Master Class, Band 1: Blut ist dicker als Tinte - Stefanie Hasse - E-Book

Master Class, Band 1: Blut ist dicker als Tinte E-Book

Stefanie Hasse

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Beschreibung

Ein Schreibwettbewerb in Cornwall. Neun konkurrierende Autorinnen und Autoren. Und jemand schreibt über DICH. Eigentlich hatte sich Riley auf den Schreibwettbewerb auf Masters' Castle gefreut. Schließlich lernt sie ihre Online-Schreibgruppe dort endlich persönlich kennen und kommt ihrem Traum, Autorin zu werden, näher. Doch dann reicht jemand bei der Jury anonym Geschichten über Riley ein, mit geheimen Details aus ihrem Leben. Wer steckt dahinter? Hat Killian Masters, Jury-Mitglied und Sohn der Gastgeber, etwas damit zu tun? Als die Geschichten zunehmend bedrohlicher werden, gerät Riley in Gefahr … Band 1 der packenden Romantic-Suspense-Dilogie von Erfolgsautorin Stefanie Hasse Die Reihe ist abgeschlossen! Band 2 erscheint zeitgleich.

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Seitenzahl: 375

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TRIGGERWARNUNG:

Dieses Buch enthält Themen, die potenziell triggern können.

Deshalb findet ihr hier einen Hinweis zum Inhalt.

 

ACHTUNG: Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.

 

Als Ravensburger E-Book erschienen 2023

Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2023 Ravensburger Verlag

Copyright © 2023 by Stefanie Hasse

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Lektorat: Franziska Jaekel

Umschlaggestaltung: verwendete Bilder von © Ironika und © rangizzz, alle von Shutterstock

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51160-0

 

ravensburger.com

 

Für alle, die Geschichten in ihren Herzen tragen.

Lasst sie raus!

 

»Und wenn ich keine Prinzessin und

auch kein Ritter sein will, sondern beides?«

»Dann sei beides, mein Schatz.

Du kannst alles sein, was du sein willst.«

»Dann will ich eine Rittessin sein.«

MitgliederLetterBattler

1

»Sie befinden sich auf einer nicht öffentlichen Straße, bitte folgen Sie weiterhin der Richtungsanzeige«, warnt mich die weibliche Stimme der Navi-App und irritierenderweise habe ich sofort das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Beim Passieren des Schilds »Privatanwesen« hebt sich mein Fuß praktisch von selbst vom Gaspedal. Fehlt nur noch die rote »Keep out«-Warnung und die Stimme meiner Mum, was alles passieren kann, wenn man auf verbotenen Straßen unterwegs ist.

Mein Hirn feuert fleißig Ideen ab, die – Spoilerwarnung – alle nicht gut für mich ausgehen. Ich kneife den Hintern zusammen und folge der verbotenen Straße – meinem Traum und einem echten Abenteuer entgegen, wie ich es mir schon immer gewünscht habe.

Kurz werfe ich einen Blick auf mein Handy, das in einer seltsamen Konstruktion aus Selfiestick und meterweise Klebeband steckt, die Mum und Dad vor meiner Abfahrt angebracht haben. Beide hatten Angst, dass mein Leben in der Sekunde enden könnte, in der ich nach unten auf das Display in der Ablage schaue. Als würde ich zum ersten Mal Auto fahren. Aber Eltern bleiben wohl immer Eltern, egal, ob man den Führerschein gerade erst gemacht hat oder mit einundzwanzig nur kurz das Auto von Dad durchchecken lassen will, damit es auf der »langen Fahrt« keine unliebsamen Überraschungen gibt. Ich bin das gewohnt.

Seit Exeter bin ich Meile um Meile der A30 gefolgt und die einzige Gefahr bestand darin, einzuschlafen. Nur hin und wieder wurde die Einöde von kleinen Cottages und ein paar malerischen Städtchen durchbrochen, die mich mit freundlichen Begrüßungsschildern vom Highway locken wollten. Nun ist die Autobahn schon eine Weile zu Ende, ohne dass mir ein einziges Auto begegnet ist. Dabei schlängelte sich zu meiner Rechten der kleine Ort Marazion an der Küste entlang, hinter dem St. Michael’s Mount liegt, eine berühmte Gezeiteninsel und der Touristenhotspot der Gegend, was mir Google bei der Suche nach meinem Zielort »Masters’ Castle« als erstes Ergebnis angezeigt hat. Selbst Rosudgeon, in dem es vermutlich mehr Feriencottages als Einwohner gibt, wirkte wie ausgestorben, als ich dort auf die verbotene Privatstraße der Masters abgebogen bin. Entweder sind alle hier Fans des klischeemäßigen Nachmittagstees oder etwas anderes hält die Leute von der Straße fern.

»In fünfhundert Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht.«

Nach einer Kurve führt mich die Straße schnurgerade auf das Gebäude zu, das ich mir seit der Einladung für den exklusiven Writer’s Retreat im Rahmen des YTA-Vorentscheids so oft im Internet angesehen habe. Doch die zum größten Teil verschwommenen Bilder – weil nur wenige so dämlich sind, Beweisfotos für ihr unbefugtes Betreten im Internet zu posten – hatten mich nicht annähernd auf das beigefarbene Backsteingebäude vorbereitet, das nun vor mir in den Himmel wächst.

Den würfelförmigen Haupttrakt mit den Zinnen rund um das flache Dach flankieren stattliche Seitenflügel, etliche polygonale Türmchen und Erker. Hunderte Fenster, teils mit dekorativen Lanzettbögen, beobachten, wie ich auf dem Kiesplatz neben einem roten VW Golf einparke, der wie mein Fiesta schon bessere Tage gesehen hat. Mums empörte Stimme erklingt in meinem Kopf: »Bodentiefe Fenster ohne Absturzsicherung?«

Ich reiße mein Handy aus der Konstruktion, die definitiv ein kurzes Leben hatte, und werfe es in meine Shopper, die ich mir vom Beifahrersitz schnappe. Beim Aussteigen muss ich an Dads Worte denken, welch Wunder es doch sei, dass beim Gewicht der Tasche nicht ständig das Anschnallsignal losheult.

Von Nahem ist Masters’ Castle noch eindrucksvoller, denn ich entdecke weitere kleine Erker und Winkel, sodass ich meinen ersten Eindruck revidiere. Das ist definitiv nicht nur ein würfelartiger Kasten.

