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Ein kleiner Roman für alle, die sich nach Heilung sehnen. Ob es unser Körper, unser Geist oder unsere spirituelle Seite sind, wir sehnen uns nach Heilung. Der Medizin-Buddha zieht in diesem Roman in die Welt aus, um zu heilen. Auf diesem Weg trifft er viele, die dringend auf ihn warten. Viele folgen seinem Beispiel und öffnen ihr krankes Herz für den blauen Dharma. Falls auch du dich nach Heilung sehnst, ist dieser Roman für dich der Richtige.
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Seitenzahl: 462
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Extraterrestrische Einsiedler
Der blaue Tempel
Der blaue Einsiedler
Der Traum des Medizin-Buddhas
Blaue Außenposten
Blaue Schüler und Schülerinnen
Der Traum des blauen Buddhas
„Es gibt keinen Weg zum Glück.
Glücklichsein ist der Weg.“
So steht es in den Sternen geschrieben: In einer kleinen solarbetriebenen Kapsel saß ein Suchender versunken in Meditationshaltung, während die Kapsel um die Erde kreiste. Er meditierte über Bhaisajyaguru und sein Buddhafeld und versuchte, die spirituelle Energie des Bodhisattvas des Mondes und des Sonnen-Bodhisattvas aufzunehmen.
Ihre Bewegung der extraterrestrischen Meditierenden war noch recht jung. Sie war die Antwort tief religiöser Asketen auf das neue Zeitalter. Die Erde war laut und hektisch. Es gab keine Berge mehr, auf denen nicht Touristen ihren Müll abluden oder irgendwelche Foto-verrückten Influencerinnen hinkamen, um ein Bild für ihr Profil zu schießen, in der Hoffnung dadurch berühmt und reich zu werden.
Selbst die Zentren für Meditation waren nicht mehr das Wahre. Es gab nur noch zwei Extreme und keine Möglichkeit für einen mittleren Pfad. Da waren zuerst einmal die guten Sanghas mit einem oder mehreren sehr guten Gurus. Es gab davon auf der Erde mehr als jemals zuvor. Sicher waren es eine Million, die sich auf dem ganzen Erdball verteilten. Aber das änderte nichts daran, dass sie völlig überlaufen waren. Egal, wie gut die Lehrer waren und wie sehr sie mithilfe von Internet und AI ihre Lehre predigten, sie waren extrem überlaufen. Selbst der beste Guru war nicht dazu in der Lage, sich um die Fortschritte der Einzelnen zu kümmern.
Dann gab es noch die vielen spirituellen Zentren, die sich Sangha nannten oder glaubten, eine zu sein. Ihre Zahl schien endlos, seitdem die Lehre des Buddha zu einem Pop-Idol geworden war. Ihre Absicht war meist ehrlich, aber ihr Verständnis war so gering, dass sie nicht einmal begriffen, was die Leerheit des Selbst bedeutete oder sie einen großen Bogen um die vier edlen Wahrheiten und den achtfachen Pfad machten, weil er ihnen zu kompliziert war. Stattdessen konzentrierten sie sich auf schöne Gefühle-Meditationen und kulturelle Unterhaltung für ihre Besucher.
Für Fortgeschrittene und ernsthafte Übende war es schwer, einen Ort zu finden, um ungestört den Pfad der Meditation zu vollenden. Erst als ein Bodhisattva aus dem Norden gekommen war und die Idee der außerirdischen Meditation angeregt hatte, war ihre Bewegung geboren. Anfangs war es nur fixe Fantasie ohne Boden, bis sich ein Mäzen für sie zu interessieren begann. Er nutzte sein Netzwerk und brachte den Dana zusammen, um den Traum wahrzumachen.
