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Beschreibung

Das Thema: Drei Quellen und drei Bestandteile, Holger Wendt; Wissen, wie es geworden ist…, Raimund Ernst; Klassen, Kampf und Bewusstsein, Jonathan White (GB); Materialismus, Claudius Vellay; Dialektik, Nina Hager; Was ist Ausbeutung?, Ulf Brandenburg; Waren und Warenproduktion, Klaus Müller; Über die menschliche Natur, Werner Zimmer-Winkelmann; Arbeiterlied und Gegenkultur, Georg Klemp Kommentare: Ukraine-Krieg, Kerstin Kaiser, Fred Schmid; Gaza-Krieg, Niall Farrell (Irland), Joachim Guilliard; IGMetall und Rüstung, Anne Rieger; Linke Migrationspolitik, Artur Pech; Europawahl/Parteien in Europa, Ulrich Schneider, Vladimiro Giacché, Franz-Stephan Parteder; Bauernstreiks, Anke Schwarzenberg (MdL) Bei anderen gelesen: Innen-Ansichten aus Russland, Kerstin Kaiser; Russische Stimmen zur Verurteilung von Boris Kagarlitzki, Dimitrij Rodionow Kalenderblatt: Immanuel Kant (1724–1804), Hermann Klenner Positionen: Warum die Partei nützlich sein muss, Tobias Schweiger (KPÖ); Sozialismus und Jugend, MarxLenin P. Valdés (Havanna/Kuba); Keine Klimagerechtigkeit ohne Frieden, Anne Rieger; Lateinamerika und das Ende der westlichen Vorherrschaft, Peter Gärtner; Weshalb Portugal eine neue Agrarreform braucht, Martin Leo (Lagos/Portugal) Berichte, Diskussion, Rezensionen Beilage: Russland besser verstehen, Joachim Hösler

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Seitenzahl: 368

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Kommentar

Einwurf von Links

Kerstin Kaiser

Solange die Waffen nicht schweigen, können die Menschen weder in der Ukraine noch in Russland über ihre Interessen, politische Kompromisse oder Konsense nachdenken. Kriegsgeschehen schließt Demokratie und Menschenrechte auf allen Seiten aus.

Derzeit würde wohl die Mehrheit der russländischen Politik und Gesellschaft es nicht akzeptieren, im Ergebnis von Verhandlungen die östlichen Gebiete der Ukraine und die Krim vollständig »aufzugeben«. Das aber kann und darf nicht die Weigerung von Politiker:innen weltweit rechtfertigen, offensiv, ununterbrochen und gewaltfrei mit allen am Krieg Beteiligten die Bedingungen für einen Waffenstillstand und das Danach auszuloten. Für uns in Deutschland und der EU heißt das, uns kompromisslos und radikal gegen die Kriegspolitik aller Regierungsparteien und der CDU/CSU zu stellen.

Folgen wir Rosa Luxemburgs Gedanken: »Es ist eben der Krieg als solcher und bei jedem militärischen Ausgang, der die denkbar größte Niederlage für das europäische Proletariat bedeutet.« Der Krieg selbst ist das Kriegs-Verbrechen. Wer ihn vorbereitet oder nicht verhindert, trägt dafür Verantwortung. Nicht erst seit dem Outing von Ex-Kanzlerin Merkel wissen wir, dass deutsche Regierungspolitik diesen Krieg nicht verhindert, sondern politisch befördert hat. Verletzt wurde das Gebot der Friedenspflicht im Grundgesetz. Waffenlieferungen in einen laufenden Krieg und ihre schrille Begleitmusik, die Ausbildung ukrainischer Militärangehöriger für den direkten Fronteinsatz überschreiten die rote Linie der Kriegsbeteiligung und sind ein Teil deutscher Kriegstüchtigkeit.

Das Versagen der Partei DIE LINKE und großer Teile der gesellschaftlichen Linken auf diesem Feld war nicht zufällig der letzte Anstoß für das Fortdauern ihrer existenziellen Krise.

Über Jahrzehnte ist es den linken Kräften in Europa nicht gelungen, internationalistisch – gemeinsam und solidarisch – um Aufklärung zu ringen, was die Geschichte der Sowjetunion und der anderen Staaten des Warschauer Vertrages hinterlassen hat und wie ein neues Europa zu gestalten sein könnte. Linke Kräfte in Ost und West konnten der NATO-Osterweiterung, der EU-Außenpolitik und der Militarisierung von Denken und Politik auf der einen Seite genauso wenig entgegensetzen, wie dem Anspruch Russlands als Machtakteur im postsowjetischen Raum auf der andern. Es lag auch am subjektiven Faktor: Es fehlten Interesse, Wissen und Kommunikation …

Linke Politik muss eigenständig den Grundsätzen von Humanismus und Menschenrechten, von Aufklärung und Gewaltfreiheit, von Emanzipation und Solidarität folgen. Machtkritik und Dissidenz gegenüber den Herrschenden im jeweiligen Land erfordern eine eigene analytische Perspektive, die herrschende Meinungen und Narrative immer infrage zu stellen hat und das Kielwasser der Herrschenden verlässt. Will die internationale Linke in dem sich herausbildenden globalen Kriegsregime überhaupt noch eine Rolle spielen, muss sie mit Hochdruck an der Bildung tragfähiger und wirkungsmächtiger internationalistischer Beziehungen arbeiten. Sie darf sich nicht für die neue Blockbildung vereinnahmen lassen. Eine Linke, die sich im nationalen Rahmen bewegt, bleibt ohne Einfluss am Rand des Geschehens. Sich dann im Kriegsfall mehr oder weniger aggressiv im Namen der Menschenrechte, des Rechts auf (Selbst-)Verteidigung, der Werte und der Demokratie oder des Kampfs gegen Autokratien auf die Seite des »Vaterlands« zu schlagen ist ein Irrweg, der an den Rand linker Theorie und Praxis geführt hat.

(Leicht gekürztes Schlusskapitel aus dem in dieser Ausgabe dokumentierten Beitrag der Autorin.)

In gemeinsamer Sache

In gemeinsamer Sache

Klarstellung 1: »Gramsci-Tage«

Die 16. Braunschweiger Gramsci-Tage, über die wir in der letzten Ausgabe berichtet haben, wurden an zwei Tagen von jeweils »über 100« Teilnehmenden besucht. In der Endredaktion des Berichtes von Timo Reuter haben wir daraus (in alter UZ-Pressefest-Zählweise) »rund 200« gemacht. Unser Fehler, nicht der des Autors. Sorry. Ein Besucherrekord mit erfreulich viel Jüngeren war es trotzdem.

Buchvorstellungen

Unsere Mitherausgeber Artur Pech und Ulrich Schneider machen Veranstaltungen zur Vorstellung ihrer neuen Bücher »Marx und Engels über Migration« und »Die ›Weltliga der Antifaschisten‹ 1923/24«. (Siehe Seiten 14 und 22) Wer ebenfalls eine Veranstaltung planen möchte, wende sich bitte an [email protected]. Wir stellen gerne den Kontakt her.

Zum zweiten Mal in Havanna dabei

Auch beim 2. internationalen Treffen politisch-theoretischer Zeitschriften von Parteien und linken Bewegungen – organisiert von »Cuba Socialista« – hat uns Jenny Farrell als Mitherausgeberin der Marxistischen Blätter vertreten. (Siehe Bericht auf Seite 9) Als »Give away« oder auch »Visitenkarte« hatten wir ausreichend USB-Sticks mit unserer Jubiläumsausgabe »Mut und Marxismus« mitgegeben und dabei neue Kontakte gewonnen.

