Matching Night, Band 1: Küsst du den Feind? (Gewinner des Lovelybooks-Leserpreises 2021) - Stefanie Hasse - E-Book

Matching Night, Band 1: Küsst du den Feind? (Gewinner des Lovelybooks-Leserpreises 2021) E-Book

Stefanie Hasse

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Beschreibung

Ein berühmtes Elite-College. Zwei berüchtigte Studentenverbindungen. Drei Nächte, die über dein Schicksal entscheiden. Ravens und Lions – um die beiden mächtigen Verbindungen am St. Joseph's College ranken sich zahlreiche Legenden, genau wie um ihre luxuriösen Wohnhäuser und wilden Partys. Von alldem kann die Studentin Cara nur träumen, schließlich reicht ihr Geld hinten und vorne nicht. Als die Ravens ihr überraschend eine kostenlose Unterkunft anbieten, zögert sie deshalb nicht lange. Doch es gibt eine merkwürdige Bedingung: Cara muss auf drei exklusiven Verbindungspartys mit einem Wildfremden ein Paar spielen und an einem geheimnisvollen Wettkampf teilnehmen. Sie ahnt nicht, dass sie dabei mehr verlieren wird als nur ihr Herz … Knisternd. Glamourös. Gefährlich. Band 1 der atemberaubenden Dark-Academia-Reihe von Erfolgsautorin Stefanie Hasse Der "Matching Night"-Zweiteiler: Matching Night, Band 1: Küsst du den Feind? Matching Night, Band 2: Liebst du den Verräter? Weitere Bücher von Stefanie Hasse: Secret Game. Brichst du die Regeln, brech ich dein Herz. Pretty Dead. Wenn zwei sich lieben, stirbt die Dritte. Bad Influence. Reden ist Silber, Posten ist Gold. December Dreams. Ein Adventskalender. ***Leseprobe*** Die Zeit bleibt stehen, während unzählige Augenpaare auf uns gerichtet sind. Wenn ich geglaubt habe, dass es vorher still im Raum war, so herrscht jetzt ein Vakuum außerhalb von ihm und mir und der prickelnden Berührung unserer Lippen. Ich will mich instinktiv von diesem Überfall zurückziehen, meine Handflächen pressen gegen seine Brust und ich spüre das hämmernde Herz unter dem weichen Stoff seines Hemds. Es schlägt im selben rasenden Takt wie meins, nervös, verängstigt und … berauscht. Ehe ich mich versehe, erwidere ich den Kuss, schiebe ihn nicht länger von mir weg, sondern kralle mich an seinem Hemd fest und ziehe ihn näher. Der Kuss vertieft sich, ich nehme den rauchigen Geschmack seines Whiskeys wahr, als seine Zunge endlich auf meine trifft. Niemand unterbricht uns.

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Seitenzahl: 376

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2021Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger VerlagCopyright © 2021 by Stefanie Hasse© 2021 Ravensburger Verlag GmbHDieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.Lektorat: Franziska JaekelUmschlaggestaltung: verwendete Bilder von © Ironika, © Andreshkova Nastya, © Jag_cz und © Gudrun Muenz, alle von ShutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47106-5www.ravensburger.de

Für alle, die nach ihrem persönlichen Glück suchen … und dafür kämpfen.

Prolog

»Hi, Honey!« Die junge dunkelhaarige Frau schickte einen Luftkuss durch die Kamera.

»Wie geht es dir? Was macht dein Verehrer?« Er spuckte das Wort aus wie einen abgekauten Kaugummi.

»Ach, der.« Die schöne Dunkelhaarige winkte ab, gestikulierte mit der Hand, in der sie das Smartphone hielt, und das Bild wackelte.

»Es ist zum Glück bald vorbei. Der ganze Verein geht mir auf die Nerven.« Sie pustete eine vom Wind ins Gesicht gewehte Haarsträhne weg. »Wenn ich ihn noch eine Woche länger ertragen müsste, würde ich zur Furie werden.«

Ihr Freund grinste. So kannte er sie.

»Dann halt durch! Und meld dich wieder. Aber nicht nur mit einem Foto!«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.

»Wird gemacht, Honey!« Sie schickte erneut einen Luftkuss über das Display, ihre blauen Augen strahlten wie eh und je.

Der Videoanruf endete und der Junge seufzte. Er konnte es kaum erwarten, wieder von ihr zu hören.

Er vermisste sie. Mehr, als er es ihr gegenüber je zugegeben hätte.

1

SAMSTAG, 24.10.

»Es kann doch nicht sein, dass es auf dem ganzen Campus kein einziges freies Zimmer gibt! Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Manchmal wünsche ich mir, es gäbe noch Telefone, bei denen man den Hörer aufs Gerät knallen kann wie in alten Filmen. Das »Beenden«-Feld zu drücken ist nicht annähernd so befriedigend. Nicht einmal, wenn ich so fest drauftippe, dass mein ganzer Finger wehtut.

Tylers Lachen schwebt durch den Raum. »Ich liebe dein Feuer, Cara.«

An seinen Grübchen kann ich sein breites Grinsen selbst von schräg hinten erkennen. Und das trotz seines Dreitagebarts. Er lungert wie fast immer auf der Couch herum, während ich voller Verzweiflung über meine Wohnsituation beim täglichen Abtelefonieren meiner Liste kaum eine Sekunde stillstehen kann.

Nun dreht er sich zu mir um, schiebt den Arm lässig auf die Rückenlehne und legt den Kopf darauf, sodass ihm ein paar gewellte Strähnen ins Gesicht fallen, hinter denen er zu mir aufsieht.

»Gib auf, Cara«, sagt er mit sanfter Stimme und einem Blick, der vermutlich jedes weibliche Wesen aufseufzen ließe. Zumindest alle, die nicht wie ich völlig verzweifelt nur eines im Kopf haben: ein bezahlbares Zimmer. Was in Whitefield aber vermutlich ein genauso unrealistischer Wunsch ist wie das Einhorn damals zu meinem sechsten Geburtstag.

»Hör auf, meinen Teppich durchzulaufen, und setz dich zu mir.« Tyler klopft neben sich auf das schwarze Leder und schafft es mit seinem Dackelblick, dass ich seufzend die Couch umrunde.

»Den Tag kann ich streichen.« Ich lasse mich neben ihn fallen.

Tyler rückt sofort näher und legt seinen Arm um mich. Dankend lehne ich den Kopf an seine Schulter.

»Du weißt, dass du dir den ganzen Stress sparen könntest. Mein Angebot gilt. Du kannst mein Zimmer haben und ich schlafe auf der Couch.«

»Mir fallen immer noch eine Menge Gründe ein, warum das eine schlechte Idee ist«, erwidere ich.

»Einen davon kannst du streichen.«

Ich rücke von ihm ab und schaue ihm in die braunen Augen.

»Dass du mich nicht kennst«, sagt er, als hätte ich selbst darauf kommen müssen.

»Ich kenne dich immer noch nicht gut genug, um mit dir zusammenzuwohnen«, erwidere ich mit einem Lächeln.

Tyler hat mir dieses Angebot tatsächlich schon bei unserer ersten Begegnung in der Wohnheimverwaltung gemacht, als ich Mrs Carson schon fast auf Knien angefleht habe, ein Zimmer herbeizuzaubern. Vergeblich natürlich, sonst wäre mein Problem ja gelöst. Als wir uns später wieder zufällig über den Weg gelaufen sind, kam er gleich wieder darauf zu sprechen.