Es war Zeit für das Yoga. Er zog sein blaues Gewand von seinen Beinen und streckte sich, so gut es in der Kapsel ging. Dann löste er die Gurte, die ihn in der Schwerelosigkeit festhielten, damit er in Ruhe meditieren konnte. Nachdem er sich abgeschnallt hatte, schwebte er frei im Raum. Sie hatten lange herumexperimentiert, bevor sie Übungen gefunden hatten, die auch in der Schwerelosigkeit funktionierten, aber in der Tradition zu der heiligen Lehre des Yoga standen. Das System des Yoga war ursprünglich entwickelt worden, um auf die Meditation vorzubereiten. Im Weltraum mussten sie täglich mindestens zwei Stunden Sport treiben, damit ihre Muskeln nicht abbauten.
Er gab sich ganz den Formen hin. Sie waren wie eine Art der Mediation. Es ging darum, sich vollkommen in die Übungen zu versenken und sein profanes Ich aufzulösen, um zu einer höheren Bewusstheit zu gelangen. Auf der Erde war er darin ein Meister gewesen. Seit Jahrzehnten hatte er geübt und viele Reisen nach Indien unternommen, um seine Kunst in den traditionellen Ashrams zu vervollkommnen.
Anfangs war es nicht dasselbe gewesen. Das Gefühl im Weltraum war ein anderes. Dann hatte er verstanden, welche große Chance darin lag. Denn mit ihm ging auch das Gefühl des begrenzten Ichs verloren. Auf der Erde klebte es quasi im eigenen Existenzkontinuum fest, aber im freien Raum außerhalb des Planeten wurde es schwächer und verlor seine Dominanz. Das war eine große Chance, um schneller zu den egolosen Zuständen zu gelangen.
Das blaue Gewand war das Symbol seiner Bewegung. Es gab viele Sangha, Schulen und Traditionen. Manche waren alt, manche waren jung. Manche folgten dem einfachen Leben der Waldasketen, wie es seit weit über zweitausend Jahren Tradition war. Andere hatten sich in den Weiten der zweiten Realität im Internet riesige buddhistische Tempel gebaut, zu denen sie kamen, um zu meditieren und um ihren digitalen Buddhas Gaben darzubringen. Er hatte sich für die Bewegung des Medizin-Buddhas entschieden.
Vom ersten Moment an hatte er gespürt, dass nur das sein Weg sein konnte. Manchmal, wenn er zurück in seine ersten Erinnerungen blickte, hatte er den Eindruck, dass es von Anfang an prädestiniert war. Es gab ein altes Video aus den Tagen, als sie noch die einfachen Smartphones mit Kamera benutzt hatten. Sein Vater hatte es aufgenommen. Zwar hatte er es sich in einer besseren Qualität von einer AI aufbereiten lassen. Aber es war dennoch ein Relikt aus seinen ersten Tagen, das seine Bestimmung zeigte.
Er saß dort in seinem riesigen Kinderzimmer, da er ein Einzelkind war und seine Eltern gut studiert hatten, gaben sie ihm alles, was er sich wünschte. Was er sich von Anfang an gewünscht hatte und seine Mutter hatte bis zu ihrem Tod davon erzählt, war ein Arzt zu werden, um andere heilen zu können. In dem Film sitzt er in seiner alten Spielecke mit all den medizinischen Instrumenten, seinem Kinderarztkittel und dem kleinen Medizinroboter, der ihm bei Operationen half.
Als Jugendlicher ging es weiter und er war erst zufrieden, als sie einen Jugendsanitäterbund gefunden hatten. Sie übten als Teil der freiwilligen Feuerwehr, machten aber auch viele Kurse an den örtlichen Krankenhäusern. Zwar hatte er dafür zweimal die Woche quer durch ihre Riesenstadt fahren müssen, etwas, was seine Mutter erst verbieten wollte, weil er dafür auch durch den kriminellen Teil in der Innenstadt fahren musste. Aber er hatte keine Ruhe gegeben, bis sie es erlaubt hatte.