»Russlands Linke vor der Wahl« …

… war das Thema einer gemeinsamen ViKo des Herausgeberkreises und des »Treffpunktes Redaktion«. Als kompetente Gesprächspartnerin stand den 30 Teilnehmenden Kerstin Kaiser, bis Mai 2022 langjährige Büroleiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau, zur Verfügung. In dieser Ausgabe veröffentlichen wir ihren Beitrag zu »Russischen Innenansichten«. (siehe Seite 97)

Großer Dank

Über 23.000 Euro haben Leser und Freunde (m/w/d) der Marxistischen Blätter anlässlich unseres 60. Geburtstages im Jahr 2023 gespendet! Das ist mehr als doppelt so viel wie in den Vorjahren. Zusätzlich sind im 3. Quartal 5.000 Euro für die medizinische Kuba-Solidarität zusammengekommen. Dafür gebührt allen Spender:innen ein riesengroßes Dankeschön von Redaktion, Verlag und Herausgeberkreis! Wir werten dieses Ergebnis als gewachsene Zustimmung und Wertschätzung unserer Arbeit. Wer mehr als 200 Euro spenden konnte, hat als kleines Dankeschön unser wunderbares Geschenkbuch »Lob des Kommunismus« erhalten. Und für alle Leser:innen bemühen wir uns weiterhin -auch in schwierigster Lage- mit jeder Ausgabe um die bestmöglichen Marxistischen Blätter.

Klarstellung 2: »Selbstfinanzierung der Marxistischen Blätter«

Die in unseren Spendenaufrufen seit vielen Jahren benutzte Formulierung, die Marxistischen Blätter würden »von keiner Partei oder Stiftung « finanziell unterstützt, hat in der Führung der Partei, der wir nahestehen, zu unvorhergesehener Irritation geführt. Schließlich würden ja Spendengelder über das Konto der DKP-Recklinghausen an uns weitergeleitet. Stimmt. Aus Gründen. Wir werden also zukünftig der Eindeutigkeit halber schreiben: die Marxistischen Blätter werden »ausschließlich von ihren Leser:innen finanziert«. Wie lange wir »ausschließlich« schreiben, hängt davon ab, ob uns nahestehende »Dritte« zu Spenden für die Marxistischen Blätter aufrufen oder uns mit eigenen Mitteln finanziell unterstützen. Worüber wir dann gerne informieren. LoG

Kommentare

Den Krieg nach Russland tragen?

Fred Schmid

… Mit dem Krieg Israels gegen Gaza und der einseitigen Parteinahme Washingtons und der meisten EU-Mitgliedsstaaten, sowie der Doppelmoral angesichts des israelischen Umgangs mit Menschenrechten und Völkerrecht, hat sich die Kluft zwischen dem Globalen Süden und den USA und ihren Verbündeten noch weiter vertieft. Dass die USA bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat am 20. Februar des Jahres einsam und allein ihr Veto einlegen mussten, um einen Waffenstillstand in Gaza zu verhindern, spricht Bände. Ebenso, dass bei der Vollversammlung der UNO am 12. Dezember 2023 nur acht Länder mit Israel und den USA gegen einen sofortigen Waffenstillstand stimmten.

Chinas Aufstieg zur Supermacht, das Comeback Russlands als Großmacht, die Großmachtambitionen Indiens und anderer Schwellenländer, das selbstbewusste Auftreten der BRICS – aus alledem folgt, die Dominanz des Westens über die Weltpolitik ist Vergangenheit. Das ist die eigentliche Zeitenwende.

Allerdings ist das jetzt eine sehr gefährliche Situation. Der Westen steckt in dem Dilemma, entweder die Aussichtslosigkeit eines militärischen Sieges zu akzeptieren und dem Kreml ein Verhandlungsangebot zu machen, das diesem so weit entgegenkommt, dass er Interesse an Verhandlungen bekommt. Oder es müsste dramatisch eskaliert werden. Und zwar weit über die Taurus-Raketen hinaus, die zwar unangenehm für Russland wären, aber so wenig ein Game-Changer wie früher die Leopard-Panzer oder HIMARS-Raketen. Eine solche Eskalation aber birgt wiederum das Risiko einer Ausweitung des Krieges mit unkalkulierbaren Folgen.

Frankreich ist bereit zu eskalieren

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron scheint das Risiko dieser Eskalation nicht zu scheuen. Bei einer Hilfskonferenz für die Ukraine in Paris haben über 20 Länder mehr und schnellere Hilfe für die Ukraine beschlossen. Macron kündigte zudem eine neue Koalition für die Lieferung von Mittel- und Langstreckenraketen an. Auch der Einsatz von westlichen Bodentruppen wird von Emmanuel Macron inzwischen nicht mehr ausgeschlossen. Nichts sei ausgeschlossen, um einen russischen Sieg in der Ukraine zu verhindern, sagte Macron nach Abschluss einer Ukraine-Hilfskonferenz am gestrigen Abend (26.2.) in Paris.

Bei dem Treffen von über 20 Staats- und Regierungschefs, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), habe es zwar keine Einigkeit zum Einsatz von Bodentruppen gegeben, sagte Macron. »Aber in der Dynamik darf nichts ausgeschlossen werden. Wir werden alles tun, was nötig ist, damit Russland diesen Krieg nicht gewinnen kann.« Eine russische Niederlage sei nötig für die Stabilität und Sicherheit in Europa. Deshalb müssten sich die Unterstützer der Ukraine einen Ruck geben.

Auf die Frage eines möglichen Einsatzes von Truppen durch Polen sagte Macron, jedes Land könne eigenständig und souverän über den Einsatz von Bodentruppen entscheiden.

Vor seiner Abreise zu dem Pariser Treffen hatte der slowakische Ministerpräsident Robert Fico vor einer »gefährlichen Eskalation der Spannungen« mit Russland gewarnt. Einzelne Länder, die er nicht namentlich nennen wollte, seien offenbar bereit, eigene Soldaten direkt in die Ukraine zu schicken. Das aber würde Russland nicht zum Einlenken bewegen, sehr wohl aber die Gefahr einer Ausweitung des Konflikts vergrößern.

Der französische Oppositionsführer Jean-Luc Mélenchon erklärte: »Die Entsendung von Truppen in die Ukraine würde uns zu Kriegsparteien machen. Ein Krieg gegen Russland wäre Wahnsinn. Diese kriegerische verbale Eskalation einer Atommacht gegen eine andere große Atommacht ist bereits ein unverantwortlicher Akt. Das Parlament muss eingeschaltet werden und »Nein« sagen. Es darf keinen Krieg geben! Es ist höchste Zeit für Friedensverhandlungen in der Ukraine mit gegenseitigen Sicherheitsklauseln!«

Stoltenberg: Kein Einsatz von NATO-Truppen in Ukraine geplant

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte nach den Äußerungen des französischen Präsidenten, dass die NATO keine Pläne habe, Kampftruppen in die Ukraine zu schicken. Er schränkte jedoch ein, dass der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung zustehe, »und wir haben das Recht, sie bei der Wahrung dieses Rechts zu unterstützen«. Vor der Münchner Sicherheitskonferenz hatte Stoltenberg geäußert, dass sich die NATO auf eine »jahrzehntelange Konfrontation mit Russland« vorbereiten müsse.

Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk äußerte sich skeptisch gegenüber den Ideen eines Einsatzes von westlichen Bodentruppen in der Ukraine. Allerdings wolle er zum jetzigen Zeitpunkt nicht spekulieren, ob es in der Zukunft unter bestimmten Unterständen zu einer Änderung dieses Standpunktes kommen könne.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat den Überlegungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zur Entsendung westlicher Truppen in die Ukraine eine Absage erteilt. Auch für die Zukunft gelte, »dass es keine Bodentruppen, keine Soldaten auf ukrainischem Boden gibt, die von europäischen Staaten oder Nato-Staaten dorthin geschickt werden«, sagte Scholz. Doch es wäre nicht das erste Mal, dass der Kanzler von ihm vorher gezogene »rote Linien« überschreiten würde.

Den Krieg nach Russland tragen

Auch die Grünen halten nichts von Überlegungen zur Entsendung von Bodentruppen. Vizekanzler Robert Habeck erklärte, es sei immer klar gewesen, dass das keine Option sei. Die Partei warb zu Beginn einer Klausur der Bundestagsfraktion in Leipzig stattdessen erneut für eine Lieferung von »Taurus«-Marschflugkörpern.