»Außerdem war das nur einer der Gründe. Es gibt nicht umsonst Wohnheime für Frauen und Wohnheime für Männer.«

»Das wäre kein Problem. Für mich würde man sicher eine Ausnahme machen. Mein Dad könnte …«

Ich schüttele hastig den Kopf. So etwas will ich auf keinen Fall. Mir ist inzwischen bewusst, dass sich Tyler bei jedem Problem an seinen Dad wenden kann, aber ich will nicht diejenige sein, auf die mit dem Finger gezeigt wird, nur weil ein ehemaliger britischer Botschafter beim Dekan angerufen hat, damit er für mich eine Ausnahme macht.

»Ich schaffe es ohne Hilfe.«

Tyler zieht mich wieder an sich und massiert mir die Schulter. Seine Bartstoppeln streifen über mein Haar, als er den Kopf schüttelt. »Du bist völlig überarbeitet. Das Studium, der Job im Diner, die lange Fahrtzeit …«

»Vergiss nicht die tägliche Parkplatzsuche«, füge ich der endlosen Liste an Gründen hinzu, die eigentlich für die Annahme seines Angebots sprechen.

»… die tägliche Parkplatzsuche«, wiederholt er. Inzwischen zählt er die Gründe an seinen für England viel zu gebräunten Fingern ab. »Und dann noch dein Job in der Redaktion. Es ist zu viel, Cara. Das hältst du nicht mal ein Trimester durch.«

Während ich nur daran denken kann, was passieren würde, wenn ich krank werde, versucht Tyler, meine Sorgen mit kleinen gemalten Kreisen in meinem Nacken zu vertreiben. Mit einem wohligen Seufzen senke ich das Kinn auf die Brust und ein dichter Vorhang kupferroter Haare fällt zwischen mich und Tyler.

»Wenn dir das schon gefällt …«, setzt Tyler an, doch ich schiebe schnell die Haare zur Seite und sehe ihn vorwurfsvoll an. Mit einem schuldbewussten Grinsen um die vollen Lippen zuckt er mit den Schultern. »Einen Versuch war es wert, C.«

Wenn Tyler im Flirtmodus ist, nennt er aus irgendeinem Grund alle beim Anfangsbuchstaben – als könnte er sich die vollen Namen nicht merken. Was bei der beträchtlichen Anzahl an Flirtpartnerinnen auch kein Wunder ist, denn ich habe da keinerlei Exklusivrecht. Tyler flirtet bei unseren zahlreichen Besuchen bei dem kleinen Italiener auf dem Campus auch jedes Mal mit der Kellnerin, obwohl er ein X-Chromosom zu wenig besitzt, um ihr Interesse zu wecken. Das stört ihn jedoch nicht im Geringsten. Tyler Walsh sieht das Flirten als Sport und strebt vermutlich die Profiliga an. Solange er es bei mir nicht übertreibt, genieße ich seine Aufmerksamkeit. Nach Mason bin ich froh, zu wissen, woran ich bin, und dieses Freundschaftsding reicht mir vollkommen. Ich kann nicht noch einmal jemanden in mein Leben lassen, dessen Eifersucht mir die Luft zum Atmen nimmt. Für so etwas hätte ich auch gar keine Zeit.

»Und du bist dir sicher, dass du diesen Anblick nicht gleich nach dem Aufwachen beim ersten Kaffee sehen willst?« Er deutet mit einer Bewegung über seinen durchaus ansehnlichen Körper. Zumindest kurz habe ich das Bild vor Augen, wie er mit einem Handtuch um die Hüfte aus der Dusche kommt, schiebe es aber schnell von mir und sehe weg.

»Tausend Pfund für deine Gedanken. Mir gefällt es, wenn ich dich zum Erröten bringe, C.«

Ich höre sein breites Grinsen und verfluche meine helle Haut, die jede noch so kleine Hitze in den Wangen wie Leuchtreklame wirken lässt.

»Wenn sich das Feuer deiner Haare und aus deinem Inneren auf deinen Wangen zeigt.« Er lacht wie immer neckisch, wenn er mich mit seiner Direktheit aus dem Konzept bringt.

Ich schlage ihm spielerisch gegen die Brust, er stöhnt theatralisch auf und lässt sich gegen die Rückenlehne fallen. Sofort weckt sein nur unterhalb der Brust geknöpftes Hemd erneut meine Handtuchfantasien. Dann richtet er sich urplötzlich auf, zieht ein Bein auf die Couch und setzt sich seitlich vollkommen aufrecht hin, als wären wir nicht in seinem Wohnheim, sondern bei einem … Bewerbungsgespräch oder so.

Stirnrunzelnd setze ich mich auch auf und sehe ihn mit erhobener Braue an.

»Wenn du mein Angebot immer noch ausschlägst, muss ich dir wohl etwas beichten.« Er streicht sich die Haare aus der Stirn, die Bewegung wirkt irgendwie fahrig. Ich habe Tyler in den ganzen Wochen seit unserem Kennenlernen nie so … unsicher erlebt. Das macht mich nervöser als die spielerischen Flirts, die ich wenigstens einschätzen kann.

»Ist etwas passiert?«, frage ich, weil er nicht fortfährt. In seinem Inneren scheint ein Kampf stattzufinden. Ich habe keine Ahnung, welche Seite gewinnt.

»Ich habe mich wegen deines Problems umgehört und dich bei den Ravens empfohlen.« Er presst die Worte so schnell hervor, dass mein Gehirn eine Weile braucht, um sie auseinanderzuzerren und zu verstehen, was mir offensichtlich anzusehen ist.

»Die Ravens sind eine sehr exklusive Studentinnenverbindung, die … sehr gute Beziehungen hat.«

»Ich habe noch nie von ihnen gehört«, sage ich ehrlich, während ich meinen Kopf angestrengt nach Ravens durchforste.

»Sie bieten Zimmer in ihrem Wohnheim an, stellen Lehrmittel bereit …«

»Und wieso sollten sie ausgerechnet mich aufnehmen? Ich habe mich nicht einmal beworben.«

»Man kann sich bei den Ravens auch nicht bewerben. Man wird ausgewählt.« Tyler betont den letzten Satz irgendwie seltsam. Ein Schauer rieselt mir über den Rücken, doch ehe ich etwas erwidern kann, fährt er fort: »Du hast die oberste Raven gestern kennengelernt. Valérie war bei dir im Diner und live dabei, als du deinen hübschen Kellnerinnenhintern verteidigt hast, wie ich gehört habe.«

Meine Augen weiten sich vor Überraschung, als ich mich an meine gestrige Schicht erinnere – und die beiden Idioten, die mir die ganze Zeit dämliche Anmachsprüche zugerufen haben, bis es mir zu blöd wurde. An der Theke saß eine Frau, die eigentlich die ganze Zeit auf ihr Handy gestarrt hat, sogar beim Trinken aus ihrer Kaffeetasse. Und trotzdem hat sie mitbekommen, wie ich mich gegen die Typen zur Wehr gesetzt habe.

»Da war eine Dunkelhaarige mit kinnlangem Bob«, greife ich die Erinnerung auf. »Sie hat mir gestern gratuliert und wollte mir einen Drink ausgeben, weil ich zwei betrunkene Studenten hinausgeworfen habe, die mit ihren schlechten Sprüchen offenbar ins Guinessbuch der Rekorde wollten.«

Tyler nickt mit zusammengekniffenen Lippen, ehe er sich über die stoppelige Wange streift, was ein kratzendes Geräusch verursacht.

