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Das Glück scheint perfekt, als Martin von seinem Liebsten Sebastian mit einem Traumurlaub überrascht wird. Doch ihre Auszeit im Allgäu wird von unheimlichen Ereignissen überschattet. Eine Wanderung führt sie zu einem Ort, der augenblicklich ein ungutes Gefühl in Martin auslöst. Und dann geschieht das Unfassbare … Plötzlich ist in Martins Leben nichts mehr so, wie es einmal war. Schreckliche Albträume quälen ihn Nacht für Nacht und lassen ihn mit der Zeit zu einem Schatten seiner selbst werden. Seine Beziehung wird dabei auf eine harte Probe gestellt und lässt ihn am Ende mit all seinen Ängsten in ein tiefes Loch fallen. Es gibt nur einen Weg, sein altes Leben wieder zurückzubekommen. Martin muss sich seinen Dämonen stellen, um die nächtlichen Qualen wieder loszuwerden. Doch dafür muss er an den Ort zurückkehren, wo alles begann … Wird es ihm gelingen, das Rätsel um seine Albträume zu lösen? Was haben eine Kapelle und ein verlassenes Haus damit zu tun? Wer ist der mysteriöse Junge, der ihn um Hilfe anfleht? Und warum sieht er plötzlich Dinge, die kein anderer sieht? Spielt ihm seine Fantasie einen bösen Streich oder wird er doch allmählich wahnsinnig? Schon bald muss Martin erkennen, dass er die Antworten auf all seine Fragen nicht alleine finden kann. Er braucht Hilfe, und das ausgerechnet von dem Mann, der sein Herz im Sturm erobert. Der Mann, der für ihn tabu ist … Eine fesselnde Geschichte um eine Seelenwanderung, dunkle Geheimnisse und … eine ganz besondere Liebe.
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Seitenzahl: 368
Veröffentlichungsjahr: 2025
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MartinsFeuer
Rette deine Seele
Texte: © Copyright by M.R. Schindler
Covergestaltung: © Copyright by M.R. Schindler
Kontakt: [email protected]
WIDMUNG
DANKSAGUNG
Ich danke meiner Schwester Helga von ganzem Herzen.
Für ihre unerschütterliche Liebe und Freundschaft.
Für ihre unendliche Geduld mit mir.
Dass sie immer an mich glaubt und auch meine
dunklen Zeiten mit ihrer Liebe erhellt.
Mein besonderer Dank gilt meinem lieben Freund Marcus.
Für sein Vertrauen und die Offenheit, die mich
zu dieser Geschichte inspirierten.
Ich danke ihm für seine Hilfe und die wertvolle
Unterstützung bei der Umsetzung dieses Buches,
die ich ganz besonders zu schätzen weiß.
Und ich danke Dir, liebe Leserin, lieber Leser,
dass Du Dich auf diese spannende Reise begeben möchtest.
Ich hoffe, sie wird Dich ebenso berühren,
wie sie mich berührte,
Liebe Leserin, lieber Leser,
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INHALT
PROLOG 1
LATERNE, LATERNE … 1
WARTEN AUF SEBASTIAN 1
NUR EIN KUSS? 1
ENDLICH URLAUB 1
FEUERTRAUM 1
TINA 1
FEUERWALD 1
NUR EIN TRAUM? 1
DAS UNHEIMLICHE HAUS 1
GRETEL 1
GEHEIMNISSE 1
DAS SCHWARZE HAUS 1
WILLKOMMEN 1
TIMING 1
DAS KÄLBCHEN 1
DIE GANZE WAHRHEIT 1
DER SPIEGEL 1
OPA MICHAEL 1
GEFÜHLE 1
DER BEAU 1
GLÜCK GEHABT 1
MORGENSTUND HAT … 1
DAS BUCH 1
DAS LABYRINTH 1
VERSTECKE 1
SPURENSUCHE 1
VERTRAUEN 1
ABSCHIED 1
EPILOG 1
PROLOG
Erschrocken duckte er sich und kroch so schnell er konnte hinter den dicken Vorhang zurück, wo ihn das Licht der Deckenlampe nicht erreichen konnte. Er musste nicht nachsehen, wer soeben den Raum betreten hatte, denn er kannte die beiden Gestalten, die sich lautstark stritten. Ein kalter Schauer ließ ihn erstarren.
„Warum? Warum hast du ihr nicht geholfen?“ schallte die laute Stimme des Mannes durch den kahlen Raum.
Ein schrilles Lachen fuhr in seine Ohren. Seine zitternden Hände krallten sich in den dicken Stoff, der ihn vor den Blicken der beiden Menschen verbarg.
„Damit ich mich auch noch versündige? Niemals!“, krächzte die raue Stimme der alten Frau.
„Du hast sie sterben lassen und sprichst von Sünde? Du hättest ihr helfen können.“ Das laute Schluchzen des Mannes schallte von der hohen Decke wider.
Zitternd wagte er einen Blick aus seinem dunklen Versteck und hielt voller Angst den Atem an, als er die beiden Gestalten sah, die nur wenige Meter von ihm entfernt standen.
„Du bist schuld, dass sie sterben mussten. Du …, du … Hexe“, schrie der bullige Mann und packte die zierliche Frau an den Armen.
„Nein! Schuld daran bist nur du. Du hast dich versündigt. Du wusstest, dass sie so etwas nicht noch einmal überstehen würde und doch hast du sie wieder und wieder …“
„Halt den Mund!“, schrie er und schüttelte die Greisin so heftig, dass sich ihr Haarknoten löste und ihre langen, silbernen Strähnen wild um ihre schmalen Schultern flogen.
„Lass … mich … los …, du Missgeburt“, schrie sie und schlug ihm mit aller Kraft in sein schweißnasses Gesicht, das sich bereits gefährlich rot verfärbt hatte.
„Ich hätte dich damals sterben lassen sollen, als du halb tot auf die Welt gekommen bist. Das wäre für uns alle besser gewesen. Aber dein Vater wollte unbedingt, dass du lebst.“ Ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. „Und dabei hatte der Dummkopf keine Ahnung, dass er gar nicht dein richtiger Vater war.“
Keuchend ließ er sie los und taumelte gegen die kalte Wand in seinem Rücken. Mit glasigen Augen stierte er durch seine struppigen Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht hingen.
„Nicht … mein Vater?“ Seine zitternde Stimme kam kaum hörbar über seine rissigen Lippen. „Wer …?“
Sie legte ihren Kopf in den Nacken und stieß ein grelles Lachen aus, das wie ein wilder Schrei durch den Raum hallte.
„Wer ist mein Vater?“, knurrte er und ballte seine riesigen Hände zu Fäusten.
Mit zusammengepressten Lippen reckte sie ihm ihr spitzes Kinn entgegen und antwortete mit einem hässlichen Grinsen.