Bei jedem Schritt knirscht der Kies unter meinen Füßen und der intensive Duft zahlreicher Stauden und Blumen in den Rabatten ringsherum streift meine Nase. Ich bin keine Botanikerin, aber während meiner Recherche habe ich herausgefunden, dass hier in der Gegend aufgrund des Golfstroms subtropisches Klima herrscht und Pflanzen gedeihen, die bei uns zu Hause nicht einen Winter überleben würden. An der rechten Seite des Gebäudes rankt sich Efeu empor, umschwärmt die Fenster und ist so akribisch gestutzt, dass nur vereinzelte grüne Blätter über die Scheiben ragen.

Das Summen fleißiger Bienen begleitet meinen Weg über den geschwungenen Pfad zum säulengetragenen Eingang des Herrenhauses. Hoch über mir prangt ein Wappen, dessen stilisierte Tiere ich nicht richtig identifizieren kann. Nach einer kurzen Suche finde ich die äußerst geschickt getarnte Klingel und bin froh, dass ich nicht den altmodischen Türklopfer mit Löwenkopf benutzen muss – als mein Handy in der Tasche brummt. Ich wühle und taste mich durch den Inhalt meiner Shopper, denn natürlich hat sich das Telefon unter all den Büchern, Taschentüchern, Reservebeuteln und anderen Dingen versteckt, die man für das tägliche Leben so braucht.

Brees grinsendes Gesicht strahlt mir vom Display entgegen und ich drücke auf Anruf annehmen.

»Bree, ich kann grad n…«, beginne ich, doch sie unterbricht mich einfach.

»Und, wie ist es? So luxuriös, wie wir es uns vorgestellt haben? Mum und Dad sind schon total panisch, weil du dich noch nicht gemeldet hast. Ich habe ihnen gesagt, du hattest garantiert einen Unfall und es dauert, bis die Polizei deine Leiche identifizieren kann.«

»Bree!«, rufe ich und schaue gleichzeitig über die Schulter, als wäre es verboten, hier zu telefonieren. Der Name hallt von der Hauswand und den Arkaden wider, die das Eingangsportal bilden – und weitet die Augen der Frau, die soeben die Tür geöffnet hat. Ihr Lächeln entgleitet ihr fast, aber sie hat sich gut im Griff.

»Bree, du richtest ihnen sofort aus, dass ich mich später melde. Ich muss jetzt auflegen.«

Ich warte ihre Antwort nicht ab, bete aber inständig, dass sie meiner Aufforderung folgt, während ich das Handy in die Tasche stecke und der Frau ein Lächeln schenke. Ich hoffe, es wirkt nicht so gezwungen, wie es sich anfühlt, weil ich an meine Eltern denke, für die der Begriff »Helikoptereltern« erfunden wurde. Wäre die Forschung nur ein klein wenig weiter, hätte ich einen biometrischen Chip unter der Haut, sodass sie mich jederzeit verfolgen und meinen aktuellen Gesundheitszustand überprüfen könnten. Ich liebe sie und man gewöhnt sich daran, aber meine kleine Schwester Bree, die es irgendwie geschafft hat, Mums Überwachung rechtzeitig zu entkommen, macht ständig Witze darüber – und sorgt damit irgendwann bestimmt dafür, dass Mum einen Herzinfarkt bekommt. Oder dass Dad seinen Verwaltungsjob an den Nagel hängen und ein Labor eröffnen muss, um selbst an einem Sci-Fi-Chip zu arbeiten. Hoffentlich mit weniger Klebeband als an der Last-Minute-Handy-Halterung.

»Entschuldigen Sie den Anruf«, beginne ich und lächle noch breiter, was die grauhaarige Frau ein wenig zurückweichen lässt. Die Falten um ihre Mundwinkel arbeiten hart daran, das Lächeln zu halten. »Ich bin Riley Madows und wurde eingeladen, am Writer’s Retreat teilzunehmen.«

Die Frau stößt ein erleichtertes Seufzen aus. Wer weiß, was sonst für Leute hier an der Tür stehen. Sollte man für so ein Anwesen kein Sicherheitspersonal haben oder so?

»Willkommen auf Masters’ Castle«, begrüßt sie mich nun mit warmer Stimme. »Die Dame des Hauses erwartet Sie bereits.« Sie tritt zur Seite, sodass ich einen ersten Blick ins Innere des Gebäudes werfen kann. Vielleicht schnappe ich angesichts des Interieurs nach Luft, denn die Butlerin – das Hausmädchen, die Hausgroßmutter? – schmunzelt, während ich mich in der gigantischen Vorhalle umschaue, die wie eine Mischung aus Westminster Abbey und Luxushotel aussieht. Ich war noch nie in London, aber durch meine vielen Recherchen habe ich das Gefühl, jeden Winkel des Kirchenbaus zu kennen, und ziehe automatisch Vergleiche. Die Ähnlichkeit liegt vor allem an den tragenden Säulen, die sich symmetrisch angeordnet hoch über mir auffächern und zu einem Gewölbedach verschmelzen, von dem ein Kristallkronleuchter baumelt, dessen Durchmesser nahezu meiner Körpergröße entspricht.

Die türlosen Durchgänge zu weiteren Räumen oder Fluren haben für mich jedoch eher Hotelcharme – auch wenn sie bogenförmig sind, was zu den Fenstern passt, die teils mit dekorativen Gittern verkleidet sind, sodass sie wie etliche lange dünne Einzelfenster im Tudorstil wirken. Das dunkle Holz mit den Schnitzereien, auf Hochglanz poliert wie das Geländer der Galerie hoch über mir, versprüht Luxus pur, unterstrichen von einem schweren Duft nach Möbelpolitur. Zahlreiche kleine Balkone in den oberen Etagen erinnern mich an die mysteriösen Logen in alten Kirchen, bei denen ich mich immer gefragt habe, wie man sie überhaupt erreicht. Der Eingangsbereich ist so verwinkelt, dass mein Hirn automatisch versucht, ihn in die Quaderform des Äußeren zu pressen – und dabei vollkommen versagt.

Obwohl es noch Tag ist, sind die zahlreichen Schirmlampen auf den Konsolen und Beistelltischen rund um die vielen Sofas angeschaltet und sorgen für kleine Lichtkleckse in dem ansonsten viel zu dunklen Raum.

