Marylin - Arthur Rundt - E-Book

Marylin E-Book

Arthur Rundt

4,9

Beschreibung

Gesellschaftsdrama im New York der 1920er-Jahre: Obwohl sich Marylin den Avancen Philips zu entziehen versucht, folgt er ihr nach New York. Dort kommen die beiden schließlich zusammen und beginnen ein glückliches, scheinbar sorgenfreies Leben im Jazz Age der Großstadt. Doch als Marylin ein Kind mit dunkler Hautfarbe zur Welt bringt, zerbricht Philips heile Welt in tausend Scherben ... Arthur Rundt schildert in seinem Roman von 1928, der nun erstmals als Buch erscheint, nicht nur ein Amerika im Aufbruch, sondern auch den schwelenden (Alltags-)Rassismus, der von allen hingenommen wurde.

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ARTHUR RUNDT

MARYLIN

ROMAN

Herausgegeben und mit einem Nachwortversehen von Primus-Heinz Kucher

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel IX

Nachwort des Herausgebers

Anmerkungen

Biografie

I.

Marylin hatte in Chicago eine Fünfundzwanzig-Dollar-Stellung.

Sie fuhr jeden Morgen mit dem gleichen Hochbahnzug in ihr Office, vom Nordwesten der Stadt bis zur Station an der Ecke der Wabash und Madison Street.

Aber was half es Philip, daß er täglich diese selbe Linie benutzte, daß er täglich sechs Stationen vor Madison Street gerade diesen bestimmten Zug erwartete und ihn zugleich mit Marylin verließ?

Die Züge, die nach dem Geschäftsviertel fahren, sind ja um diese Zeit so voll, daß man froh sein muß, überhaupt mitzukommen. Es so einzurichten, daß man in einem gewissen Waggon fahren, vielleicht in der Nähe einer gewissen Person stehen kann, das ist ganz unmöglich.

Marylin hatte meist einen Sitzplatz. Also kam sie wohl von weit her, aus einem Stadtteil, in dem die Züge noch nicht so voll waren.

Philip begnügte sich damit, einen Platz bei der Wagentür zu erwischen, als einer der ersten herauszuspringen und Marylin in der Menge aufzuspüren. Dann ging er ein paar Straßenblocks die Madison Street entlang hinter ihr her.

Er wußte: An der Dearborn Street bog sie nach links ab und verschwand wenige Schritte weiter im Haustor eines Wolkenkratzers.

Es war ein tägliches Glücksspiel darum, einmal auf irgendeine Art – er hatte keine Vorstellung davon, auf welche – ein paar Worte zu dem Mädchen zu sprechen. Einmal meinte er, mußte die Chance doch kommen.

Philip kannte Marylin in zwei Kleidern. Das eine, das sie öfter trug, war ärmellos; so hatte er sie auch das erstemal gesehen. Die dünnen Arme, von denen man auf eine Fünfzehnjährige hätte schließen können, hatten seinen Blick auf sich gezogen. Und wenn er ihr durchs Menschengewimmel der Straße folgte, sah er kaum mehr vor sich als diese zarten Kinderarme, die aus den behutsam wiegenden Schultern hin- und herpendelten.

Marylin ging in der allgemeinen Hast langsamen Schrittes bis an ihr Haustor, wie jemand, der sicher ist, nicht zu spät zu kommen. Ihre ungezwungen aufrechte Haltung steigerte diesen Eindruck von Ruhe.

Nach drei Wochen begegnete Philip dem Mädchen eines Nachmittags auf dem Heimwege, und nun verdoppelte er die Chance seines Spieles, indem er sie von jetzt an auch am Schluß der Arbeitszeit erwartete, und zwar oben an der Station, bei den Zügen, die von Madison Street nach dem Nordwesten führten.

Dann, als er sich auf der Heimfahrt schon ein paarmal einen Platz im selben Wagen erkämpft hatte, stieg er einmal an seiner sechsten Haltestelle nicht aus. Er fuhr, ohne einen bestimmten Entschluß gefaßt zu haben und ohne genau zu wissen, warum er es tat, so weit mit, bis Marylin den Zug verließ, dann folgte er ihr auf die Straße hinab.

