Martita, ich habe dich nie vergessen - Sandra Cisneros - E-Book

Martita, ich habe dich nie vergessen E-Book

Sandra Cisneros

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Beschreibung

Als junge Frau verlässt Corina ihre mexikanische Familie in Chicago, um in den Pariser Cafés ihren Traum zu verfolgen, Schriftstellerin zu werden. Stattdessen schlägt sie sich in der ville lumière mit Geldsorgen herum oder steht mit anderen Einwanderern in der Schlange, um von einem kaputten Münztelefon aus nach Hause zu telefonieren. Dennoch: Die Monate, in denen sie sich mit bettelnden Straßenkünstlern in der Métro anfreundet, in einer Mansarde, klein wie eine Besenkammer, oder auf überfüllten Fußböden schläft und auf illegalen Partys Tango tanzt, erhalten durch ihre intensiven Freundschaften mit Martita und Paola einen dauerhaften Glanz. Im Laufe der Jahre verstreuen sich die drei Frauen auf drei Kontinente, verlieren sich aus den Augen und aus dem Sinn – bis ein wiederentdeckter Brief die Tage in Paris mit atemberaubender Unmittelbarkeit zurückbringt.

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Sandra Cisneros

Martita, ich habe dich nie vergessen

Aus dem amerikanischen Englisch von Mayela Gerhardt

Oktopus

Für Susan Bergholz

Und in Erinnerung an Jerry Weston Mathis

Jeden Samstag trifft man mich im Esszimmer an, mit meinem Spachtel und meinem Gasbrenner, sobald die Küche geputzt ist und die Mädchen in der Bibliothek sind. Im Jahr 88 vor Christus führte Mithridates, König von Pontos am Pontos Euxeinos, Krieg gegen die Römer … Xenophon … Die Gedanken blubbern irgendwo aus mir hervor, so wie die Blasen auf den klebrigen Lackschichten, denen ich mit meinem Propangasbrenner zu Leibe rücke.

Der Lack löst sich in störrischen Kringeln ab – eine Geduldsprobe. Aber ich darf mich nicht beklagen. Schließlich war es meine Idee, das Holz von der Farbe zu befreien, anstatt einfach darüberzustreichen. In all meinen bisherigen Wohnungen in Chicago gab es im Esszimmer eine solche eingebaute Anrichte, auf der die Lackschichten der letzten hundertsechs Jahre pappten wie von Honig durchtränkter Blätterteig.

Im Jahr 88 vor Christus führte Mithridates … Und dann lege ich meinen Spachtel beiseite, schließe das Ventil am Gasbrenner und wühle mich durch den Schrank mit den Wintersachen, vorbei am HAUSKAUFVERTRAG, an den GEBURTSURKUNDEN und GRUNDSTEUERBESCHEIDEN, suche nach dir in Briefen, aus denen Fotos herauspurzeln; eine Papierserviette mit gewelltem Saum; Poststempel aus Frankreich, Argentinien, Spanien; Luftpostumschläge mit gestreiften Rändern, deine Handschrift so dicht und gekringelt wie dein Haar.

Und es ist, als würden wir noch immer miteinander reden, nach all dieser Zeit, Martita.

QueridaPuffina,

 

ich weiß nicht, ob ich nicht auf Deinen Brief geantwortet habe oder Du nicht auf meinen. Es ist auch nicht mehr wichtig.

Als ich meinen Kleiderschrank umgeräumt habe, bin ich in einer Schublade auf Deine Briefe gestoßen. (Ich hoffe, die Adresse stimmt noch.) Da kam alles wieder zurück: der Silvesterabend in Paris und vor allem ein Gefühl, eine Empfindung – ich habe kein gutes Gedächtnis, aber ich erinnere mich an Gefühle.

Wie viele Tage haben wir uns gekannt? Ich weiß es nicht einmal. Aber ich weiß, dass ich Dich sehr lieb gewonnen habe, Puffina. Das habe ich gespürt, ganz plötzlich, als ich Deine Briefe gefunden habe.

Ich wollte, dass Du das weißt. Das ist alles. Ich habe ein Foto von uns – von Dir, Paola und mir – aus einem dieser Fotoautomaten in der Metrostation. Weißt Du noch? Ich bin froh, es zu haben.

Mir fällt es schwer, Dir zu erzählen, was seitdem passiert ist …

Ich war kurz davor zu heiraten, aber es sollte nicht sein. Es ist noch nicht lange her, dass ich die Verlobung gelöst habe, und ich bin ein bisschen traurig. Aber das geht vorbei.

Im Mai fliege ich zurück nach Europa, um unserem argentinischen Winter zu entfliehen. Ich werde in Madrid unterkommen. Hier ist die Adresse, falls Du immer noch gern reist:

 

Marta Quiroga Pascoe

A/A Irene Delgado Godoy

Villanueva y Gascón n.º 2–3ª

28030 Madrid

España

 

Ich weiß nicht, wie lange ich dortbleibe. Vielleicht fliege ich bald wieder zurück nach Buenos Aires. Vielleicht auch nicht. Ich muss mein Leben wieder in geordnete Bahnen lenken. Im Moment ist es ein ziemliches Chaos. So Gott will, erfahre ich, was es bei Dir für Neuigkeiten gibt. Vergiss mich nicht.

