Ruhige Straße in guter Wohnlage - Pascale Hugues - E-Book

Ruhige Straße in guter Wohnlage E-Book

Pascale Hugues

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Beschreibung

Eine gewöhnliche Straße. Prachtvolle Jugendstilfassaden stehen selbstbewusst neben seelenlosen, in aller Eile aus den Kriegsruinen gestampften Wohnblöcken. Eine Straße, wie es in Deutschland Hunderte gibt. Hier wohnt die Französin Pascale Hugues. Sie ist der verschütteten Geschichte ihrer Straße nachgegangen. Was ist aus den Anwälten und Professoren des jüdischen Bildungsbürgertums geworden? Und aus den Frauen, deren Häuser und Leben unter den Bomben der Alliierten zusammengebrochen sind? Wie hat diese Straße in den 50er Jahren wieder zur Normalität zurückgefunden? Pascale Hugues hat sich auf die Spuren ihrer Nachbarn begeben, ihrer einstigen und heutigen. Sie hat all die tragischen und schönen Geschichten wieder ausgegraben, aber auch die vermeintlichen Belanglosigkeiten im Leben der Menschen, die das Schicksal in der gleichen Straße wohnen ließ. Lilli Ernsthaft zum Beispiel, die erste Bewohnerin der Straße. Sie hat 79 Jahre in der Nummer 3 gelebt. In ihrem Salon defilierte in den 20er Jahren die Berliner Hautevolee. Hans-Hugo Rothkugel, Sohn eines assimilierten jüdischen Notars, der seine Frau zurechtwies, als sie ihm an Jom Kippur einen Schweinebraten vorsetzte: «Aber wirklich, Irma, jetzt übertreibst du!» Pascale Hugues reiste zu dem alten Französischlehrer nach Berkeley. In Berlin hat die Autorin Liselotte Bickenbach ausfindig gemacht, einst Sekretärin beim Oberkommando der Wehrmacht. Und Bärbel Soller, eine echte Berliner Pflanze, weiß von dem Bordell «mit Asiatinnen» der 80er Jahre zu berichten. Die Lebensgeschichten einer Straße verdichten sich zum Panorama einer ganzen Epoche – brillant erzählt und voller Empathie geschrieben.

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Seitenzahl: 387

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Pascale Hugues

Ruhige Straße in guter Wohnlage

Die Geschichte meiner Nachbarn

Aus dem Französischen von Lis Künzli

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Eine gewöhnliche Straße. Prachtvolle Jugendstilfassaden stehen selbstbewusst neben seelenlosen, in aller Eile aus den Kriegsruinen gestampften Wohnblöcken. Eine Straße, wie es in Deutschland Hunderte gibt. Hier wohnt die Französin Pascale Hugues. Sie ist der verschütteten Geschichte ihrer Straße nachgegangen. Was ist aus den Anwälten und Professoren des jüdischen Bildungsbürgertums geworden? Und aus den Frauen, deren Häuser und Leben unter den Bomben der Alliierten zusammengebrochen sind? Wie hat diese Straße in den 50er Jahren wieder zur Normalität zurückgefunden? Pascale Hugues hat sich auf die Spuren ihrer Nachbarn begeben, ihrer einstigen und heutigen. Sie hat all die tragischen und schönen Geschichten wieder ausgegraben, aber auch die vermeintlichen Belanglosigkeiten im Leben der Menschen, die das Schicksal in der gleichen Straße wohnen ließ. Lilli Ernsthaft zum Beispiel, die erste Bewohnerin der Straße. Sie hat 79 Jahre in der Nummer 3 gelebt. In ihrem Salon defilierte in den 20er Jahren die Berliner Hautevolee. Hans-Hugo Rothkugel, Sohn eines assimilierten jüdischen Notars, der seine Frau zurechtwies, als sie ihm an Jom Kippur einen Schweinebraten vorsetzte: «Aber wirklich, Irma, jetzt übertreibst du!» Pascale Hugues reiste zu dem alten Französischlehrer nach Berkeley. In Berlin hat die Autorin Liselotte Bickenbach ausfindig gemacht, einst Sekretärin beim Oberkommando der Wehrmacht. Und Bärbel Soller, eine echte Berliner Pflanze, weiß von dem Bordell «mit Asiatinnen» der 80er Jahre zu berichten. Die Lebensgeschichten einer Straße verdichten sich zum Panorama einer ganzen Epoche – brillant erzählt und voller Empathie geschrieben.

Über Pascale Hugues

Pascale Hugues, geboren 1959 in Straßburg, war von 1986 bis 1989 Korrespondentin der Tageszeitung «Libération» in Großbritannien, danach bis 1995 in Deutschland in Bonn und Berlin. Seit 1995 schreibt sie regelmäßig für das Wochenmagazin «Point» und verschiedene deutsche Zeitungen, u.a. «die tageszeitung» und den «Tagesspiegel». Daneben hat sie Filme für den deutsch-französischen TV-Sender ARTE gedreht. Für den Film «L'est c'est fini» über ostdeutsche Jugendliche und den Text «In den Vorgärten blüht Voltaire» in ihrer Tagesspiegel-Kolumne «Mon Berlin» wurde sie jeweils mit dem Prix du journalisme franco-allemand in den Sparten Fernsehen und Presse ausgezeichnet.

Inhaltsübersicht

WidmungMeine StraßeFür die Ewigkeit gebautLilli Ernsthaft, unsere StraßenältesteEine Nadel im HeuhaufenGünther Jauch bei den JeckesDer Balkon von gegenüberHannahs KleidGanz der Vater!Die Möbel müssen gerettet werdenDas Dach der WeltUnd dabei haben sie den Krieg verloren!Totgeglaubte kehren zurückEndlich der RuhmFrau Soller zieht ausStraßenklatschMeutereiBildteilDanksagungBildnachweis

Für Kaspar und Taddeo: die Straße eurer Kindheit.

Meine Straße

Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet hierher gezogen bin. Warum in diese und nicht in eine andere Straße. Die Entscheidung für eine Adresse ist willkürlich, wenn man neu ist in einer Stadt, die Prozedur immer dieselbe, wenn man sich Enttäuschungen ersparen will: Man faltet einen Stadtplan in großem Maßstab auseinander. Versucht sich in dem dichten Raster aus Straßen, Kreuzungen, Brücken, Plätzen und Bahnlinien zurechtzufinden. Zieht Bleistiftkringel und markiert «Park», «U-Bahn», «Bahnhof», «toller Kiez!». Man grenzt die in Frage kommenden Sektoren ab und ordnet die Viertel nach Präferenz in absteigender Reihenfolge: von perfekt bis zumutbar, vom äußersten Kompromiss bis zum völlig Ausgeschlossenen.

Welches Argument hat letztendlich den Ausschlag gegeben? Die zentrale Lage? Die Nähe zum Markt? Zur U-Bahn? Die Caféterrassen in den Nachbarstraßen? Die nächtliche Ruhe? Der besänftigende Schatten der Kastanienbäume an den Gehsteigrändern? Hatte ich mich vor allem von der Notwendigkeit drängen lassen, so schnell wie möglich unterzukommen, da mir die Zeit fehlte, wochenlang nach der idealen Straße zu suchen? Vielleicht war es auch nur ein banales Zusammenspiel der Umstände: Eine Wohnung wurde just in dem Augenblick frei, als ich eine suchte. Die Zeitungsanzeige versprach Eine ruhige innerstädtische Straße mit Altbausubstanz in guter Wohnlage. Was will man mehr? Wahrscheinlich habe ich nicht lange überlegt. Es war mein Glückstag.

 

Bei der Wohnungsbesichtigung war ich bezaubert vom Gipsstuck an den Decken. Über meinem Kopf schlängelten sich mit Kastanien durchsetzte Blätterranken dahin. Dann war da die hohe Schiebetür im Wohnzimmer, die ovalen Milchglasscheiben in der oberen Hälfte, das Knacken des Parketts unter meinen Schritten, die großen gusseisernen Heizkörper hinter ihrem Schutzgitter, Baujahr 1905, die ziselierten Messinggriffe an den Fenstern, die kleine, sonnendurchflutete Loggia mit ihrem schmiedeeisernen Geländer. Wieder hinunter ging’s mit dem alten Fahrstuhl, zu dem nur die Bewohner den eigenartig krummen Schlüssel besitzen. Zwischen dem zweiten und dem ersten Stock machte der Fahrkorb aus dunklem Holz einen heftigen Ruck. Um mich dann in der mit granatfarbenem Marmor bekleideten Eingangshalle wieder abzusetzen.