Aber unten blieb er stehen und blickte ihr nach.

Sie ging auch hier den gleichen langsamen Schritt, sich in den Schultern wiegend; die Nähe des Ausruhens am Ende des Tages beschleunigte ihren Gang ebensowenig wie der Beginn der Arbeit am Morgen.

Plötzlich ging Philip, als habe er sich auf etwas Unrechtem ertappt, quer über die Straße zum Aufgang für die stadteinwärts fahrenden Züge und lief dort die Treppe hinauf.

Aber dann verlangsamte er seinen Schritt und blieb mitten auf der Treppe stehen. Ihm war unversehens klar geworden, daß er gar keinen Grund hatte, davonzulaufen. Es hätte nichts ausgemacht, wenn das Mädchen sich umgewendet und ihn gesehen hätte. Denn sie wußte ja nichts von ihm.

Da steht also auf der steilen Treppe, die zur Plattform dieser Hochbahnstation führt, ein junger Mensch, bekommt einen roten Kopf und macht ein verdutztes Gesicht.

Der Hut ist ihm ein wenig nach hinten gerutscht, er hält die Hände in den Hosentaschen; er hat sich seitwärts ans Geländer gelehnt, der rechte Fuß steht um eine Stufe höher als der linke. Er ist rot geworden wie ein Schulbub, ein erwachsener Mensch von sechsundzwanzig Jahren.

Um diese Zeit fährt nur selten jemand aus den Außenbezirken ins Innere der Stadt. Ein Vorübergehender hätte wohl meinen können: Diesem jungen Mann wäre plötzlich eingefallen, daß er zu Hause etwas hat liegen lassen, und nun denkt er nach, ob er noch einmal zurück muß.

Es ist alles sehr schnell gegangen, das Hinauflaufen, das Stehenbleiben, das Stutzigwerden. Aber in diesem kurzen Zeitraum hat sich allerhand durch sein Gehirn gedrängt: Erinnerungen, Überlegungen und dann ein Entschluß.

Kitty … Ja, wie war das damals mit Kitty, im letzten Jahr auf dem College? Er war immerfort mit ihr zusammen, zu Tanzgesellschaften, bei Sonntagsausflügen, oft auch in der Woche ohne besonderen Anlaß. Er war ihrer auf eine bestimmte Art ganz sicher. Nur – hatte er nicht daran gedacht, es ihr zu sagen. Er war oft mit ihr zusammen, aber sie wußte so wenig von seinen Gedanken und Absichten, daß sie ihm eines Tages um den Hals fiel, um ihm mitzuteilen, daß sie sich mit einem anderen verlobt hatte.

Das ist jetzt bald fünf Jahre her, fünf Jahre, in denen er ein Mann geworden ist. Und trotzdem ist er im Begriff, sich nun noch dümmer zu benehmen als damals.

Denn, sagt er sich, dieses Mädchen, das dort die Straße hinabgeht, weiß ja nichts von dir. Sie hat keine Ahnung davon, was du seit einem Monat täglich um ihretwillen treibst!

Und du rechnest mit diesem Mädchen als etwas endgültigem. Du bist entschlossen, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Du glaubst an etwas Gemeinsames zwischen ihr und dir.

Daran hat diese Minute hier an der Treppe zur Hochbahnstation nichts geändert.

Aber so etwas wie damals mit Kitty – nein, so etwas soll nicht wieder geschehen. Nein!

Bis hierhin war er gelangt, als er sich, wie jemand, der einen Sprung machen will, straffte und die Treppe weiter hinaufging.

Alles zusammen, die Erinnerung an Kitty, die Überlegung und der Entschluß, etwas Entscheidendes zu tun – das alles zusammen hatte nur den Bruchteil einer Minute gedauert.