Dem folgte der Dienst in der Armee. Eigentlich hatte er nie an die Armee geglaubt. Aber damals war die Bedrohung durch Diktaturen und den Kommunismus einfach überall gewesen. An allen Ecken hatten sie angegriffen, um den Menschen ihr Stück Freiheit zu rauben und einen totalen Überwachungsstaat zu errichten. Zu seinem Glück hatte er zu den Sanitätern gedurft. Das ersparte ihm den Dienst an ernsten Waffen und er konnte sich voll in das Studium der praktischen Medizin vertiefen. Bei seinen beiden Einsätze im Ausland war er sehr schnell zu einem beliebten Soldaten aufgestiegen. Er hatte nicht nur gewusst, die körperlichen Wunden zu versorgen, sondern auch das Herz zu heilen.
In seiner Schulzeit hatte er einen guten Freund unter den Jugendsanitätern gefunden, dessen Vater ein großer Guru gewesen war. Er hatte ihnen alte, heilige Massagetechniken beigebracht, mit denen sie auch das Innere heilen und segnen konnten. Mit diesen Massagen gab er den Soldaten Linderung ihrer geistigen Schmerzen.
Als die Jahre im Dienst vorbei waren, begann er sein Studium. Es war wie ein Wunder, dass genau dann die Zusage kam, als sein Dienst in der Armee endete. Auch heute noch glaubte er, dass das der Wink des blauen Medizin-Buddhas war. Die Zeit im Ausland und die harten und gefährlichen Bedingungen, unter denen er dort gelebt hatte, hatten ihn gelehrt, das Oberflächliche vom Sinnvollen unterscheiden zu können. So berauschte er sich nicht am Alkohol und den vielen Kommilitoninnen, sondern er gab sich ganz dem Studium hin. Das Geld aus seinem Dienst in der Armee reichte für die ersten sechs Semester, sodass er außer seinen fünf Stunden Schlaf nichts anderes tat, außer die Geheimnisse der Medizin zu studieren.
Der Abschluss kam und er bestand mit Auszeichnung. Einige der besten Krankenhäuser warben um ihn. Dennoch trieb ihn eine innere Stimme dazu, sich eine Stelle in einem der mit Patienten überfüllten und an Personal schlecht ausgestatteten Krankenhäuser in einem gescheiterten Viertel zu suchen.
Schon nach zwei Wochen hatte er sich nicht mehr gespürt. Das Elend war so groß, dass er alles vergaß, was er jemals erlebt hatte. Selbst der Krieg war nicht so desillusionierend gewesen. Es waren nicht einmal die zahllosen, grausamen Schussverletzungen der vielen jungen Männer, die glaubten, mit einem Schießprügel zum großen Geld zu gelangen. Es waren eher die leisen Geschichten, die sich ganz tief in ihn reinfraßen. Es begann bei den zahlreichen Obdachlosen. Zwar hatte er davon auch früher schon einige behandelt, aber hier war ihr Elend noch einmal deutlich größer. Denn es gab weder anständige Suppenküchen oder Ehrenamtliche, die durch die Blocks liefen und Erste Hilfe leisteten oder einfach nur zuhörten.
Einmal war ein alter Mann zu ihm gekommen. Sein Geruch hatte ihn alle seine konzentrative Energie gekostet, um nicht angewidert zu werden. Dann hatte es noch eine halbe Stunde gebraucht, um sein Vertrauen zu gewinnen. Am Ende hatte er ihm die Hose aufgeschnitten und ein Sammelsurium an eitrigen Wunden entdeckt. Der Alte hatte eine Sepsis. Sie versuchten alles, um sein Bein zu retten, aber schließlich amputierten sie es. Nebenbei hörte er sich die Geschichte des Alten an und er hatte den Eindruck, dass er seit langem mit niemandem mehr gesprochen hatte.