Sie treffen sich dabei mit dem CDU-Wehrexperten Roderich Kiesewetter, der den Krieg um die Ukraine massiv eskalieren und den Krieg nach Russland tragen will, um dort russische Ministerien zu zerstören. Dafür müsse die Bundesregierung die entsprechenden Waffen liefern.

»Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände.« Roderich Kiesewetter (CDU), DW, 9.2.2024 (https://www.dw.com/de/kiesewetter-den-krieg-nach-russland-tragen/a-68215200)

Doch es sind nicht nur Kiesewetter, Flack-Zimmermann, Hofreiter und Co, die zum letzten Gefecht trommeln.

In einem vom Bundestag am 22. Februar beschlossenen Antrag der Ampelfraktion wir die Bundesregierung gemeinsam aufgefordert, weitere Waffen an die Ukraine zu liefern – und zwar Systeme, die weit hinter die russische Frontlinie reichen. »Insbesondere muss die Ukraine auch künftig in die Lage versetzt werden, Angriffe auf militärische Ziele wie Munitionsdepots, Versorgungsrouten und Kommandoposten weit hinter den Frontlinien durchzuführen«, heißt es im Beschluss.

»Wer mit deutschen Waffen den Krieg nach Russland tragen will, der trägt den Krieg nach Deutschland …« Sahra Wagenknecht, (MdB, BSW)

Leicht gekürzt aus: https://isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5205-macron-einsatz-von-bodentruppen-nicht-mehr-ausgeschlossen

Zu IG Metall und Aufrüstungspakt

Nicht zuschauen

Anne Rieger

Wer als Gewerkschaftsmitglied das Papier »Souveränität und Resilienz sichern« liest, gerät ins Schaudern. Bei diesem Aufrüstungspakt, der den Untertitel »Industriepolitische Leitlinien und Instrumente für eine zukunftsfähige Sicherheits- und Verteidigungsindustrie« trägt, handelt es sich um ein gemeinsames Positionspapier von Teilen der IG Metall, dem Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie BDSV und dem SPD-Wirtschaftsforum. Darin werden unter anderem der »internationale Wettkampf um die Ressourcen der Arktis, die Sicherheit neuer Seewege im Nordatlantik, die wachsenden geopolitischen Spannungen am Indo-Pazifik« als sicherheitspolitische Herausforderungen bezeichnet.

Das erinnert an die Äußerung von Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) im Jahr 2002 anlässlich des Krieges gegen Afghanistan: »Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.« Offensichtlich lassen sich Teile der IG Metall vereinnahmen von der Politik der Bundesregierung. Die verkündet: Wir wollen »kriegstüchtig« (Boris Pistorius) werden oder – wie Bundeskanzler Olaf Scholz es formuliert – »in Europa bald über die größte konventionelle Armee im Rahmen der NATO verfügen«.

Geworben wird damit, dass die »Verteidigungsfähigkeiten« in den Dimensionen Land, Luft und See weiterentwickelt werden müssten. Hatte der IGM-Gewerkschaftstag im Herbst noch mit großer Mehrheit beschlossen: »Wir setzen uns mit Nachdruck für diplomatische Lösungen auf allen möglichen Ebenen und über alle Kanäle ein. (…) Die Eskalations- und Rüstungsspirale darf sich nicht weiterdrehen« und man setze sich »gemeinsam für Rüstungskonversion ein«, scheint sich unter dem neu gewählten 2. Vorsitzenden der IG Metall, Jürgen Kerner – ohne Mehrheitsbeschluss – ein Pakt mit der Rüstungsindustrie anzubahnen beziehungsweise zu vertiefen. Der Kurs der Metallerinnen und Metaller soll in Richtung Aufrüstung verschoben werden. Da können wir nicht zuschauen.

Um die IGM-Gewerkschaftsmitglieder auf diesem Weg mitzunehmen, werden mal wieder die Arbeitsplätze hervorgehoben, die durch die Aufrüstungsproduktion in Deutschland gesichert würden. Auf der Homepage des BDSV ist die Rede von 409.100 direkten und indirekten Beschäftigungsverhältnissen in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Bei 46 Millionen Erwerbstätigen ist das lediglich ein Prozent – quantitativ kein hoher Anteil.

Qualitativ allerdings brauchen wir diese »hochmotivierten, hervorragend qualifizierten Beschäftigten auf technisch anspruchsvollen (…) Arbeitsplätzen«, wie Kerner sie lobt. Ganz andere Aufgaben, nicht die in der rückwärtsgewandten Rüstungsindustrie, stehen auf der Tagesordnung: Wir brauchen die Kompetenz der Beschäftigten für eine zukunftsfähige, moderne Gesellschaft. Produkte und Dienstleistungen für eine klimafreundliche, klimaneutrale Gesellschaft müssen entwickelt werden.

Was ist zu tun? Wir können uns als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter nicht das Heft des Handelns von einzelnen Vorstandsmitgliedern beziehungsweise Teilen der IG Metall im Verbund mit der Rüstungsindustrie aus der Hand nehmen lassen. Die Sorge der Beschäftigten in der Rüstungsindustrie um ihre Arbeitsplätze nehmen wir ernst. Deswegen müssen wir, die Friedens-, die Klima-, die Sozialen Bewegungen, gemeinsam mit ihnen Alternativen zum Aufrüstungskurs der Ampelregierung und Alternativen zur Rüstungsproduktion entwickeln. Konversion – sozialökologische Transformation – ist möglich, das haben viele einzelne Beispiele gezeigt.

Das aktuell Wichtigste ist, die Gewerkschaftliche Friedenskonferenz am 14. und 15. Juni in Stuttgart in diesem Sinne überall vorzubereiten. Zuvor schmücken wir den 1. Mai mit Friedensfahnen, schreiben offene Briefe an Kerner – wie der Friedensrat Markgräflerland. Der Schulterschluss von Friedens- und Gewerkschaftsbewegung muss aktiviert und die Zusammenarbeit mit der Zivilklauselbewegung forciert werden.

Wie verlogen die Argumentation ist, es ginge um Arbeitsplätze und Wertschöpfung hierzulande, zeigt sich bei Rheinmetall. Am Rande der Sicherheitskonferenz in München hat der Rüstungskonzern eine Absichtserklärung mit der »Ukrainian Defense Industry« (UDI) unterzeichnet. Das Joint Venture will ein neues Artilleriewerk in der Ukraine bauen. Der Dax-Konzern wird 51 Prozent der Anteile an dem Gemeinschaftsunternehmen halten, UDI die verbliebenen 49 Prozent, berichtete das »Handelsblatt«.

»Gewerkschafter gegen Aufrüstung«

»Die Gewerkschaften müssen sich un­über­hörbar für Friedensfähigkeit statt ›Kriegstüchtigkeit‹ einsetzen, für Abrüstung und Rüstungskontrolle, Verhandlungen und friedliche Konfliktlösungen. Für Geld für Soziales und Bildung statt für Waffen. ›https://gewerkschaften-gegen-aufruestung.de/auszuege-aus-aktuellen-positionen-der-gewerkschaften/‹ Das ergibt sich aus ihrer Tradition und ihren Beschlüssen. Auch und besonders in den aktuellen Auseinandersetzungen um die internationale Politik und um die Haushaltspolitik!

Wir fordern unsere Gewerkschaften und ihre Vorstände auf, den Beschlüssen und ihrer Verantwortung gerecht zu werden! Die Gewerkschaften müssen sich laut und entschieden zu Wort melden und ihre Kraft wirksam machen: gegen Kriege und gegen Aufrüstung!«

Das sind die letzten Zeilen eines Aufrufs von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern an die Vorstände des DGB und der Einzelgewerkschaften, sich gemäß der Beschlusslage und ihren Beteuerungen in die friedens-, besser kriegspolitischen Diskussionen öffentlich einzumischen. Die Gewerkschaften müssen endlich hörbar werden in dieser unsäglichen Diskussion und dem Geschrei nach mehr und immer noch mehr Waffen.