Die Hausoma – ich sollte dringend herausfinden, wie genau ich sie nennen kann – räuspert sich leise und bittet mich, ihr zu folgen. Wir gehen an Bodenvasen mit Trockenblumen vorbei, die nach Rosen duften, und treten zwischen zwei Säulen hindurch in einen von Sonnenlicht durchfluteten Raum. Ich blinzle, weil es plötzlich so hell ist, und sehe daher die dunkelhaarige Frau, die sich gerade hinter dem schweren Mahagonischreibtisch vor dem Fenster erhebt und ihren Businessrock glatt streicht, erst auf den zweiten Blick.

»Miss …?«, fragt sie, während sie den Arbeitsplatz umrundet und mich freundlich anstrahlt, sodass ich ihr Lächeln ehrlich erwidere und nicht vor Ehrfurcht erstarre, weil ich einen der reichsten Menschen Großbritanniens vor mir habe: Josephine Masters, die, soweit ich informiert bin, sogar einen Adelstitel trägt und halb Cornwall sowie weitere Ländereien überall in England besitzt.

»Riley Madows«, stelle ich mich vor. »Vielen Dank für die großzügige Einladung, Ms Masters.« Ich schaffe es sogar, meine Stimme halbwegs fest klingen zu lassen, als ich die mir dargebotene Hand drücke – während ich mich insgeheim frage, ob ich angesichts des Adelstitels vielleicht einen Knicks machen sollte. Zu spät.

»Ich bin schon sehr gespannt darauf, was Ihre Gruppe leisten wird – und ganz besonders, wer von Ihnen den Vorentscheid gewinnt und nach St. Michael’s Mount zum Finale fährt.«

Ich nicke nur, weil ich mir fest vorgenommen habe, keinen Druck aufzubauen, der auf meine Kreativität dieselbe Wirkung hätte wie eine Würgeschlange. Ich bin hier, um neue Erfahrungen zu sammeln und alles mitzunehmen, was ich über das Schreiben lernen kann. Ein echtes Abenteuer. Ich rede es mir ein wie ein Mantra, atme dabei tief durch, obwohl ich laut gekreischt habe, als die Zusage kam.

Es war schon immer ein Traum von mir, Autorin zu werden. Das Literaturstudium ist ein großer Schritt in diese Richtung, aber man braucht so viel mehr, um entdeckt zu werden. Der Young Talents Award ist eine unbezahlbare Möglichkeit und unsere Schreibgruppe hat die erste Hürde gemeistert. Wir haben es in den Vorentscheid geschafft. Wir sind hier. Ich stoße ein überwältigendes Seufzen aus und spüre, wie meine Wangen vom Dauerlächeln verkrampfen.

Apropos Schreibgruppe …

»Sind die anderen denn schon angekommen?«, frage ich geradeheraus.

Ms Masters nickt. »Sie sind alle auf ihren Zimmern. Das Kennenlernen findet im Rahmen der ersten Aufgabe heute Abend statt. Rose zeigt Ihnen Ihr Zimmer. Dort finden Sie alle weiteren Informationen.«

Ich bedanke mich bei Ms Masters für den freundlichen Empfang und folge Hausoma Rose zurück auf den Flur.

Mein Kopf spinnt sich alle möglichen Ideen zusammen, wie diese erste Aufgabe lauten könnte. Ich werde nervös und habe kein Auge mehr für die vielen Details, während ich Rose zu einer geschwungenen Treppe in einem zuvor verborgenen Winkel des Erdgeschosses folge. Masters’ Castle gleicht dem Labyrinth des Minotaurus und ich hoffe, dass ich mich ohne Faden orientieren kann.

Schnell konzentriere ich mich wieder auf den Weg, auch wenn mir Ms Masters’ Worte nicht aus dem Kopf gehen.

Die erste Aufgabe …

Wir haben auf unserem Discord-Server endlos gerätselt und spekuliert, Ezra hat sogar seine Verbindungen genutzt und herumgefragt, aber niemand wusste, wie der Vorentscheid abläuft. Es gibt kein öffentliches Regelwerk der British Writers’ Association, die unter der Leitung von Evangeline Dust den Wettbewerb ausrichtet. Klar ist nur, dass es nicht alle von uns ins Finale schaffen können.

Im ersten Stock des Seitenflügels, wie ich annehme, werden meine Schritte von einem dicken Teppich verschluckt. Die Flure sind verwinkelt, zwischen weiteren Durchgängen und Türen wechselt die Farbe der Ornamentmustertapete ständig. So könnte ich wenigstens mein Zimmer wiederfinden – hätte ich mir die Farbfolge gemerkt. Stattdessen feuert mein Hirn eine Idee nach der anderen ab. Ich überlege, ob es hier Geheimgänge gibt, und rezitiere mit Blick auf einen uralten, fast blinden Spiegel in Gedanken »Spieglein, Spieglein«, während ich gefasst darauf bin, ein Gesicht darin auftauchen zu sehen, das nicht meins ist. Schnell schaue ich weg.

Zwischen blassgrünen floralen Mustern bleibt Rose stehen und öffnet mit einem Lächeln die dunkle Holztür. »Der Schlüssel steckt von innen. Sie können ihn jederzeit mitnehmen. Ist das all Ihr Gepäck?« Sie blickt kurz zu meiner übergroßen ausgebeulten Tasche und zieht dann ihre Brauen nach oben, bis sie fast in den Stirnfalten versinken.

»Mein Koffer ist noch im Auto«, sage ich. »Ich hole ihn gleich.«

»Nicht nötig. Ich lasse ihn für Sie hochbringen.« Ihre Stimme duldet keine Widerworte und ich fühle mich wie in der dritten Klasse nach der Rüge von Mrs Cartwell, weil in meinem Aufsatz zum Thema »Mein Wochenende« zu viele Drachen vorkamen.

»Das kann ich auch selbst machen«, stammle ich trotzdem.

Rose schüttelt den Kopf. »Die Lady wünscht, dass alle Gäste bis zum Empfang auf ihren Zimmern bleiben.«

2

Eingesperrt? Ich reiße die Augen auf, mein Blick irrt umher, sucht instinktiv nach einem Fluchtweg. Mums projizierte Angst hämmert mir dumpf gegen den Brustkorb wie schon lange nicht mehr, ihre Worte schwirren durch meinen Kopf wie aufgescheuchte Vögel.