Auf dem Wege von jener Hochbahnstation zu ihrer Wohnung besuchte Marylin täglich einen jener Läden, in denen aus Eis, Mineralwasser, Milch, Fruchtsäften und vielerlei Chemikalien nach den Wünschen der Gäste Getränke gemischt wurden.

Wenn Marylin eintrat, das Fräulein an der Kasse im Vorübergehen lächelnd grüßte und sich hinten im Laden niedersetzte, griff der Mann am Bartisch nach einem der Nickelbecher und begann unaufgefordert seine Arbeit. Marylin trank von den zahlreichen Mischungen immer die gleiche: eisgekühlte Milch, in die ein Ei, etwas Zucker und ein Löffel gelben Malzpulvers geschüttet wurden, alles das auf einem elektrisch betriebenen Apparat zu einem schaumigen Getränk durcheinander gesprudelt.

Ihr Besuch in dem Laden dauerte immer nur wenige Minuten. Sie trank ihr Glas langsam und in Abständen aus. Manchmal las sie in dem kleinen ungebundenen Buch, das sie bei sich trug, bis zu einem Abschnitt, der zum Unterbrechen geeigneter war als jener Punkt, an dem sie in der Hochbahn hatte aufhören müssen. Aber meist saß sie still da, scheinbar ohne an irgend etwas zu denken.

Dann zahlte sie, dann lachten die beiden Mädchen einander wieder an, und Marylin ging nach Hause.

Sie wohnte bei einer Irländerin, die das kleine Boardinghouse erst vor kurzem gekauft hatte. Zwei Zimmer lagen nach der Straße hinaus, ein langer, dunkler Gang verband die Vorderzimmer mit der Küche; von diesem Gang aus gingen fünf Türen in fünf voneinander abgesonderte kleine Zimmer.

Marylin wohnte im vorletzten.

Die Wohnung lag im siebenten Stock eines alten, nicht sehr gepflegten Hauses. Der Schwarze, der den Aufzug bediente, sagte allen heimkehrenden Bewohnern, sobald er die Lifttür geschlossen hatte, einen Satz über das Wetter und über die allgemeine Laune, die sich aus dem Wetter ergab. »’N wunderschöner Tag heute, muß sehr schön sein, ein Stückchen spazieren zu gehen« oder »Schrecklich, der Regen, will nicht aufhören, man muß froh sein, nach Hause zu kommen« oder dergleichen. Der Schwarze sagte das zu allen mit gleich betonter Freundlichkeit. Manche erwiderten mit einem höflichen Wort, manchen nickten nur mechanisch mit dem Kopf; die meisten hörten seine Worte wie das Geräusch der Aufzugsmaschine, wie etwas Unvermeidliches. Marylin gehörte zu diesen letzten.

Sobald sie oben in ihrem Zimmer war, legte sie ihr Täschchen aufs Bett, wechselte das Kleid gegen ein Hausgewand und setzte sich eine Weile in den Schaukelstuhl, der zwischen Fenster und Toilettetisch seinen Platz hatte.

Das Zimmer war ein kleiner, aber heller Raum. Er enthielt das Bett, in der Ecke den Verschlag für Kleider, ein Waschgestell, die Kommode, die zugleich Schreib- und Toilettetisch war, einen einfachen Stuhl und den Schaukelstuhl. Neben der Kommode stand Marylins großer Koffer, der die selten gebrauchten Kleidungsstücke enthielt und im untersten Fach Briefe, das Bankbuch und ihre Dokumente. Über der Kommode hing neben dem Spiegel in einem Holzrahmen, den ein paar Feldblumen schmückten, die Photographie eines stolzen, aber traurig dreinblickenden Mannes mit einem unmodischen Vollbart. Alles war an seinem sorgfältig gewählten Platz, links auf der Kommode, über die eine Decke gebreitet war, drei Flakons, rechts zwei Glasdosen, in der Mitte eine Vase, vor ihr die Schreibmappe.

Marylin blieb meist in ihrem Zimmer, bis die Wirtin sie zur Abendmahlzeit rief, die beide in der Küche einnahmen. Nachher pflegte Marylin noch eine Weile hinunterzugehen, einmal oder zweimal in der Woche ins Kino.