Die Prokuristin der Eigentümergesellschaft, Kulturperlen um den Hals, Körbchengröße I, überquellend, Haare nach Mode der Seventies zur Banane toupiert, gekünsteltes Lächeln im Gesicht, fing mich vor der Eingangstür ab, um mir die «herVORragende Infrastruktur» anzupreisen: eine «Hauswartsfrau, die jeden Wunsch von den Augen abliest, eine wöchentliche Putzkolonne, die die Gemeinschaftsbereiche gründlich besorgt (sie hatte das gründlich besorgt mit solcher Vehemenz ausgesprochen, dass ich keinerlei Mühe hatte, sie mir als Amazone an der Spitze einer Horde unerschrockener Putzfrauen vorzustellen, die zum Sturm auf den Dreck ansetzt), Nachbarn mit Niveau (oh, dieses Substantiv, das sie sich wie ein Sahnebonbon auf der Zunge zergehen ließ … Aussichten auf Hauskonzerte, Bridge-Nachmittage, mondäne Cocktailpartys, bei denen Tabletts mit Häppchen und Sektgläsern herumgehen), keine Kneipen, die mitten in der Nacht ihre mit Korn vollgelaufenen Säufer auf den Gehsteig ausspucken, gute Schulen für die Kinder «innerhalb eines Radius von 500 Metern» – während sie mir diese Auskunft erteilte, zog sie mich mit ihrem Blick aus und taxierte die Kurve meines Bauches, aber die Frage zu stellen, die ihr auf den Lippen brannte, hat sie sich denn doch nicht getraut – und als schlagendes Argument schließlich die Nähe zum KaDeWe, ihr ureigenes Terrain. Fünf Minuten Weg! Mit Bushaltestelle vor der Tür! KaDeWe … Sie hatte die drei Silben voller Ehrerbietung und mit Augen deklamiert, die funkelten wie die Schaufenster des großen Kaufhauses kurz vor Weihnachten. Im Bewusstsein, dass mein Schicksal in ihren Händen ruht, sortierte die Prokuristin in Windeseile meine soziale Lage: Lohnkarte, Arbeitgeber … Zack, zack. Sie hatte große Übung darin, die Leute in ihrer kleinen hausgemachten Hierarchie unterzubringen. Ich hatte keinen Titel vorzuweisen … Purzelbaum nach unten. Ich war Französin … Ein Argument, um aufzusteigen oder noch tiefer abzurutschen? Ich habe es nie erfahren.

An der Türschwelle trennten wir uns. Sie streifte sich die beigefarbenen Kalbslederhandschuhe über, hupte kurz und kräftig, und schon war sie am Steuer ihres Mercedes-Coupés (passend zu ihren Handschuhen, genauso wie zu ihrer Handtasche) davongerauscht, zu vornehmeren Ufern aufgebrochen, nach Zehlendorf, wo sie wohnte.

 

Wieder allein auf dem Gehsteig begann ich die Straße ausführlich zu erkunden. Eine ziemlich kurze Straße. Sie beginnt an einem U-Bahn-Ausgang zu Füßen einer neugotischen Backsteinkirche mit drei Türmen, verläuft von da geradeaus, überquert – dort, wo der Plan einen «Park» verzeichnet – ein schmuddeliges Rasenviereck mit ein paar Bänken, auf denen sich die Säufer und Hundebesitzer des Viertels versammeln. Danach führt sie über einen platanengesäumten Platz, um schließlich auf einen kochschinkenfarbenen Sozialwohnungsblock aus den Siebzigern zu prallen, dessen fleischliche Note sich mit dem prüden Graubeige der anderen Fassaden beißt. Die Balkone sind mit Parabolantennen gespickt. Im Erdgeschoss die Küchen von CallaPizza. Vor dem Eingang türmen sich die Marco-Polo-Peperonibüchsen. An der Wand baut der Pizzabäcker, der hinter dem Laden seine Pause macht, eine Kippenpyramide auf. An einem Mäuerchen sind neben den Mülltonnen die Mofas und der Fiesta für die Lieferungen geparkt. Das Gebäude blockiert den Durchgang für die Autos. Nur die Fußgänger können sich durch das «Mäuseloch» schlängeln, diesen schmalen Bogen, durch den der Wind fegt und der die Straße mit einer Durchgangsstraße verbindet. Die Wagen müssen kehrtmachen. Ein Labyrinth für Taxifahrer, die mit der verzwickten Topographie des Häuserblocks nicht vertraut sind. Nein, nicht einmal eine richtige Straße ist es. Eine Sackgasse.

 

Als sich die Stadt nach dem Mauerfall neu orientieren musste, ist die Straße an den Rand des neuen Berlin abgeglitten, weitab von den trendigen Vierteln, weitab von allem, was sich regt und vibriert und glänzt. Hier schläft man einen friedlichen Schlaf. Hier lassen nachts keine jungen Leute aus der ganzen Welt ihre Partys steigen. Die Touristen setzen keinen Fuß dahin. Meine Straße hat eine gewisse Altmodischkeit bewahrt, die mich rührt. Unerschütterlich wahrt sie Distanz zum angesagten Treiben. Sie weigert sich, sämtliche Moden mitzumachen. Und ich bewundere diese Standfestigkeit. «Na, du wohnst also im alten Westberlin!», mokieren sich die Hipster aus Mitte verächtlich. Erst im Laufe der letzten Jahre haben eine schüchterne Gentrifizierung, die Erhöhung der Mieten und Immobilienpreise sowie der Mangel an Wohnungen, vor allem an Altbauwohnungen, zu einer allmählichen Aufwertung geführt.

Die Nachkriegsarchitekten – urbanistische Schönheitschirurgen, die den verunstalteten deutschen Städten so etwas wie ein Gesicht zurückgeben sollten – haben die Sache nicht unbedingt besser gemacht. Niedrige Wohnblöcke mit Flachdach stehen neben den paar wilhelminischen Häusern mit den großräumigen Dachböden, die in ramponiertem Zustand die Bombenangriffe überstanden haben. Relikte einer bürgerlichen Vergangenheit. Die Bauherren, die diese exklusive, verheißungsvolle Straße zu Beginn des letzten Jahrhunderts mit großem Eifer errichteten, hätten sich wohl nicht träumen lassen, dass ihre Geschichte einmal so enden würde: eine zerstückelte, völlig zerstörte Straße, mitleiderregend beinahe. Eine zusammengestoppelte Straße. Ihre dicht aneinandergedrückten Gebäude scheinen sich gegenseitig abstützen zu müssen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ohne jede gemeinsame Proportion, ohne jede Einheit von Stil oder Epoche legen sie mit ihrer zickzackförmigen Fluchtlinie Zeugnis ab von ihrer bewegten Vergangenheit.

 

Will man sich einen Eindruck von den Verwüstungen verschaffen, die der Bombenhagel in meiner Straße angerichtet hat, muss man sich eine Luftaufnahme aus dem Zeppelin vom Jahr 1928 ansehen, der an jenem Tag über den azurblauen Berliner Himmel schwebte. Man sieht darauf eine gerade, klare Linie, flankiert von robusten Gebäuden und ausladenden Bäumen. Das hat nichts zu tun mit dem heutigen, so verzagten Verlauf.

Dort, wo einst die Nummern 1 und 2 standen, befinden sich ein Viereck aus gestampftem Boden, ein hölzerner Tisch mit Bank und eine Reihe Birken, um die Brandmauer der Nummer 3 gegenüber dem Sozialwohnungsblock etwas zu verdecken. «Privater Spielplatz. Nur für Mieter der Wohnanlage», verkündet das Schild. Eine überflüssige Warnung. Ich habe noch nie ein Kind in diesem Sandkasten spielen sehen. An der Fassade der Nummer 28, Ende der fünfziger Jahre errichtet, versucht eine altertümliche Wandleuchte aus Schmiedeeisen an die Vergangenheit anzuknüpfen, aber sie ist einfach nur fehl am Platz. Auf den Balkonen klettern dreckgepuderte Plastikblumen über die Spaliere. In der Nummer 25 wurde der Stuck von der Fassade geschabt und ein blauer Fries aus Fliesen gelegt, wie in einem Badezimmer. Die gesamte Häuserreihe von der 23 bis zur 19 und die gegenüber von der 11 bis zur 7B wurden zerstört. Die Gebäude sind nicht ersetzt worden. Die Lücken springen einem ins Auge wie fehlende Schneidezähne in einem breiten Lächeln. An der Stelle der Nummern 22 und 23 ein Parkplatz. Dann der «Park», der seinen Namen – wie eine graffitibeschmierte Plakette verkündet – einer obskuren jüdischen Sozialreformerin verdankt, gestorben 1948 in New York, eine bedeutende Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung. Der Stempel der Gleichberechtigung der späten neunziger Jahre ist deutlich zu erkennen. Außer dass er im ganzen Viertel nur «Pennerpark» genannt wird.