Rose hebt angesichts meines vermutlich blutleeren Gesichts beschwichtigend die Hände. »Ms Masters hat sich eine so tolle erste Aufgabe überlegt, es wäre schade, wenn Sie die Mühe zerstören würden.« Sie deutet in den wohl luxuriösesten Raum, den ich je bewohnt habe. Auf dem Tisch stehen Getränke bereit, eine Karte lehnt an einer Wasserflasche, deren geschwungene Form »teurer, als Wasser sein sollte« schreit.

Rose wartet, bis ich die Zeilen auf der Karte überflogen habe.

Liebe Miss Morgan,

herzlich willkommen auf Masters’ Castle.

Noch bevor Sie die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer persönlich kennenlernen, haben wir uns etwas Besonderes überlegt. Sie sind bereits seit über einem Jahr in engem Kontakt, haben sich aber noch nie getroffen, wie mir mitgeteilt wurde.

Heute steht Ihnen nun die erste Begegnung bevor. Doch Ihre Aufgabe ist es, nicht Sie selbst zu sein.

Erstellen Sie ein Charakterprofil für eine Figur – gern aus einem Ihrer Schreibprojekte – und treten Sie heute Abend als diese auf. In Ihrem Ankleidezimmer finden Sie eine Auswahl an Kleidern, Smokings und Accessoires, mit deren Hilfe Sie Ihrer gewählten Figur Leben einhauchen können, um auf dem heutigen Galaempfang deren Rolle zu spielen. Überzeugen Sie die zahlreichen anwesenden Unterstützerinnen und Unterstützer von sich – und finden Sie gleichzeitig heraus, welche der anwesenden Gäste zu Ihrem Schreibteam gehören.

Sie werden kurz vor acht Uhr abgeholt.

Hochachtungsvoll

J. Masters

PS: Diese Aufgabe ist Teil der von der British Writers’ Association ausgeschriebenen Rahmenbedingungen für den Vorentscheid des Young Talents Award und wird daher bereits für die Punktevergabe gewertet.

Die Zeilen legen einen Schalter um. In meinem Kopf buhlen zahlreiche meiner Romanfiguren um meine Aufmerksamkeit. Könnte ich mich als eine von ihnen ausgeben?

Obenauf hüpft die Rittessin, meine allererste Figur, in ihrem pinkfarbenen Rüschenkleid mit Kettenhemd, und fuchtelt mit ihrem funkelnden Schwert. So würde ich garantiert nicht in der Menge untertauchen können. Bei der Vorstellung, wie die Gäste eines feinen Empfangs auf meine Verkleidung reagieren würden, unterdrücke ich ein Auflachen.

»Erweisen Sie Ms Masters die Ehre, an ihrer Überraschung teilzunehmen?«, unterbricht Rose meine Gedanken und ich vertreibe die Rittessin mit einem Blinzeln.

»Mein Koffer ist im Auto«, wiederhole ich noch halb benommen. »Ein schwarzer Ford Fiesta.«

»Wenn Sie mir den Fahrzeugschlüssel geben, wird Paul sich darum kümmern.«

Ich nicke und zerre an dem Schlüsselband, das neben den Trageriemen aus der Shopper ragt und seit Jahren erfolgreich verhindert, dass ich meine Schlüssel in den Tiefen meiner Handtaschen nicht wiederfinde. Klimpernd befördere ich den Schlüsselbund ans Tageslicht und reiche ihn Rose, die keine Miene verzieht, obwohl ich schon die seltsamsten Reaktionen darauf beobachten konnte. Rose nimmt das handtellergroße Nest aus Schlüsseln, Sammelfigürchen, Charms und einem Haargummi an sich und verspricht mir, dass Paul mein Gepäck gleich hochbringen wird.

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hat, lese ich noch einmal die Karte mit der Aufgabe für heute Abend, ehe ich mich in meiner Unterkunft für die nächsten Tage umsehe.

Das Zimmer ist ein Traum. Direkt gegenüber der Eingangstür fällt Sonnenlicht durch ein bodentiefes Fenster, zu meiner Rechten steht ein dunkel lasierter, mit schnörkeligen Schnitzereien verzierter Schreibtisch in einem Erker. Die Erkerfenster blicken auf einen gepflegten Garten – oder besser gesagt einen Park –, das bodentiefe Fenster führt auf einen großzügigen Balkon mit einem hüfthohen Geländer.

Um mich zu orientieren und herauszufinden, an welcher Ecke des Gebäudes das Zimmer liegt, öffne ich die Balkontür. Ein leises Knarren ertönt und ein leichter Windstoß, der nach Meer duftet, zerrt an meinen Haaren. Wie gern würde ich mich jetzt weit über das Geländer beugen, den Wind in meinen Kleidern spüren … Aber die Angst vor einem Sturz ist zu groß. Als ich noch klein war, ist Toby, ein Urlaubsfreund, vom Balkon unseres Ferienapartments gefallen. Seither schafft meine Mum es regelmäßig, mich an die Gefahr eines Sturzes zu erinnern. Außerdem bin ich mir unsicher, ob die Bleib-in-deinem-Zimmer-Regel auch einen Besuch auf dem Balkon ausschließt.

Ich sauge noch einmal den salzigen Geruch ein, nehme jetzt auch die Süße der Blüten aus dem Park wahr, der sich auf dieser Seite des Gebäudes fortsetzt, trete dann schnell zurück und schließe die Tür. Mein Herz pocht, meine Handflächen sind feucht und Mums Stimme in meinem Kopf zählt wieder einmal sämtliche Horrorszenarien auf, die auf Balkonen passieren könnten.

Auch hinter der sicheren Scheibe kann ich erkennen, dass sich etliche Wege durch eine golfplatzgroße Rasenfläche schlängeln, und als mein Blick einer aufgeschreckten Möwe folgt, entdecke ich hinter ein paar hohen Bäumen das Meer. Auf Google Maps hatte ich herausgefunden, dass Masters’ Castle rund eine halbe Meile von der Küste im Süden entfernt liegt, aber durch die Steilklippen hätte ich eher vermutet, dass ich nur Himmel und nicht funkelndes Wasser sehen würde. Also muss sich der Parkplatz irgendwo an der Gebäudeseite zu meiner Rechten befinden. Ich husche zum Erkerfenster, kann aber wegen der Bäume und Büsche nur vermuten, dass mein Auto dort unten parkt. Ich kehre zurück zur Balkontür und lächle beim Anblick der glitzernden Wellen. Am liebsten würde ich für den Rest meines Aufenthalts diese Aussicht genießen.