„Sag es!“ Die donnernde Stimme des Mannes ließ die gebeugte Greisin einen Schritt zurückweichen. Doch dann verwandelte sich ihr faltiges Gesicht wieder zu einer widerlichen Grimasse.
„Der Teufel!“, schrie sie ihm entgegen und lachte schrill auf. „Der Teufel ist es und du …“, sie streckte ihm ihren knochigen Zeigefinger entgegen, „… bist die Ausgeburt der Hölle.“
„Was bist du nur für ein Mensch? Du bist keine Mutter. Du bist eine Teufelin, die mir alles genommen hat, was ich geliebt habe. Und jetzt auch noch meinen Vater“, keuchte er und schwankte mit großen Schritten auf sie zu.
Mit eisigem Blick sah sie ihrem Sohn entgegen. „Du hast bei allen Heiligen geschworen, es nie wieder zu tun. Ich war es, die dir all die Jahre geholfen hat, das Geheimnis deiner Sünden zu bewahren. Aber du hast deinen Schwur wieder und wieder gebrochen. Und jetzt musste sie dafür sterben.“ Der kalte Blick aus ihren riesigen, eisblauen Augen bohrte sich tief in ihn hinein. „Und dafür wirst du bis in alle Ewigkeit im Fegefeuer büßen.“
Mit einem gellenden Schrei warf er sich ihr entgegen. Ein lautes Poltern hallte durch den Raum. Dann war es plötzlich still.
„Mein Gott, was habe ich nur getan?“, schrie die verzweifelte Stimme des Mannes. Dann waren nur noch schnelle Schritte und die schwere Tür zu hören, die donnernd ins Schloss fiel.
Nur zögernd traute er sich aus seinem dunklen Versteck und kroch zu der Gestalt, die regungslos auf dem kalten Boden lag, der sich allmählich rot färbte.
Seine kleinen Finger zitterten, als er vorsichtig das Gesicht berührte, aus dem ihm zwei leblose Augen entgegenstarrten. Er griff nach dem Arm, der seltsam verkrümmt am Boden lag, und rüttelte zaghaft daran. Nichts …
Dicke Tränen liefen über seine schmutzigen Wangen und tropften auf sein zerrissenes Hemdchen. Er schloss die Augen und verharrte lautlos auf dem kalten Boden, der seinen kleinen Körper zittern ließ. Er hatte Angst …
LATERNE, LATERNE …
Endlich hatte der Regen aufgehört. Gerade noch rechtzeitig zum Beginn des großen Ereignisses, auf das sich die Bewohner von Oberstaufen schon seit Tagen gefreut hatten.
Marianne ließ ihren Blick über die großen und kleinen Zuschauer wandern, die sich in der hereinbrechenden Dunkelheit entlang der Straße versammelt hatten. Unzählige Laternen tauchten das nasse Kopfsteinpflaster der Dorfstraße in ein warmes Licht, als würden sich kleine Monde darin spiegeln.
Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie sich an die Zeit erinnerte, in der sie als Kind wochenlang diesem einen Tag entgegengefiebert hatte. Dem 11. November, Sankt Martin.
Jedes Jahr hatte sie eifrig an einer neuen Laterne gebastelt und durfte dafür sogar den großen Esstisch in der guten Stube der Großmutter benutzen, während in der Küche nebenan süße Leckereien im holzbefeuerten Ofen backten. Der verführerische Duft hatte sich im ganzen Haus verbreitet und ein Lächeln in die Gesichter seiner Bewohner gezaubert.
Damals war sie nur das kleine Mädchen mit den großen, blauen Augen und den langen, blonden Zöpfen gewesen, das sich auf diesen einen Tag freute. Damals, als alles noch so einfach war. Keine Sorgen, keine schlaflosen Nächte …
Ihre Hände zitterten, als sie verstohlen ein paar Tränen von ihren Wangen wischte. Die feuchte Kälte war mittlerweile durch ihre Kleidung gekrochen und jagte eine Gänsehaut über ihren Körper. Zitternd schlug sie den Kragen ihres Mantels hoch und zog die Wollmütze tiefer über ihre kurzen Haare.
„Mama, ich kann nichts sehen“, rief ihr kleiner Sohn, der neben ihr stand und stolz den Holzstecken in der Hand hielt, an dem seine selbst gebastelte Mond-Laterne baumelte.
Sie blinzelte, um die Tränen vor den Blicken ihres Sohnes zu verbergen. Dann nahm sie ihn auf die Arme und drückte ihm einen Kuss auf seine blassen Wangen. Heute wollte sie nicht weinen. Es war der vierte Geburtstag ihres einzigen Kindes, das sich so sehr auf den Sankt Martins Umzug gefreut hatte.
Aufgeregt streckte er sich immer wieder nach oben, um noch etwas mehr sehen zu können. Sie verstärkte ihren Griff um den kleinen Körper, der von Minute zu Minute unruhiger wurde. Gleich musste es soweit sein.
„Mama, da ist er!“ Ihr kleiner Sohn zeigte in die Richtung, wo nun Sankt Martin mit seinem roten Umhang, Helm und Schwert auf einem weißen Pferd langsam die Straße entlang ritt. Ein paar Kinder plapperten aufgeregt mit ihren Eltern, andere sangen voller Inbrunst „Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind …“
Marianne erinnerte sich an damals, als sie selbst hier gestanden und aufgeregt mit den anderen Kindern gesungen hatte. Sicher gab es hier mehr als ein erwachsenes Kind, dem es wie ihr ging.
Das Schnauben des Schimmels riss sie aus ihren Gedanken. Endlich waren Pferd und Reiter bei ihnen angekommen. Ihr kleiner Sohn nahm mit strahlenden Augen einen Weckmann von Sankt Martin entgegen. Lächelnd nickte ihr der Reiter zu und wandte sich an das nächste Kind, das bereits lachend die Arme nach ihm ausstreckte.
Als sei es ein wertvoller Schatz, drückte der Kleine das duftende Gebäck an sich. „Mama, schau mal. Sankt Martin hat mir auch einen geschenkt.“
Er schlang seine Ärmchen um ihren Hals und küsste sie fest auf ihre kalten Lippen. „Ich hab’ dich lieb, Mama. Und Sankt Martin hab’ ich auch lieb.“
Lächelnd streichelte sie seine Wange, die vor Aufregung eine rosige Farbe angenommen hatte. „Und weil du heute Geburtstag hast, haben wir dich auch nach ihm benannt, mein Schatz.“ Erneut drängten sich Tränen in Mariannes Augen, gegen die sie verzweifelt ankämpfte. Sie musste stark sein. Stark für Martin.
Behutsam setzte sie ihn wieder auf dem Boden ab und nahm ihn an die Hand, bevor sie gemeinsam mit den anderen Zuschauern dem Reiter auf seinem Weg zum Festplatz folgte.