Leinenzwang für Hunde! Grillverbot! Ein- und Ausfahrt freihalten! Müll bitte in die Abfallkörbe! Die Ruhezeit von 20 bis 7 Uhr ist einzuhalten! Rauchen und Alkoholkonsum sind nicht gestattet! Diese Verbote am Eingang des Fuß- und Fahrradwegs scheinen einzig angeschlagen zu sein, um den Benutzern die Freude zu gestatten, sich über sie hinwegzusetzen. Die Rutschbahnen und Schaukeln auf dem Spielplatz sind verwaist. Die Mütter des Viertels sind sich einig: Dieser Spielplatz ist eine No-go-Area. Er hat etwas Proletarisches! Er wird von einem zweifelhaften Publikum frequentiert. Und er stinkt nach Pisse! Im Holzhäuschen, wo die unschuldigen Kleinen Kaufmannsladen spielen, soll eine Spritze gefunden worden sein, und ein Krabbler in Oralphase hätte beinahe eine Kippe verschluckt. In einer bereits kühlen Herbstnacht haben drei betrunkene Benutzer im Suff offenbar eine der beiden Bänke abgefackelt, um sich ein wenig zu wärmen. Um die andere Bank herum ragen Bierflaschendeckel und Minifläschchen «Bitter-Kräuterfreunde-40%» unter dem Laub hervor. Der Park hat seine Stammgäste: Da ist dieser Mann mit Apostelbart, der mit einem Stock die Mülleimer umrührt und seine Beute in einem Einkaufswagen hortet. Und diese ganz in Schwarz gekleidete Frau, die im Winter im Gebüsch herumstreicht. Ich bin ihr einmal gefolgt, um ihrem geheimen Treiben auf die Spur zu kommen: Sie hängt für die Vögel kleine Beutelchen mit Kernen an die Stauden. Sie hat ihnen sogar ein Häuschen aus einem Schuhkarton gebastelt und es mit einem Klebestreifen vor Regen geschützt. Auf dem Spielplatz unter einer Birke hatte ich vor ein paar Jahren eine erschütternde Begegnung. Ich passte auf die Kinder auf, als sich eine Frau näherte und mir aus heiterem Himmel zu erzählen begann, sie sei bei der Ankunft der Russen vergewaltigt worden. Ein kurzer Moment der geistigen Verwirrung … Dann fasste sie sich wieder und setzte ihren Weg fort, während ich wie versteinert zurückblieb. Ich habe sie nie wiedergesehen.

Verlässt man den «Park», springt einen sofort die Nummer 12 an. Die violetten Neonlichter aus den überdimensionierten Schaufenstern des Luxusküchen-Studios, in dem sich früher ein Antiquariat befand, bestrahlen die Kreuzung nachts so grell, dass man sich in einen funkelnden Lunapark versetzt fühlt. Die 12 ist eines der schönsten Gebäude der Straße, es hat die Bomben überstanden, und ich verüble es dem Botschafter der Dampfgarer und Keramikkochplatten ein wenig, dass er es so entstellt hat.

In den achtziger Jahren sind die Altbauten plötzlich um ein Stockwerk angewachsen. Da sich Berlin auf seiner Insel nicht ausbreiten konnte, ist es in die Höhe gewachsen. Die Holzdachböden wurden zu hellen, luxuriösen Dachwohnungen umgebaut, mit offenem Kamin, Terrakottaterrassen, Oleanderkübeln und großen Glasfenstern. Diese Lofts, wie futuristische Deckel auf Alt-Meißener Porzellanschüsseln gepfropft, ersticken die Vergangenheit der Gebäude endgültig. Ein Fremdkörper, der die Einheit des Ganzen zerstört. Viel schicker und teurer als die normalen Etagenwohnungen. Dort oben, gleich unter dem Himmel, lebte die neue Aristokratie der Gebäude. Das Dachgeschoss markiert den Beginn der Gentrifizierung meiner Straße.

 

Ich bin in Frankreich in einem Renaissancehaus aus dem Jahr 1586 groß geworden, von dem jeder Voluten- oder Obeliskengiebel, jeder Erker, jeder Portalvorbau, jeder Stein aus dieser Epoche stammt. Es hat die Zeiten ohne eine Schramme überstanden. Was für ein Schock, als ich mich in Berlin in einer Straße voller Narben wiederfand. Man kann es nicht anders sagen: Meine Berliner Straße ist ziemlich hässlich. Rau. Kaputt. Sie kennt nicht die perfekt rhythmisierte Gliederung und die makellosen Fassaden von Pariser Straßen. Bei den Pariser Straßen wird die Einheit nicht zerstört durch klaffende Löcher und stillose Gebäude, die da nicht hingehören. Diese Harmonie entzückt mich jedes Mal von neuem. Paris ist nicht bombardiert worden. Es gab zwar auch die eine oder andere skandalöse Bausünde, einen Brand, Abrisse für den Durchbruch einer großen Allee, der Ringautobahn oder um Platz für ein Einkaufszentrum zu schaffen. Aber im großen Ganzen haben sich die Pariser Straßen nicht sehr verändert. Man kann mit Leichtigkeit ihr einstiges Aussehen rekonstruieren, sich das frühere Leben darauf ausmalen, die Passanten in Gedanken in historische Kleidung stecken und zusehen, wie sie völlig natürlich die hohen Haussmann’schen Gebäude betreten. Die Pariser Straßen haben sich sanft durch Zeiten und Epochen tragen lassen. Sind praktisch heil in unserer Zeit angekommen.

Ganz anders meine Straße in Berlin. Sie besteht aus Brüchen. Brutalen Rissen. In ihr überlagern sich die Epochen, von denen die eine die Erinnerung an die vorige fast vollständig auslöscht. Auf dem Gehsteig vor der Nummer 12 stolpern die Passanten noch immer über das «Murmelloch», eine Kerbe, die während der letzten Straßenkämpfe vom April 1945 eine Granate in die Bodenplatte geschlagen hat. Die Jungen der Straße steckten in den fünfziger Jahren ihre Murmeln hinein. Es ist noch nicht allzu lange her, fünf Jahre vielleicht, da waren auf manchen Fassaden noch die Einschusslöcher zu sehen. Und bevor in meinem Haus der Fahrstuhlschacht vor zwei Jahren neu verputzt und gestrichen wurde, gab es an den Wänden Einschlagspuren der Granatsplitter. Auf dem Gelände des Supermarkts beim Parkeingang liegt wild durcheinander ein halbes Dutzend moosbedeckte Stelen, als hätte ein Junge seinen Bauklötzen einen trotzigen Fußtritt versetzt. Die Bordüren im Stein weisen darauf hin, dass es sich dabei um Teile aus der Vorkriegszeit handelt. Um Fensterrahmen? Sockel? Weiß der Himmel, wie sie über ein halbes Jahrhundert erhalten geblieben und warum sie nicht mit den übrigen Trümmern entsorgt worden sind. Ringsum leere Zigaretten- und Tablettenpackungen, Joghurtbecher und ein umgekippter ausgeleierter Bürostuhl. Die Passanten haben ihre Abfälle hinter die Umzäunung befördert. Hinter diesem entweihten Friedhof der dahingegangenen Nummer 8 befindet sich der «Edeka-Fußballplatz», nach der Schule Treffpunkt für die Jungs aus der Straße.