Es gab keine Ereignisse in diesem Leben, nichts Erwartetes, nichts Unerwartetes.

Marylin fiel es nicht auf, als eines Tages kurz hinter ihr ein junger Mann in den Laden trat, in dem sie ihr Nachmittagsgetränk einnahm. Er bestellte ein Glas Soda mit Fruchtsaft und setzte sich an einen Tisch vorn neben der Kasse.

Philip konnte Marylin nicht sehen. Er saß so, daß er ihr beinahe den Rücken kehrte. Sein Blick war dem vorderen Teil des Ladens zugekehrt, der Kasse und der offenen Tür, die ein Rechteck der Straße zeigte.

Hatte Philip es nicht gewagt, sich anders hinzusetzen? Es war selten Unsicherheit in dem, was er tat, obwohl er außerhalb des Bureaus seinen scharf zugreifenden Verstand fast wie eine Maschine abschaltete. Saß er nicht im Office des Architekten, bei dem er arbeitete, über Plänen und Berechnungen, so lenkte ihn nur sein zuversichtlicher jungenhafter Glaube, daß das, was er wollte, das richtige war und auch immer gut ausging.

Für seine Beziehung zu Marylin wäre es nicht ganz treffend, das Wort »Liebe« zu gebrauchen. Was in ihm vorging, war frei von jedem Konflikt. Er hatte sich für dieses Mädchen entschieden, ohne mehr von ihr zu wissen, als jeder wissen konnte, der zu bestimmten Zeiten des Tages aus dem Nordwesten von Chicago mit der Hochbahn zum Zentrum der Stadt fuhr oder zurück.

Er hatte einfach einen Entschluß gefaßt. Und wenn er glaubte, daß es auf nichts anderes ankomme als auf diesen Entschluß, so lag hierin nicht ein Übermaß von Selbstbewußtsein oder gar eine Geringschätzung des Mädchens.

Sein Entschluß war nicht leichtfertig. Ihm war klar, daß es hier um eine Entscheidung für sein Leben ging.

Ein paarmal hatte er von Marylin geträumt.

Er war durch die belebte Straße hinter ihr hergegangen, immer diesen sonnengebräunten Kinderarmen nach, die er für Augenblicke aus dem Gesicht verlor, dann, sich emporreckend, suchte und immer wieder fand. Er sah eine Hand, die von seitwärts herankam und den Arm des Mädchens streichelte. Da sprang er ganz schnell nach vorn, versetzte dem Burschen einen Schlag vor die Brust, so daß er gegen die Häuserwand taumelte; von der heftigen Bewegung des Hiebes war er aufgewacht.

Oder: Sie waren verheiratet, sie hatten eine kleine Wohnung mit einem Vorhang von Perlschnüren in der Tür zwischen den zwei Zimmern. Es war Abend, sie saßen beim Eßtisch unter der Lampe, er hatte auf dem Heimweg die Zeitung gekauft und las, bevor Marylin hereinkam, das Großgedruckte. Dann brachte sie die Suppe, stellte sie vor ihn hin und reichte ihm den Schöpflöffel. Drüben im Schlafzimmer spielte das Grammophon.

Einmal in seinen Träumen hatte er sie auch in den Armen gehalten und leidenschaftlich an sich gedrückt. Aber das war der verschwommenste seiner Träume.

Am klarsten waren das Bild am Eßtisch unter der Lampe und ihr Blick, mit dem sie ihm den Schöpflöffel reichte.

Beim ersten Besuch des kleinen Ladens in der Vorstadt lag vor ihm die Silhouette des Zahltisches mit dem Kassenfräulein, dahinter die Straße in der gelben Sonne des Herbstnachmittags. Das war kein glücklich gewählter Platz, das mußte das nächste Mal besser gemacht werden.

Also saß er am nächsten Tag so, daß er Marylin sehen konnte.

Sie las in ihrem Buch, sie trug wieder das ärmellose Kleid, das sie jetzt nicht mehr lange tragen würde, da es am Morgen und gegen Abend schon kühl zu werden begann.