Es war richtig, mit ihrem kleinen Martin nach Oberstaufen zu kommen. Wenigstens dieses eine Mal sollte er sehen, wo seine Mutter aufgewachsen war und der andere Teil seiner Familie lebte. Wer wusste schon, ob ihr Kind jemals wieder hierherkommen würde … oder konnte? Sie musste tief durchatmen, um nicht laut aufzuheulen.
Ihr kleiner Sohn war mit einem Herzfehler zur Welt gekommen. Die Ärzte hielten eine Operation zunächst nicht für dringend erforderlich. Erleichtert hatten sie und ihr Mann Torsten die Gedanken daran verdrängt, dass es eines Tages einmal anders sein könnte.
Und tatsächlich entwickelte sich der Kleine gut. Er krabbelte und fing wie andere gesunde Kinder an zu laufen. Nur beim Fangenspielen und Herumtoben war er schneller erschöpft.
Im vergangenen Sommer hatte er sich allerdings nur sehr langsam von einer Mandelentzündung erholt und blieb auch nach dem Abklingen kraftlos und kränklich. Eine Untersuchung brachte dann die lang gefürchtete Gewissheit. Martin musste nun doch operiert werden.
Mariannes Gedanken kreisten immer wieder um den geplanten Operationstermin am 22. November. Sie zählte die Tage und Stunden, die sie noch mit ihrem Kind verbringen konnte, bis sie sein Leben in die Hände fremder Menschen legen musste. Nur noch elf Tage.
Ihr Mann Torsten hatte sich geweigert, sie bei der Reise zu ihrer Familie zu begleiten. „Mich bringen da keine zehn Pferde mehr hin“, hatte er sie genervt angefahren.
Ihre despotische Mutter Anna hatte es ihr nie verziehen, dass sie sich Hals über Kopf in einen Feriengast aus Frankfurt verliebt hatte, anstatt Johannes, den Sohn des reichsten Bauern in der Gegend, zu heiraten.
Torstens erster Besuch als zukünftiger Schwiegersohn war zugleich auch sein letzter gewesen, weil ihr Vater Nikolaus ihn auf Drängen seiner tobenden Frau kurzerhand aus dem Haus werfen musste.
Marianne kehrte ihrer Familie den Rücken und heiratete ihren Torsten wenige Wochen später in ihrer neuen Heimat Frankfurt. Zwei Jahre später war mit der Geburt ihres kleinen Sohnes endlich der Traum von der eigenen kleinen Familie perfekt.
Als Martin zwei Jahre alt war, starb Mariannes Mutter. Bei der Beerdigung konnte sie sich endlich mit ihrem Vater aussprechen. Er schämte sich noch immer, dass er sich damals aus Angst vor seiner Frau nicht an die Seite seiner Tochter gestellt hatte. Er hätte Torsten gerne mit offenen Armen empfangen, doch der weigerte sich, weil ihn die tiefe Verletzung von damals noch immer schmerzte.
Marianne konnte ihren Mann verstehen und doch hatte sie bis zuletzt gehofft, dass er wenigstens dieses eine Mal eine Ausnahme machen würde. Ihrem kranken Jungen zuliebe.
Bedrückt blinzelte sie gegen die aufsteigenden Tränen an und sah zu ihrem kleinen Sohn, der stolz seine hell erleuchtete Laterne vor sich her trug. Sie lauschte den trippelnden Schritten der Kinder auf dem Kopfsteinpflaster, die gemeinsam mit den Erwachsenen auf den großen Festplatz zumarschierten.
Schon aus der Ferne konnte man das Feuer sehen, das sich an einem riesigen Holzhaufen nach oben fraß. Mit jedem weiteren Schritt spürte sie die zunehmende Wärme, die sich über ihre kalten Wangen legte. Schweigend blieb sie an der Absperrung stehen und beobachtete mit den umstehenden Zuschauern, wie die Flammen immer weiter nach oben schlugen und gierig nach den letzten Ästen griffen, die bisher verschont geblieben waren.
Marianne beugte sich zu ihrem Sohn hinunter, der neben ihr auf einem der abgesägten Baumstämme saß, die als Sitzgelegenheit für die Kinder am Boden lagen. Mit offenem Mund starrte Martin auf das riesige Feuer. „Gefällt es dir?“, flüsterte sie ihm ins Ohr und lächelte, als sie in seine großen, hellgrünen Augen sah, die im Schein der Flammen wie zwei kleine Fackeln in seinem Gesicht leuchteten.
Er nickte stumm und zog die Strickmütze vom Kopf, unter der seine hellbraunen Haare zum Vorschein kamen, die nun zerzaust in alle Richtungen standen. Sie strich ihm lächelnd darüber und erhob sich wieder. Mit geschlossenen Augen genoss sie weiter die wohltuende Wärme des Feuers auf ihrem Gesicht.
Je länger Martin in die Flammen starrte, desto heftiger spürte er das Herz in seiner Brust pochen. Immer schneller, immer lauter übertönte es das laute Knacken der Äste unter den fauchenden Flammen, die sich vor seinen Augen durch das Holz fraßen.
Sein Atem ging schwer, brachte den schmächtigen Körper zum Zittern. Wie gebannt starrte er mit weit geöffneten Augen in die riesigen Flammen, die nach ihm zu greifen schienen.
WARTEN AUF SEBASTIAN
Mit geschlossenen Augen lauschte er den Regentropfen, die der Wind gegen die Fensterscheibe wehte. Das monotone Geräusch verstärkte seine Müdigkeit noch mehr. Letzte Nacht hatte er wieder nur ein paar Stunden geschlafen. Sein Kopf sackte für wenige Sekunden nach vorn. Sofort riss er erschrocken die Augen auf. Er durfte nicht schlafen. Nicht jetzt!
Er saß auf der breiten Fensterbank seines Schlafzimmers, seinem Lieblingsplatz, von dem aus er die Straße vor dem Haus überblicken konnte. Wieder lösten sich ein paar der letzten roten Blätter des riesigen Ahorns vor dem Haus und segelten langsam zu Boden. Die Bäume warfen ihr Laub ab, um Energie für den Winter zu sparen. So einfach regelte das die Natur. Abwerfen, was Kraft kostete.
Erschöpft fuhr er mit den Händen über sein Gesicht. Wenn er doch auch abstreifen könnte, was ihn Nacht für Nacht quälte und immer mehr Energie raubte.
Martin sah noch einmal nach draußen, wo bereits die Abenddämmerung hereinbrach. Dann rutschte er mit einem Seufzer von der Fensterbank, unter der die Heizung für eine wohlige Wärme sorgte, und ging mit müden Schritten ins Bad. Das kühle Wasser auf seinem Gesicht tat gut und vertrieb die Müdigkeit fürs Erste.
Die Zeiger der kleinen Uhr neben dem Waschbecken standen auf halb fünf. Hoffentlich kam Sebastian bald nach Hause, sonst würde es mit der geplanten Überraschung eng werden.