»Sie glaubt, dass du eine gute Raven abgeben würdest. Denk darüber nach. Das Wohnheim der Ravens ist auf dem Campus, du hättest keine lange Anfahrt mehr …«

Ergeben reiße ich die Hände nach oben. »Schon gut, ich schau mir die Verbindung mal an, okay?«

»Gut.« Tyler lässt sich wieder gegen die Lehne sinken, hebt den rechten Arm, damit ich zu ihm rutschen kann, während er mit seiner Linken nach der Fernbedienung angelt.

Ich lehne mich an ihn und male mir aus, wieder auf dem Campus zu wohnen wie kurz nach meiner Ankunft zum Early Arrival, als ich mich viel zu naiv in mein BWL-Studium stürzen wollte und tatsächlich geglaubt habe, das Leben würde mir keine weiteren Steine mehr in den Weg legen.

2

SONNTAG, 25.10.

Whitefield liegt noch völlig verschlafen vor mir, als ich mich von meinem Bed & Breakfast, das sich direkt an der Autobahn befindet, Richtung Universität aufmache. Die Sonne steht so tief, dass sie mir trotz heruntergeklappter Sonnenblende direkt ins Gesicht scheint und ich sofort Hannahs Neckerei im Ohr habe, mein Augenzusammenkneifen würde zu frühen Falten führen. Ich habe es in der vergangenen Woche nicht geschafft, meine beste Freundin zu treffen, geschweige denn, in der Redaktion mitzuarbeiten. Mein schlechtes Gewissen sorgt für viel mehr Falten als die Sonne. Wäre der Verkehr auch an anderen Tagen wie heute, könnte ich locker täglich zumindest kurz bei ihr vorbeischauen.

Lediglich die Parkplatzsuche stellt sich als ebenso große Challenge heraus wie wochentags. Ich kreise etliche Male rund um das St. Joseph’s und die benachbarten Colleges, bis ich meinen alten Honda in eine so enge Parklücke quetsche, dass mir die Fahrer der Autos daneben vermutlich die Pest an den Hals wünschen werden, falls sie heute wegfahren wollen.

Bei nasskalten acht Grad überquere ich die hölzerne Brücke über den schmalen Fluss, der von den letzten Nebelfetzen bedeckt noch vor der Biegung in grauem Nichts endet und das Gebäude des St. Joseph’s mit den Fachbereichen Wirtschaft und Politik von der archäologischen Fakultät nebenan trennt. Vor neun Uhr morgens am Wochenende ist auch die Parkanlage nahezu verwaist. Das herrschaftliche alte Hauptgebäude des St. Joseph’s mit seinen Pilastern, den Sandsteinfiguren und Spitzbogenfenstern liegt nun direkt vor mir am Ende der langen Wiese mit den kleinen Wegen und vereinzelten kahlen Bäumen. Links und rechts von mir befinden sich die ersten Nebengebäude, Büros der Tutoren und ein paar Wohnheime – mit vermutlich sehr glücklichen, noch schlafenden Studenten. Mein Neid ist ihnen gewiss.

Ich steuere weiter auf das imposante Renaissancegebäude vor mir zu und wie jedes Mal, wenn ich Zeit genug habe, den Anblick zu genießen, überkommt mich unbändiger Stolz, hier studieren zu dürfen. Auch wenn der Weg alles andere als leicht war und die Kosten mir und meiner Familie noch immer alles abverlangen.

Wir glauben an dich, steht in schnörkeligem Handlettering auf meinem Abschiedsplakat, das nun in einem der Umzugskartons darauf wartet, dass ich endlich ein Wohnheimzimmer beziehen kann. Der Spruch ziert auch das Notizbuch, das mir meine Schwester Phoebe in die Hand gedrückt hat, ehe ich ins Auto gestiegen bin. »Das ist ein Glückstagebuch. Du musst jeden Tag alles Positive eintragen – und sei es noch so klein und unbedeutend«, hat sie gesagt und dafür gesorgt, dass ich nach meiner Ankunft in Whitefield erst einmal googeln musste, was ein Glückstagebuch überhaupt ist.

Viel einzutragen hatte ich seither nicht. Aber Phee hatte recht. Es lässt mich besser durchhalten, mein Pensum zu schaffen und gleichzeitig die Hoffnung zu bewahren, irgendwann doch noch Glück zu haben und ein Zimmer zu bekommen.

Ich folge dem langen geteerten Pfad, der von buntem Laub gesäumt ist, und ziehe meinen Mantel fester um mich, weil mir die feuchtkalte Luft immer mehr in den Nacken kriecht.

»Hast du was Schönes geträumt, C.?« Tylers Stimme hallt von den Gebäuden wider, während er die drei Stufen vor seinem Wohnheim hinabsteigt und mir einen Kaffeebecher reicht. Ich bin sprachlos und nehme den Becher dankend an. Der aus der Trinköffnung aufsteigende Dampf duftet nach Vanille.

»Wie komme ich zu der Ehre? Und warum bist du schon wach?« Ich sehe an Tylers Funkeln in den Augen, wie gut gelaunt er selbst um diese Uhrzeit ist.

»Wenn du jetzt endlich zugibst, dass du immer von mir träumst, gibt es sogar noch mehr.« Er streckt mir die bisher verborgene rechte Hand entgegen, in der er eine Tüte der besten Bäckerei Whitefields hält.

»Du willst, dass ich dich belüge, nur um … was zu bekommen?«

Tyler öffnet die Tüte und der verführerische Duft lässt meinen Magen knurren. Ein siegessicheres Lächeln umspielt seine vollen Lippen. »Sind die Eclairs von Eva nicht eine kleine Lüge wert? Oder die Tatsache, dass du mich zum glücklichsten Mann der Welt machen würdest?« Er drückt die Eclairs gegen seine Brust und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich nur daran denken kann, wie er die armen kleinen Dinger zerquetscht. Genau das sage ich ihm auch, woraufhin ich ein kurzes Lachen ernte, begleitet von einem Kopfschütteln.

»Du zerstörst systematisch mein Selbstbewusstsein«, sagt Tyler gespielt pikiert. Da noch immer kleine Lachfältchen seine Augen umrahmen, kann es nicht so tragisch sein.

Mit einer schnellen Bewegung reiße ich die Tüte an mich und tätschele sie – vorsichtig – mit der Hand, in der ich den Kaffeebecher halte. Die Glocke der Kapelle läutet zur vollen Stunde.

»Ich muss zu Hannah. Ich habe ihr versprochen, pünktlich um neun da zu sein.« Ich wende mich zum Gehen.

»Sehen wir uns später? Vielleicht zum Lunch?«, ruft mir Tyler hinterher und ich drehe mich um. Er hat diesen hoffnungsvollen Blick perfekt drauf. Ich kann gut nachvollziehen, warum unentwegt getuschelt wird, wenn er an einer Gruppe Frauen vorbeigeht.

»Vielleicht«, erwidere ich nur knapp.

»Du bringst mich noch um, C. Und das wäre ein tragischer Verlust für die Menschheit.«

Kopfschüttelnd gehe ich weiter, kann mir ein Lachen aber nicht verkneifen.