Er wurde geboren in einem leerstehenden Haus von einer drogensüchtigen Mutter, die sich auf dem Straßenstrich verkaufen musste, um Windeln, Milch und Babybrei für ihn zu bekommen. Allerdings war sie gestorben, als er just zwölf war, was dazu führte, dass er sich allein durchschlagen musste und das hieß, er hatte sich der erstbesten Gang angeschlossen. Nach seinem dritten Mord war er depressiv geworden und nach dem vierten wollte er aussteigen. Gegen alle Regeln hatten sie ihn an die Polizei verraten und die nächsten zehn Jahre hatte er im Gefängnis verbracht. Von da an war er obdachlos gewesen, abgesehen von ein paar Aufenthalten im Gefängnis wegen Ladendiebstahls.
Zwei Wochen später hatte er eine Leiche begutachten sollen und als es der alte Mann gewesen war, hatte er sich gefragt, wie er dem Kreislauf des Elends entkommen konnte. Denn egal, wie viel er half, egal, wie viele Wunden er nähte oder Operationen durchführte. Er hatte den Eindruck, dass auf jeden Geheilten drei neue erkrankten, sich verletzten oder einfach nur von einer der zahlreichen Kugeln getroffen wurden, die wegen der Gangrivalitäten täglich durch die Gegend flogen.
Noch am selben Tag war ein sechsjähriges Mädchen auf seinem OP-Tisch gelandet. Mitten in der Nacht war der Querschläger einer Kugel durch ihr Fenster gedrungen. Niemand wusste, woher sie gekommen war, obwohl alle Vermutungen äußerten. Als er aber dann später zu den Angehörigen zurück auf den Flur gehen musste, um ihnen mitzuteilen, dass der Blutverlust zu groß gewesen war, um sie zu retten; da war auch etwas in ihm gestorben.
Tage fühlten sich an wie Monate und Wochen schienen Jahre zu sein. Ihn hatte es nie gestört, siebzig oder achtzig Stunden zu arbeiten. Dafür hatten ihn die anderen immer bewundert, denn von Natur aus war sein Geist immer hellwach und fit gewesen. Doch dieses Elend ging so tief, dass es an seinen Kräften zerrte und er sich zum ersten Mal ausgelaugt vorkam und das Gefühl hatte, dass seine Batterien sich leeren würden.
Nach einer zwölfstündigen Schicht kam er nach Hause und wusste nicht mehr, ob er noch weitermachen konnte. Dann scrollte er auf seinem Holoschirm durchs Netz und wie durch ein Wunder landete er auf der Seite einer Online Sangha des blauen Medizin-Buddhas. Er kannte den Namen. Jeder Mensch auf der Welt kannte ihn. Die Legende des Bhaisajyaguru war eine der großen Geschichten der Welt. Seine Spuren reichten in alle Winkel, obwohl nur wenige den Mut aufbrachten, wirklich seinem Ruf zu folgen. Zugleich war nur wenig eindeutig bekannt. Er soll sein Erwachen an den Rändern des letzten großen Krieges erlangt haben, als Verwirrung und Elend überall wucherten.
Es gab einige wenige Videoaufnahmen aus dieser Zeit, die ihn zeigten, wie er in Zelten voller Kranker seinen Dienst getan hatte. Hunger und Seuchen hatten in den letzten Monaten des Krieges die wahre Herrschaft übernommen. Die Menschen knickten wie Streichhölzer um, weil ihre Körper geschwächt waren.
Es gab später viele Augenzeugenberichte, die von Wundern des Mannes erzählten, der blau gestrahlt haben sollte. Unermüdlich hatte er täglich sechzehn Stunden geschuftet und statt danach direkt zu schlafen, hatte er sich immer erst hinter eines der Krankenzelte gesetzt und meditiert. Es gab ein altes Interview von einem Mann, der damals ein kleines Kind gewesen war. Er erzählte, wie er und sein Freund sich oft nachts an den Zeltwänden entlang geschlichen hatten, um den Mann mit dem blauen Schein sehen zu können.