Aber diese Schönheitsfehler zählen nicht. Meine Straße gehört zu denen, die man liebt, ohne zu berechnen. Mit dieser ruhigen Zuneigung, die man Menschen oder Dingen entgegenbringt, die uns nichts mehr zu beweisen haben. Mit einer Liebe, die von der Gewohnheit lebt, durch die tägliche Begegnung gefestigt und gegen alle bösen Überraschungen gefeit ist. Diese Straßen sind Tag für Tag Zeuge unseres Lebens geworden, von Geburt und Tod, Liebe und Kummer, Freude und Sorge, Weihnachten und Geburtstagen, Langeweile und Dramen, von einer unfassbaren Emotion bisweilen, einer flüchtigen Wehmut, all dieser Jahre, die unbemerkt verflogen sind … Ja, sie sind in gewisser Weise ein Teil von uns selbst geworden. Sie sind der Schauplatz des täglichen Einerleis, dieser kleinen Nichtigkeiten des Lebens, der Stunden, in denen nichts passiert, all dieser winzigen Ereignisse, die nach und nach aus unserem Gedächtnis verschwinden. Es wäre aber zu billig, sich über ihre Gewöhnlichkeit lustig zu machen. Erst recht, da sie um ihren bescheidenen Status wissen und sich nie über ihr Schicksal zu erheben versuchen. Ihre Verletzlichkeit rührt uns. Sie fordert unsere Loyalität heraus.

 

Meine Straße hat nicht die Selbstherrlichkeit der großen Prachtstraßen. Die Wilhelmstraße, der Kurfürstendamm: entweder ein einziges Grauen oder reine Frivolität. Die Wilhelmstraße eine Geschichtsmeile, die bis 1945 Hitlers Reichskanzlei beherbergte. Der Kurfürstendamm in den zwanziger Jahren Hochburg des wilden Nachtlebens, danach während des Kalten Krieges das ostentative Schaufenster des Westens. In meiner Straße hingegen kein einziges erwähnenswertes historisches Datum. Ich habe nur ein Foto gefunden, das von einem besonderen Ereignis zeugt.

Es war der 8. Mai 1911. Der Festzug der Bäcker-Zwangsinnung Schöneberg. Die Leinenmarkisen mit Volants auf den Balkonen verleihen den Fassaden ein südliches Flair. Die Straße ist ganz neu: Die frisch gepflanzten Bäumchen auf dem Gehsteig werden von Eisenkorsetts gestützt. Neugierige Anwohner sind herbeigeeilt. Sie beobachten das außergewöhnliche Schauspiel, das ihnen ihre sonst so ruhige Nebenstraße bietet. Mädchen in weißen Rüschenkleidern am Arm ihrer Mütter und Jungen in Kieler Matrosenanzügen, die der «Flottenkaiser» in Mode brachte, folgen dem Aufmarsch der Bäckermeister in Gehrock und Zylinder, die Schnurrbartenden extravagant hochgezwirbelt, wie sie es Wilhelm II. abgeschaut haben. Über der Brust eine helle Schärpe gekreuzt. Auf der Herzseite eine Kokarde mit Band, Zeuge vom Fimmel des wilhelminischen Berlin für Dekorationen und Medaillen. Der Mann an der Spitze des Zuges schwenkt eine Fahne. Die Inschrift auf dem Stoff ist auf der alten Aufnahme nicht zu erkennen. Die Brust geschwellt, ziehen die Männer ohne ein Lächeln vorbei. Sie blicken ins Objektiv des Fotografen. In drei Jahren werden sie in den Krieg gehen, und viele von ihnen werden nicht mehr zurückkehren.

War meine Straße häufig Schauplatz dieser Paraden, in die das Kaiserreich so vernarrt war? Wohl kaum. Ich vermute eher, dass sie sich an jenem Tag aus reinem Zufall an der von den Organisatoren der Veranstaltung gezeichneten Strecke befand. Eine Abkürzung zu den großen Durchfahrtsstraßen in der Nähe.

Im Übrigen hoffe ich, dass sich meine Straße ihrer Verantwortung mir gegenüber bewusst ist. Denn für einen Ausländer ist die Straße, in der er wohnt, die Visitenkarte des Landes, der Miniaturspiegel seiner Sitten und Eigenarten. Kurzum, ein Studienfeld. Überschaubar genug, um leicht verwertbar zu sein. Groß genug, um repräsentative Daten zu liefern. Ich habe viel Zeit damit verbracht, meine Straße zu beobachten, um durch sie meine Wahlheimat zu verstehen. Sie hat mir das Verhältnis der Deutschen zur Natur, zur Ordnung, zu ihrer schwierigen Vergangenheit nahegebracht. An ihr habe ich das Funktionieren ihrer Demokratie studiert, ihre Art des Zusammenlebens und ihre Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit. Ihren Umgang mit der Beschleunigung der Zeit. Ja, das alles ist an meiner Straße ablesbar. Dieser Mikrokosmos entschlüsselt die ganze Republik. Ich glaube, sie hat keine Ahnung, welches Gewicht auf ihren Schultern ruht.

 

Meine Straße weist keine besonderen Kennzeichen auf. Das übliche Straßenmobiliar: Laternen, Litfaßsäule, Stromkasten, gusseiserne Kanaldeckel, gähnende Kellerlöcher und Tiefgaragen, im Vorgarten der Nummer 26 das Schild eines homöopathischen Internisten, Briefkästen, mehrere Container für die Altkleidersammlung, die für das Stabat Mater einer Sängerin im himmelblauen Abendkleid als Werbefläche dienen, am 1. Januar Knallerverpackungen und ein paar Tage später ausgetrocknete Baumgerippe auf dem Gehsteig. Eine ehemalige Wasserpumpe Kein Trinkwasser vor der Nummer 3. Die hölzernen Kisten, mit denen die Stadtangestellten die Brunnenstatuen am Platz bedecken, um sie vor dem Winter zu schützen. Mehrere Garagenausgänge Nur für Mieter des Hauses. Begehen und Befahren auf eigene Gefahr. Auch bei Schnee und Glätte. Mit Kletterpflanzen überwachsene Pergolen, um die Mülltonnenreihen zu kaschieren. Die regelmäßige Zeichnung der Granitplatten und des Kopfsteinpflasters auf den Gehsteigen. Und all diese Bitte-beachten-Schilder, die mit Hilfe von Bilderrätseln das Inventar des Unerwünschten auflisten. Hunde, Fahrräder, Ballspieler, Hausierer. Die überall an die Platanen gepinnten Kleinanzeigen: Entrümpelung, Mathe-Nachhilfe, naiver Appell an einen Wohltäter: «Wir sind frisch verheiratet, nett und diskret und suchen eine 3-Zimmer-Altbauwohnung mit sonnigem Balkon. Vielleicht haben wir Glück?», Suchanzeigen für weggelaufene Hunde und Katzen. Hinter dem unbeholfenen Flehen «Melden Sie sich bitte! Wenn, freuen wir uns! Vielen Dank!» ist die Verzweiflung eines Kindes zu erahnen. Seit einigen Jahren erobert eine neue Dekoration unsere Straße: ein Messingwürfel vor den Gebäuden, aus denen Juden deportiert worden sind, zwischen die Bodenplatten eingelassen. Acht dieser Stolpersteine habe ich in meiner Straße gezählt. Manchmal blockiert am heiteren Nachmittag eine Bußzeremonie den Durchgang zu einem Haus. Im Halbkreis, bedrückt, die Augen auf den Boden gesenkt, kämpfen die Deutschen von heute mit der mühsamen Bewältigung ihrer Vergangenheit. Man legt eine Rose nieder. Sagt ein paar freundliche Worte zum Gedächtnis «unserer jüdischen Mitmenschen».

