, die den Kindern eine rosa Scheibe Cervelat gaben. Die Hausangestellten waren «Personen des Vertrauens», die jungen Mädchen «von gutem Ruf» und die Manager «jung und dynamisch», genauso wie das Hacksteak, dieses «junge, dynamische Produkt», das den «Hausfrauen» Zeit sparte. Sonntags gab es Messe, danach den Forellenangelwettbewerb bei den Teichen oder die Rassehundeshow. Im Mai Weißsonntag und Maiglöckchen. Im Juni Fronleichnam und die Kirschen. Im Herbst den neuen Wein und die Walnüsse. Die Kinder waren noch keine Prinzen. Sie spielten auf den Gehsteigen, bis es dunkel wurde, und sahen nur am Donnerstagnachmittag fern, wenn keine Schule war. Einbrüche waren selten. Der Wettbewerb «Mein Dorf soll schöner werden» und die Wanderungen des Vogesenclubs fanden auch bei Regenwetter statt. Die Weißen Väter organisierten Wohltätigkeitsveranstaltungen. Für überlastete Hausfrauen wurde ein Bereitschaftsdienst ins Leben gerufen. Unsere Großmütter klemmten noch die Kaffeemühle zwischen die Schenkel. Sie rechneten in alten Francs. Einige zogen sich abends um, bevor sie sich die Fernsehnachrichten ansahen. Es kam nicht in Frage, sich dem Sprecher in Anzug und Krawatte, der in einem veralteten Französisch «das Neueste» deklamierte, und den Ansagerinnen, die das Abendprogramm verkündeten, im Bademantel zu präsentieren. Die Frauen lasen damals keine Nachrichten. Das hätte nicht seriös ausgesehen. Die Paare ließen sich nicht scheiden, und die Familien waren kein Patchwork und nur selten alleinerziehend. 1968 war man erst mit einundzwanzig volljährig, das sollte sich aber bald ändern.