Er zog sein nass gewordenes Shirt über den Kopf und betrachtete sein Spiegelbild, aus dem ihm zwei hellgrüne Augen müde entgegenblickten. Gedankenverloren folgte sein Blick einem Wassertropfen, der seinen Weg von der Stirn, über den hohen Wangenknochen, und weiter bis zum Kinn suchte, bis er lautlos auf seiner nackten Brust landete.
Martin lächelte müde und strich mit den feuchten Händen seine hellbraunen Haare nach hinten. Sein Blick wanderte über den Oberkörper, auf dem er mit den Fingerspitzen die blasse Narbe auf seinem Brustkorb nachzeichnete, die ihn immer wieder an die Operation erinnerte, ohne die es ihn heute nicht mehr geben würde.
An seinem vierten Geburtstag hatte sein Herz versagt, doch er konnte zum Glück wiederbelebt werden. Er kam in ein Krankenhaus und dann ging alles ganz schnell. Zwei Tage später wurde er operiert, wobei die Ärzte das Loch in seinem kleinen Herz schließen konnten, mit dem er zur Welt gekommen war. Seine Eltern hatten sich lange Zeit Vorwürfe gemacht, dass sie sich nicht früher für eine Operation entschieden hatten. Doch schon wenige Wochen danach konnte er wieder mit den Nachbarskindern spielen und herumtoben, und nichts erinnerte mehr an das kränkliche Kind von früher.
Inzwischen waren fast dreißig Jahre vergangen und dank der Ärzte von damals konnte er heute ein annähernd beschwerdefreies Leben führen. Es sei denn, er hatte es beim Work-out im Sportstudio übertrieben oder eine seiner früheren Beziehungen hatte ihm zu viel Stress bereitet. Doch auch das gehörte mittlerweile der Vergangenheit an, seit er mit Sebastian zusammen war. Und so war ihm nur die feine Narbe auf seiner Brust geblieben, die ihn für immer an die Zeit erinnern würde, in der seine Eltern tagelang um sein Leben gebangt hatten.
Martin riss sich von seinem Spiegelbild los und warf das nasse Shirt über den Rand der Badewanne. Er tauschte die gemütliche Jogginghose gegen eine dunkle Jeans ein und schlüpfte in ein weißes Hemd.
Für den letzten Schliff verteilte er etwas Wachs in seinen Haaren am Oberkopf, die sanft in die darunter liegenden kürzeren übergingen. Ihm gefiel der leichte Glanz auf den einzelnen Strähnen, in die das Wachs ein paar leichte Locken gezaubert hatte. Perfekt!
Er prüfte noch einmal sein Outfit für den heutigen Abend im Spiegel und nickte zufrieden. Dann ging er ins Wohnzimmer und setzte sich im Schein der Stehlampe in den gemütlichen Ohrensessel.
Es war der Lieblingsplatz seiner Oma, die jeder nur Lisbeth genannt hatte. Martin vermisste die warmherzige Frau, die vor vier Jahren gestorben war und ihm die Wohnung mit einigen antiken Möbelstücken hinterlassen hatte.
Als Kind verbrachte er mehr Zeit mit ihr als mit seinen Eltern, denn die arbeiteten in ihrer eigenen Versicherungsagentur und hatten selbst an den Wochenenden oft nur wenig Zeit für ihren einzigen Sohn.
So richtig wohl fühlte sich Martin nur bei Oma Lisbeth. Mit ihr hatte er eine besonders enge Verbindung. Er hatte es geliebt, mit ihr in dem kleinen Garten hinter dem Haus zu werkeln und anschließend aus dem geernteten Obst und Gemüse etwas Leckeres zu zaubern. Sie nannte die wenigen Quadratmeter liebevoll ihr „kleines Paradies“ und das war es auch für sie. Nach ihrem Tod überließ Martin den Garten einem netten Nachbarn, der ihm im Gegenzug etwas von der Ernte abgab. Doch geschmeckt hatte es zu Omas Zeiten viel besser.
Seine Großmutter hatte immer ein offenes Ohr und verstand ihn auch ohne Worte. Und sie war es auch, die ihn nach seinem Coming-out an seinem achtzehnten Geburtstag in die Arme genommen und ihren eigenen Sohn einen verklemmten Idioten genannt hatte, während Martin wie ein Schlosshund an ihrer Schulter heulte. Der wichtigste Geburtstag war zugleich der schlimmste seines Lebens gewesen.
Sein Vater Torsten hatte fassungslos den Kopf geschüttelt und seiner Frau Marianne vorgeworfen, mit ihrer „laschen Erziehung“ versagt zu haben. Martins Mutter hingegen hatte es schon länger geahnt und sich vor ihren Sohn gestellt. Seine Eltern stritten sich tagelang, bis sein Vater eines Morgens seine Koffer packte und sie verließ. Er wollte nicht länger mit „so einem“ unter einem Dach leben, hatte er ihm damals ins Gesicht geschrien. Das Gerede der Leute war ihm wichtiger gewesen als das Glück seines eigenen Kindes.
Seine Mutter reichte die Scheidung ein und sein Vater stürzte sich noch mehr in die Arbeit in der Agentur, die er fortan ohne seine Frau führen musste. Erst nach dem Tod von Oma Lisbeth hatte er sich bei Martin für sein Verhalten von damals entschuldigt, doch verzeihen konnte der ihm bis heute nicht. Seit der Beerdigung hatten sie sich nicht mehr gesehen, und das war auch gut so.
Vier Jahre nach der Scheidung hatte seine Mutter wieder geheiratet. Einen Angeber mit italienischen Wurzeln, der teure Autos und exklusive Uhren am Arm liebte. Er besaß mehrere Luxus-Immobilien in der Frankfurter City und konnte offensichtlich sehr gut davon leben. Martin konnte den geschniegelten Typen vom ersten Moment an nicht leiden, doch der Kerl trug seine Mutter auf Händen. Sie zog nach nur einem Jahr Ehe mit ihm nach Italien, wo er noch mehr Immobilien besaß.
Anfangs hatte Martin die beiden ein paarmal in einer riesigen Villa bei Verona besucht, bis der Mann seiner Mutter ihm eines Tages zu verstehen gab, dass er etwas gegen „warme Brüder“ hatte. Seine Mutter stritt sich daraufhin heftig mit ihrem Mann, doch mehr passierte auch nicht. Martin war enttäuscht und zutiefst verletzt abgereist.
Seither meldete sie sich ein Mal im Monat telefonisch bei ihm, vermied es jedoch, über den Vorfall von damals zu sprechen. Sie lebte weiterhin mit dem reichen Proll zusammen und schien sich in der High Society von Verona wohlzufühlen. Ein schwuler Sohn, der sich in Deutschland mit einem stinknormalen Job über Wasser hielt, passte wohl nicht so recht ins Licht ihrer illustren Kreise. Und wieder war das Gerede anderer Leute wichtiger als die Gefühle des eigenen Sohnes.