In diesem Moment klopft es an der Tür.

»Ms Madows!«, ruft eine Männerstimme. »Ich bin Paul und habe hier Ihren Koffer und Ihren … Schlüssel.«

Die kurze Pause vor dem Wort Schlüssel hat er bestimmt gemacht, weil ihm die richtige Beschreibung fehlt. Ich haste zur Tür, reiße sie auf und stehe einem unerwartet jungen Mann mit zerzausten blonden Locken gegenüber, der mit verwirrtem Blick auf meinen Schlüsselbund starrt und eindeutig ein Grinsen unterdrückt, als er ihn mir reicht.

Paul trägt ein eng geschnittenes weißes Hemd zu einer dunklen Jeans, ist schätzungsweise in meinem Alter – aber im Schätzen bin ich grauenvoll –, hat ein offenes, freundliches Lächeln und dasselbe Leuchten in den blaugrünen Augen, das auch Bree besitzt und das Grandma immer »das Funkeln blöder Ideen« genannt hat. Er ist mir sofort sympathisch und nicht der Hauch meiner inzwischen größtenteils abgelegten Angst vor Fremden ist zu spüren. Ich danke meiner Kommilitonin Zoe in Gedanken für ihre Konfrontationstherapie – zumindest hat sie das so genannt.

Ich nehme den Schlüssel an mich und will meinen Koffer gerade an der Griffstange zu mir ziehen, da schnellt Pauls Hand vor. »Das ist mein Job, Ms Madows.«

Etwas überrumpelt trete ich einen Schritt zurück. »Ich bin es nicht gewohnt, dass man mir Sachen hinterherträgt. Und ich heiße Riley. Ms Madows ist meine Mutter, egal, wie alt ich einmal werde.«

Er lacht auf. »Wenn mein Grandpa mitbekommt, dass ich Ms Masters’ Gäste mit Vornamen anspreche, während ich ihn vertrete, muss ich mir das den Rest meines Lebens vorhalten lassen. Also darf ich bitte …« Er gestikuliert in den Raum und ich gebe auf. Offenbar bin ich nicht die Einzige, die es den Eltern – oder in Pauls Fall den Großeltern – möglichst recht machen will.

»Ich verrate es niemandem«, sage ich.

Er wendet sich schnell ab, um sein Schmunzeln zu verbergen und den Koffer zu einer Tür zu ziehen, hinter der ich noch nicht neugierig nachgesehen habe.

Umso mehr staune ich jetzt. Jenseits der unscheinbaren Tür liegt der Traum eines jeden Kostümbildners. Das »Ankleidezimmer«, wie es Ms Masters auf der Karte genannt hat, war keine Übertreibung. Der fensterlose Raum ist fast so groß wie das Hauptzimmer und rundum mit Regalfächern und Stangen bestückt, die sich unter der Last von tonnenweise Stoff in wirklich allen erdenklichen Farben und Variationen biegen. Paul drückt die Haltestange am Koffer hinunter und will ihn am seitlichen Griff auf die hölzerne Ablage heben, da passiert es.

Ich rufe noch »Nicht, der Reißverschluss …«, doch meine Warnung kommt zu spät. Der komplette Inhalt meines tetrisartig gepackten Koffers ergießt sich auf den Boden. Paul sieht mich verlegen an. Mit einem »Sorry« auf den Lippen steht er mitten im Chaos aus Jogginghosen, Shirts und Pullis, meinem uralten Pyjama mit Paisleymuster, Unterwäsche und so vielen Süßigkeiten, dass ich einen Snackautomaten damit füllen könnte. Vorsichtig hebt er ein Bein, um über mein großes Notizbuch zu steigen, das pinkfarben glitzert und mit meiner Rittessin illustriert ist. Zu meiner Entschuldigung: Ich habe es zum zehnten Geburtstag bekommen und fülle es noch immer mit Ideenfetzen und anderen Notizen.

Vielleicht sollte es mir peinlich sein, dass ein attraktiver, wildfremder junger Mann gerade meinen Spitzen-BH bemüht unauffällig mit dem Fuß zur Seite schiebt, damit er nicht den Rekord im Weitsprung aus dem Stand brechen muss, und mich dabei verkrampft anlächelt. Aber Bree behauptet immer, ich sei immun gegen Peinlichkeiten. Sonst müsste es mich stören, dass meine Mum mich stalkt, als wäre ich eine Grundschülerin. Daher zucke ich nur mit den Schultern, grinse Paul erst an, bücke mich dann und bahne ihm einen Weg durch mein zusammengerafftes Leben.

»Ich hätte dich früher warnen sollen. Tut mir leid, dass du mein Chaos miterleben musst. Ein Wunder, dass der Koffer nicht schon beim Entladen explodiert ist.«

»Du entschuldigst dich?« Er runzelt verwirrt die Stirn und fixiert dabei mein Gesicht, sein Blick huscht hin und her, als suche er nach etwas.

»Ja?«, antworte ich stutzig, weil ich mir nicht sicher bin, worauf er hinauswill. Und ich werde es vermutlich auch nie erfahren, denn nun erhellt ein strahlendes Lächeln Pauls Gesicht. Er macht einen eleganten Sprung über die Rittessin hinweg, die ihn dabei mit ihren gruseligen Knopfaugen (Ich war zehn!) anstarrt, und landet sanft an der Tür. Ich hopse ihm hinterher, aber etwas weniger anmutig, weil meine Beine vermutlich einen halben Meter kürzer sind als seine, lande direkt auf meinem Pyjama und rutsche aus. Paul streckt mir die Hand entgegen, aber ich finde das Gleichgewicht allein und brauche seine Hilfe zum Glück nicht.