Wenn Ihr den Aufruf für richtig und notwendig haltet, könnt ihr ihn auf der Seite »Gewerkschaften gegen Aufrüstung« unterzeichnen.

https://gewerkschaften-gegen-aufruestung.de/

Nach Irland oder in die Wüste

Niall Farrell

Am 5. November 2023 zitierte die Times of Israel Minister Amichai Eliyahu, dass das palästinensische Volk »nach Irland oder in die Wüste gehen kann«, der hinzufügte, dass alle, die eine palästinensische oder eine Hamas-Flagge schwenken, »nicht mehr auf der Erde leben sollten«. Diese menschenverachtende Äußerung schloss also die Iren gleich mit ein. Warum?

Irland gilt als propalästinensischstes Land in Europa. Das nimmt kaum Wunder, denn Irlands Geschichte als erste und älteste Kolonie Europas wird hierzulande noch heute sehr deutlich erinnert und lebt in den Nachfahren der kolonialen Siedler, den »Protestanten« im Norden Irlands, sowie den entrechteten »Katholiken« nach. Hier besitzen gerade die israelischen und palästinensischen Fahnen ungeheure Symbolkraft und sind ständig im Straßenbild präsent. »Katholiken« haben bis in die jüngste Vergangenheit am eigenen Leibe erfahren, was Besatzung, vorsätzliche Tötung durch »Sicherheitskräfte« und Apartheid bedeuten.

Vor diesem Hintergrund gab es in Irland auch dreißig Jahre lang eine starke politische und auch Streik-Bewegung gegen die Apartheid in Südafrika, die u. a. den Boykott südafrikanischer Waren durchsetzte. Die breite, auch internationale Unterstützung konnte bis zum Ende des Apartheid Regimes aufrecht erhalten werden und bedeutete den ersten totalen Boykott südafrikanischer Importe durch eine westliche Regierung.

So war Irland auch 1980 das erste Land der damaligen EG, das die Gründung eines souveränen, von Israel unabhängigen palästinensischen Staates befürwortete sowie die PLO anerkannte.

In jüngerer Zeit verstärkten sich die Bemühungen zur Unterstützung der Palästinenser. 2014 verabschiedete das Parlament Anträge, in denen die formelle Anerkennung des Staates Palästina gefordert wurde. 2018 nahm es einstimmig einen Gesetzesvorschlag an, der den »Handel mit und die wirtschaftliche Unterstützung von illegalen Siedlungen in völkerrechtswidrig besetzten Gebieten« verbieten und unter Strafe stellen würde – ein Gesetz, dessen Ratifizierung durch die konservative Fine Gael blockiert wird. Sowohl Sinn Féin als auch Fianna Fáil wollen das Gesetz über die besetzten Gebiete in Kraft setzen. Der Fine-Gael-Politiker Alan Shatter indessen unterhält enge Beziehungen zu zionistischen Kreisen und erklärte in einem Meinungsbeitrag für die Jerusalem Post, dass das Außenministerium die Umsetzung des Gesetzes verhindern würde. Sein Parteigenosse Außenminister Simon Coveney bestätigte 2019 in Israel, dass die Regierung das Gesetz »effektiv blockiert« habe.

Im Mai 2021 verurteilte das Parlament einstimmig Israels »De-facto-Annektierung« palästinensischer Gebiete als Verstoß gegen das Grundprinzip des Völkerrechts. Nach eigenen Angaben wurde hier erstmals durch eine Regierung der EU der Begriff ›Annexion‹ in Bezug auf die israelische Besatzung angewendet.

Die prominente, international bekannte irische Autorin Sally Rooney kam 2021 in die Schlagzeilen, weil sie aus Solidarität mit dem palästinensischen Volk und im Zuge der hierzulande starken BDS-Bewegung Israel die Übersetzungsrechte ihres Romans »Schöne Welt, wo bist du?« verweigerte.

Im November 2022 rief Trócaire gemeinsam mit 17 anderen irischen NRO die irische Anti-Apartheid-Kampagne ins Leben und forderte Irland auf, »öffentlich anzuerkennen, dass der Staat Israel das Verbrechen der Apartheid gegen das palästinensische Volk begeht, und konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um dieses ›crime against humanity‹ zu beenden«.

Irland gehörte zu den ersten westlichen Nationen, die sich im Oktober 2023 sofort gegen den Krieg gegen das palästinensische Volk aussprachen, sich für einen Waffenstillstand einsetzten. Selbst der konservative Fine-Gael-Premier Leo Varadkar fühlte sich aufgrund der Stimmung im eigenen Lande verpflichtet, sich gegen Ursula von der Leyens Vorgehen zu verwahren und sagte, »dass es der EU an Ausgewogenheit fehle, wenn sie Israel Rückendeckung gebe, ohne zu fordern, dass das Vorgehen in Gaza mit dem Völkerrecht unvereinbar sei«.

Mary Lou McDonald, Chefin der Oppositionspartei Sinn Féin, äußerte, von der Leyens »uneingeschränkte Unterstützung für Israels unbarmherzigen militärischen Angriff« auf die Menschen in Gaza und ihr Versäumnis, den Vorrang des internationalen Rechts geltend zu machen, sei »rücksichtslos, aufrührerisch und gefährlich«. Sie fügte hinzu, dass, wenn die internationale Gemeinschaft das Vorgehen Israels nicht beim Namen nennt »und nicht geschlossen dagegen auftritt, dann wird dies als das entscheidende Versagen unserer Generation in die Geschichte eingehen«. Sinn Féin gehört zu den propalästinensischsten politischen Parteien Europas, die mit einer großen Mehrheit bei Meinungsumfragen Aussicht auf einen baldigen Wahlsieg haben.

Die großartige irische EU-Abgeordnete Clare Daly erklärte, von der Leyen habe »keine Autorität in auswärtigen Angelegenheiten, sie spricht nicht für mich, sie spricht nicht für Irland und sie spricht nicht für die Bürger Europas. Wir stehen für Frieden, wir stehen für Gerechtigkeit für die Menschen in Palästina und für die Wahrung des Völkerrechts.«

Mehrere Oppositionsparteien haben sich für die Ausweisung der israelischen Botschafterin aus Irland eingesetzt. Doch während die irische Botschafterin in Tel Aviv vom dortigen Außenministerium regelmäßig gemaßregelt wird, bleibt ihr Counterpart in Dublin unbehelligt.

Die irische Anwältin Blinne Ní Ghrálaigh, die auch Südafrika beim IGH vertritt, beschrieb ausführlich das Ausmaß des anhaltenden Terrors in Gaza und sagte: »Es wird immer deutlicher, dass große Teile des Gazastreifens – ganze Städte, Dörfer, Flüchtlingslager – von der Landkarte getilgt werden.« Frau Ní Ghrálaigh ergriff ihren Beruf aufgrund eines Beispiels britischer Gewaltherrschaft in Irland: Die Ermordung der 12-jährigen Majella O’Hare 1976 auf dem Weg zur Kirche, die von einem britischen Fallschirmjäger erschossen wurde und in den Armen ihres Vaters starb. Die Anwältin sagt über die Wirkung, die dieser Mord auf sie hatte: »Ich denke, es lag an ihrem Alter, an der Tatsache, dass niemand zur Rechenschaft gezogen wurde, und an den Umständen der Tötung – dass sie erschossen wurde, als sie mit einer Gruppe anderer Kinder eine Landstraße entlanglief.«

Bei Redaktionsschluss verhandelt Irland mit anderen EU-Mitgliedern über eine Überprüfung des EU-Israel-Assoziierungsabkommens aufgrund möglicher Menschenrechtsverstöße seitens Israels. Ebenso führt Irland Gespräche mit EU-Ländern, die eine gemeinsame Anerkennung Palästinas unterstützen und die Möglichkeit gleichberechtigter Verhandlungen für eine Zwei-Staaten-Lösung nach Ende des Gaza-Krieges schaffen könnten. Klar ist: Während Palästinenser hier immer willkommen sind, können Israels Kriegstreiber und ihre Apologeten in die Wüste gehen, wenn sie wollen, aber nicht nach Irland.