Das übliche Personal: die majestätische Schwadron der Müllwagen, die frühmorgens anrollt, sämtliche Scheinwerfer angeworfen, während die Rundumleuchte mit ihrem langen orangefarbenen Strahlen über die verschlafene Straße wischt. Später dann die Straßenfeger, im Winter die Schneeräumer und immer wieder der Briefträger, der mit der Nonchalance eines Playboys seinen Handwagen vor sich herschiebt. Ganz im Gegensatz zu seiner Urlaubsvertretung, die sich, in den blau-gelben Parka der Deutschen Post gezwängt, völlig ihrer Aufgabe hingegeben mit beiden Händen an ihr Gefährt klammert. Mein Favorit aber ist der Afrikaner vom Montag, ein in der winzigen Kabine seines Straßenstaubsaugers völlig zusammengekrümmter Riese. Ein Sisyphos, zum Einsammeln der Hundehaufen auf dem Gehsteig verdammt. Einer nach dem andern flutscht in den langen Plastikrüssel seines Saugmobils. Die Passanten machen einen großen Bogen und eine angeekelte Miene, wenn sie ihm begegnen. Er aber macht jedes Mal mit einem höflichen Kopfnicken den Weg frei. Dann die DHL-Lastwagen, die Vertreter, die Zeugen Jehovas und andere Kolporteure des rechten oder wahren Weges, an Halloween als Vampire verkleidete Kindergruppen und am Sankt-Martins-Abend der Laternenumzug, die rumänischen Akkordeonisten mit den goldenen Schneidezähnen, die sonntagnachmittags unter den Balkonen ein Ständchen darbringen, die Sprayer, die nachts ihre Hieroglyphen und ein strahlendes Fuck!, ein wütendes Nazis raus! an eine Fassade werfen, um den Hauseigentümern am nächsten Morgen einen unflätigen Aufschrei zu entlocken, die Reisenden mit ihren Koffern, deren peinigende Rollen den Schlaf der Anwohner zerhacken, die dünne Stimme des Pakistaners, der «Werbung» durch die Gegensprechanlage säuselt, damit man ihm die Tür öffnet. An ihrem einen Ende scharen sich ein paar Läden um den U-Bahn-Eingang, dem am späten Nachmittag manchmal eine traurige Violinenweise entweicht, ein Copyshop, ein Laden für Snowboarder, einer für Handwerkszeug, Schrauben und Normteile für Gewerbekunden, ein Café, in dem sich sonntagnachmittags um fünf die Berliner Rentnerpaare zu einem Eisbein und einem Bier zusammenfinden, ein Schülerladen, und das war’s. An ihrem anderen Ende ein Restaurant, das mehrmals die Küche gewechselt hat: griechisch, australisch-asiatisch, italienisch. Weder Post noch Zeitungskiosk noch Bäckerei oder Supermarkt, keines dieser Kettenglieder der täglichen Versorgung. Eine reine Wohnstraße.

Auch meine Straße hat ihren Tratsch: über den jahrelang in den letzten Stock der Nummer 3 zurückgezogenen Grotesktänzer in schwarzen Strumpfhosen, der nach seinem Tod auf dem Parkett die Zeichnung seiner Tanzschleifen hinterließ. Über den Selbstmörder, der sich in der Badewanne die Pulsadern geöffnet hatte. Über den Tischler aus der Nummer 15, der seine Frau Ende der Siebziger in seine Kellerwerkstatt lockte und ihr auf der Werkbank den Kopf absägte. Es gab sogar einen Artikel in der Morgenpost darüber. Über die WG, die wochenlang vergaß, den Müll in den Hof hinunterzubringen, bis die Kartoffeln meterlange Keime bildeten.

 

Ich weiß im Grunde nicht viel über meine Nachbarn. Wer ist dieses Paar, das oft die Straße hinaufgeht? Er schwarz, groß, steif. Sie aufgehelltes Blond, winzig, gibt ihm die Hand. Sie klammern sich aneinander wie Hänsel und Gretel im großen dunklen Wald. Und wer ist dieser untersetzte Mann mit seinem immer gleichen tannengrünen Federhut, der das Haus nie ohne seinen Schäferhund verlässt? Und diese Alte, die jeden Morgen mit ängstlichen Trippelschritten zur langwierigen Expedition in Richtung Supermarkt aufbricht? Und warum habe ich den schönen Mann aus der Nummer 25 schon wochenlang nicht mehr gesehen? Ist er mit seinem Sportwagen verreist? Das Paar mit seinen drei Kindern in der Nummer 5 … Neuzugezogene? Dieser kleine Herr, der seinen Filzhut lüftet, wenn er mir begegnet, und mich mit seiner altmodischen Geste jedes Mal dahinschmelzen lässt. Ein Osteuropäer – nehme ich an –, in den sechziger Jahren hierher emigriert. Auch die Identität dieses selbsternannten Polizisten würde ich gerne kennen, der schon zweimal einen Sticker «Scheiße geparkt» auf die Windschutzscheibe meines Autos geknallt hat. Ich stelle mir vor, wie er bei einbrechender Nacht mit seinem Packen Selbstkleber in der Tasche loszieht. Ich sehe ihn vor mir, wie er in der Dunkelheit sämtliche Wagen abstraft, die nicht genau rechtwinklig zum Gehsteig stehen, und durch diesen bescheidenen Akt die Frustrationen seines Tages abschüttelt. Der soll mir mal am helllichten Tag über den Weg laufen, damit ich ihm ins Gesicht sagen kann, was ich von ihm halte. Dieser Sturkopf! Dieser Blockwart! Ich hoffe, dass er auch den BMW mit dem Münchner Nummernschild, der sich einmal monatlich stundenlang auf dem Gehsteig vor der Nummer 26 breitmacht, mit seinem «Scheiße geparkt» ausgestattet hat.

Meine Straße ist keine dieser pittoresken Straßen, die man unter einem Vorwand immer wieder aufsucht, um sie entlangzuschlendern. Man begegnet auf ihren Gehsteigen nicht diesem schrulligen Volk der einfachen Viertel, das so dankbar zu beschreiben ist. Keine Kleinberufe, keine Handwerker, still über ihre bescheidene Arbeit gebeugt. Keine urwüchsigen Figuren mit großer Schnauze, aufgetakelte Halbweltgestalten, Kneipenbesitzer, die an ihrem Tresen die Geschichten aus dem Viertel sammeln … Nein, meine Straße hat die Farblosigkeit der Mittelklasse. Sie besteht aus einer Gemeinschaft von Menschen, die der Zufall zusammengewürfelt hat. Aus Flurnachbarn, deren Koexistenz sich auf ein Kopfnicken im Treppenhaus, ein knappes «Morgen!», ohne den Mund zu öffnen, einen Gesprächsfetzen im Fahrstuhl zusammenfassen lässt, meist ein Seufzen über das schlechte Wetter oder die harten Zeiten. Man leiht sich ein Ei von einem Stock zum anderen, nimmt ein Päckchen entgegen, gießt während der Ferien die Pflanzen, füttert die Katzen und klingelt, um sich über den Lärm in der Etage darüber zu beschweren. Das ist alles.

 

Eine ganz gewöhnliche Straße. Eine, wie es Hunderte gibt in Deutschland, in diesen Stadtvierteln, die Anfang des letzten Jahrhunderts erbaut und im Krieg beinahe vollständig zerstört worden sind. Sie ist mehr oder weniger austauschbar. Sie trägt übrigens seit ihrer Entstehung ganz zu Beginn des letzten Jahrhunderts denselben Namen. Nicht einmal 1945 war es nötig, sie umzubenennen. Sie wurde nie für eine auch noch so kurzlebige Hommage an einen bald wieder aus der Mode gekommenen großen Mann missbraucht. Sie hat sich nie vor einem Despoten verneigt, der nach einem Wechsel des Regimes in Misskredit geriet. Meine Straße trägt einen so nichtssagenden Namen, dass er kaum der Erwähnung wert ist. Ihr Schicksal ist eine Schablone, die man auf viele andere aufdrücken könnte. Sie ist leicht zu übersehen, man geht die Häuser entlang, ohne die Augen zu heben, man beschleunigt den Schritt, ist mit seinen Gedanken woanders. Dieser erste flüchtige Blick zeigt eine Straße scheinbar ganz ohne Geschichte. Wer könnte ahnen, was sich hinter diesen glatten Fassaden zusammenbraut? Wer vermag dieses unterirdische Beben zu spüren, das die vermeintliche Ruhe erschüttert?

Für die Ewigkeit gebaut

Meine Straße ist 1904 entstanden. Im selben Jahr, in dem Salvador Dalí und Pablo Neruda, Count Basie und Glenn Miller, Jean Gabin, Cary Grant und Johnny Weissmuller alias Tarzan geboren sind. 1904, so weit weg und so dicht an Ereignissen. In Frankreich wird das Urteil gegen Alfred Dreyfus wegen Landesverrats revidiert und den Ordensgemeinschaften das Unterrichten untersagt. Baltimore wird von einem Großbrand verwüstet, und der Zusammenstoß zwischen den Schnellzügen Boulogne–Paris und Lille–Paris im Pariser Bahnhof La Chapelle fordert vierzehn Todesopfer. In New York wird die erste Metrolinie in Betrieb genommen, und bei den Olympischen Sommerspielen von St. Louis, Missouri, ist zum ersten und einzigen Mal das Sackhüpfen im Programm zugelassen. In Paris wird die FIFA gegründet, und in der Mailänder Scala feiert Madame Butterfly Weltpremiere. In Nordfrankreich setzt die Weinlese vorzeitig ein, und Papst Pius X. verurteilt das Tragen von dekolletierten Abendkleidern. 1904 hat auch seine Nobelpreisträger: Iwan Petrowitsch Pawlow für seine Verdauungsphysiologie und Frédéric Mistral für seine provenzalischen Romane. Und das Jahr hat seine Erfindungen: das Monopoly-Spiel, die Armbanduhr, das Kenotron, Vorläufer der Halbleiterdiode, das Telemobiloskop, Vorläufer des Radars, den Wegwerfrasierer und die Eiswaffeltüte.