»Normalerweise schlafe ich nackt«, platzt es aus mir heraus, weil ich eine Erklärung für meinen schrecklichen Geschmack gesucht und die Antwort wohl nicht zu Ende gedacht habe. Schnell schiebe ich die gemusterte Hose mit dem Fuß beiseite. Die leichte Hitze auf meinen Wangen beweist, dass mir manche Dinge eben doch peinlich sind. Aber vielleicht liegt es auch an Paul, der entsetzt zurückweicht und dessen helle Haut einen zarten Rotton angenommen hat. Die Frage steht ihm eindeutig ins Gesicht geschrieben, aber er ist zu höflich, um sie auszusprechen.

»Normalerweise schlafe ich nackt, aber wenn hier ein Alarm losgeht und alle nach draußen müssen, wäre es gefährlich, sich vorher anziehen zu müssen, oder?«, erkläre ich daher frustriert.

Den Pyjama trage ich tatsächlich selten. Ich habe ihn mit siebzehn für die erste Übernachtung bei einer Freundin gekauft und stand zu dieser Zeit total auf Retrolook. Archie, mein Ex, hat sich damals beinahe verschluckt, als ich das erste Mal bei ihm übernachtet habe und eingehüllt in augenschmerzendes Schwarz-Weiß (seine Worte, nicht meine) aus dem Badezimmer getreten bin.

Noch mehr Röte breitet sich auf Pauls Wangen aus, was aber offenbar gar nichts mit Scham zu tun hat. Denn plötzlich stößt er ein Lachen aus, das so unerwartet kommt und dabei so ehrlich ist, dass ich ebenso lospruste.

Ich verstehe ihn in seinem Lachanfall kaum. Erst als er sich auf den Oberschenkeln abgestützt und keuchend Luft geholt hat, bringt er verständliche Sätze hervor: »Stell dir vor, Grandpa hätte deinen Koffer hochgebracht.« Er schüttelt sich schon wieder vor Lachen.

»Wer ist denn dein Grandpa?«

»Mein Grandpa ist der Butler des Hauses und sorgt zusammen mit Rose für geregelte Abläufe.«

»Wie in Downton Abbey?«, frage ich.

Er wiegt den Kopf hin und her und beruhigt sich langsam wieder etwas. Mit einem Grinsen auf den Lippen nickt er. »So ungefähr.«

Mein Gehirn hat sofort Bilder von einem weißhaarigen Butler in Livree parat, der vor Peinlichkeit einen Herzinfarkt erleidet. Das ist absolut nicht witzig. Und doch kann ich nicht anders, als erneut mitzulachen, weil Paul schon wieder vor sich hin gluckst.

»Und warum springst du für ihn ein?« Ich finde es spannend, interessante Menschen kennenzulernen, mich von ihnen und ihrem Leben inspirieren zu lassen – und Paul hat offenbar ein außergewöhnliches Leben.

»Er ist im Krankenhaus.«

Verdammt.

»Das … tut mir leid«, sage ich schnell, verfluche mich für meine Neugier und gelobe Besserung.

»Ach, es ist nichts Schlimmes. Er wurde von seinem Arzt nur dazu verdonnert, ein paar Tage lang zur Überwachung seines Herzens dazubleiben, weil er das mobile EKG nicht regelmäßig getragen und die Termine immer wieder aufgeschoben hat. Und weil er auch diesmal nicht gegangen wäre, ohne Masters’ Castle ›in Familienhänden‹ zu wissen, bin ich hier.«

»Was tust du sonst?« Mein Vorsatz, weniger neugierig zu sein, hat ja lange gehalten.

»Was denkst du denn?«

»Du entwickelst Chips, die Helikoptereltern das Leben erleichtern?«, fällt mir als erstbestes aus dem Mund.

»Wie bitte?« Paul blinzelt. Ich habe es offenbar echt drauf, Menschen zu verwirren. Pauls Wimpern sind so hell, dass man kaum erkennen kann, wie faszinierend lang sie sind.

Ich lache und erkläre ihm, wie Mum und Dad ticken.

»Vorerst müssen deine Eltern wohl noch auf eine Komplettüberwachung verzichten – zumindest von meiner Seite aus. Weitere Vorschläge?«

Mir entgeht weder sein Schmunzeln noch dass er mich geduzt hat. Ich schaue zu meinem verstreuten Kofferinhalt und schätze seine Sprungweite ab. »Du bist Weitspringer.«

Ein Grübchen zeigt sich, als er lächelnd den Kopf schüttelt. »Ich arbeite als Landschaftsgestalter drüben in Marazion.«

Meine Autorinnenseele brennt mittlerweile vor Spannung, doch ein Gedanke ist stärker und ich habe eine Idee.

»Wie sind denn die anderen Gäste so?«, frage ich unschuldig und sehe auf meine Finger hinab, die blöderweise am Saum meines Shirts nesteln. Schnell lasse ich sie sinken. Noch auffälliger geht es gar nicht mehr.

»Netter Versuch«, sagt Paul, der offensichtlich eingeweiht ist. »Aber die anderen habe ich nicht gesehen. Sie hatten alle ihr Gepäck dabei.« Er macht eine kurze Pause und grinst dann verschmitzt, sodass ein zweites Grübchen in seiner rechten Wange erscheint, was mich schon wieder an Bree erinnert. »Wir sehen uns heute Abend, Ms Madows.« Er tarnt sein Schmunzeln, indem er die Unterlippe zwischen die Zähne zieht und sich schnell umdreht. Tja, da habe ich wohl Pech gehabt. Aber immerhin kann mir niemand nachsagen, ich hätte es nicht wenigstens probiert.

Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hat, drehe ich den Schlüssel um, damit mich »niemand stehlen« kann, wobei das in diesem Gebäude vermutlich unwahrscheinlicher ist als zu Hause. Dann kehre ich zu meinem explodierten Leben im Ankleidezimmer zurück und greife zuerst nach dem glitzernden Notizbuch. Jede Schramme und jeder Kratzer des Umschlags erzählen von einem Abenteuer der Rittessin alias Riley, die sich nicht entscheiden kann, ob sie lieber eine Prinzessin oder eine Ritterin sein möchte. Also wurde sie beides.

Ich fahre über die teils abgefallenen Ornamente aus Glitzerkleber, mit denen ich mein Buch verziert habe, und schlage es auf. Die erste Seite bringt mich immer zum Lächeln:

Für Riley zu ihrem 10. Geburtstag

Mein Schatz, füll diese leeren Seiten mit all deiner Fantasie und lass deine Träume wahr werden.

Hab dich lieb!