»Achse des Völkermordes«

Joachim Guilliard

Der Eilentscheid des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 26.01.2024 in der Völkermordanklage Südafrikas gegen Israel wird überwiegend als schwerer Schlag von erheblicher internationaler Bedeutung gegen Israel wie auch seine Förderer gewertet. Der IGH hat keinen Waffenstillstand angeordnet, er verpflichtet Israel aber, alle völkermörderischen Handlungen zu unterlassen bzw. zu verhindern und in ausreichendem Umfang humanitäre Hilfe für den Gazastreifen zu ermöglichen.Politisch bedeutsam ist vor allem die Feststellung des Gerichtshofs, dass Südafrikas Völkermordvorwurf begründet und plausibel ist. Damit stellt er auch die Bundesregierung bloß, die Südafrikas Anklage als absurd und bar jeder Grundlage abkanzelte.

Es war klar, dass eine IGH-Entscheidung die israelischen Angriffe nicht stoppen kann. Israel hat seit seiner Gründung alle völkerrechtlich verbindlichen Beschlüsse der UNO und seiner Organe straflos ignoriert. Der durch das IGH-Urteil erhärtete Vorwurf des Völkermords ist dennoch ein schwerer Schlag für Israels Bemühungen um sein Ansehen in der Welt. Schließlich spielt der Verweis auf den Völkermord an europäischen Juden, bei der Rechtfertigung seiner Politik eine zentrale Rolle.

Die Reaktion der israelischen Führung auf das IGH-Urteil ließ nicht lange auf sich warten. Noch am selben Tag startete sie eine Kampagne gegen das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge UNRWA, indem sie Vorwürfe lancieren ließ, zwölf seiner Mitarbeiter hätten sich am 7.10. an Gräueltaten der Hamas beteiligt. Als Belege wurden Aussagen gefangener palästinensischen Kämpfer angeführt. Wie jüngste Berichte von Amnesty International nahelegen, könnten passende durch Folter erpresst worden sein.1

Um den Schaden für die Organisation zu begrenzen, entließ UNRWA vorsorglich die neun noch lebenden Mitarbeiter und kündigte an, die Vorwürfe zu untersuchen. Dennoch setzten 15 westliche Staaten sofort ihre Zahlungen an das UN-Hilfswerk aus. Das UNRWA beschäftigt in Gaza 13.000 Mitarbeiter. Selbst wenn die Vorwürfe gegen alle zwölf Beschuldigte zutreffen würden, wäre dies kein glaubhafter Grund für einen solchen Schritt.

Tatsächlich geht es Israel darum, dem IGH-Urteil die Spitze zu nehmen, in dem UNRWA und indirekt auch die UNO als parteiisch und unglaubwürdig dargestellt werden. Führende UNRWA-Mitarbeiter dienten, wie auch die anderer UN-Organisationen, als wichtige Zeugen für die Angriffe auf zivile Ziele und die katastrophale Lage der Bevölkerung.

Das Hilfswerk ist für das Überleben der geschundenen Palästinenser im Gazastreifen zentral. Statt die Anordnung des IGH zu unterstützen, für ihre ausreichende Versorgung zu sorgen, verschärfen die USA, Deutschland, Großbritannien, Kanada, Australien, Italien, die Niederlande, Finnland, Schottland, Japan und Österreich die israelische Blockade.

Dem Juraprofessor Francis Boyle zufolge, der für Bosnien die erste erfolgreiche Völkermordklage vor dem IGH vertrat, beteiligen sie sich damit aktiv am Völkermord. Sie verstoßen damit ebenfalls klar gegen Art II (c) der Völkermordkonvention, die untersagt, einer Bevölkerungsgruppe »vorsätzlich Lebensbedingungen aufzuerlegen, die darauf abzielen, ihre physische Zerstörung im Ganzen oder in Teilen herbeizuführen«. Diese Länder bilden nun, wie es in Kommentaren heißt, eine »Achse des Völkermords«.

Israel strebt seit langem die Auflösung des UNRWA an, da es eines der größten Hindernisse bei der ethnischen Säuberung der besetzten Gebiete und der Auslöschung der Palästinenser als [alteingesessenes] Volk ist. Das Hilfswerk, das in allen Flüchtlingslagern in der Region aktiv ist, ist die Organisation, die sie über ideologische Grenzen hinweg vereint, wo immer sie leben. Mit ihm behalten die von ihrem Land Vertriebenen und ihre Nachfahren ihren Flüchtlingsstatus und damit auch ihr Recht auf Rückkehr.2

Nach weiteren israelischen Geheimdienst- und Regierungspräsentationen heißt es mittlerweile auch in deutschen Medien, das gesamte Hilfswerk sei »von Hamas infiltriert«.

UN-Generalsekretär, UN-Experten und Regierungen des Südens weisen die Vorwürfe als substanzlos zurück. Selbstverständlich unterhielten Mitarbeiter Kontakte zur Hamas. Da diese das Gebiet regiere, wäre anders die Versorgung der Bevölkerung gar nicht möglich.

Die Kampagne fußt, wie die Rechtfertigung des israelischen Vernichtungsfeldzugs, auf der Dämonisierung der Hamas als reine, von der Bevölkerung abgrenzbare Terrortruppe, als »menschliche Tiere«. Der 7. Oktober dient dafür als Bestätigung.

Doch auch wenn Aktionen der Hamas teilweise als terroristisch zu bewerten sind, ist sie grundsätzlich als Befreiungsbewegung anzuerkennen. Gaza gilt völkerrechtlich als »illegal besetztes Gebiet« und die Hamas ist eine bedeutende politische Vertreterin dessen Bevölkerung. Die UN-Generalversammlung hat mit der Resolution 45/130 (1990) den Palästinensern ausdrücklich das Recht auf Widerstand gegen die Besatzung zugestanden, auch mit Waffengewalt, sofern sie sich gegen legitime Ziele richtet.3

Die Hamas hat 2017 ihre Charta grundlegend geändert und erkennt nun die Existenz Israel in den Grenzen von 1948, wie auch die Abkommen der PLO mit Israel an. Für die Menschen im Gaza-Streifen ist sie auch die wichtigste Kraft, die zusammen mit den Hilfsorganisationen seit 2005 ihr Überleben organisiert.

Gemäß einer Umfrage im Westjordanland und im Gazastreifen, die Ende November mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt wurde, steht eine große Mehrheit dort hinter der Hamas und auch hinter der Offensive vom 7. Oktober.4

»Die Hamas existiert. Sie kann nicht einfach ausgelöscht werden«, betont der palästinensische Arzt und Politiker Mustafa Barghouti, der als möglicher Nachfolger von Mahmud Abbas als Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde gilt, gegenüber der taz. Sie sei »eine komplexe Bewegung« und »Teil unserer Gesellschaft«.5

Auch die beiden marxistischen Organi­sationen Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) arbeiten mit Hamas zusammen und beteiligten sich an der Offensive. Auf Kritik an dieser Zusammenarbeit erklärte Fouad Baker, ein Sprecher der DFLP, gegenüber junge Welt: »Im Zentrum steht ein gemeinsames Ziel, ungeachtet der ideologischen Unterschiede: die Beendigung der Besatzung.«6

Wer also die Gewalt beenden will, muss die Ursache, Besatzung, Unterdrückung, Vertreibung beenden.

1 Israel/OPT: Horrifying cases of torture and degrading treatment of Palestinian detainees amid spike in arbitrary arrests, AI, 8.11.2023.

2 Mit seinem Krieg gegen das UN- Flüchtlingshilfswerk stellt sich der Westen offen auf die Seite des israelischen Völkermords, Jonathan Cook, 30.1.2024.