 

Sortiert man all diese Ereignisse, klassifiziert sie von den unwichtigsten zu den folgenreichsten, von den skurrilsten zu den gravierendsten, wird einem bewusst, dass in diesem Jahr bereits die Keime zum Ersten Weltkrieg angelegt sind. 1904 unterzeichnen Großbritannien und sein «Erbfeind» Frankreich angesichts der zunehmend aggressiven «Weltpolitik» des ganz neuen Deutschen Reiches die Entente cordiale. Der frankophile Edward VII., King of the United Kingdom, of Great Britain and Ireland and of the British Dominions, Emperor of India, und Emile Loubet, simpler Präsident der III. Republik, stimmen ihre Einflussbereiche in Nordafrika und Asien miteinander ab und bremsen damit den industriellen Fortschritt und die Flottenambitionen Wilhelms II. – der erste Schritt zur deutschen Isolierung. 1904 schlägt General Lothar von Trotha in der Schlacht am Waterberg den Aufstand der Hereros und der Nama in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika mit Gewalt nieder – der erste Massenvölkermord des 20. Jahrhunderts. 1904 lässt Kaiser Wilhelm II. auf einer Edisonwalze eine kurze Ansprache über Zurückhaltung und Bescheidenheit aufzeichnen. Es ist das erste bis heute erhaltene politische Tondokument der Welt. Hart sein im Schmerz, nicht wünschen, was unerreichbar oder wertlos, zufrieden mit dem Tag, wie er kommt, in allem das Gute suchen und Freude an der Natur und an den Menschen haben, wie sie nun einmal sind … Die Stimme knistert auf der alten Aufnahme wie Gewitterregen, der auf ein Blechdach trommelt. Der letzte deutsche Kaiser erinnert darauf eher an einen tibetanischen Mönch, der seine besänftigenden Lebensweisheiten verkündet, als an den prunksüchtigen Militaristen mit Adlerhelm, der zehn Jahre später sein Land und die ganze Welt in einen verheerenden Krieg stürzen wird.

 

Und irgendwo, kaum hörbar in dem ganzen Tumult der Geschichte, hallen auf einer Baustelle die ersten Pickelschläge meiner Straße wider.

 

An manchen Sommerabenden führt der trockene Nachtwind den Geruch von Heu und Kiefern aus den flachen Weiten Brandenburgs auf meinen Balkon. Er ruft mir in Erinnerung, dass meine Straße aus Ackerboden hervorgegangen ist.

1870 schlägt Preußen Frankreich bei Sedan. Bismarck vereint Deutschland. Am 18. Januar 1871 wird im Spiegelsaal von Versailles inmitten von Europas Herz ein mächtiges Reich ausgerufen. Berlin wird Reichshauptstadt und das neue Deutschland eine Industrienation. Ein gewaltiger wirtschaftlicher Aufschwung setzt ein, und der Ruf nach einer Hauptstadt wird laut, die den politischen Ambitionen und der Forderung nach einem «Platz an der Sonne» gerecht wird. Die bescheidene Residenzstadt Preußens wird zur monumentalen Kaiserstadt. Die Machteliten führen nur noch das Wort «Repräsentation» im Munde. Eine Periode des Friedens und der Prosperität, der Möglichkeiten und des Optimismus. Berlin, die Neuarrivierte, unternimmt pathetische Anstrengungen, um mit Paris, Wien oder London zu wetteifern, altehrwürdigen, strahlenden Metropolen, ihres Ranges und ihrer Reize sicher. Sie trägt ein bisschen dick auf dabei. Die Möchtegernkapitale, die mit Superlativen nur so um sich wirft, bekommt den spöttischen Diminutiv «Metropolinchen»: Sie hat die elegantesten Luxushotels, die größten Warenhäuser Europas, einen neuen, unverhältnismäßigen Dom, eine von Marmorstatuen der Könige, Markgrafen und Kurfürsten Preußens gesäumte Siegesallee, von den Berlinern «Puppenallee» genannt. Ihre Frauen tragen die extravagantesten Hüte. Ihre Männer die längsten Schnurrbärte. Und darüber hinaus ist Berlin mit seinen endlos sich aneinanderreihenden Mietskasernen, versifften Hinterhöfen und kleinen, übervölkerten Wohnungen, in denen Tuberkulose, Trunksucht und Inzest grassieren, eine der größten Industriestädte des europäischen Kontinents. Seine Bevölkerung wächst explosionsartig. Beamte, Soldaten und Offiziere der kaiserlichen Armee, Angestellte der neuen Unternehmen, Händler, Fabrikanten, Arbeiter der entstehenden Industrien – all diese Menschen muss die neue Gigantin plötzlich unterbringen.

Es muss so schnell wie möglich gebaut werden. Eine rasende Immobilienspekulation setzt ein. Die Terraingesellschaften – die Immobilienfirmen der damaligen Zeit – schießen wie die Pfifferlinge aus dem herbstlichen Unterholz. Die Profitchancen sind hoch. Die Risiken ebenfalls. Der Börsenkrach von 1873 treibt zahlreiche Terraingesellschaften in den Bankrott. Andere, wie die Berlinische Boden-Gesellschaft des jüdischen Kaufmanns Salomon Haberland und seines Sohnes Georg, florieren. Die Haberlands sind mit der Tuchproduktion zu Vermögen gekommen. Und nun spezialisieren sie sich auf die Erschließung von Bauland.

Ein Glücksfall für das Dorf Schöneberg, das inmitten von kargen Äckern, aber strategisch günstig an der Reichsstraße 1 liegt, der großen Ausfallstraße, die vom Schloss nach Potsdam führt. Die Berlinische Boden-Gesellschaft wird einen nigelnagelneuen Vorort für «die höheren Einkommensklassen» aus dem Boden stampfen, das Bayerische Viertel. Ein reines Wohnviertel etwas abseits vom Lärm und Trubel des Berliner Kerns, aber doch nicht ins entfernte, von allem abgeschiedene Umland verbannt. 1904 liegt meine Straße noch außerhalb Berlins. Mit der wachsenden Hauptstadt jedoch wird sie immer näher ans Zentrum im Herzen Berlins rücken.

 

Georg und Gustav Mette, Max Willmann, Louise Bergemann, Werner Munk, Wenzel Marie … So heißen die Bauern und Gärtner von Schöneberg, die Georg Haberland Flure verkaufen, auf denen meine Straße entstehen wird. Die Berlinische Boden-Gesellschaft verwandelt diese rohen Ländereien in baureife Parzellen, die sie an die Bauherren weiterverkauft, «zahlungsfähige Privatleute oder Baugewerbetreibende». Georg Haberland jedoch will nicht mit diesen Spekulanten verglichen werden, die zu Beginn des neuen Jahrhunderts nicht im besten Ruf stehen. Er hat kein gutes Wort übrig für diese «besitzlosen Elemente, die kein Interesse an der Durchführung des Baugedanken hatten und nur noch von den Baugeldern lebten, die sie erhielten».

Die neuen Parzellenbesitzer verpflichten sich zum Bau von Mietshäusern. Eine Kapitalanlage, die sicherer und rentabler ist als Wertpapiere. Die Berlinische Boden-Gesellschaft setzt den Städtebauplan um und legt grundlegende Infrastrukturen an: Straßen, «durch gärtnerischen Schmuck und Bäume belebt». Das Straßennetz wurde in Wohn- und Verkehrsstraßen geteilt. Es entstanden eine Kanalisation und eine Beleuchtung durch Bogenlampen mit elektrischem Licht, ein «umso größerer Anziehungspunkt für die Besiedlung, als die Nachbarstraßen nur mit Gas beleuchtet waren», wie Georg Haberland stolz in seiner Broschüre festhält, die er zum vierzigsten Jahrestag seiner Gesellschaft publiziert. Der neue Vorort wird durch Straßenbahn- und Omnibuslinien an die Stadt angebunden, und 1913 bekommt er sogar seine eigene kleine U-Bahn. Fabriken, die die Luft verschmutzen, werden verbannt. Und Georg Haberland setzt das Tüpfelchen auf das i: Den Schmuckplatz mit seinen geometrischen Blumenbeeten, seinem Rasen, seinen Baumkronen, seinen feinen Kieswegen, den Mosaikdelfinen um die Mittelinsel und seinem Muschelkalkbrunnen. Welcher Kontrast zu den engen Gassen und der erdrückenden Atmosphäre der alten Viertel!