Er sah in ihren großen, rehbraunen Augen, daß die Geschichte, die sie las, ihre Aufmerksamkeit völlig fesselte. Einmal, beim Umblättern, schien es ihm, als flog ein Zittern über ihre Oberlippe.

Er sah ihren Mund, ihre kleine Nase, deren gerader Rücken zu einer glatten Stirn hinaufführte, und den klaren Ansatz ihres nach hinten gestrichenen Haares. Es war braun, aber mittendurch, so kam es ihm vor, lief ein hellerer, ein beinahe blonder Streifen.

Dann schlug sie das Buch zu, Philip sah schnell nach dem Bartisch mit den Glasgefäßen und Flaschen.

Die beiden waren fast immer die einzigen Gäste des Ladens, der erst in den späteren Abendstunden lebhaften Verkehr hatte. Wenn Marylin aufstand, an Philip vorüberging und den Laden verließ, folgte ihr sein Blick verlangend, aber ohne Unruhe.

Eines Tages, als sie gerade im Türrahmen verschwand, durchzuckte es ihn: Und wenn sie morgen früh nicht in dem Zuge säße, der kurz vor neun Uhr von hier draußen zur Stadt fährt!

Da sprang er auf und folgte ihr. Er zweifelte nicht daran, daß es das Haus ihrer Wohnung war, an dessen Stufen der schwarze Liftführer sie begrüßte.

Die Furcht, die vor ein paar Minuten seinen Schritt beschleunigt hatte, war geschwunden. Und als wollte er die Lückenlosigkeit seiner Maßnahmen sich selbst bestätigen, zog er sein Notizbuch heraus und schrieb die Straße und Hausnummer auf, wie er sie soeben festgestellt hatte.

Jetzt wußte er, woher sie am Morgen kam, wohin sie am Abend ging.

Er verfolgte sie nicht, er wollte nicht schnüffeln. Er wußte wenig von ihr, dennoch lag, was er wußte, wie eine Klammer um sie.

Aber nun war es schwer, ihr näher zu kommen. Er konnte dieses fremde Mädchen nicht anreden. Er sah, daß alles verloren war, wenn er einen unüberlegten Schritt tat. Aber er zweifelte nicht daran, daß es am Ende doch einen Weg zu ihr geben werde.

Gewiß ging sie in die Kirche, besuchte vielleicht an Sonntagnachmittagen die Zusammenkünfte der Gemeinde, an denen Tee getrunken, auch ein wenig getanzt wurde. Er hätte die Gemeinde herausfinden können und hätte es erreicht, zu einem solchen Sonntagnachmittag eingeladen zu werden. Aber das waren nicht seine Wege.

Manchmal dachte er: Wenn sie in einem anderen Stadtteil wohnte, wenn ihr Office anderswo läge, wenn sie nicht auf dieser Strecke zur täglichen Arbeit fuhr, dann hätte er sie nie gesehen. Was für eine Art Schicksal ist das, das von solchen Zufällen abhängig ist?

Wenn er sich ihr Gesicht oder ihre Art zu gehen vorstellte, so daß er sie fast leibhaftig sah, dann konnte er mit dem Fuß aufstampfen, wobei sich sein Gesicht zu Ungeduld und Unwillen verzog. Das waren häßliche Verzerrungen, harte Bewegungen. Aber es waren nur ungestüme Ausbrüche einer zarten Empfindung, die keine Gelegenheit hatte, sich anders auszudrücken.

Philip kam täglich in den kleinen Laden, er grüßte beim Eintreten den Mann, der die Getränke mischte, und das Fräulein an der Kasse; manchmal, wenn Marylin gerade hinsah, machte er eine unentschlossene Bewegung gegen sie. Einmal hatte sie mechanisch mit dem Kopf genickt und dann schnell wieder in ihr Buch gesehen.

Jetzt kannte sie ihn sicher schon.