3 John Neelsen, Gaza, der Westen und das Völkerrecht, 6.1.2024.

4 Palestine: Public Opinion Poll No (90), PCPSR, 13.12.2023.

5 Mustafa Barghouti über den Gazakrieg: »Hamas ist Teil unserer Gesellschaft«, taz, 27.1.2024.

6 »Im Zentrum steht die Beendigung der Besatzung« – Die DFLP kämpft an der Seite der Hamas, jW, 5.1.2024.

Linke Migrationspolitik

Artur Pech

Es ist mehrfach falsch, wenn es heißt: »Aus Sicht der politischen Linken war und ist Migration der Gegenentwurf zum Nationalismus.«1

Migration ist der gesellschaftliche Prozess, mit dem sich die Verteilung der Menschen auf der Erde ändert und Nationalismus eine Ideologie. Es kann sich also nicht um einen Gegenentwurf handeln.

Migration kann freiwillig oder erzwungen erfolgen. Der Umgang mit den Menschen, die davon betroffen sind, kann wiederum sehr wohl von internationalistischen Positionen getragen sein.

Häufig wird auch hier »nur eine Haltung beschrieben und eingefordert. Die Probleme, die die Wirklichkeit hervorbringt, werden eher ignoriert.«2

Linke Migrationspolitik muss grundsätzlichen Entwicklungen Rechnung tragen:

Da ist die Entwicklung der Produktivkräfte, die die gesellschaftliche Arbeitsteilung immer weiter vertieft, Kommunikation und Verkehr weltweit erleichtert. Dieser Prozess ist unumkehrbar, schreitet immer weiter voran, erweitert die Möglichkeiten für die Migration und erzwingt zugleich Migration.

Da ist als eine Folge dieser Entwicklung der menschengemachte Teil der Klimaveränderungen, der Migration erzwingt.

Da sind die unterschiedlichen Werte der Ware Arbeitskraft (nicht erst die Lohnunterschiede) in den verschiedenen Ländern, die immer direkter aufeinandertreffen und die daraus resultierende Frage, wer diese Unterschiede zu seinem Vorteil nutzen kann. Entschieden wird sie letztlich im Klassenkampf.

Da sind die Positionsverluste der bisher die Welt und den Weltmarkt beherrschenden Mächte, deren Migrationspolitik zugleich Mittel der Ausplünderung anderer Länder, Teil der Verteidigung ihrer Vorherrschaft und Waffe in den internationalen Auseinandersetzungen ist.

Da sind die Kriege, die Flucht erzwingen. Das Kriege zwischen kapitalistischen Staaten »in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkte« sind3, fand schon 1907 der Internationale Sozialistenkongress zu Stuttgart heraus.

Da ist existenzielle Not, die Flucht hervorbringt. Da geht es nicht um die Suche nach dem besseren Leben, da geht es um das Überleben, denn in der realen Welt dieser Tage ist jeder zehnte Mensch unterernährt.4

Und da ist die »Lifestyle-Migration« – insbesondere aus den reichen Ländern des Nordens, eine Migration von vergleichsweise wohlhabenden Personen. Deren Nutznießer beeinflussen kraft ihrer materiellen Möglichkeiten auch den Diskurs über die Migration wesentlich.5

Die Humanisierung des Regimes, dem die Migration unterliegt, muss ein wesentliches Anliegen linker Politik sein und bleiben. Darin darf sie sich aber nicht erschöpfen, denn das wäre letztlich die Kapitulation vor den kapitalistischen Verhältnissen.

Aus der ungleichen Entwicklung, aus den Positionsverlusten der Länder des »alten« Kapitals resultiert für linke Migrationspolitik in diesen Ländern ein besonderes Problem, dessen Kern bereits Friedrich Engels beschrieb:

»Solange Englands Industriemonopol dauerte, hat die englische Arbeiterklasse bis zu einem gewissen Grad teilgenommen an den Vorteilen dieses Monopols … Mit dem Zusammenbruch des Monopols wird die englische Arbeiterklasse diese bevorrechtete Stellung verlieren. Sie wird sich allgemein – die bevorrechtete und leitende Minderheit nicht ausgeschlossen – eines Tages auf das gleiche Niveau gebracht sehen, wie die Arbeiter des Auslandes.«6

Mit der Furcht vor einer solchen Entwicklung haben wir es heute auch in Deutschland zu tun.

Auf den ersten Blick scheint die Verteidigung des Monopols der reichen »Länder des Nordens« damit auch im Interesse ihrer – wie es jetzt heißt – »abhängig Beschäftigten« zu sein. Das liefe dann auf eine Beteiligung an der Ausplünderung ärmerer Länder hinaus. Sozialistischer Internationalismus bedeutet dagegen, auch hinsichtlich der Migration »in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats« zur Geltung zu bringen und »stets das Interesse der Gesamtbewegung« zu vertreten.7

Da geht es um die arbeitenden Klassen der Herkunftsländer ebenso, wie um die der Zielländer. Das verträgt sich nicht mit der Förderung der Migration zur Lösung z. B. von Fachkräfteproblemen im eigenen Land auf Kosten der Herkunftsländer oder mit Lohndrückerei durch Erhöhung des Arbeitskräfteangebots in den Zielländern.

In der Geschichte gab es Zeiten, in denen die Entwicklung der Produktivkräfte auf die Entwicklung der Bevölkerung drückte – und andere Zeiten, in denen es umgekehrt war. Mal trieb der Mangel an Produktivkraft die Bevölkerungsbewegungen, mal verlangte die Zunahme an Produktivkräften eine Verringerung der Bevölkerung und beseitigt den Überschuss durch Hungersnot oder durch Auswanderung. Das begann nicht erst mit dem Kapitalismus.

Geändert haben sich die Erscheinungsformen und die Bedingungen, unter denen sie wirken.

Linke müssen sich der Forderung verweigern, die Zahl der Arbeitenden den Bedürfnissen des Kapitals anzupassen. Es muss vielmehr darum gehen, die Wirtschaft den Bedürfnissen der Menschen anzupassen. Denn beispielsweise beim Import von Fachkräften für die Krankenhäuser geht es um die Aufrechterhaltung einer profitorientierten Krankenhausfinanzierung zu Lasten nicht nur der Beschäftigten hierzulande, sondern auch zu Lasten der Gesundheitssysteme der Herkunftsländer.

In der Migration bewegen sich Menschen. Jede dieser Bewegungen folgt einer individuellen Entscheidung.

Einer sich auf Marx stützenden Politik kann es nicht darum gehen, über die möglichen Motive zu fabeln, sondern darum zu untersuchen, welche objektiven Prozesse auf die Menschen wirken, zur Migration treiben oder entgegenwirken, die Möglichkeiten, mit diesen Bedingungen zurecht zu kommen, die Schranken für diese Möglichkeiten und den Charakter dieser Schranken.8

1 Jasper von Altenbockum, Links in der Krise, FAZ 3.11.2023, S. 1.

2 Nils Heisterhagen, Die Zeit der Illusionen ist vorbei, FAZ, 18.6.2018, S. 14.

3 Außerordentlicher Internationaler Sozialisten-Kongress zu Basel am 24. und 25. November 1912, Verlag Buchhandlung Vorwärts, Berlin 1912, Anhang, S. 48.

4 In der Literatur wird zutreffend darauf hingewiesen, dass sich die Ärmsten selbst die Flucht vor Hunger nicht leisten können und deshalb in der Migrationsstatistik nicht auftauchen. Dennoch ist zur Kenntnis zu nehmen, dass von diesem unwürdigen Zustand ein erheblicher Druck ausgeht.

5 Michaela Benson, Karen O’Reilly, Von Lifestyle-Migration zu Lifestyle in Migration: Kategorien, Konzepte und Denkweisen, in: Migration Studies, Band 4, Ausgabe 1, März 2016, Seiten 20–37, https://academic.oup.com/migration/article/4/1/20/2413178?login=false.