Inzwischen waren einige Jahre vergangen und doch spürte Martin noch immer einen Stich in seinem Herzen, wenn er an das verkorkste Mutter-Sohn-Verhältnis dachte, das er in seiner Kindheit und Jugend für unerschütterlich gehalten hatte.
Seit vier Jahren war nun Sebastian seine Familie. Er liebte ihn und wollte mit ihm zusammen sein, bis sie „alt und schrumpelig“ wären, wie er es immer scherzhaft ausdrückte, wenn sie über ihre gemeinsame Zukunft sprachen.
Doch seit ihrem letzten Urlaub in den Bergen waren dunkle Wolken über ihrer Liebe aufgezogen, und Martin wusste nicht, was sich dahinter verbarg. Noch nicht …
Ein Geräusch im Treppenhaus ließ ihn aufhorchen. War das Sebastian, der endlich nach Hause kam? Die große Uhr neben der Wohnzimmertür zeigte kurz vor fünf. Er lauschte angestrengt, doch dann herrschte wieder Stille.
Enttäuscht erhob er sich aus dem Sessel und wanderte ruhelos um den großen Esstisch herum, auf dem eine Amaryllis nun auch die letzte ihrer vier tiefroten Blüten entfaltet hatte. Lächelnd dachte er wieder an seine Oma, die ihre Freude daran gehabt hätte.
Er sah durch eines der drei großen Wohnzimmerfenster in die Dunkelheit hinaus, die mittlerweile über der Stadt lag. Noch immer prasselten leise Regentropfen gegen die Fensterscheiben, zu denen sich inzwischen Schneeflocken gesellt hatten.
Seufzend ließ er sich auf das goldgelbe Sofa fallen und griff nach seinem Handy. Es war schon Viertel nach fünf und kein verpasster Anruf, keine Nachricht von Sebastian. Wo blieb er nur? Er wusste doch, dass Martin hier auf ihn wartete.
Genervt legte er das Smartphone zur Seite und blätterte lustlos in einer Zeitschrift, ohne wirklich auf den Inhalt zu achten. Im hinteren Teil blieb sein Blick an einer Überschrift hängen.
„Dein Liebeshoroskop“, stand in geschwungenen Lettern über den Motiven der Sternzeichen. Normalerweise hätte er weiter geblättert, doch etwas hielt ihn davon ab. „Ach, was soll’s“, murmelte er. Es stimmte ja ohnehin nicht, was da drinstand. „Sternzeichen Skorpion“, las er mit bedeutungsvollem Ton in seiner Stimme, obwohl er alleine in der Wohnung war.
„Nichts ist so, wie Du denkst. Beschreite mutig fremde Wege und folge Deinem Herzen. Dann wirst Du schon bald verstehen und Dein Glück finden … und die Liebe.“
Martin hob zweifelnd die Augenbrauen. Fremde Wege? War damit etwa der Gang zum Psychologen gemeint? Und dort sollte er sein Glück finden? Und die Liebe? Er verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Wer dachte sich nur so einen Blödsinn aus?
Er warf die Zeitschrift auf den Tisch zurück und sah erneut auf die Uhr. Schon halb sechs. Sie mussten bald los, wenn sie nicht zu spät kommen wollten, doch Sebastian war noch immer nicht nach Hause gekommen.
Er griff erneut nach seinem Telefon und wählte Sebastians Kontakt. Es klingelte zweimal, dann meldete sich plötzlich die Mailbox. „Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar, wenn Sie eine Nachricht …“ Martin wischte über den roten Punkt und starrte weiter auf das Display. Täuschte er sich, oder hatte Sebastian gerade seinen Anruf weggedrückt? Sollte er es gleich noch einmal versuchen?
Er überlegte einen Moment, dann ließ er das Smartphone sinken und lehnte sich wieder auf dem Sofa zurück. Nein, er würde nicht noch einmal anrufen, weil Sebastian sicher jeden Moment zur Tür hereinspazieren und ihn auslachen würde, wenn er ihm wie ein Teenager hinterhertelefonierte.
Es war nicht das erste Mal, dass er warten musste, weil sein Freund einen gemeinsamen Termin vergessen hatte. Doch heute war es eine ganz besondere Verabredung. Das konnte Sebastian doch nicht vergessen haben. Oder? Zweifelnd nagte Martin an seiner Unterlippe. Heute Morgen hatte er ihn extra noch einmal daran erinnert, dass am Abend eine Überraschung auf ihn wartete.
Schon vor Wochen hatte Martin heimlich einen Tisch bei ihrem Lieblingsitaliener in der Frankfurter Innenstadt reserviert. Sogar an eine feierliche Tischdekoration hatte er gedacht. Salvatore, der Restaurantchef, hatte ihm die schönsten roten Rosen und Geigenmusik für diesen besonderen Abend versprochen.
Er wollte Sebastian überraschen und mit ihm ihren vierten Jahrestag feiern. Ganz romantisch, bei Kerzenschein und leiser Musik. So wie früher, als ihre kleine Welt noch in Ordnung war.
Seine Gedanken kehrten zu jenem Tag zurück, an dem sie sich im Skiurlaub in der Schweiz kennengelernt hatten. Sebastians tiefblaue Augen hatten ihn vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen. Und dann kam der magische Moment des ersten Kusses, der ein Feuerwerk über ihnen entzündet hatte und heiße Funken prickelnd auf Martins Haut landeten. Es war Liebe auf den ersten Blick.
Sechs Wochen später war Sebastian bei ihm eingezogen. Er hatte Hals über Kopf seinen Job als Immobilienkaufmann in Stuttgart gekündigt und fand schnell eine neue Stelle in einer großen Agentur mitten in der Frankfurter City. Mittlerweile träumte er von einem eigenen Immobilienbüro, das er gemeinsam mit seinem Kollegen Daniel aufbauen wollte.
Martin hatte nach Sebastians Einzug noch eine Weile die laufenden Kosten alleine getragen, bis der neben seinem schmalen Einstiegsgehalt die Provisionen für seine ersten Abschlüsse verzeichnen konnte. Mit Martins Job als freier Lektor und dem Geld aus dem Erbe seiner Großmutter war das für ihn kein Problem gewesen. Hauptsache, sie konnten zusammen sein und ihre Liebe genießen. Noch nie in seinem Leben war er so glücklich gewesen. Und jetzt?
Er schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an, der von Minute zu Minute größer wurde. Die Turmuhr der nahen Drei-Königs-Kirche schlug zur vollen Stunde. Sechs Uhr. Spätestens jetzt hätten sie auf dem Weg sein müssen, um noch rechtzeitig im Restaurant anzukommen.