Philip blieb immer so lange da wie Marylin; hin und wieder zahlte er schnell, wenn er sah, daß Marylin sich zum Gehen anschickte, und trat vor ihr auf die Straße hinaus. Aber er blieb nie vor der Tür stehen, sondern ging sofort nach der Station zu, also in entgegengesetzte Richtung wie Marylin.

Dann geschah es einmal, daß sie beide gleichzeitig zur Ausgangstür gelangten, daß Philip sie vorangehen ließ und daß sie draußen unwillkürlich stehen blieben, Philip, um den Kragen hochzuschlagen, Marylin, um den Schirm zu öffnen; denn es ging ein langsamer Herbstregen nieder.

Da sagte Philip: »Schrecklich, der Regen will nicht aufhören, man muß froh sein, nach Hause zu kommen.« Marylin nickte, dann ging jeder seinen Weg.

Das hätte Philip ebenso zu dem Mann hinter dem Bartisch sagen können oder zu dem Fräulein an der Kasse oder zu einem Nachbar in der Hochbahn. Diese Worte bedeuteten nichts, aber es waren doch die ersten Worte, die er zu ihr gesprochen hatte.

Und als er am nächsten Morgen im Gedränge der Station Madison Street ihren Blick auffing, durfte er die Hand an den Hut legen, und Marylin mußte mit dem Kopf nikken. Und bald darauf, an einem der folgenden Tage auf dem Heimweg, flog es zwischen ihnen hin und her: »Wie geht’s?« und »Danke, gut!«

Es war nichts, und es war doch alles.

Denn als sie das nächste Mal wieder zugleich aus dem Laden traten und es nicht regnete, sagte Philip: »Wunderschöner Tag heute!«, und dann ging er nicht, wie sonst, zur Station, sondern an Marylins Seite nach der Richtung des Hauses, in dem sie wohnte.

Es war nicht weit bis dorthin; aber ihm kam nicht der Gedanke, dieser kurze Weg müßte gut ausgenützt werden, er ging wortlos neben ihr her.

Von seinem Bubengesicht war jeder Wandel abzulesen: zuerst die Mühe, seine Begleitung selbstverständlich erscheinen zu lassen, dann kurzes Zögern, dann, nachdem sie zwei Straßen überquert hatten, der Wille, jetzt alles klar und übersehbar vor ihr auszubreiten.

Er sprach ohne Überlegung, aber auch ohne Zögern, obwohl er vorher nie daran gedacht hatte, was er ihr sagen wollte. Sie hörte, daß er täglich im selben Zug mit ihr zur Stadt fuhr und dann nachmittags wieder zurück, daß er sie jedesmal bei der Ankunft suchte und begleitete, daß er ihretwegen in den kleinen Laden kam.

Er sah sie, während er sprach, nicht an, sondern blickte geradeaus. Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt, aber er spürte nichts von der Erregung, die hinter seiner äußeren Ruhe lag. Er erwähnte noch kurz seinen Beruf und daß er im Bureau des Architekten fünfzig Dollar wöchentlich verdiente. Er machte keine sentimentalen Phrasen, aber jede Frau mußte aus seinen Worten leidenschaftlichen Ernst heraushören.

Marylin ging neben ihm her wie jemand, dem unvermutet erklärt wird, er sei eines Verbrechens beschuldigt, und der nicht einmal weiß, um welche Art von Verbrechen es sich handelt.

Kurz vor Marylins Haus blieb er stehen. Marylin wunderte sich nicht, daß er das Haus kannte, sie kam nicht auf den Gedanken, zu fragen, wieso er es kannte.

Sie merkte, daß er sich verabschieden wollte, reichte ihm die Hand und ging, ihren Schritt ein wenig beschleunigend, die paar Schritte bis zur Tür, an der der Schwarze sie wie immer höflich grüßte.

Am nächsten Morgen sah sie ihn nicht, aber am Nachmittag war er wieder da.

Er ging vor ihr aus dem Laden und wartete, wie in einem stillen Einverständnis. Sie bogen diesmal nicht in die Straße ein, in der Marylin wohnte, sondern machten einen Umweg.