Noch immer bester Laune – und von Eclair- und Vanilleduft umhüllt – betrete ich die alte Bibliothek. Auf dem Campus gibt es auch eine neue, moderne Bibliothek, aber hier, zwischen all den uralten Büchern, die einen so besonderen Geruch verströmen, fühle ich mich am wohlsten. Etliche dunkel lasierte Regalreihen beherbergen Schätze, in denen schon zahlreiche Nobelpreisträger geblättert haben. Die Whitefield University brachte neben Cambridge und Oxford die meisten klugen Köpfe hervor. Ein wohliger Schauer durchfährt mich, als ich den großen Lesesaal passiere, um am Ende durch eine alte Holztür in die Redaktion zu treten. Für das Redaktionsbüro des St. Joseph’s Whisperer hätte es keinen besseren Ort geben können. Nach dem dunklen und nur von spärlichen Lampen erhellten Lesesaal blendet mich das Licht jenseits der Tür. Das Fenster bietet den perfekten Ausblick auf den West Court des Colleges. Hinter dem gegenüberliegenden Gebäude sieht man die Kapelle aufragen.

Hannah schaut von ihrem Laptop auf. Ihre langen dunklen Haare hat sie zu einem lockeren Dutt hochgesteckt. Ihr liegt die Begrüßung schon auf der Zunge, das kann ich ganz deutlich sehen, dann jedoch kneift sie die Augen zusammen, sodass ich das dunkle Blau darin kaum noch erkennen kann. Für einen ganz kurzen Moment analysiert sie mich, sie hat ein wirklich gutes Händchen dafür, obwohl sie nur ein Jahr Psychologie studiert hat. Aber gepaart mit der Tatsache, dass wir uns schon fast unser ganzes Leben lang kennen, bin ich oft ein offenes Buch für sie.

»Hast du etwa ein Wohnheimzimmer gefunden?«

So schnell kann man gute Laune zerstören. Ich verziehe das Gesicht und Hannah mustert mich weiter. Ihr Blick gleitet von der einen Hand mit dem Kaffee zur anderen mit der Tüte aus Evas Pâtisserie. »Du hast mir nichts mitgebracht? Du bist die schlechteste beste Freundin der Welt!« Sie reißt empört die Augen auf.

»Ich habe … die Sachen nicht selbst besorgt«, sage ich geheimnisvoll.

»Sooo?« Hannah zieht das O so in die Länge, dass es einen eigenen Song verdient hätte. Ich stelle die Sachen auf dem Tisch ab, ziehe langsam meine Jacke aus und hänge sie über die Stuhllehne. Dabei spüre ich bei jeder kleinsten Bewegung, dass Hannah mich beobachtet. Ich sehe konsequent zum vollgestellten Sideboard an der Wand, über dem gerahmte Artikel des Whisperer hängen – Berichte über berühmte weibliche Ehemalige des St. Joseph’s neben anderen berühmten Heldinnen wie Michelle Prentiss, der ersten Präsidentin der USA. Hannahs persönliche Wall of Fame. Ihre zweite Leidenschaft zeigt das Poster einer Rose, die aus dem gesamten Text von Romeo und Julia besteht.

»Du hast die Sachen aber nicht von Mr Mysterious …« Ihr scannender Blick trifft meinen. »Oder etwa doch?« Ihre Stimme wird lauter, fordernder. Leider kennt Hannah meine Vorgeschichte mit Jungs, insbesondere das »Kapitel Mason« mit dem dramatischen Ende. Daher hat sie auch alles andere als gut reagiert, als ich ihr von meinem ersten Treffen mit Tyler im Büro der Wohnheimzentrale erzählt habe. Zu der Zeit wusste ich nicht, wer Tyler wirklich ist, geschweige denn, wie er heißt, also haben wir ihn Mr Mysterious genannt. Tylers Angebot, bei ihm einzuziehen, hat bei Hannah sämtliche Alarmglocken läuten lassen. Weil da aber nichts als Freundschaft zwischen uns ist – außer dem spielerischen Flirten natürlich –, habe ich Hannah bisher nicht mehr von ihm berichtet. Zwischen Tyler und mir gibt es klare Grenzen und Hannah hat genug um die Ohren. Sie soll sich nicht auch noch ständig Sorgen um mich machen, die völlig unberechtigt sind.

An meinem schuldbewussten Blick erkennt sie die Antwort. Sie reißt erneut die Augen auf. »Hat er denn inzwischen einen Namen?«

Ich starre auf den massiven Holztisch zwischen uns, auf die Papierberge darauf und überlege, wie genau ich Hannah klarmachen kann, dass zwischen Tyler und mir nichts läuft. Da fällt mein Blick auf Hannahs To-do-Liste. Etliche Zeilen sind durchgestrichen, die Zeile ganz oben ist mehrfach eingekreist.

Wohnheimzimmer Cara.

»Du hast also trotz deiner guten Kontakte immer noch nichts gefunden?« Ich deute auf die Liste.

Etwas irritiert über den Themenwechsel schaut Hannah auf den Block. »Leider nicht.« Ich höre das ehrliche Bedauern in ihrer Stimme. »Ich warte aber noch auf ein paar Antwortmails.«

»Ich habe von den Zimmern im Wohnheim der Ravens gehört.« Sofort habe ich Hannahs volle Aufmerksamkeit.

»Von wem?« Zittert ihre Hand etwa? Schnell verschränkt sie die Finger ineinander. Eine Geste, die ich nur allzu gut von früher kenne. Aber ich habe sie lange nicht gesehen. Zuletzt, als sie mir zu Hause in meinem Zimmer gegenübersaß und erzählt hat, dass sie auf Mädchen steht. Ich habe es als Erste erfahren und ihr Vertrauen berührt mich noch heute. Auch wenn es damals keinen Grund dafür gab, konnte ich ihre Nervosität nachvollziehen. Aber jetzt?

»Wieso hast du mir nie von der Verbindung erzählt?«

Hannah zieht die Lippen zwischen die Zähne. Es dauert, bis ich eine Antwort bekomme. Das Ticken der alten Bahnhofsuhr an der Wand gegenüber der Wall of Fame – zwischen dem alten Stadtplan von Whitefield und einem für das Ambiente viel zu modernen Whiteboard – sagt mir, dass zwanzig Sekunden vergehen, bis sie den Mund wieder öffnet.

»Ich arbeite seit Beginn des Trimesters an einem Artikel über die Verbindung.«

Ich warte, bis mehr kommt, eine Erklärung, weitere Erläuterungen zum Inhalt des Artikels … irgendwas. Doch ich warte umsonst. »Und?«

Hannah lässt sich nach hinten gegen die Lehne fallen. Der Holzstuhl knirscht protestierend. Dann holt sie tief Luft. »Es kursieren ziemlich viele Gerüchte über die Ravens.« Schon an ihrem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass es keine positiven Gerüchte sind. Hannah sieht aus, als wäre sie bei einer Beerdigung. »Im letzten Jahr ist eine Bewohnerin des Wohnheims von einem Partywochenende mit den Ravens nicht mehr zurückgekommen. Kurz darauf haben weitere Studenten das College verlassen, die höchstwahrscheinlich auch mit den Ravens in Verbindung standen.« Hannah schluckt deutlich hörbar. »Es gibt etliche Gerüchte darüber, was passiert ist, aber … Egal welcher Spur ich folge, alles verläuft im Sand. Bitte halte dich von dieser Verbindung fern.«

Ich schaue meine Freundin lange an, vermisse aber etwas in ihren Augen. Das Feuer, mit dem sie für ihre Arbeit beim Whisperer und den dazugehörigen Recherchen brennt. Das Reporterfeuer, das sie dazu gebracht hat, Psychologie sausen zu lassen und auf Journalismus umzusteigen. »An dem Artikel sitzt du seit Beginn des Trimesters, ohne mir davon zu erzählen? Und dafür versetzt du mich auch noch die ganze Zeit?« Ich starre sie fassungslos an. Sie hat bisher ein Geheimnis daraus gemacht, aber jetzt erinnere ich mich an den Papierstapel, den ich vor ein paar Wochen für sie aus dem Drucker im Nebenraum des Redaktionsbüros geholt habe. Da stand irgendwas von Raben und Löwen, aber ich dachte, es ginge um Sportklubs.