Innerhalb weniger Jahre wird das Dorf Schöneberg, das ländliche Sonntagsausflugsziel der Berliner, zu einer für die wohlhabende Bourgeoisie nach Maß gefertigten Berliner Vorstadt. 1898 erhält Schöneberg, das sich reicher Steuerzahler erfreut, das Stadtrecht und bald ein majestätisches Rathaus.

 

Ich träume oft davon, dass mir eines Tages ein Geist mit seiner Öllampe erscheint und mich auffordert, einen Wunsch zu äußern. Ich würde keine Sekunde zögern. Ich würde ihn bitten, mir einen Tag zu geben, einen ganzen Tag, um im Vorkriegsberlin in meiner noch intakten Straße herumzuschlendern. Als ich meine Straße in den dicken Ordnern des Landesarchivs Berlin entdeckte, glaubte ich für einen Augenblick, mein Wunsch sei in Erfüllung gegangen, ausgerechnet da, an diesem asketischen Ort ohne jeden Zauber: in einer umfunktionierten ehemaligen Munitionsfabrik in Reinickendorf gleich nach dem Tunnel am Ende der Autobahnausfahrt. Ein Aufseher wacht von seiner Estrade des Lesesaals herab über die Einhaltung der Ruhe. Hier verlangsamt sich die Zeit, geht mit ganz kleinen Schritten voran, im Rhythmus der Lagerverwalter, die bedächtig ihre Wagen vor sich her schieben. Unter den hohen Fenstern hängen Staubschwaden im Gegenlicht. Das regelmäßige Geräusch umgeblätterter Seiten, das Knistern eines Blattes, das Schlingern der Mikrofiche-Lesegeräte im Nebensaal. Auf einmal der Windstoß von einer energisch zugeklappten Akte. Hin und wieder ein gedämpftes Gespräch, ein nervöses Räuspern, ein Hustenanfall, ein unterdrücktes Lachen oder ein Seufzer … Oh, ist das traurig.

Draußen: das hektische Leben. Drinnen: eine klösterliche Andacht. Rund fünfzehn sind wir, die wir uns mit gekrümmten Rücken und einem eigentümlichen Vergnügen beharrlich über unsere Akten beugen, die verstreichenden Stunden und die hereinbrechende Nacht vergessend. Wir durchforsten den dichten Wald spröder Berichte, die die zahlreichen Ämter und Behörden unserer Stadt ohne Unterlass hervorzubringen scheinen. Wir driften ab. Gleiten in eine andere Epoche über. Im Lesesaal fließt die Zeit rückwärts, während sie draußen weiterrennt.

Auf dem Vorsatzblatt der Bauakten meiner Straße manchmal der Name eines früheren Benutzers. Er scheint sich verirrt zu haben und hat rasch wieder kehrtgemacht. Meistens aber bin ich die erste, die sie konsultiert. Wer außer mir sollte sich für all diese lächerlichen, stur in chronologischer Reihenfolge geordneten und durch einen Baumwollfaden zusammengeknüpften Mitteilungen interessieren? Für diese seitenlangen statistischen Berechnungen, diese Pläne von Treppenhäusern, gewendelten Blechtreppen, Dachgeschossen, Trockenböden, Waschküchen, Garagen, Werkstätten und Remisen. Für diese in geschraubten Wendungen von der städtischen Tiefbaudeputation erteilte Baugenehmigung: «Nach Entnahme je eines Exemplars der Zeichnungen und eines Lageplanes, dass diesseits gegen das vorliegende Bauprojekt Bedenken nicht zu erheben sind, unter Voraussetzung, dass die in unserem Schreiben vom 12. Februar 1900 g. 831 – 14. Oktober 1903 – VIII.b.2627 – gestellten allgemeinen Vorschriften beachtet werden.»

Für diese Rohbau-Abnahme, die 1905 der Prüfungskommissar Klaus Schneider an den Bauherrn Barth nº 6 schickt: «Der Bau wurde in allen Teilen besichtigt und es fand sich zu bemerken: Trockenheit der Wände. Bewohnbarkeit des untersten Geschosses. Lüftung der Bedürfnisanstalten. Anlage der Feuerstätten u. Rauchröhre. Anputz hölzerner Wände u. Decken. Treppen und Schutzgeländer, Gitter und Kellerfenster, Drahtgitter.»

Für diesen Garantieschein für die «Lieferung von schmiedeeisernen Trägern und gusseisernen Unterlagsplatten», diese Kostenvoranschläge, Versicherungspolicen, Rechnungen und Quittungen, Abrechnungen für den Kohlenverbrauch und die Nebenkosten für Fahrstuhl-Strom, Bescheinigungen «über die ordnungsgemäße Anbringung von Schutzvorrichtungen für die mit der Reinigung der Schornsteine betrauten Schornsteinfeger».

Für diese Anfrage aus der Nummer 1, den Fahrstuhl «ohne Begleitung des Fahrstuhlführers benutzen zu dürfen». Oder diese pingeligen Verweise auf Vorschriften und Verordnungen: «Für das Atelier im Dachgeschoss des Hauses nº 11, dessen Fenster nach der Straße zu belegen sind, gewähre ich auf Grund des § 2 der Polizeiverordnung vom 5. November 1912 eine Ausnahme von der Vorschrift des § 1 Ziffer II a.a.O. Diese Ausnahme wird hinfällig, sobald der Atelierraum nicht lediglich als Arbeitsraum für Kunstmaler benutzt wird.»

Für diese Bescheide an die Mieter: Herr Duds, nº 23, wird informiert: «Wegen Einschränkung in der Warmwasserbelieferung wurden nachstehende Beträge an die Mieter zurückgezahlt bzw. mit der Festmiete verrechnet.»

Für diese Belehrungen: «Wir teilen Ihnen höflichst mit, dass wir lt. Abkommen mit der Vereinigung deutscher Elektrizitätsfirmen auf unsere Arbeit eine Garantie von 1 Jahr übernehmen, wie Sie aus beiliegendem Schreiben ersehen können, und wir bedauern daher, eine 2jährige Garantie nicht übernehmen zu können.»

Für diese Klagen eines besorgten Mieters: «Vor circa 3 Wochen habe ich meinen Wirt Herr Robert Baer nº 11 darauf aufmerksam gemacht, dass der Stuck von den Fenstern jede Minute herunterstürzen würde. Herr Baer hat bis heute nichts von sich hören lassen. Heute Morgen stürzte nun von beiden Seitenwänden der Stuck gegen 7½ Uhr früh in den Garten und es ist ein Glück gewesen, dass die Inhaberin des Parterres nicht auf dem Balkon war.»

Für diese Genehmigungsanträge verzagter Händler. Ich schmelze dahin angesichts solcher Unschuld: Am 14. Februar 1927 bittet Frieda Heiter aus der Nummer 19, Seifen- und Parfümerieartikel, mit ihrer Schrift mit den hohen Schleifen die Königliche Bau-Polizei um die Genehmigung, an der Fassade eine Reklametafel «nach beiliegender Skizze» anbringen zu dürfen. «Mein Seifengeschäft hat ohnehin schon eine sehr versteckte Lage und bringt mir nicht einmal die Monatsmiete ein, sodass ich gezwungen bin, Reklame zu machen. Ich bitte deshalb um gütige Genehmigung.» Ihr Nachbar Anton Singer, Autobereifung und Vulkanisieranstalt, Auto-Zubehör, Öle und Fette, wünscht neben der Tür seines Geschäfts ein Oberschild «Continental Reifen» anzubringen. 1936 empört sich Herr Scheffel, Feinkostladen in der Nummer 19, dass man ihm untersagt, ein Transparent mit der Aufschrift «Trinkt Milch!» am Vorgartengeländer zu befestigen, und bemerkt, dass die Fleischer und die Eisgeschäfte ihrerseits dazu berechtigt seien, Reklame zu machen. Er bittet «um Aufklärung über die rechtliche Zulässigkeit dieser meinen Milchumsatz schmälernden Maßnahme. Heil Hitler!».