In Marylin war während dieser Wege kein Widerstand. Er sprach von einer gemeinsamen Zukunft, von einer Wohnung wie jene, die er geträumt hatte.

Dann ergab es sich von selbst, daß Marylin redete: von ihrem Bureau, daß sie noch nicht lange hier war und daß sie in Baltimore geboren sei.

An einem Oktobertag, als die Sonne noch einmal, wie im frühen Herbst, arm herabschien, saßen sie auf der Bank eines Parks, und Philipp legte seine Hand auf die ihrige.

Zwei Tage später war Marylin verschwunden. Philip sah sie am Morgen nicht und nicht am Nachmittag. Er suchte sie auch am nächsten Tag vergeblich.

Nicht wahr, der Name einer geliebten Frau ist doch nicht das wichtigste an ihr?

Du kennst ihren Gang, eine Bewegung ihrer Hand, du hast den Klang ihrer Stimme im Ohr. Oder gar: Du weißt, sie kommt an jedem Morgen auf die Minute zur gleichen Zeit eine Treppe hinunter, steigt die Treppe am Nachmittag wieder hinauf. Du kannst es manchmal im Gewühl der Gleichgültigen nicht erreichen, daß du neben ihr sitzt, aber dann am Ende kannst du neben ihr hergehen, darfst zu ihr sprechen, und sie hört dich widerstandslos an.

Wie aber, wenn sie auf einmal nicht da ist? Wenn sie vielleicht geflohen ist, vielleicht gerade aus dieser Regelmäßigkeit geflohen, aus dem Zwang, dir zu begegnen, dich anzuhören?

Wirklich, Philip kannte den Namen des Mädchens nicht, das sein Ziel, seine Zukunft war. Jetzt half ihm auch die Vorsicht nichts, daß er eines Tages das Haus ins Notizbuch geschrieben hatte, in dem sie wohnte. Scheinbar war sie auch aus dem Hause verschwunden.

Der Liftführer stand, gegen die Mauer gelehnt, am Tor, grüßte alle, die eintraten, verschwand mit ihnen im Aufzug und führte sie hinauf. Oder er holte, wenn das Glokkenzeichen kam, Fortgehende aus ihrem Stockwerk ab. Er stand vor der Haustür, verschwand und kam wieder.

Philip glaubte nicht einen Augenblick an einen Zufall oder daran, daß sie vielleicht krank war. Er wußte, sie war fort.

Jetzt eben war der Schwarze wieder ins Haus getreten, mit einer älteren Dame, die ein Kind an der Hand führte. Philip sah das matte Licht des Fahrstuhls nach oben verschwinden, dann trat er rasch in den halbdunklen Flur.

Rechts hinten in einem Winkel brannte eine Birne über einem kleinen Tisch vor dem Schaltkasten des Telephons. Auf dem Tisch lagen Papiere, ein Federhalter und Bleistift, seitwärts ein zerlesenes, aufgeschlagenes Bibliotheksbuch. Der Stuhl vor dem Tisch war ein wenig zur Seite gerückt. Es war der Ruhe- und Arbeitsplatz des Schwarzen.

Philip war ohne bestimmte Absicht eingetreten. Was hätte er fragen sollen, nach wem?

Da fiel sein Blick auf einen Briefumschlag, der an die Mauer gelehnt war. Das Wort »Chicago« und auch die Straße und die Hausnummer waren durchgestrichen, andere Worte und Ziffern danebengeschrieben. Er las: »Miß Marylin Palmer …« Aber er konnte nicht weiterlesen, weil hinter dem Gitter wieder das Licht des Lifts erschien und bald darauf der Schwarze.