Hatte Sebastian ihre Verabredung doch vergessen? Das flaue Gefühl in seinem Magen wurde stärker. Dieses Gefühl, das immer dann auftauchte, wenn er über ihre Beziehung nachdachte, denn so vieles hatte sich zwischen ihnen verändert.
Früher verbrachten sie trotz ihrer zeitraubenden Jobs jede freie Minute miteinander. Machten traumhafte Urlaube und waren voller Zukunftspläne. Martin war sich wie in einem wunderschönen Traum vorgekommen, der niemals enden sollte.
Doch dann begannen vor vier Monaten andere Träume. Albträume, die ihm mittlerweile fast den Verstand raubten. Erst kamen sie nur manchmal, doch mittlerweile wurde er bereits mehrmals in der Woche davon geplagt. Und jedes Mal wachte er schweißgebadet und mit rasendem Herzen auf. Manchmal wurde er sogar von seinen eigenen Schreien geweckt.
Doch auch Sebastian hatte kaum noch eine Nacht durchschlafen können. Seit er ausgerechnet bei einer Besprechung mit seinem neuen Chef eingenickt war, hatte er panische Angst davor, seinen Job zu verlieren. Vor sechs Wochen war er dann trotz Martins Einspruch in das Gästezimmer umgezogen.
Seit sie getrennt schliefen, hatte sich ihre Beziehung allmählich verändert. Anfangs schlüpfte Sebastian morgens noch für ein paar Minuten zu ihm unter die Decke, doch mittlerweile sahen sie sich morgens nur noch kurz in der Küche. Jetzt hatte es Sebastian immer eilig und machte sich schon nach einer halben Tasse Kaffee auf den Weg. Abends kam er dann müde nach Hause und verzog sich früh in sein Zimmer. Zu Zärtlichkeiten und Sex kam es nur noch an den Wochenenden oder wenn Sebastian mit einer Alkoholfahne nach Hause kam und ihn wohl das schlechte Gewissen quälte.
Als er dann anfing, auch noch an den Wochenenden zu arbeiten, geriet das Fass endgültig zum Überlaufen. Es kam immer wieder zum Streit, der damit endete, dass Sebastian die Wohnungstür hinter sich zuknallte und wegging. Nachts kam er dann reumütig nach Hause, versprach mehr Zeit miteinander und verführte Martin zum Versöhnungssex. In den darauffolgenden Wochen ging das Ganze dann wieder von vorn los. War das noch Liebe? Diese Frage schlich sich immer öfter in seine Gedanken.
Als freier Lektor konnte Martin überwiegend im Home Office arbeiten und sich die Zeit selbst einteilen. Nach einem Albtraum blieb er meistens den Rest der Nacht wach und arbeitete, um nicht noch einen weiteren durchleben zu müssen. Den fehlenden Schlaf hatte er bisher am nächsten Tag nachgeholt. Doch in den vergangenen Wochen hatte das nicht mehr ausgereicht.
Er konnte sich kaum noch konzentrieren und benötigte immer mehr Zeit, die ihm die engen Terminpläne der Verlage und Autoren jedoch nicht gaben. So konnte es einfach nicht mehr weitergehen. Wenn er Sebastian und seinen Job nicht verlieren wollte, musste er das tun, was längst überfällig war.
Doch heute, an ihrem vierten Jahrestag, wollte er mit seinem Liebsten nur einen romantischen Abend verbringen. Er wollte ihm zeigen, dass er ihn trotz allem liebte und deshalb endlich bereit war, zu einem Psychologen zu gehen. Bisher hatte er sich strikt geweigert, weil er Angst davor hatte, der Seelenklempner würde ihm nicht glauben oder für geisteskrank abstempeln. Mittlerweile blieb ihm jedoch keine andere Wahl mehr. Er musste endlich seine Albträume in Angriff nehmen.
An einen Therapieplatz bei einem der unzähligen Psychologen in Frankfurt zu kommen, hatte er sich allerdings einfacher vorgestellt. Bei den meisten gab es selbst für die monatelange Warteliste einen Aufnahmestopp. Erst beim zwanzigsten Versuch hatte er dann endlich Glück und bekam einen Termin für ein Erstgespräch. Dass das erst in vier Wochen stattfinden sollte, musste er so hinnehmen. Insgeheim war er sogar erleichtert darüber, dass ihm noch etwas Zeit blieb, bis er vor einem wildfremden Menschen sein Seelenleben ausbreiten musste. Etwas mulmig wurde ihm schon, wenn er daran dachte.
Wieder warf er einen Blick auf die Uhr. Halb sieben. In seinen Gedanken sah er den mit Rosen und Kerzen dekorierten Tisch vor sich und zwei Stühle, die heute leer bleiben würden. Er schloss die Augen und versuchte, seine Tränen zu verdrängen.
„You are so beautiful …“ Joe Cockers Reibeisenstimme riss ihn aus seinen Gedanken. Dieser Klingelton kündigte nur einen einzigen Anrufer an. Sebastian!
Mit klopfendem Herzen wischte er über den Bildschirm seines Smartphones. „Sag mal, wo bleibst du denn? Ich warte schon seit Stunden auf dich.“
„Ja, ich weiß, aber heute war echt viel los und ich habe nachher auch noch einen wichtigen Termin. Ein neuer Kunde kann erst ab zwanzig Uhr. Diesen Auftrag darf ich mir nicht entgehen lassen. Das kannst du doch verstehen, oder?“
Also doch! Sebastian hatte ihren Jahrestag vergessen. Martin ließ sich kraftlos in das Sofa zurückfallen, während sich ein schmerzhaftes Ziehen in seiner Brust ausbreitete.
„Schatz? Bist du noch dran?“ Sebastians Stimme klang jetzt genervt.
Martin fuhr sich mit der Hand über die brennenden Augen, als er plötzlich in seiner Bewegung stockte. Was war das für ein Geräusch im Hintergrund? Ein leises Flüstern nur, doch es löste augenblicklich ein bohrendes Gefühl in seinem Magen aus. Da war noch jemand. War das sein Kollege Daniel? Ja klar, das konnte nur Daniel sein.
„Kann Daniel nicht alleine zu dem Termin gehen? Sebastian, wir hatten heute eine Verabredung.“ Angespannt lauschte er jedem Geräusch, das aus dem Telefon zu ihm drang.
„Nein, das kann er nicht, weil er die ganze Woche in Köln ist. Das hatte ich dir doch gesagt, oder?“
Erschrocken riss Martin die Augen auf. Wenn es nicht Daniel war, wer war dann bei ihm? „Nein, das hast du mir nicht gesagt. Ich dachte, ich hätte gerade seine Stimme im Hintergrund gehört.“ Er hielt den Atem an. Quälende Stille breitete sich aus, die von Sekunde zu Sekunde unerträglicher wurde. Martin hielt es nicht mehr länger auf dem Sofa aus und ging nervös im Zimmer auf und ab, während sein Herz vor Aufregung bis zum Hals klopfte.