Die Geschichten fühlten sich uralt an. Auf gewisse Art waren sie das auch. Denn sie waren am Übergang entstanden, als das alte Zeitalter geendet hatte und ein neues sich den Weg gebahnt hatte. Seitdem hatte sich Technik ihren Weg gebahnt und alles verändert, woran Menschen jemals geglaubt hatten. Auch viele Religionen hatten seither viele ihrer Anhänger verloren oder waren so gewalttätig geworden, dass sie jeden umbrachten, der nur versuchte, sich von ihnen zu lösen. Nur der Buddhismus trat seitdem einen friedlichen Siegeszug einmal quer über den Planeten an.
Auch ihn hatte diese Welle erfasst. Die ersten zwei Jahre war er zu jeder Massenveranstaltung in seiner Gegend gefahren und hatte viele Freunde gefunden. Dann war ihm bewusst geworden, dass es zwei Arten von Übenden gab. Da waren die Übenden, die den Buddhismus liebten. Aber ihre Liebe war mehr wie der Konsum eines Films oder Songs, den sie gern hatten. Er verurteilte sie nicht. Sie waren gute Menschen und sie ließen sich wirklich inspirieren und strengten sich an. Doch sie blieben Teil der weltlichen Welt, und das wurde ihm erst klar, als er einige von denen kennenlernte, die bereit waren, einen Schritt weiterzugehen.
Sie waren der harte Kern. Es war nicht leicht, sie zu entdecken. Sie liefen nicht durch die Gegend und prahlten mit ihren harten Übungen oder ihren tiefen Einsichten. Doch es gab sie und sie waren beeindruckend, und als er drei von ihnen kennenlernte, änderte sich alles.
Aus dem Interesse am Dharma wurde ein Leben. Die Übungen waren so gut, dass es niemandem verborgen blieb, dass er sich veränderte. Nicht nur, dass er privat immer öfter darauf angesprochen wurde, wie er es schaffte, immer so entspannt zu sein. Auch auf der Arbeit bemerkten sie seine Veränderung. Die Übungen des Dharma öffneten ihm den Zugang zu seinen inneren Ressourcen. Es wurde zu einer Normalität, dass er immer länger arbeitete, ohne dabei erschöpft zu werden oder auch nur an Konzentration einzubüßen, selbst wenn er schon über zehn Stunden arbeitete.
Vor dem Bullauge trat die Erde in sein Blickfeld. Mit einer kleinen Steuerungsdüse hatte er die Eigenrotation in Gang gesetzt. Anfangs hatte sie seinen visuellen Apparat irritiert, aber seitdem er sich daran gewöhnt hatte, gab sie ihm ein vertieftes Bewusstsein der Unendlichkeit des Weltraums. Auf Erden hatte er immer lange gebraucht, um den Zustand des grenzenlosen Bewusstseins zu erlangen. Aber hier in der Umlaufbahn zur Erde fiel es ihm leichter und er schaffte es auf Anhieb. Von ihm waren es nur drei Stufen bis zur höchsten Stufe der Meditation. Auch diese hatte er hier draußen zum ersten Mal erreicht. Aber das war nicht der Grund, weshalb er ins All gegangen war.
In den letzten Monaten hatte er jede freie Minute in seinem kleinen Labor gearbeitet. Angefangen hatte es während einer Meditationssitzung nach einem langen fünfzehn Stunden Dienst im Krankenhaus. Dort hatte er sich gesehen, wie er ein Patent in seiner Hand für einen Heilstoff für eine der seltenen Krebsarten gehalten hatte. Es hatte sich so realistisch angefühlt, dass er am nächsten Tag den Direktor seines Krankenhauses um die Schlüssel für das Labor im Krankenhaus und einen Etat gebeten hatte.