»Verzeihung, bei wem hat Miß Palmer gewohnt oder – können Sie mir ihre Adresse sagen?«

»Jaa,« kam es in strahlender Bereitwilligkeit zurück, »jaa, natürlich, hab’s aufnotiert, brauch’ aber gar nicht nachzusehen, hier ist noch ein Brief, heut’ früh angekommen. Hier: 12. Ontario Street. Room 1312. Cleveland, Ohio.«

»O, danke vielmals.« Und indem er die Adresse notierte: »Wann ist sie denn abgereist?«

»Vorgestern früh, hab’ ihr den Koffer zum Wagen gebracht. Ganz früh, der Kerl vom Nachtdienst war noch nicht fortgegangen. Sehr unerwartet, vielleicht eine Familiengeschichte oder –«, er zog die Achseln hoch und zündete sich eine Zigarette an. Dann fuhr er, da Philip noch immer dastand, redselig fort: »Miß Palmer hat nicht lange bei uns gewohnt, aber – so ein liebes Mädel! So pünktlich, jaa!«

Eine Stunde später saß Philip in seinem Zimmer an der kleinen Schreibmaschine und schrieb an sie.

Liebe Miß Palmer!

Ich habe Ihnen alles gesagt, aber Sie haben mir nicht gesagt, daß Sie verreisen. Sind Sie abgereist, weil ich zu Ihnen über meine Zukunftspläne gesprochen habe? Ich weiß es nicht genau, aber vielleicht ist es so. Bitte, seien Sie so freundlich, mir bald zu schreiben. Ich will meine Stellung aufgeben und auch nach Cleveland kommen, ich werde dort bald eine neue finden und sicher keine schlechtere. Ich muß hier noch eine Arbeit fertig machen, die eine Woche in Anspruch nimmt, es kann auch etwas länger sein, dann könnte ich sofort kommen. Bitte schreiben Sie mir bald.

Sehr aufrichtig der Ihrige

Philip E. Garrett.

Die Antwort kam so schnell, als sie nur kommen konnte.

Marylin schrieb, daß sie im Bureau der Clevelander Niederlassung jener Gesellschaft arbeite, bei der sie auch in Chicago war.

Aber, lieber Mr. Garrett, ich bitte Sie um Himmelswillen, Ihr Office nicht zu verlassen und mir auch nicht mehr zu schreiben. Warten Sie eine Weile, vielleicht bekommen Sie eines Tages wieder einen Brief von mir. Sie haben recht, ich mußte von Chicago fort, ich kann Ihnen nicht mehr sagen, aber jeder Mensch hat sein eigenes Leben.

Der Brief war mit der Hand geschrieben und noch kürzer als der Philips, es waren kaum zehn Zeilen.

Marylin hatte auch in Cleveland ein Zimmer für sechs Dollar wöchentlich gefunden, das kaum anders aussah als jenes in Chicago. Sie hatte schnell ihren Koffer ausgepackt und alles geordnet. Wieder standen die drei Flakons links auf ihrem Toilettetisch, rechts die beiden Dosen, darüber hing neben dem Spiegel das Bild des Vaters mit den Feldblumen am Rahmen. Sie hatte ihr Geld zur Bank getragen, das sie vor der Abreise abgehoben hatte. Die Reise und alles, was dazukam, hatten ihre Ersparnisse um mehr als dreißig Dollar vermindert. Bevor sie das Bankbuch zu den Dokumenten ins unterste Fach des Koffers legte, warf sie einen mehr schmerzlichen als ärgerlichen Blick auf die kleiner gewordene Ziffer.

Sie hatte auch hier mit ihrer Wirtin vereinbart, um sieben Uhr abends in der Küche zu essen, zwischen ihrer Heimkehr und dieser Mahlzeit saß Marylin auch hier im Schaukelstuhl am Fenster, das in den Hof hinausging.

Sie hatte ihre Stellung an einem Montag angetreten. Als sie am zweiten Mittwoch nachmittags ihr Office unruhigen Blickes und erregt verließ, bemerkte sie nicht, daß ein junger Mann in einem Regenmantel und mit einer kleinen Tasche sie unter dem Haustor erwartete und ihr, als sie eilig zur Tramway ging, folgte.

Den Fünfzig-Dollar-Wochenlohn, von dem Philip gesprochen hatte, bezog er noch nicht lange. Bis vor einem Monat waren es nur vierzig Dollar gewesen.