»Ich versetze dich?« Kein Mensch hat seine linke Augenbraue so gut im Griff wie Hannah. Präzise wie ein Uhrwerk kann ich daran ablesen, wie ausgeprägt ihre Skepsis ist. Der herausfordernde Ton in ihrer Stimme wäre nicht nötig gewesen. Oder dass sie sich nun wieder nach vorn beugt und die Unterarme auf den Tisch legt.

»Das war ein blöder Kommentar von mir, sorry«, räume ich ein. »Aber …«

Sie schüttelt hastig den Kopf. »Ich bin immer noch schwer beeindruckt von deinem Pensum und quetsche mich gern in jede freie Lücke.« Ihr Lächeln verwandelt sie in einen anderen Menschen. Von der rasenden Reporterin zur besten Freundin der Welt. Hannah hat eines der heiß begehrten Teilstipendien für das St. Joseph’s ergattert und mir so lange von diesem College vorgeschwärmt, bis ich mich ebenfalls beworben habe. Dann lag die Zusage im Briefkasten – und landete mit der späteren Absage für ein Stipendium auf meinem Schreibtisch, wo ich sie wochenlang nicht beachtet habe. Bis Grandma Liv und Großtante Mary die Zügel in die Hand genommen und alles Geld der Familie zusammengekratzt haben, um mich hierherzuschicken.

Wir glauben an dich.

Ich blinzele die Tränen weg, die mich immer überkommen, wenn ich an die Liebe meiner Familie denke. Meine Schwester Phoebe hat mit ihren Vereinskolleginnen sogar Kuchen verkauft, um Geld für ein kleines gebrauchtes Auto zu sammeln, sonst hätte ich unmöglich von der günstigen Wohnung aus pendeln können, die Großtante Mary für mich organisiert hatte – und die wegen Asbestverseuchung verbarrikadiert war, als ich pünktlich zum Early Arrival in Whitefield eingetroffen war.

»Ich kenne diesen Blick«, unterbricht Hannah meine Gedanken und greift nach meiner Hand, die neben dem noch unberührten Kaffeebecher und der Papiertüte liegt. »Du bist wieder kurz davor zu behaupten, dass dein Studium hier unter einem schlechten Stern steht.«

Sie zieht quasi die Gedanken direkt aus meinem Hirn. Wäre sie nicht einer der liebsten Menschen der Welt, fände ich diese Eigenschaft sehr bedenklich.

»Ich habe doch recht.« Ich spüre, wie sich das tiefe schwarze Loch, das mich nach der Absage des Stipendiums verschluckt hat, wieder öffnet, mich zu sich zerrt.

Hannah spürt es ebenso. Schnell steht sie auf, umrundet den Tisch und setzt sich auf den Stuhl neben mir. Sie greift nach meiner Hand und drückt sie. »Du schaffst alles, was du dir vornimmst, Cara. Phee hat es dir bunt auf weiß geschrieben. Wir glauben an dich. Weil ich dich kenne und weiß, dass du einfach alles schaffen kannst, auch wenn ich dich nicht so oft zu Gesicht bekomme und froh bin, dass du mir hier aushilfst.«

»Das war das Mindeste, was ich dir anbieten konnte, nachdem du mich bei dir aufgenommen hast«, sage ich mit erstickter Stimme.

»Was ja leider nicht für lange Zeit funktioniert hat.« Sie schlägt die Lider nieder und ich denke an den Fluch, der offenbar auf mir liegt. Das von meiner Familie angemietete bezahlbare Zimmer in Campusnähe war leider unbewohnbar und Hannah hat mich kurzfristig bei sich aufgenommen. Zumindest so lange, bis ihre Mitbewohnerin ein Trimester früher ankam als geplant. »Aber umso dringender suche ich nach Ersatz.«

»Danke«, sage ich ehrlich. »Für alles.«

Sie steht auf und grinst mich breit an. »Dafür, dass wir jetzt so viel von deiner exklusiven Zeit verprasst haben, muss ich dir jetzt wohl bei den Eclairs helfen.« Sie schnappt sich im Vorbeigehen die Papiertüte und ignoriert meine Empörung gekonnt. Schnell greife ich nach meinem Becher, ehe ich den Vanilla-Macchiato auch noch teilen muss. Hannah ist manchmal schlimmer als meine kleine Schwester.

Im Laufe des gemeinsamen Vormittags trifft dann auch endlich Luca ein – Student im letzten Studienjahr und mit Hannah die bisher einzige feste Belegschaft des Whisperer. Er sieht aus, als wäre er direkt aus dem Bett gefallen, falls er überhaupt geschlafen hat.

Während Hannah uns damit beauftragt, die Social Media Accounts unserer Kommilitonen nach interessanten Geschichten zu durchforsten, arbeitet sie weiter akribisch an dem nun wieder geheimen Projekt. Als Luca uns Mittagessen besorgt, spreche ich sie darauf an.

»Warum hängst du so an dieser Story? Sie ist ein Jahr alt. Also wieso …«

Hannahs Kopf schießt nach oben. »Ich möchte nur, dass du dich von diesen Ravens fernhältst, bis … Halte dich bitte einfach von ihnen fern.« Ihre Stimme klingt plötzlich fremd, total verändert, während ihr Blick hin und her schießt, als wäre sie nicht in der Lage, mir in die Augen zu sehen. Ihre Wortwahl fällt mir jedoch sofort auf und zerrt ungewollte Bilder in mein Bewusstsein. »Ich möchte, dass du … Halte dich von ihnen fern …« Masons Stimme hallt in meinem Kopf wider und ich würde mir am liebsten die Ohren zuhalten. Seine ständigen Zurechtweisungen verstummen einfach nicht, übertönen Hannahs heruntergeratterte Erklärung zum Schutz von Informanten. Ich muss raus hier, ehe mich meine Vergangenheit einholt.

»Du musst das verstehen. Das hier ist eine heiße Story. Ich bin die Chefredakteurin und ich entscheide, was veröffentlicht wird.«

»Du musst … ich … ich … ich …« Masons Stimme in meinem Kopf wird lauter.

Hannah hat sich noch nie so benommen, weshalb mich der bittere Geschmack der Ernüchterung auf der Zunge umso heftiger schlucken lässt.

»Wenn das so ist, kann ich ja gehen. Im Diner schätzt man meine Arbeit.« Ich beiße so fest die Zähne zusammen, dass mein Kiefer schmerzt. Meine Augen brennen trotzdem. Ich stehe auf und wende mich bereits ab, verharre dann jedoch, als ich höre, wie ein weiterer Stuhl hastig zurückgerückt wird. Doch als nichts geschieht, schnappe ich mir meine Jacke und renne wie ein kleines Kind davon.