 

Ich drücke Dich

Marta

Ay, Martita – wie viele Jahre ist es jetzt her, dass du das geschrieben hast? Zehn? Fünfzehn? Ich habe dich nicht vergessen. Die ganze Zeit über nicht. Die Briefe, die wir uns geschrieben haben, sind wie ins Wasser geworfene Kiesel. Die Ringe darum werden größer und größer.

Während ich deine Briefe an diesem Morgen erneut lese, fühlt es sich seltsam an, wieder Puffina genannt zu werden. Nach so langer Zeit. Ich weiß nicht, wo ich Puffina zurückgelassen habe. In Paris? Nizza? Sarajevo? So viel ist seitdem passiert.

Ich habe immer noch meinen Abzug des Fotos, das du erwähnst, aus der Metrostation Les Halles. Alle miteinander in den Fotoautomaten gequetscht, mit rausgestreckten Zungen, schielend, Paola drückt ihre Nase hoch wie ein Schweinchen. Drei Aufnahmen für zehn Franc. Eine für dich, eine für mich, eine für Paola. Paola hat uns die Fotos spendiert, weißt du noch?

Wir waren zum Weihnachtsshopping in den Galeries Lafayette. Haben uns den ganzen Nachmittag schöne Dinge angeguckt.

 

Als wir das Kaufhaus gerade verlassen wollten, sprangen uns die Detektive in den Weg und blockierten die Drehtüren. Wir wurden ins Treppenhaus gedrängt, Kunden starrten mit offenen Mündern, wie Fische.

Im Untergeschoss ein beengtes holzgetäfeltes Büro mit Spionspiegel. Zusammengesackt auf einem Stuhl eine in Tränen aufgelöste Omi mit hennarotem Haar. Was hatte sie geklaut? Einen Kronleuchter? Wo hat sie ihn bloß versteckt?, fragte ich mich.

Ich erinnere mich, dass ich stinkwütend wurde, weil ich noch nicht von Paola wusste. Mein gesamter Tascheninhalt weisungsgemäß auf dem Schreibtisch verteilt. Meine Monatskarte für die Metro. Zerknüllte Taschentücher. Der Notizblock in grellem Pink, den ich bei Monoprix gekauft hatte. Zwei violette Filzstifte. Der Schlüssel zur Wohnung der Jungs in Neuilly-sur-Seine. Mein Portemonnaie mit meinem gesamten französischen Geld, in Scheinen und Münzen. Der amerikanische Reisepass – ich habe dafür gesorgt, dass sie den zu sehen bekamen.

Du hast nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als Paola aus ihrer Tasche drei Paar Handschuhe hervorzog wie eine Girlande aus Papierpuppen. Drei Paar billige Wollhandschuhe mit Preisschildern – eins in Beige, eins in Olivgrün, eins in Rot.

Sie ließen uns gehen, feuerten uns eine Warnung und wütende Worte hinterher.

Auf dem Weg zur Metro sagt Paola: »Oh, es ist mir so peinlich, Puffina. Nicht für mich, sondern für dich und Marta. Schwör mir, Puffi, dass du es nie jemandem erzählst. Versprich es mir, per favore!«

»Ich verspreche es«, sage ich.

 

Danach hat Paola uns die Fotos spendiert, als wollte sie die Sache damit wiedergutmachen.

Es ist das einzige Bild, das ich von uns habe, Marta, unglaublich, oder? Das Foto, das wir nach unserem Rausschmiss aus den Galeries Lafayette gemacht haben. Als ich wieder in Chicago war, ließ ich meine Filme aus Paris entwickeln, aber auf den Fotos war nichts drauf. Auf keinem einzigen. Kein Bild von dem Morgen, an dem wir dich in Saint-Cloud besucht haben, keins vom Café Deux Magots, keins von der Silvesterparty und keins von unserem Abschied an der Gare de Lyon.

 

Wir haben darauf gewartet, dass etwas passiert. Tun das nicht alle Frauen, bis sie eines Besseren belehrt werden? Wir haben darauf gewartet, dass uns das Leben schwungvoll in die Arme nimmt – ein Strauss-Walzer, ein Saal in Versailles voller Kronleuchter. Paola wartete auf eine Arbeit, nicht auf irgendeine – als Au-pair-Mädchen oder Verkäuferin –, sondern auf eine Arbeit, die sie davor bewahren würde, in das Haus ihres Onkels in einem Vorort von Mailand zurückkehren zu müssen.

Ich wartete auf einen Brief von einer Kunststiftung an der Côte d’Azur; darauf, dass mein Leben begann. Die gesamten Ersparnisse meines Sommerjobs bei einem Erdgasunternehmen schwanden dahin. Mein Zimmer in einer Pension nahe der Place de la République – ein ehemaliger Besenschrank hinter dem Empfangstresen, gerade breit genug für ein Bett, wie eine Schlafwagenkoje. Am Ende des Flurs eine winzige Gemeinschaftsdusche mit einem Boiler, der gierig Francs verschluckte; das Geld, das ich für meinen Unterricht gespart hatte, einfach weggespült.

Ein Ziehen in meiner Brust, sobald ich darüber nachdachte.

Aber ich konnte nicht nach Hause zurückkehren, ich konnte es nicht. Nicht, bevor ich mich nicht als Schriftstellerin bezeichnen konnte.