Und dann die Liste der Mängelbeseitigung infolge der sukzessiven Revisionsprotokolle der Kaiser-Barbarossa-Apotheke. Ein Genuss! Lymphbücher werden angelegt. Standgefäße mit Veratrinlösung ausrangiert. Rad. Pimpinellae und Folia Menthae durch einwandfreie Ware ersetzt und andere Standgefäße mit Folia Digitalis neu paraffiniert. Sämtliche Stopfen und Deckel werden einer gründlichen Säuberung unterzogen, und der Linoleum-Belag in der Offizin wird ausgebessert. Reagenzien, Tinkturen und leere Flaschen werden aus der Materialkammer entfernt. Eine Morphinwaage wird nachgereicht. Sirup Althaeae rein von Schimmelpilzen. Ol. Foeniculi, Ol. Eukaliptus und Ol. Juniper vor Licht geschützt. Standgefäße von Xyrol und Collodium mit feuergefährlich bezeichnet. Sir. Simplex wurde frisch gekocht. Giftwaage wurde neu geeicht.

 

Und auf einmal werden die okkulten Listen und die trockene Behördensprache von schwülstigen Höflichkeitsfloskeln beiseitegedrängt: «Wir nehmen höflichst Bezug auf die gefällige Zuschrift vom 10. August … Wir fragen nochmal ergebenst … Herrn Hochwohlgeborenen königlichen Baurath …»

In den dreißiger Jahren weicht das bombastische «Hochachtungsvoll» dem «Heil Hitler!» mit seinem forschen Ausrufezeichen oder dem dröhnenden «Mit deutschen Grüßen». Und im Nachkriegs-Bundesdeutschland müht sich das «Mit freundlichen Grüßen», die Distanz aufzuheben, während Respekt und Freundschaft etwas durcheinanderzugeraten scheinen.

 

Es ist ein wenig, als würde man allein durch den ersten Schnee waten, Schritt für Schritt, Seite für Seite. Ich fasse die losen Blätter ganz behutsam an. Versuche Silbe um Silbe der altdeutschen Schrift zu entziffern. Meistens aber schaffe ich es nicht einmal, die einzelnen Buchstaben dieser Texte voneinander zu trennen, die der geraden Linie eines Elektrokardiogramms gleichen, wenn das Herz zu schlagen aufgehört hat. Welche Erleichterung, wenn der regelmäßige Anschlag einer Schreibmaschine auftaucht, die blaue Tinte eines Stempels. Manchmal ein Gekritzel am Rand, vielleicht eine Anmerkung, ein plötzlicher Einfall, ein Geistesblitz … Dieses Dickicht aus gewundenen Ranken bleibt für mich undurchdringbar. Ich gebe acht, die Seiten beim Umblättern nicht zu beschädigen. Das Gedächtnis der Straßen ist fragil. Weiß der Himmel, durch welches Wunder all diese Dokumente den Bombardierungen standgehalten haben, den Bränden, dem Drunter und Drüber von 1945, den sukzessiven Neuanfängen und Umzügen, der Feuchtigkeit, den Ratten, den Aufräumattacken eines neuen Bauamtfürsten, dem Eifer eines Lagerverwalters, der auf den Regalen Platz für neue Kapitel der Geschichte schaffen wollte, der Vergänglichkeit der Zeit.

Ich atme ihren leicht süßlichen, fast milchigen Geruch ein. Manchmal steigt ein säuerlicher oder modriger Mief auf. Der Duft nach altem Leder, vielleicht sogar Tabak. Auf einige gewellte Blätter haben Feuchtigkeitsflecken eigenartige Landschaften gemalt. Krümel von getrocknetem Papier rieseln auf den Teppich herab. Stundenlang stöbere ich, mit Händen voller Staub, hellwachen Augen und klopfendem Herzen. Ich schließe Bekanntschaft mit meinen Nachbarn der vergangenen Jahrzehnte, die lange vor meiner Geburt, lange bevor ich in meine Straße gezogen bin, da wohnten. Ich entdecke diese Welt, die ohne den Eifer dieses Archivars, der Stunden damit verbracht haben muss, diese Fülle an Dokumenten zu sortieren und zu ordnen, für immer verschwunden wäre. Regelmäßig bekomme ich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, von dieser uferlosen Masse überrollt zu werden.

Aber welche kindliche Freude, wenn ich auf einen bekannten Namen stoße: H. Eller, der Bezirksschornsteinfeger! Und sieh mal an, da haben wir ja den Hauptmann C. Tippenhauer aus der Nummer 19 wieder, «alter aktiver Offizier und als solcher durch die Entwicklung der letzten Jahre gezwungen, einen neuen Erwerbszweig zu schaffen», der das ganze Jahr 1921 um das Recht kämpft, in den Kellerräumen des Gebäudes seine Schokoladenfabrik unterzubringen. Der Hauptmann taucht in regelmäßigen Intervallen auf, wie das Teufelchen aus der Schachtel.

Und während ich all diese anscheinend belanglosen Informationen Stück für Stück aneinanderfüge, mir einen Weg durch dieses Gewirr gewöhnlicher Ereignisse und das Getuschel von Gehsteiggesprächen bahne, ersteht vor meinen Augen ganz langsam, ohne dass ich den Rhythmus dieser Rekonstruktion beeinflussen könnte, meine Straße wieder auf. Ich sehe zu, voller Demut. Die Vergangenheit koppelt sich an die Gegenwart an.

 

1904 erwerben mehrere Bauherren bei der Berlinischen Boden-Gesellschaft eine Parzelle und nehmen die Arbeiten ihres Neubaus in Angriff. Sie reichen bei der Königlichen Baupolizei zu Schöneberg ihren Lage-Plan ein «mit der ergebenen Bitte, denselben hochgeneigtest genehmigen zu wollen».

Auf einem hostiendünnen Papier steht mit schwarzer Tinte der Vermerk: «Die hier mit roter Tusche kolorirte und schraffirte Fläche bebauen will». Der Königl. Regierungsgeometer a.D., W. v. Frankenberg, vereideter Landmesser Berlin, hat seinen runden blauen Stempel aufgedrückt. Auf der rechten Seite des Planes ist mit der Hand die Flächenberechnung eingefügt. Die Großbuchstaben L und P von Lage-Plan sind wie die Anfangslettern in einem Märchenbuch mit geflochtenem Efeu verziert. Und genau wie ein Märchen beginnt die Geschichte meiner Straße ja auch.

Es war einmal eine Handvoll Bauherren, eitel wie die Pfauen, die wünschten, hier auf Erden ihre Spur zu hinterlassen und bei derselben Gelegenheit ihr taufrisches Geld im Stein zu platzieren. Also errichteten sie – innerhalb zweier Jahre ungefähr – Renditehäuser, massive Mietshäuser, bestehend aus Keller, Erdgeschoss, vier Stockwerken, zwei Wohnungen pro Etage, einem hohen Dachstuhl und einem Trockenboden, der der obersten Etage ein angenehmes Klima garantiert. Die Wohnungen haben sieben oder acht, gelegentlich zehn Räume. Eine schwindelerregende Raumflucht: Wohnzimmer oder Salon, Stube, Speisezimmer, Boudoir, Balkon, Herrenzimmer, Erker, Schlafzimmer, Bad und Toilette, winzige Mädchenzimmer, Speisekammer. Die Gebäude werden so angelegt, dass in jeder Wohnung im vorderen Teil die Herrschafts- und Repräsentationsräume untergebracht sind, im hinteren Teil die Schlafzimmer, die Küche und die Zimmer der Dienstboten. Es gab also keine kleineren Wohnungen in den Quergebäuden im Hinterhof für bescheidenere Mieter.

Die Architektur der Wohnungen respektiert diese horizontale Hierarchie: Pracht nach vorne. Schlichtheit nach hinten. Je tiefer man in die Wohnungen eindringt, umso mehr schrumpfen die Räume, umso mehr senken sich die Decken und umso spärlicher wird das Licht. Hohe Doppelfenster in den vorderen, kleine einfache in den hinteren Räumen. Deckenstuck vorne, weiße Kalkwände hinten. Gebohnertes Eichenparkett vorne, aus starken Kiefernbrettern genagelte und mit Ölfarbe angestrichene Diele hinten. Die Köchin und das Kinderfräulein leben kümmerlich neben der Küche im Hintergrund der Wohnung in einem engen Zimmerchen, das im Übrigen eher einer Abstellkammer gleicht. Eine kleine gesonderte Dienstbotentreppe ist für sie reserviert. Sie führt in den Hinterhof. Das Berliner Zimmer bildet eine hermetische Schleuse zwischen diesen zwei unterschiedlichen Lebensbereichen und markiert die Grenze zwischen öffentlicher