Ich komme ungeplant viel zu früh im Diner an, habe aber – als hätte ich eine Vorahnung gehabt – heute Morgen meine Unterlagen mit den Aufgaben in Wirtschaftslehre mitgenommen. Also setze ich mich zu Suki an den Tresen – sie ist im Diner meine Kollegin und studiert ebenfalls im ersten Jahr an der Whitefield University – und breite meine aktuellen Probleme in Wirtschaft vor mir aus. Leider arbeitet mein Unterbewusstsein gegen mich und schiebt immer wieder die Frage nach oben, was nur mit Hannah los ist.

Nachdem Suki eine Reihe von Bestellungen serviert hat, stellt sie sich mir gegenüber hinter den Tresen, beugt sich vor und flüstert mit verschwörerischem Grinsen: »Ein total heißer Typ hat eben nach dir gefragt.«

Mit dem Wirtschaftsgeschwafel und Hannahs harschen Worten im Kopf dauert es, bis das Gesagte bei mir ankommt. Suki schaut ständig über meine Schulter hinweg, ein so strahlendes Lächeln auf den Lippen, dass die Sonne neidisch werden könnte.

»Wer denn?«, frage ich und folge automatisch ihrem Blick.

Tyler hat es sich in einer der Sitznischen bequem gemacht und zwinkert mir zu. Wenn ich zwinkere, sieht es aus, als hätte ich etwas im Auge, aber bei ihm wirkt es gar nicht so dämlich, wie ich immer geglaubt habe. Ich raffe meine Unterlagen zusammen, bitte Suki um einen Chai Latte und gehe zu Tyler hinüber.

»Was machst du hier? Stalkst du mich etwa?«

Er sieht mich entsetzt an, als würde er die Bedeutung meiner Worte nicht verstehen. Dann blinzelt er und legt ein freches Grinsen auf. »Ich wusste, dass du die Mittagsschicht hast, und wollte deine Ankunft hier mit meinem Anblick versüßen. Aber du hast meinen Plan zunichtegemacht, denn du warst vor mir hier.«

Ich lache und will wissen, was genau er geplant hatte. Er zieht ein Buch aus der Tasche – eine Schmuckausgabe von Stolz und Vorurteil –, schlägt es auf, lehnt sich lässig zurück und sieht tatsächlich innerhalb nur eines Wimpernschlags aus, als wäre er total in die Geschichte versunken. Der Mann sollte an eine Schauspielschule gehen.

»Jane Austen?«

Tylers Augenaufschlag ist nicht zu verachten. Sein Blick ist noch etwas entrückt, als er erwidert: »Nächste Woche ist die Feminismus-Debatte. Ich will gut vorbereitet sein.«

Mir liegt auf der Zunge, ihm die vielen antifeministischen Äußerungen vorzuwerfen, die er in seinem Flirt-Meisterkurs offenbar gelernt hat, aber in diesem Moment meldet sich die Türglocke. Als wäre ich im Dienst, lege ich ein Lächeln auf und schaue den neuen Gästen entgegen. Doch mein Lächeln verrutscht sofort, denn Hannah betritt das Diner. Ich sehe zu Tyler, dann zurück zu Hannah, die mich bereits entdeckt hat, und lasse mich ergeben gegen die Rückenlehne sinken.

Einen schlechteren Moment, meine freundschaftliche Beziehung zu Tyler zu erklären, als direkt nach unserem ersten Streit seit Kindertagen, gibt es wohl nicht.

Hannah durchquert das Diner mit schnellen Schritten. »Es tut mir so leid, Cara«, sagt sie, noch ehe sie bei mir angekommen ist. »Ich wollte mich nicht mit dir streiten oder die Chefin raushängen lassen …« Was immer sie sagen wollte, verpufft in einem schockierten Ausdruck beim Anblick meines Gegenübers. Ihr Mund klappt zu, ihre Lippen verziehen sich zu einem schmalen Strich, bevor sie wieder zu mir sieht. »Wir sollten uns unter vier Augen unterhalten. Bitte.«

Ich komme nicht einmal dazu, die beiden einander vorzustellen, weil Tyler Stolz und Vorurteil zuschlägt, in die Tasche steckt und mit einem kurzen »Wir sehen uns« zu Suki geht, um seine Bestellung noch zu stornieren oder zu bezahlen. Ich starre ihm irritiert hinterher, während sich Hannah auf Tylers Platz setzt.

Ich vermute, dass sie sich noch einmal für den Streit entschuldigen will, komme ihr aber zuvor. »Es tut mir leid wegen vorhin, aber … du hast dich mir gegenüber noch nie so benommen!«

Wenigstens wirkt sie zerknirscht. Aber nur für einen kurzen Moment, dann ändert sich ihr Gesichtsausdruck und tiefe Vorwürfe spiegeln sich darin. »Tyler Walsh?« Ihre Stimme ist so laut, dass die Kunden an den Nachbartischen zu uns sehen.

»Du kennst ihn?«

»Ich studiere nicht nur Journalismus, sondern auch Politik und leite dazu noch eine Zeitung. Wie kann ich ihn nicht kennen? Sein Dad war bis vor zwei Jahren noch Botschafter in Griechenland, strebt seither eine innerpolitische Karriere an«, rattert sie ihr Wissen herunter. »Aber das ist jetzt auch egal.« Sie winkt mit einer lässigen Handbewegung ab, sodass die Charms an ihrem Armband klimpern. »Sag mir bitte, dass er nicht Mr Mysterious ist.« Ihr Blick wirkt gehetzt, ich sehe regelrecht die Gedanken in ihrem Kopf rasen.

»Doch, er ist es«, erwidere ich, was wie eine Entschuldigung rüberkommt, obwohl ich mich nicht dafür entschuldigen muss, mit wem ich in Kontakt stehe. Auch nicht meiner besten Freundin gegenüber.

»Ich habe gehört, dass er wieder auf das St. Joseph’s geht. Und unter all den Studenten musste er ausgerechnet dir über den Weg laufen?«

»Wieder?«, hake ich nach.

Hannah nickt langsam und streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr, sodass rein gar nichts mehr zwischen ihrem Scannerblick und mir steht. Dann holt sie tief Luft. »Genau das wollte ich dir nicht erzählen. Vorhin, meine ich. Ich recherchiere doch für den Artikel über die verschwundene Raven-Studentin …« Sie wartet mein bestätigendes Nicken ab. »Tyler Walsh ist einer der Studenten, von denen ich dir vorhin erzählt habe – die nicht mehr zu den Vorlesungen erschienen sind.«

»Wie bitte?« Mehr fällt mir bei dem Chaos in meinem Kopf gerade nicht ein.

»Beverly Grey und Tyler Walsh sind Ende November zur selben Zeit verschwunden. Es gibt sogar dämliche Gerüchte, die besagen, dass sie garantiert ein Paar waren und sein Dad etwas gegen die Beziehung mit einer Amerikanerin hatte.« Dem Augenverdrehen nach zu urteilen glaubt Hannah die Begründung nicht. »Es gibt noch andere potenzielle Erklärungen, aber keine davon erklärt, warum Tyler wieder hier ist und Beverly nicht.« Hannahs Augenbrauen bilden beinahe eine nahtlose Linie, während sie auf ihrer Wange herumkaut.

»Ich könnte ihn fragen«, biete ich an. Wenn das Hannah endlich von dem Artikel losreißen kann, in den sie sich verbissen hat, wäre das doch eine gute Idee.