Mama

PS: Ich freue mich auf alle neuen Abenteuer der Rittessin. :-)

Das Buch ist kein einfaches Notizbuch, sondern ein dickes Hardcover mit über fünfhundert einst strahlend weißen Seiten, das Mum extra hat anfertigen lassen. Ihr Glaube an mich ist das komplette Gegenteil zu den allgegenwärtigen Sorgen, die sie sich um mich macht, und gibt mir noch heute die Stärke, für meinen Traum zu kämpfen und durchzuhalten. Und das werde ich.

Doch bevor ich die Aufgabe für heute Abend angehe, sollte ich mein Ankleidezimmer wohl begehbar machen. Zuerst sammle ich alles Essbare ein und staple es auf dem Schreibtisch im Erker, auf den ich auch meinen Laptop stelle und gleich nach einer Steckdose für das Ladekabel suche. Ich muss leider der Schirmlampe den Strom rauben, aber ich schreibe sowieso gern im Dunkeln, versunken im Leuchten des Bildschirms, meinen Geschichten und meiner Fantasie.

Den Pyjama werfe ich aufs Bett, die restlichen Klamotten falte ich ordentlich zusammen und lege sie in die einzigen freien Regalfächer. Ich bin Mum dankbar, dass sie mich überredet hat, das beigefarbene knielange Etuikleid einzupacken, das ich zur goldenen Hochzeit meiner Großeltern getragen habe. Meine Fingerspitzen gleiten über die muschelfarbenen Pailletten, die den Ausschnitt säumen, und meine Persönlichkeit für den heutigen Empfang zeichnet sich immer genauer in meinem Kopf ab. Es ist die Eröffnungsgala des YTA-Vorentscheids, zahlreiche Menschen aus der Literaturbranche werden anwesend sein, sich in vermutlich für sie ebenso ungewohnte Kleidung werfen wie ich und alles genauestens beobachten. Ich nehme das Kleid vom Haken, halte es mir vor den Körper und betrachte mich im Spiegel.

»Guten Abend, mein Name ist Laura Stern, Unterstützerin des Young Talent Awards.« Ich klinge wenig überzeugend, denn noch während ich es sage, ploppen die verschiedensten Reaktionen in meinem Kopf auf.

»Stern? Etwa von den Sterns aus …?«

»Ich habe Sie noch nie bei einer der Veranstaltungen gesehen. Wieso waren Sie nicht auch in …«

»Geben Sie Ihr gesamtes Geld für Galas aus, sodass es nicht für ein Designerkleid gereicht hat?«

»Wie viel können Sie schon spenden, wenn Sie in solchen Schuhen herumlaufen?«

Die potenziellen Erwiderungen werden immer fieser und könnten ganze Seiten in meinem Buch füllen, weshalb ich die Idee verwerfe und tatsächlich auf eine meiner Romanfiguren zurückgreife.

»Hallo, ich bin Amanda White, Juniorlektorin bei …«, ich fische nach dem erstbesten britischen Verlag, weil meine Figur aus dem amerikanischen Raum kommt, »Bloomsbury.« Ich taste den Namen ab, probiere ihn aus. Amanda ist eine der Nebenfiguren in meinem aktuellen Projekt, die Lektorin meiner Protagonistin, einer Jungautorin mit einem delikaten Schaffensproblem. Mein Spiegelbild lächelt mich an, wirkt dabei aber kaum überzeugender als zuvor. Ich neige den Kopf etwas zur Seite und versuche es noch einmal.

»Hi, mein Name ist Amanda White, derzeit Volontärin bei Bloomsbury.« Mein Gegenüber mustert mich skeptisch, nickt dann aber. Ja, das könnte passen. Ich hänge das Kleid zurück. Schon auf dem Weg zum Schreibtisch fächert sich der Lebenslauf von Amanda White vor meinem inneren Auge auf. Schnell öffne ich meinen Laptop, suche nach der gespeicherten Charaktervorlage meiner Projekte und fülle die Biografie.

Amanda White, 22 Jahre, Master in Modern and Contemporary Fictions an der University of Westminster, ein Jahr Auszeit im Anschluss an das Studium, um durch die Welt zu reisen …

Nein, ich schüttle den Kopf und drücke die Löschtaste. Was, wenn mich jemand zu Amandas Reisezielen befragt? Bisher war ich nur via Google Maps außerhalb Großbritanniens. Wenn meine Figur einer spontanen Prüfung standhalten soll, muss ich sie nah an meinem eigenen Erfahrungsschatz halten, weil ich schließlich nicht wie beim Schreiben ständig nebenbei recherchieren kann. Schnell ändere ich Amandas Alter auf einundzwanzig und raube ihr die Globetrotter-Erfahrung. Arme Amanda.

Trotz allem hatte sie wahnsinniges Glück, bei einem Gastvortrag das Interesse der Bloomsbury-Programmleiterin Alexandra Pringle zu wecken, weshalb sie eines der begehrten Volontariate bekommen hat. Sie ist zielstrebig, stets freundlich und weiß mit guten Argumenten zu punkten.

Ja, ich denke, ich kann mich mit Amanda arrangieren.

Das Klingeln meines Handys zerrt mich von Amandas Charakterprofil in die Gegenwart zurück und mein schlechtes Gewissen quillt über, als ich Mums Namen auf dem Display lese. Mist, ich hatte Bree versprochen, mich gleich bei meinen Eltern zu melden.

»Hi, Mum«, begrüße ich sie und setze ein breites Lächeln auf. Natürlich ruft sie über FaceTime an, damit sie mich auch sehen kann. Ich verkneife mir ein Augenverdrehen.

»Ist alles okay bei dir? Bree hat gesagt, dass …« Mums Scannerblick huscht über den Bildschirm.

»Mir geht es gut, Mum. Ich wollte dich auch gleich anrufen, aber wir haben bereits unsere erste Aufgabe bekommen. Da musste ich mich gleich an die Arbeit machen.«

Meine Mum atmet so laut aus, als hätte sie die Luft angehalten, seit sie mir in der Einfahrt zum Abschied zugewunken hat.

»Du hast mich sicher getrackt und nachgeschaut, ob ich hier angekommen bin, oder?« Vermutlich bin ich die einzige Einundzwanzigjährige in ganz Großbritannien, die noch im Familienaccount angemeldet ist, um ihre überbesorgten Eltern davon abzuhalten, sich ständig telefonisch nach ihr zu erkundigen.