„Da … musst du dich verhört haben. Ich bin alleine im Büro. Hier ist niemand außer mir.“ Ein Zittern lag in seiner Stimme. Nur ganz und doch hatte es ihn verraten.
Martins Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sebastian hatte ihn angelogen. Seine Hand krallte sich in die weiche Rückenlehne des Ohrensessels, der neben dem Fenster stand, durch das er regungslos in die Dunkelheit starrte. Der Schmerz darüber, dass in diesem Moment sein Vertrauen in Sebastian in tausend kleine Scherben zerbrach, raubte ihm fast den Atem.
Was sollte er jetzt zu ihm sagen? Machte es überhaupt Sinn, irgendetwas zu sagen?
„Martin? Bist du noch dran?“ Sebastian stöhnte genervt. „Ach, komm schon, Schatz. Du bist doch jetzt nicht etwa beleidigt, oder?“ Wieder herrschte Stille, die nur von Sebastians schnellen Atemzügen begleitet wurde.
„Ich mach’s auch wieder gut. Okay?“ Sebastians Stimme hatte dieses dunkle Vibrieren angenommen, das Martin nur zu gut kannte und ihm normalerweise unter die Haut ging. Normalerweise …
Er sah in das grinsende Gesicht auf dem Handy, dem er in diesem Augenblick am liebsten eine reingehauen hätte. Dann tat er das Einzige, wozu seine zitternden Hände noch in der Lage waren. Er wischte über den roten Punkt und beendete das Gespräch.
Kraftlos ließ er sich auf das Sofa fallen und starrte auf die Wand gegenüber. Warum hatte Sebastian ihn angelogen? War die fremde Stimme der Grund, weshalb er ausgerechnet heute so lange wegblieb?
Immer wieder drehten sich seine Gedanken im Kreis. Warum war Sebastian kaum noch daheim? Gab es einen anderen Mann in seinem Leben und … spielte Martin darin überhaupt noch eine Rolle?
Er grübelte weiter, bis sich eine ganz andere Frage in seine rotierende Gedankenspirale einschlich. Hatte er Sebastian von sich weg getrieben, weil er sich bisher geweigert hatte, zu einem Psychologen zu gehen? War das der Grund, warum er seit Wochen kaum noch mit ihm redete?
Und an allem waren diese verdammten Albträume schuld. Seit ihrem letzten Urlaub war nichts mehr wie vorher. Warum waren sie damals nur dorthin gefahren?
Verzweifelt schlug er die Hände vor das Gesicht und fühlte tief in seinem Innern, wie sein Traum von der großen Liebe wie eine Seifenblase zerplatzte.
NUR EIN KUSS?
Er war auf dem Sofa eingeschlafen und hatte wieder geträumt. Stöhnend erhob er sich und schlich mit zitternden Beinen ins Badezimmer. Der kühle Wasserstrahl der Dusche spülte den Angstschweiß von seinem frierenden Körper und ließ ihn mit einem leisen Gurgeln im Abfluss verschwinden.
Danach fühlte er sich zwar nicht viel besser, doch er würde jetzt wenigstens nicht mehr so schnell einschlafen. Mit einer Flasche Mineralwasser in der Hand setzte er sich wieder auf das Sofa und schaltete die helle Stehlampe aus. Eine Weile beobachtete die tanzenden Lichter, die die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos an die gegenüberliegende Wand warfen.
Wie spät war es wohl inzwischen? Egal, was spielte das noch für eine Rolle? Es war schon lange dunkel da draußen. Dunkel in seiner Wohnung, dunkel in seinem Herzen.
Sebastian war noch immer nicht nach Hause gekommen. Martin dachte an seine Worte am Telefon. Er hatte ihn angelogen. Und er hatte ein Geheimnis vor ihm. Sein Kopf fühlte sich dumpf und leer an, wollte nicht mehr darüber nachdenken, sich nicht mehr ihn mit einem anderen Mann vorstellen, wenn sie …
Plötzlich fiel Licht durch den Flur ins Wohnzimmer. Jemand war im Treppenhaus, doch Martin hatte aufgehört, den Geräuschen zu lauschen, die von draußen in seine Wohnung drangen. Kurz darauf hatte sich jedes Mal eine andere Wohnungstür geschlossen und Sebastian war noch immer irgendwo da draußen.
Ein leises Geräusch ließ ihn aufhorchen. Ganz langsam dreht sich ein Schlüssel im Türschloss. Er hielt den Atem an und sah in Richtung Flur, wo Sebastian durch den schmalen Spalt der halb geöffneten Wohnungstür schlüpfte und sie leise hinter sich ins Schloss drückte. Im Treppenhaus wurde es wieder dunkel. Jetzt war es nur noch sein weißes Hemd, das Martin im Halbdunkeln erkennen konnte.
Er knipste die Stehlampe an und war für einen Moment von ihrem grellen Licht geblendet. Sebastian erstarrte in seiner Bewegung und sah sich nach ihm um. In seinem Gesicht war deutlich der Schreck zu erkennen.
Martin sah auf die Uhr. Kurz nach zwei. Eisige Stille lag zwischen ihnen, bis Sebastian sie mit seiner rauen Stimme zerriss.
„Oh, du bist noch wach? Ich dachte …“ Er fuhr mit einer Hand über den Nacken und kam zögernd auf Martin zu. „Schatz, ich …, es tut mir leid.“ Um seine Mundwinkel lag ein fades Lächeln.
Auf Martin wirkte es wie eine hässliche Grimasse. Er sah wieder zur Wand gegenüber, an der sich jetzt im hellen Lichtschein der Stehlampe ihre dunklen Silhouetten abzeichneten.
„Es tut mir leid. Ich hätte nicht gedacht, dass es so spät wird. Der neue Kunde hat mich mit Fragen gelöchert, und dann war es schon so spät, und wir sind dann noch etwas essen gegangen, und dann sind wir in einer Bar … versackt. Bitte verzeih mir“, nuschelte Sebastian mit schwerer Zunge und ließ sich vor ihm auf die Knie fallen.
Seine blonden Locken waren zerzaust und klebten mit den Resten des Haargels an seiner Stirn fest. Sebastians schmales Gesicht wirkte im Schein der Stehlampe blass und müde, als hätte er drei Tage durchgemacht. Der Geruch von Alkohol und Zigarettenrauch stieg Martin in die Nase. Angewidert drehte er den Kopf zur Seite.
Sebastian rutschte näher und griff nach Martins Gürtel. „Es tut mir leid. Ich mach’s auch wieder gut.“ Er grinste und fummelte an der Gürtelschnalle herum.
„Glaub bloß nicht, dass du mich jetzt mit einem Blowjob herumbekommst. Vergiss es!“, zischte Martin und wischte grob die Hand weg.