Sie sieht mich schockiert an. »Nein! Halte dich lieber fern von ihm«, rät sie mir. »Tyler Walsh hat keinen sehr guten Ruf. Nach Mason …«

Ich schlucke. Der Name ist eigentlich tabu. Hannah nennt ihn sonst immer nur Lord Voldemort. Genau deshalb habe ich ihr nicht von Tyler erzählt. Ich wusste, dass sie die beiden vergleichen würde. Aber ich bin inzwischen eine andere.

»Es ist kein Witz, Süße.« Hannah greift über den Tisch, schnappt sich meine Hände und knetet sie. »Gegen Tyler ist Mason ein Engel.«

»Da läuft nichts zwischen uns«, erkläre ich jetzt endlich, auch wenn es sich wie eine Rechtfertigung anhört. »Ich bin gern mit ihm zusammen.« Ich entziehe ihr meine Hände und gestikuliere wild. »Wir sehen uns Filme an, essen zusammen, lachen. Wir haben einfach Spaß.« Das spielerische Flirten erwähne ich nicht. Es ist ein Flirten ohne Gefahr, weil wir uns beide bewusst sind, dass nichts Ernstes dahintersteckt. Das macht es für mich wesentlich einfacher.

Hannah setzt ihre strenge Miene auf, die sie wunderbar von ihrer Mum kopiert hat. »Die Sache stinkt zum Himmel. Die Ravens, das Verschwinden von Beverly und von Tyler … die anderen ausgeschiedenen Studenten … Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert, Cara.«

»Ich kann auf mich aufpassen«, erwidere ich nur. »Du bist nur ein Jahr älter, keine zwanzig Jahre.«

»Aber ich bin weise wie eine Vierzigjährige. Mindestens.« Sie schenkt mir ein breites Grinsen und zuckt dabei mit ihrer Nase – ihre Geheimwaffe, um mich zum Lachen zu bringen –, da tritt jemand zu uns an den Tisch.

»Deine Schicht beginnt«, sagt Suki entschuldigend. »Ich würde übernehmen, hab aber ein Treffen mit meiner Lerngruppe.«

Mein Blick huscht zur großen Wanduhr. Ich bin entsetzt, wie schnell die Zeit vergangen ist. »Sorry, ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Bin sofort da.«

Suki nickt und geht. Ich verabschiede mich noch von Hannah, packe meine Sachen zusammen und bringe sie ins Hinterzimmer, wo ich mir meine Schürze umbinde und mich an die Arbeit mache.

3

MONTAG, 26.10.

Verdammt, verdammt, verdammt! Ich hupe. Natürlich vergeblich, weil es absolut sinnlos ist, jemanden anzuhupen, der ebenso wenig Schuld an dem Stau auf der Autobahn hat wie ich. Aber irgendwie muss ich meine Anspannung loswerden. Die Minuten auf der Uhr am Armaturenbrett rasen dahin wie Sekunden. Wenn ich die Landstraße genommen hätte, hätte ich irgendwie um die Sperrung herumfahren können …

Wenn. Wenn meine ursprünglich gemietete Wohnung nicht asbestverseucht gewesen wäre, wenn Hannahs Mitbewohnerin nicht schon eingezogen wäre, wenn … Verdammt! Ich schlage auf das Lenkrad, bis mein Handballen schmerzt. Warum ausgerechnet heute – dem einzigen Tag, um sich für den Praxiskurs bei Jane Deveraux einzuschreiben? Mein Wirtschaftsprofessor hat mir dringend angeraten, an diesem Zusatzkurs teilzunehmen, da ich ansonsten erhebliche Schwierigkeiten bekommen könnte, den Stoff zu schaffen. Phoebe hat es gestern Abend bei unserem sonntäglichen Skype-Familienhangout treffend zusammengefasst: »Wenn du dort nicht hingehst, fällst du durch.«

Deshalb bin ich eine Stunde früher aufgestanden, habe mich in die Dusche gequält und meine Augenringe mit einer Tonne Concealer übermalt, damit mich Professorin Deveraux nicht für einen Zombie hält. Doch das bringt natürlich alles nichts, wenn ich noch länger auf der verdammten Autobahn feststecke. Mehrmaliges Hupen dringt von draußen zu mir. Ich bin offensichtlich nicht die Einzige, die ihren Frust auf diese Weise loswerden will.

Die Einschreibezeit beginnt genau jetzt. Ich sehe die Minuten dahinrennen – ein Countdown zu meinem Versagen. Ich kann es mir schlichtweg nicht leisten, durch einen Kurs zu fallen und die Punkte nicht zu bekommen. Es mag für einige Studenten hier lächerlich klingen, aber jeder Penny meiner Familie steckt im Projekt »Caras Zukunft« – die Bezeichnung meiner Schwester, nicht meine Idee –, was voraussetzt, dass ich meine akribische Planung durchziehe. Ein verlorener Kurspunkt bedeutet keinen Abschluss an der Elite-Uni.

Endlich kommt Bewegung in das eintönige Bild vor mir. Bremslichter leuchten auf, weil einige Fahrer ihre Motoren starten. Noch dreißig Minuten bis zum Ende der Einschreibung. Meine Hände zittern und ich schlinge sie fest um das Lenkrad. Endlich rollt die Metallkolonne an. So langsam, dass mich auf dem Feldweg jenseits der Autobahn ein Jogger mit Hund überholt. Ich hätte einfach aussteigen und zu Fuß gehen sollen.

Noch fünfzehn Minuten bis zum Scheitern. Das Gaspedal zu drücken hat sich noch nie so gut angefühlt. Mein Honda schießt um die Kurve der Autobahnabfahrt. Kurz überlege ich, ob ich den P&R-Service nutzen soll, damit ich keinen Parkplatz suchen muss, aber schon bin ich an der Zufahrt vorbei. Gedanklich gehe ich sämtliche Parkmöglichkeiten auf dem Collegegelände durch und die jeweilige Laufstrecke bis zum Tutorengebäude des St. Joseph’s. Spontan entscheide ich mich für den Parkplatz am West Court und biege ab. Eine Fehlentscheidung. Der Parkplatz ist überfüllt – wie immer um diese Zeit. Ich verfluche mich und versuche es auf dem Parkplatz der Jura-Fakultät nebenan. Dort habe ich Glück. Ich springe aus meinem Auto und renne los. Von hier aus muss ich mehrere Innenhöfe durchqueren, um das St. Joseph’s zu erreichen. Rote Backsteinmauern ziehen an mir vorüber. Die Glocke der Kapelle des St. Joseph’s schlägt zur vollen Stunde, als ich gerade am East Court ankomme. Meine Beine fühlen sich bereits schwammig an, trotzdem renne ich weiter. Auf dem Main Court hallen meine Schritte von den hohen Nebengebäuden wider, klingen wie ein anfeuerndes Klatschen. Einen Durchgang später renne ich direkt auf das Tutorengebäude zu, vor dem ein Aufsteller mit einem Foto von Professorin Deveraux aufgebaut ist. Keuchend wie eine Dampflok renne ich gegen die Tür, um sie aufzustoßen – und verstauche mir das Handgelenk.

Es ist abgeschlossen.

Ich bin zu spät.