6 Friedrich Engels, Vorwort [zur englischen Ausgabe (1892) der „Lage der arbeitenden Klasse in England«] MEW Bd. 22, S. 276.

7 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 474.

8 Die Ähnlichkeit zu der Fragestellung hinsichtlich des Wertes der Ware Arbeitskraft (MEW Bd. 16; S. 105) ist beabsichtigt.

Veränderte Merkmale der Parteien in Westeuropa

Vladimiro Giacché (Italien)1

Die unipolare Weltordnung, die vor 30 Jahren ihren Triumph über den Sozialismus in der UdSSR und in Osteuropa feierte, steht vor einer schwerwiegenden Krise. Damals wurde – wie im alten Rom – der ewige Ruhm eines solchen Triumphes von den Literaten des Hofes besungen. So verkündete 1992 Francis Fukuyama in seinem weltweit gefeierten Propagandabuch nichts weniger als das Ende der Geschichte. Jetzt aber bröckelt diese unipolare Ordnung und die wichtigsten politischen Parteien in den westlichen Ländern scheinen unfähig zu sein, mit dieser neuen Phase umzugehen. Sie sind nicht in der Lage, eine Strategie zu entwickeln. Eine Strategie setzt ein Ziel und die Suche nach einem Weg, dieses Ziel zu erreichen, voraus. Nichts dergleichen ist heute in der westlichen Politik, insbesondere in Europa, zu finden. Die westliche Politik scheint sich durchzuwursteln und die Dinge auf die lange Bank zu schieben. Mit einem Wort, sie kauft Zeit. Aber das ist definitiv keine Strategie an sich. Zeit zu kaufen ist nur dann sinnvoll, wenn man eine Strategie hat. Andernfalls ist die Zeit, die man kauft, vergeudete Zeit.

Was ist der Grund für diesen Mangel an Strategie? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir genau auf die folgenschweren Veränderungen zurückkommen, die sich vor drei Jahrzehnten ereignet haben. Der Fall der Berliner Mauer und die darauffolgenden Ereignisse, d. h. der Zusammenbruch der Sowjetunion und der sozialistischen Länder Osteuropas, die nicht nur das scheinbare Ende der Konfrontation zwischen den sozio-politischen Systemen, sondern auch das tatsächliche Ende der europäischen politischen Parteien, wie wir sie kannten, bedeuteten. In einem Kontext der Konfrontation zwischen alternativen Systemen schlugen die politischen Parteien unterschiedliche Wege zur Organisation der Gesellschaft vor, führten Kämpfe, in denen Ziele und die geeigneten Mittel zur Erreichung dieser Ziele festgelegt wurden. Das ist die Erfahrung, die wir in Italien, meinem Land, mit der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), aber auch mit ihrem Hauptgegner, der Christdemokratie (DC), gemacht haben. Auch in Ländern, in denen die kommunistische Partei keine so große Rolle spielte, zum Beispiel in Deutschland, unterschieden sich die Programme der Sozialdemokraten (SPD) und der Christdemokraten (CDU) in vielen wichtigen Fragen deutlich. All das verschwand nach dem Ende der Sowjetunion. Die Politik wurde zur Verwaltung, zum Management und zu nichts weiter als das degradiert. Sie hat also auch aufgehört, eine Wahl zwischen Alternativen zu bieten. Es gibt zwei Sätze, die in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich sind. Der erste stammt von François Mitterrand (französischer Staatspräsident von 1981 bis 1995) und wurde vor mehr als 30 Jahren geäußert: »In der Wirtschaftspolitik gibt es zwei Möglichkeiten. Man ist Leninist. Oder man ändert nichts».2 Die zweite stammt von Mario Draghi, der von 2011 bis 2019 Präsident der Europäischen Zentralbank war; er sagte im Jahr 2013: »Italien geht auf dem Weg der Reformen weiter, unabhängig vom Ergebnis der Parlamentswahlen. Die Reformen laufen wie ein Autopilot«.3 Was ist der von Draghi erwähnte »Autopilot«? Es ist das zwingende Wirken der Marktkräfte. Ganz gleich, wer die Wahlen gewinnt: Der Markt (in diesem Fall der Markt für Staatsschulden) wird ohnehin die gleiche Lösung einfordern.

An dieser Stelle müssen wir an einen anderen wichtigen Prozess erinnern: die »Globalisierung«. Sie war in der westlichen Welt als Hegemonie des Finanzwesens und des Neoliberalismus, als Laissez-faire auf globaler Ebene gedacht. Der Westen verlässt sich für seine eigene wirtschaftliche Entwicklung auf die Investitionsentscheidungen der großen Konzerne, so dass die Gestaltung unserer Zukunft im Wesentlichen der Marktdynamik überlassen wird. Die Folgen sind eine unpopuläre Politik und bei Finanzkrisen, wie wir sie 2008 erlebt haben, eine noch nie dagewesenen Vergesellschaftung der Verluste. Daneben gibt es noch ein grundlegenderes Problem, das ich hervorheben möchte: Dem Markt die Aufgabe zuzuschreiben, die Zukunft einer Gesellschaft zu gestalten, ist nicht nur ein falscher Ansatz, sondern ein logisch inkonsistenter Ansatz und das aus einem einfachen Grund: Der Markt ist kein Subjekt, sondern ein Ort. Ein Ort, an dem Produkte und Dienstleistungen von Marktteilnehmern ausgetauscht werden, um einen Gewinn zu erzielen. Nun setzt der Glaube, dass die Handlungen vieler Subjekte, die ihren eigenen Profit verfolgen, automatisch das beste Ergebnis im Sinne der sozialen Optimalität hervorbringen, einen sehr starken Glauben voraus an eine Art vorher festgelegte (oder in Anlehnung an von Hayek – »post-etablierte«) Harmonie.

Die Folgen einer solchen ideologischen Kapitulation vor den Marktkräften waren weitreichend. Die westlichen Demokratien wurden in vielerlei Hinsicht entstellt: Die verschiedenen Parteien boten keine echte politische Alternative mehr an, ähnelten vielmehr einer Wahl zwischen Pepsi und Cola. Qualität und Glaubwürdigkeit des politischen Angebots sanken und die Unzufriedenheit der Bevölkerung führte zum politischen Populismus. Darüber hinaus braucht man eine Strategie, um die globalen Veränderungen zu bewältigen. Doch dazu scheinen die wichtigsten politischen Parteien in Europa heute nicht in der Lage zu sein. (Anmerkung der Redaktion: Zumindest nicht auf friedlichem Wege.) Die einzige Möglichkeit, das Ruder herumzureißen, besteht darin, in der Europäischen Union wieder eine politische Aktion ins Leben zu rufen, die auf echte, substanzielle Veränderungen abzielt.

1 Leicht bearbeitetes Statement des Autors bei einer internationalen Tagung »Die Werte der politischen Parteien und die menschliche Zivilisation« an der Universität Shandong – Jinan, 2.12.2023.Übersetzung aus dem Englischen: Lukas Seidensticker.

2 »En économie il y a deux solutions. Ou vous êtes léniniste. Ou vous ne changez rien«. Der Satz ist zitiert in F. Came, »Sa vision de l’économie: entre laisser-faire et révolution, le vide« in Libération, 9. Januar 1996.

3 Zitiert in A. Tarquini, »Draghi: in Italia riforme con il pilota automatico« in la Repubblica, 8. März 2013.

Die Europawahlen vor der Tür

Ulrich Schneider

Für was die Parteien stehen, kann man am deutlichsten an ihren Spitzenkandidaten ablesen, die nach Brüssel geschickt werden sollen.

Die Regierungskoalition macht mit ihrem politischen Personal deutlich, dass Europa für sie eher der verlängerte Arm deutscher Kapitalinteressen sein soll. Die FDP setzt an die Spitze ihrer Kandidatenliste die Bellizistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die für eine dauerhafte militärische Aufrüstung der Ukraine eintritt. Die GRÜNEN benannten Terry Reintke, die zwar seit 2014 MEP ist, die aber in diesem Land selbst politisch Interessierte nicht kennen. Als männliches Pendant fungiert Sergey Ladoginsky aus Brandenburg, der auf seiner Homepage deutlich macht, dass er sich als Sprachrohr von Außenministerin Baerbock versteht.