Seitdem hatte er alles gegeben. Etwas tief in ihm wusste, dass es einen Weg gab, die Immunabwehr gezielt gegen die Entstehung von Krebs einzusetzen. Bisher trickste der Krebs die körpereigene Abwehr aus. Aber er wusste, dass es die blaue Weisheit gab und sie nicht nur den Geist heilen konnte. Denn der menschliche Körper war ein Wunderwerk mit nahezu grenzenlosem Potential. Es gab das körpereigene Bewusstsein und es konnte trainiert werden, um die eigenen Heilkräfte deutlich zu verbessern.
Er blickte über den blauen Planeten unter ihm und stellte sich die vielen Menschen vor, die krank waren und litten. Er spürte ihre Schmerzen und mehr noch, er fühlte das geistige Leid, welches sie in sich trugen, was bei jedem entstand, der Krankheit erlebte, aber kein vertieftes Geistesstudium durchlaufen hatte. Selbst Anandas Geist hatte einst furchtbar gelitten, als der Buddha vor seinen Augen seinen letzten Gang gewählt hatte. Dabei hatte ihm der große Lehrer gesagt, dass alles in der Welt vergänglich war und ein ruhiger, mitfühlender, aber nicht instabiler Geist die einzige Möglichkeit war, mit dieser Wahrheit leidfrei umzugehen.
Nachdem er mit seinem geistigen Auge über vielen hundert Kranken geschwebt war, wendete er sich dem völlig überforderten Gesundheitssystem zu. Es war nicht nur in den armen Ländern am Limit; selbst in den wohlhabenden Staaten stand es in vielen Bereichen kurz vorm Kollaps. Er kannte den Stand der weltweiten Medizin und er kannte auch die neuesten Forschungsergebnisse. Die meisten der Krankheiten, an denen die Menschen litten, waren heilbar, nur das System war schlecht und es gelang ihm nicht, die Kranken und die Heilmethoden zusammenzuführen.
Aber das Schlimmste waren die, die ihre Krankheit nicht als Krankheit erkannten. Zwar waren das vor allem die psychisch Kranken, aber sie waren genau das, wovon Buddha sprach, als er lehrte, was Verblendung ist. Denn das Leid nicht als Leid zu sehen, ist vielleicht die höchste Form des Leidens. Denn mit jeder weiteren Emanation nährt man weiter die Samen des Leidens.
Er sah viele in ihren Krankenbetten, aber er wusste, dass es mehr waren, als sich ein Mensch vorstellen konnte. Auf der Welt lebten viele Milliarden Menschen. Die meisten lebten nicht in der freien Welt mit guter Gesundheitsversorgung. Sie lebten in zerbombten Städten, in Slums, in denen sich ein Haus an das andere reihte und die einzige Fürsorge, die Liebe der Prostituierten war. Andere in kleinen Dörfer, die nur von ihren Erzeugnissen lebten und nach jeder schlechten Ernte, an den Rand der Mangelernährung kamen.
Das Leben auf Erden war hart, doch im Weltall war es noch lebensfeindlicher. In Samsara gab es nur die Option schlecht oder schlechter. Alle, die glaubten, es ginge ihnen gut, steckten nur in der Falle wie eine Fliege in einer fleischfressenden Pflanze. Denn auch wenn die Medizin in den letzten Jahrzehnten immer mehr Fortschritte gemacht hatte und immer mehr Menschen dank ihr weit über hundert Jahre alt wurden und sogar fit blieben. So konnte am Ende keiner Tod, Krankheit und Alter entkommen.
Auch darüber meditierte er. Seine Zeit war begrenzt und er musste sich bewusstmachen, keine Sekunde verschwenden zu wollen, falls er hohe Realisation erlangen wollte. Unter den ernsthaften Praktizierenden des Dharma war das das offizielle Credo. Der Begründer des Buddhismus auf Erden hatte gelehrt, dass das Leben als Mensch ein kostbares und glückliches Geschenk war. Jeder, der es mit Weisheit leben wollte, sollte so doll wie möglich den Dharma üben. Das waren seine letzten Worte gewesen, ehe er vor mehreren tausend Jahren ins Parinirvana eingegangen war.