Sebastian hob die Brauen und fuhr mit den Händen über Martins Oberschenkel. Seine glasigen Augen suchten Martins Blick. „Na komm schon. Bisher hat es dir doch gefallen, wenn ich dir einen …“
„Was denkst du eigentlich, wer du bist?“, keuchte Martin. Er packte ihn an den Schultern und stieß ihn von sich weg.
Sebastian sah erschrocken zu ihm auf und schnappte nach Luft. „Aber Schatz, ich habe doch gesagt, dass es mir leidtut. Das musst du mir glauben. Und wir können doch auch morgen noch weggehen.“
Martin sprang auf und sah wütend auf ihn hinunter. „Morgen? Morgen ist bereits heute. Und heute ist zu spät.“
Sebastian kam mit unsicheren Bewegungen wieder auf die Beine. Der Alkohol in seinem Körper ließ ihn leicht schwanken, als er lächelnd seine Arme ausbreitete und einen Schritt auf Martin zuging.
Doch der stieß ihn grob von sich. „Du hast alles verdorben. Ich habe mich so auf diesen Abend gefreut. Und du hast es vergessen. Einfach so!“ Er wandte sich ab und wischte schnell die Tränen weg, die sich in seinen Augen sammelten.
„Scheiße“, flüsterte Sebastian. Ihm war eingefallen, was er vergessen hatte. „Ich …, ich habe unseren Tag nicht vergessen“, antwortete er schnell. „Ich war den ganzen Tag im Stress und dann kam auch noch der neue Kunde.“
Martin lachte schrill auf und drehte sich wieder zu ihm um. „Ha, neuer Kunde! Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Ich weiß nicht, was du mit wem getrieben hast, aber ganz sicher hast du nicht irgendeinen Kunden über irgendeine beschissene Immobilie beraten.“
Der Alkohol in Sebastians Kopf schien von einer Sekunde auf die andere verflogen zu sein. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden, und seine vollen Lippen hatten sich zu einem schmalen Strich verwandelt. Er stellte sich vor Martin und schob seine Hände in die Hosentaschen. „Was soll das? Glaubst du etwa, dass ich fremdgehe?“ Seine Stimme klang ernst, als er Martin durchdringend aus seinen tiefblauen Augen ansah, in denen es jetzt gefährlich funkelte.
Doch Martin ließ sich nicht davon beeindrucken. „Ja, das glaube ich tatsächlich. Seit Wochen fasst du mich nicht mehr an. Du gehst jeder Berührung aus dem Weg. Du interessierst dich einen Scheiß für mich. Und jetzt lügst du mich auch noch an. Du warst nicht alleine, als du mich angerufen hast. Ich habe eine Stimme im Hintergrund gehört, aber du hast es abgestritten. Da war noch ein anderer Mann. Warum lügst du mich an?“ Martin konnte seinen Atem kaum noch unter Kontrolle halten, während sich sein Herz vor Aufregung fast überschlug.
„Ich …“, setze Sebastian zum Sprechen an, doch dann presste er seine Lippen aufeinander und starrte schweigend auf den Boden vor seinen Füßen.
Quälende Sekunden vergingen, die Martins Herz vor Schmerz fast zum Bersten brachten. Mit zitternden Knien ging er um das Sofa herum und hielt sich an der Rückenlehne fest, als könnte sie ihm Kraft für seine nächsten Worte geben. „Es ist Daniel, nicht wahr?“, frage er leise.
Sebastians Kopf schnellte nach oben. „Nein!“ Er sah Martin erschrocken an. Dann ließ er sich seufzend in den Sessel neben dem Fenster fallen und schloss die Augen.
Martin krallte seine Hände in das Polster des Sofas und hielt vor Spannung den Atem an.
„Es ist … Philipp“, murmelte er leise. „Aber es ist nicht so, wie du denkst“, warf er schnell hinterher.
„Philipp?“ Martin starrte ihn fassungslos an. „Du vögelst mit deinem Chef?“ Er legte eine Hand an seine Stirn. „Ich kann es nicht glauben. Der Kerl hat eine Frau und zwei kleine Kinder.“
Sebastian schüttelte heftig den Kopf. „Nein, so ist es nicht. Wir sind nur gute Freunde. Ich kann über alles mit ihm reden und er mit mir. Wir sind einfach nur gerne zusammen und so. Aber wir haben keinen Sex. Das musst du mir glauben.“
Sebastian knetete nervös seine Hände. „Ich kann verstehen, dass du sauer bist. Aber ich habe dich wirklich nicht betrogen.“
Martin zog die Brauen zusammen und sah ihn durchdringend an. „Und so? Was soll das heißen? Und so!“ Seine Augen bohrten sich in Sebastian, der dem Blick auswich und nervös mit den Händen durch seine zerzausten Haare fuhr.
„Mein Gott, du legst schon wieder jedes Wort auf die Goldwaage.“ Er hob die Arme und ließ sie gleich wieder kraftlos in seinen Schoß fallen. „Jaaa, wir haben uns mal geküsst“, stöhnte er und rollte mit den Augen. „Aber da hatten wir beide zu viel getrunken. Und es war auch nur ein einziges Mal. Das musst du mir wirklich glauben. Ich schwöre es!“
„Nur geküsst, ja?“, schrie Martin. „Ich glaube dir kein Wort. Du treibst es hinter meinem Rücken mit dem Kerl. Und ich sitze hier wie ein Idiot und warte auf dich. Was hat er dir dafür versprochen? Einen geilen Job als sein Stellvertreter? Und wenn du es ihm gut besorgst, kannst du dir eine eigene Agentur zusammenficken?“ Martins Stimme überschlug sich.
Sebastian sprang aus dem Sessel und ging mit schnellen Schritten auf ihn zu. Nur das Sofa war jetzt noch zwischen ihnen. „Wir haben keinen Sex und er hat mir gar nichts versprochen. Das muss er auch nicht, weil es zwischen uns nicht mehr als einen beschissenen Kuss gab. Nicht mehr!“ Seine aufgebrachte Stimme schwankte zwischen Wut und Verzweiflung.
Martin hatte ihm regungslos zugehört und hielt seinem Blick weiterhin stand.
Sebastian atmete leise aus. „Philipp gibt mir das Gefühl, wichtig für ihn zu sein, und dass er gerne mit mir zusammen ist. Dieses Gefühl habe ich schon lange nicht mehr mit dir.“
Martin verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie denn auch, wenn du kaum noch hier bist?“, warf er ihm entgegen.
Sebastian ging zum Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus. „Für dich zählen doch nur noch deine verfluchten Albträume. Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst eine Therapie machen? Glaubst du etwa, es ist mir egal, dich so leiden zu sehen?“
Martin versuchte, die Tränen wegzublinzeln, die seinen Blick mehr und mehr verschwimmen ließen. „Ich habe sie mir nicht ausgesucht. Und ich würde etwas darum geben, sie endlich wieder loszuwerden.“ Mit zitternden Händen wischte er sich über seine feuchten Augen.