Ich schaue sie an und sehe, dass sie verneinen will. Schließlich gibt sie es doch zu, nickt und schiebt verlegen eine Haarsträhne zur Seite. Die Geste hat sie mir vererbt, zusammen mit den tiefblauen Augen und den dunkelblonden Haaren, die ich nur etwas länger trage als sie.

»Ist es dort schön?«, fragt sie mich zur Ablenkung. Ihre Augen funkeln vor Neugier, daher drehe ich die Kamera und führe sie im Schnelldurchlauf durch mein Zimmer. Den Balkon lasse ich aus, um Belehrungen wie im Kindergartenalter zu vermeiden. Es genügt, dass ich ständig ihre warnende Stimme im Ohr habe.

»Jetzt muss ich mich aber dringend weiter vorbereiten, Mum«, sage ich, drehe die Kamera und blicke sie möglichst entschuldigend an. »Es ist meine erste Chance auf Punkte … oder was auch immer man für eine überzeugende Darstellung bekommt.«

»Darstellung?«, fragt sie und ich stöhne innerlich.

»Ich werde heute die anderen Teilnehmer kennenlernen, aber wir sollen alle so tun, als wären wir eine fiktive Figur, während wir gleichzeitig versuchen, die anderen Teilnehmer zu enttarnen«, rattere ich die Aufgabe im Schnelldurchlauf herunter.

»Du wirst sie alle überzeugen und alle enttarnen. Da bin ich mir sicher.« Sie zögert keine Sekunde. Sie glaubt an mich und ihr Vertrauen hüllt mich in einen kuscheligen warmen Mantel.

»Danke, Mum. Richte Dad und Bree liebe Grüße aus. Ich melde mich, sobald ich kann.«

»Bye, Schatz«, erwidert Mum beinahe wehmütig. »Pass auf dich auf!«

Ich schüttle lachend den Kopf. »Immer. Das weißt du doch.«

Sie presst die Lippen zusammen und nickt wenig überzeugt. Um einem weiteren Vortrag über meine persönliche Sicherheit zu entgehen, beende ich den Videoanruf. Jetzt muss ich mich in Amanda White verwandeln, die garantiert auch etwas nervös ist, ihren Verlag auf einer Gala im Süden Cornwalls zu vertreten.

Backstory

Die Handlung einer Geschichte beginnt bereits vor dem Einstieg in das Buch. Die Backstory, der Hintergrund der Figuren, prägt nicht nur die Charaktere, sondern liefert auch ihre Motive.

Meine Geschichte beginnt – wie die einer jeden Person, ob fiktiv oder nicht – in meiner Kindheit.

Aber der Teil, den ich erzählen möchte, der Punkt, an dem ich in die Handlung einsteige, beginnt mit dem Aufeinandertreffen tragender Figuren.

3

Amanda wäre vermutlich nicht annähernd so nervös, korrigiere ich mich, als ich fünf Minuten nach der vereinbarten Abholzeit fertig gestylt auf meinem Bett sitze. Amanda würde nicht ständig an dem Seidentuch zupfen, das ich in dem Sammelsurium an Accessoires entdeckt und für äußerst seriös befunden habe. Meine Finger krallen sich in die dazu passende schlichte beigefarbene Clutch, in die gerade mal mein Handy passt. Sie ist das Gegenteil meiner herkömmlichen Handtaschen und ich fühle mich irgendwie … unvollständig und unvorbereitet. Aber kein Mensch würde mit einer gigantischen Umhängetasche zu einem Galaempfang gehen, oder?

Vielleicht sollte ich doch die etwas größere Tasche aus dem Ankleidezimmer holen, auch wenn sie nicht zum Kleid passt? Dann könnte ich noch ein paar Dinge einstecken, zum Beispiel meinen kleinen Block und einen Bleistift, um mir Notizen zu machen, wenn ich schon nicht die Rittessin aka mein Notizbuch mitnehmen kann.

Ein Klopfen an der Tür zerstört meinen Plan und ich schubse die Zweifel von mir, atme Riley aus und Amanda ein. Sie geht etwas aufrechter als ich durchs Zimmer und öffnet mit einem Lächeln die Tür.

Irgendwie habe ich Paul erwartet und bin etwas enttäuscht, als mir eine junge Frau mit streng zurückgebundenen Haaren, geröteten Wangen, gehetztem Ausdruck in den Augen und im Kellnerinnenoutfit gegenübersteht. Sie lächelt, aber es wirkt sehr gezwungen.

»Ich soll Sie im Namen von Ms Masters zum Ballsaal begleiten.«

Abrupt dreht sie sich weg und geht mit großen Schritten davon, sodass ich ihr völlig überrumpelt hinterherstürzen muss und gerade noch die Tür hinter mir zuziehen kann.

Erst auf der Treppe nach unten fällt mir auf, dass ich nicht abgeschlossen habe und der Zimmerschlüssel noch von innen steckt.

»Einen Moment, bitte!«, rufe ich. »Ich habe meinen Schlüssel vergessen.«

Genervt wendet sie sich um und winkt ab. »Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.« Sie tippelt nervös hin und her. »Im Gegensatz zu mir, wenn ich nicht gleich unten bin. Dann wird Mitch mir die Hölle heißmachen, weil ich schon wieder zu spät bin. Ich wusste nicht, dass jeder von uns heute einen Gast abholen soll.«

Sie sieht mich so flehend an, dass ich nicke und weitergehe. Erleichtert hastet sie weiter, sprintet beinahe die Treppe hinunter und die verwinkelten Flure entlang, sodass ich nicht den Hauch einer Chance habe, mich umzusehen, geschweige denn, mir den Weg zu merken.

Erst als uns leise Musik entgegenschwebt, wird sie langsamer und bleibt vor einer unscheinbaren Tür stehen. Sie deutet den schier endlosen schmalen Gang entlang auf einen der zahlreichen Rundbögen, hinter dem es wesentlich heller ist als im Flur.

»Dort am Ende ist der Ballsaal, ich muss hier rein und kann nur hoffen, dass Mitch noch nicht da ist.«

»Viel Glück«, murmle ich überrumpelt, und schon ist meine Begleiterin verschwunden.

Zeit für Amandas Auftritt.