Er sammelte sich und meditierte über die Geschichte eines alten Meisters. Der hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als Maitreya den kommenden Buddha zu treffen. Jahrelang hatte er sich in eine Höhle zurückgezogen, um ihn zu sehen. Doch nichts passierte. Nach neun Jahren verließ er die Höhle und traf Maitreya. Er war froh und zugleich fragte er ihn verwundert, warum er nicht früher erschienen war. Maitreya erklärte ihm, dass er immer dagewesen war. Asanga war nur nicht bereit gewesen, ihn zu sehen.
Er hatte die Erde verlassen, um wie die alten Meister in einer Höhle zu wohnen. Das Geschenk seiner Kapsel war eine Dana, eine Spende eines noblen Spenders, wie es auch in alter Zeit üblich gewesen war. Als er dem blauen Orden beigetreten und sein Mönchsgelübde abgelegt hatte, besaß er nichts mehr außer seiner Robe und der Bettelschale.
Aber auch vorher hätte sich solch eine Reise in die Umlaufbahn der Erde niemals leisten können. Zwar war es mittlerweile sehr billig ins Weltall zu fliegen. Für die ganz Reichen gab es schon eine Station auf dem Mond, um dort ein paar Tage Urlaub machen zu können. Der Verrückte, der zum ersten Billionär geworden war, plante auch schon bis zur Venus zu fliegen. Die Reise zum Mars war zwar immer noch unerschwinglich teuer, aber dennoch möglich. Doch mit einer Kapsel um die Erde fliegen zu dürfen, erforderte viel. Neben der Kapsel und der Versorgung brauchte man die Genehmigungen, und der Weltraumschrott war auch gefährlich und nur mit der besten AI sicher zu umgehen. Dennoch gab es immer mehr Superreiche, die den fortgeschrittensten Mönchen das außerplanetare Retreat ermöglichten. Allerdings erwarteten sie dafür, dass man für sie einige tausend Mantras sprach.
Sein Spender glaubte an sein Talent als Mediziner. Er erwartete nicht, dass er für ihn Mantras sprach. Alles, wovon er noch träumte, war eine Heilung für seine immer wiederkehrenden Metastasen. Denn trotz vieler Therapien, die immer besser wurden und immer öfter Erfolg hatten, konnten sie die bösartigen Tumore nicht aufhalten, die immer wiederkamen und streuten. Einzig ein Organismus, der in der Lage war, mit körpereigenen Mitteln das Problem schon am Anfang zu lösen, versprach endgültige Hoffnung.
Er blickte hinaus durch sein extraterrestrisches Bullauge. Seine kleine Kapsel war weiter rotiert und er konnte jetzt an der Erdkugel vorbei in die Weiten des Weltalls sehen. Es wirkte unendlich. Aber der Eindruck inspirierte, wie viele Milliarden Sterne es da draußen gab und die Möglichkeit, dass es da draußen intelligentes Leben und somit auch den Pfad zum Erwachen gab. Das Ganze trieb seinen Geist wieder zu seinem persönlichen Buddha, dem Medizin-Buddha, der auch Bhaisajyaguru genannt wurde. Irgendwo da draußen könnte er sein blaues Buddhafeld haben.
Einmal vor Jahren hatte er eine tiefe Realisation erreicht. Sie hatte alle Erfahrungen überstiegen, die er je zuvor gehabt hatte. Bis heute wusste er nicht, wie er dazu fähig gewesen war und in den kommenden Jahren war er zu der Erkenntnis gekommen, dass nur das gute Karma aus vorhergegangenen Leben dafür verantwortlich sein konnte. Damals hatte er eine klare Vision des Buddhafeldes gehabt, die so real gewesen war wie der Raum, in dem er meditiert hatte.