Mein heißer Atem kondensiert an der Scheibe, vernebelt die Sicht auf den Flur dahinter und die eine Tür, durch die ich wenige Minuten zuvor hätte treten müssen. Ich lehne meine Stirn an das kalte Glas und ringe nach Luft. Dann fasse ich mich wieder. Ich richte mich auf, starre mein verzerrtes Spiegelbild an und hebe meine Hand, um zu klopfen. Es kann nicht an ein paar Minuten scheitern. Das darf einfach nicht sein.

Die Tür hinter der Scheibe öffnet sich tatsächlich. Aber mir kommt nicht die Frau von dem Foto entgegen, sondern eine junge Brünette mit streng nach hinten gekämmtem Haar und einer Brille.

»Professorin Deveraux …«, stammele ich, nachdem sie aufgeschlossen hat.

»Sie ist schon weg. Sorry. Sie legt äußerst viel Wert auf Pünktlichkeit.« Ohne ein weiteres Wort klappt sie den Aufsteller und damit all meine Hoffnung zusammen und trägt beides ins Gebäude.

Ich wäre pünktlich gewesen. Überpünktlich sogar. Ich hätte mir die Beine in den Bauch gestanden, bis die Professorin endlich eingetroffen wäre. Wenn ich nicht in diesem verdammten B&B wohnen müsste!

Ich greife zum Handy in meiner Umhängetasche und wähle mit zitternden Fingern Tylers Nummer. Wenn ich mir das Geld für die Unterbringung im völlig überteuerten B&B spare und ein paar Schichten mehr im Diner übernehme, könnte ich es vielleicht trotzdem schaffen. Ganz gleich, was Hannah von der Idee hält.

4

MONTAG, 26.10.

Ich starre wie gebannt auf das vor mir liegende »Wohnheim« der Ravens und mir kommen mindestens zehn passendere Bezeichnungen dafür in den Sinn.

Raven House – wie Tyler es genannt hat – ist eher ein kleines Schloss im georgianischen Stil. An den Gebäudeecken befinden sich sogar kleine Türmchen! Zwei geschwungene Treppen führen zu einer Terrasse hinauf, über die man den Haupteingang betreten kann. Darunter liegt ein kleiner Arkadengang mit einem düsteren Eingang. Vielleicht eine … Bar? Doch mein Blick wird von der klassizistischen Fassade mit den beiden Säulen neben dem Eingang eingefangen, auf deren Querbalken ein Vogel – vermutlich ein Rabe – abgebildet ist. Auf mich wirkt es wie der Eingang zu einem römischen Tempel und ich verharre mehrere Minuten voller Ehrfurcht, ehe ich dem gepflasterten Weg weiter folge.

Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, wie modern das Gebäude trotz des alten Baustils ist. Die Fenster sind strahlend weiß, zu weiß für bemaltes Holz. Beim Näherkommen sehe ich, dass es sich um moderne Kunststoffsprossenfenster handelt, die perfekt in die Rundbögen am quaderförmigen Vorbau mit den Säulen eingepasst sind. An der Seite, fast im Gebüsch unter den hohen Bäumen versteckt, sprießen mehrere Alu-Kaminrohre aus der Fassade.

»Warum habe ich das Gebäude bisher nie bemerkt?«, habe ich Tyler gefragt, als er mich am West Court entlang und durch einen mir ebenfalls unbekannten Innenhof des Tutorengebäudes zu einer Backsteinmauer begleitet hat, der wir bis zu einem Metalltor gefolgt sind.

»Die Ravens legen sehr viel Wert auf Privatsphäre«, war seine knappe Antwort, ehe ich das letzte Stück durch den nur spärlich bewachsenen Rosenbogen allein gegangen und in einem verborgenen Garten gelandet bin. Später werde ich meinen Standort bei Google Maps suchen und mich an der Aufnahme von oben orientieren. Die University of Whitefield ist ein einziges großes Labyrinth. Vermutlich kann man hier auch nach mehreren Studienjahren noch verborgene Orte entdecken. Orte wie Raven House vor mir.

Ich hole noch einmal tief Luft, dann gehe ich auf die linke Treppe zu. Oben öffnet sich die Eingangstür und eine Frau mit dunklem kurzem Bob kommt mir über das Terrassenpflaster entgegen. Ich erkenne sie tatsächlich wieder, wie Tyler es versprochen hat. Sie war es, die mir zum Rauswurf der betrunkenen Idioten im Diner gratuliert hat.

»Hi, Cara! Ich bin Valérie«, begrüßt sie mich, reicht mir die Hand und schenkt mir ein strahlendes Lächeln. »Es freut mich, dich endlich offiziell kennenzulernen.« Sie hat einen wortwörtlichen Porzellanteint, selbst ihre Finger wirken zart wie die einer Puppe – einer sehr hübschen Puppe mit aristokratischen Zügen, eingerahmt von kinnlangen braunen Haaren. Ich will ihr die Hand schütteln, doch sie zieht mich zu sich und haucht neben meinen Wangen Küsschen in die Luft. Völlig überrumpelt lasse ich es geschehen und rieche dabei ihr schweres süßliches Parfüm.

Sie tritt wieder zurück und reibt sich über die nur in eine dünne Bluse gehüllten Arme. »Lass uns reingehen und alles Weitere besprechen. Wir wollen hier draußen schließlich nicht erfrieren.«

Ich folge ihr über die Terrasse zur Tür, die für uns geöffnet wird. Eine junge Frau mit weißblonden kurzen Haaren starrt mich unverhohlen an. Ich habe noch nie jemanden gesehen, dem ein Pixie-Cut mit rasierten Seiten so gut steht.

»Das ist Laura Sanderson«, erklärt Valérie, während wir den Windfang durchqueren und einen großen Saal betreten. Ich kann mich weder vorstellen noch jemanden begrüßen, weil mir glatt die Luft wegbleibt. Im Inneren kann man Raven House garantiert nur noch als Schloss bezeichnen. Der Raum vor mir ist größer als das Haus meiner Eltern und meiner Grandma zusammen und eindeutig in mehrere Bereiche unterteilt. Ich sehe eine große Polsterlandschaft vor einem gigantischen Flatscreen, weitere Sitzecken mit kleinen Tischchen und eine Theke, hinter der eine Frau gerade von Dampf umgeben Milch aufschäumt. Kurz darauf bringt sie zwei große Gläser zu einem der Tische, an dem sich zwei junge Frauen angeregt unterhalten.

»Willkommen in Raven House«, sagt Valérie nach einer Weile, damit ich genug Zeit habe, alles auf mich wirken zu lassen. Laura steht inzwischen am Tresen und spricht mit der Barista. Dann dreht sie sich zu Valérie und mir um und ruft: »Wollt ihr auch einen Chai Latte?«

Valérie sieht kurz zu mir, ich nicke noch immer sprachlos und sie signalisiert Laura unser Ja.

»Wie ist dein erster Eindruck?«, fragt sie mich, nachdem sie mich zu einem der Tische bugsiert hat, der garantiert echt antiquarisch ist und keine Nachbildung. Ich fahre mit den Fingerspitzen über die kleinen Dellen im goldbemalten Holz. Gebrauchsspuren aus Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahrhunderten, überlege ich, während ich nach einer Antwort suche.

»Ich bin …« Mir fallen keine Worte ein, die annähernd beschreiben könnten, wie ich mich fühle. Vollkommen überwältigt oder absolut sprachlos werden meinen Emotionen nicht ansatzweise gerecht. Dazu mischt sich eine noch nicht greifbare Angst. Angst, doch nicht hierher zu passen und nur in einem Traum gelandet zu sein.