Die SPD schickt ihre Spitzenkandidatin Katarina Barley ins Rennen und propagiert »ein starkes Europa« mit den drei Schlagworten »Frieden, Freiheit, Wohlstand«, eine Wahlkampflosung, die vor einigen Jahren noch wortgleich von der CDU vertreten wurde. Ganz verschämt findet man im Wahlprogramm noch die Forderung nach »sozialer Gerechtigkeit«. Die SPD übersetzt dies aber mit »gerechte Verteilung der Kosten und Chancen«.

Die CDU schickt wieder ihren langjährigen Frontmann Weber von der CSU ins Rennen. Damit ist klar, dass die Europäische Volkspartei ihren reaktionären Kurs nicht in Frage stellen muss.

Auf der linken Seite werden mit einigermaßen Sicherheit für die Partei Die LINKE Martin Schirdewan, der Co-Parteivorsitzende und langjähriger MEP, und Carola Rackete, eine Aktivistin der Flüchtlingshilfe, in das Parlament einziehen. Das Bündnis Sarah Wagenknecht schickt mit Fabio de Masi einen ausgewiesenen Wirtschaftsexperten in das Rennen, der – so bleibt zu hoffen – insbesondere in Bezug auf die Konzernsubventionen auf europäischer Ebene klare Kante ziehen dürfte. Ob es dem Einzelkämpfer Martin Sonneborn (Die Partei) wieder gelingt, in das Parlament einzuziehen, bleibt abzuwarten. Immerhin hat er in den vergangenen fünf Jahren mit mehr als einem erfrischenden Beitrag eine kritische Perspektive auf die Politik der Europäischen Kommission geworfen.

Die AfD, die bei ihrem Europawahl-Programm noch knapp verhindert hat, dass darin ein Dexit, also der Austritt der BRD aus der Europäischen Union festgeschrieben wurde, wählte als Spitzenkandidat einen offenen Faschisten, den sächsischen Juristen Maximilian Krah, der für seine Verbindungen zu Pegida und anderen offenen Faschisten bekannt ist. Er ist sogar der französischen extremen Rechten von Marine Le Pen zu rechts. Der Rassemblement National (RN) kündigte an, mit der AfD unter Maximilian Krah keine gemeinsame Fraktion im Europaparlament bilden zu wollen. Das ist insofern von Bedeutung, da die extreme Rechte schon jetzt an einer politischen Vernetzung arbeitet, mit der Hoffnung, im kommenden Parlament möglicherweise die drittstärkste Fraktion stellen zu können. Das ist keine »Panikmache«, sondern eine reale Perspektive, wenn man das Auftreten dieser Parteien und ihre Zustimmungswerte (laut Demoskopie) betrachtet. Nicht nur in Deutschland, auch in Österreich, Frankreich, Niederlande, und selbst in Skandinavien sieht man hohe Zustimmungswerte. Am weitesten sind die Rechten in Italien und folgerichtig trafen sich Ende 2023 dort Repräsentanten faschistischer und extrem rechter Parteien.

Anfang Dezember hatten Matteo Salvini und seine Partei Lega zu einer Konferenz in Florenz unter dem harmlosen Motto: »Arbeit, Sicherheit, Gemeinsinn« geladen. Gekommen waren wichtige Vertreter der europäischen Fraktion »Identität und Demokratie« (ID). Marine LePen schickte eine Videobotschaft, genau wie Geert Wilders, Wahlsieger in den Niederlanden, der wegen Koalitionsverhandlungen nicht kommen konnte. Anwesend waren jedoch Harald Vilimsky für die österreichische FPÖ und Tino Chrupalla, Co-Chef der deutschen AfD, der – wie er sagte – das europäische Haus mit einer »Mauer« versehen will, »damit die Unerwünschten draußen bleiben«, und »den Krieg gegen die Autos« stoppen will. Vertreten waren auch Kostadin Kostadinov, Chef der bulgarischen Partei »Wiedergeburt«, und George Simion von der »Allianz für die Union der Rumänen«, der Europa für ein »Inferno« hält und als Probleme auflistet: »Illegale Migranten, Deindustrialisierung, Zerstörung der nationalen Identität, Absturz des Christentums. Immer weniger Mutter, Vater, Weihnachten.« Anwesend war auch Roman Fritz, Vizepräsident der polnischen »Konfederacja«, die diesmal nicht zum »Königsmacher« werden konnte, aber gleichermaßen einflussreich in der polnischen Innenpolitik ist. Salvini sprach bei der öffentlichen Kundgebung vor 2000 Anhängern vom Kampf gegen die »Eliten«, gegen das Establishment, gegen die »Klimareligion«, gegen »diese Verrückten und Kranken«, die einen europäischen Superstaat wollen und nannte als wichtigste gemeinsame Themen: Arbeit, Familie, Sicherheit und Stolz auf die christlichen Wurzeln.

Kurze Zeit später feierte die faschistische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni mit ihrer Partei »Fratelli d’Italia« ihr traditionelles Atréju-Festival, zu dem auch ausländischen Gäste eingeladen waren, der albanische Ministerpräsident Edi Rama, Großbritanniens Premier Rishi Sunak und US-Multimilliardär Elon Musk. Allein diese Namen waren bereits ein Erfolg für Meloni. Zum Abschluss begrüßte Meloni Santiago Abascal, den Vorsitzenden der extrem rechten spanischen Vox-Partei. Abascal sprach von Familie, Wurzeln, Werten und von einem schwierigen Moment für Spanien, wobei Vox und die postfranquistische PP die innenpolitische Situation destabilisieren. Als Gast trat auch Georg Simion, Chef der rumänischen Nationalistenpartei »Allianz für die Vereinigung der Rumänen«, auf, der glaubte, Meloni als »Löwin Europas« loben zu müssen.

In ihrer Abschlussrede machte Meloni den taktischen Unterschied zu Salvini deutlich, als sie betonte, dass auf europäischer Ebene in Bezug auf die Migranten ein Paradigmenwechsel durchgesetzt werden konnte. Jetzt gehe es darum, wie man die Außengrenzen sichere. Dafür bedankte sich Meloni ausdrücklich bei EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Trotz aller Unterschiede machten beide Treffen deutlich, wie die extreme Rechte auf dem Weg ist, ihre Netzwerke für ein anderes Europa zu stärken und auf ein gemeinsames Handeln einzustimmen.

Auf der anderen Seite ist in verschiedenen Staaten der EU ein Anstieg sozialer Kämpfe zu erleben, in denen die Arbeiterbewegung auf europäischer Ebene gegen multinationale Konzerne handelt, wie beispielsweise gegen Ryanair oder Amazon. In dieser Perspektive organisiert die belgische PVDA-PTB ihren Wahlkampf zum Europäischen Parlament. Sie versucht solche Widerstandskräfte europaweit zu stärken. Für ein Europa der arbeitenden Menschen, nicht des Geldes. Gleichzeitig arbeiten Antifaschisten in Europa an einem Bündnis zivilgesellschaftlicher Kräfte mit Gewerkschaften, Sozialverbänden, migrantischen Organisationen, Frauen- und Jugendverbänden, um den Vormarsch der politischen Rechten zu stoppen.

Bauernstreik – und nun?

Anke Schwarzenberg, MdL

Immer wieder gab es in den vergangenen Jahren Bauernproteste, mal ging es um Milch, mal um Schafhaltung. Aber nie waren sie so präsent wie aktuell: tonnenschwere Traktoren verstopften den Straßenverkehr, versperrten Autobahnzufahrten; Galgen und Pappschilder Marke Eigenbau – auch mit rechtsextremistischer Symbolik – machten dramatisch auf sich und die Lage auf dem Land aufmerksam.