Über ihm hatte sich der azurblaue Himmel geöffnet. Das strahlende Blau war unvergleichbar mit dem Horizont der Erde. Es strahlte in einer Intensität, die so intensiv wie die Sonne war. Doch trotz der Intensität strengte es nicht an, einfach raufzugucken. Es überforderte nicht, sondern führte zu einem tiefen Gefühl der Entspannung.
Wohin er auch geschaut hatte, hatte er Menschen gesehen, die blau geschimmert hatten. Es hatte nicht an ihrer Kleidung, Hautfarbe oder dem Alter gelegen. Sie alle hatten eine blaue Aura. Er war zu dem ersten gegangen. Dieser hatte kein Wort gesagt, aber seine Hand auf seine Stirn gelegt. Die Haut des Mannes hatte sich warm und sanft angefühlt. Das Gefühl der Wärme war sogar stärker geworden und dann hatte er es auch gesehen. Denn plötzlich sah er die Energie in der blauen Farbe. Sie hatte heilende Kräfte. Nicht nur das, sie trug auch die Weisheit in sich, jeden zum Heiler zu machen.
Er war mit dem Mann mitgegangen. Obwohl sie kein Wort miteinander gesprochen hatten, hatten sie doch unendlich viele Informationen miteinander ausgetauscht. Schließlich liefen sie über einen Hügel mit vielen Kristallblumen. Einige von ihnen waren geöffnet, andere waren geschlossen. Sie strahlten in allen Farben des Regenbogens. In einigen saßen sogar Menschen. Aber sie strahlten nicht blau. Dafür sahen sie sich um, als wären sie selbst gerade erst angekommen.
Hinter dem Hügel öffnete sich ein kleines Tal. Die Bäume wiegten sich friedlich im Wind. In der Mitte gab es einen kleinen Teich, in dem Lotos wuchsen. Vor dem Teich saßen mehrere Menschen und lauschten einem Lehrer. Während sie alle blau leuchteten, war die Intensität des Blaus bei dem Mann, der sprach, um ein Vielfaches intensiver.
Der Mann zog ihn magisch an und schon nach wenigen Schritten hatte es so gewirkt, als würde seine Stimme direkt neben seinem Ohr sein. Das hatte ihn gewundert, denn er war zu weit weg und außer Reichweite. Doch als er nahe genug war, gab es keinen Zweifel mehr, dass es die Stimme des Mannes gewesen war.
Er setzte sich hin, um zu lauschen. Der Blaue hielt einen Vortrag über die Heilkunst. Dann ließ er seinen Blick über die Menschen gleiten, die dem Blauen zuhörten. Einige von ihnen trugen Kittel wie Ärzte oder Krankenpfleger im Krankenhaus. Andere hatten die Uniform der Feuerwehr an. Wahrscheinlich waren sie wie er nicht ohne Grund hier, dachte er. Denn das Karma hatte sie hierhergeführt. Denn sie waren Suchende, so wie er einer war.
Der Vortrag ging tief. Er umfasste die Medizin des Körpers, aber auf einem technisch fortschrittlicheren Niveau als in dem Krankenhaus, in dem er damals gearbeitet hatte. Es umfasste auch mehr als nur den Körper als Ort der Krankheit. Denn es ging um die Heilung allen Leidens, welches sich mindestens in körperliches, geistiges und spirituelles Leiden unterscheiden, aber doch nie trennen ließ.
Dann hatte er über den Weg des Heilers und der Heilerin gesprochen. Was er gesagt hatte, hatte ihn sehr berührt. Es war, als ob er genau zu ihm gesprochen hatte. Denn er redete über all die Dinge, die ihn bewegten. Erst als er kurz abgeschweift war und seinen Blick über die Menge der Zuhörer hatte schweifen lassen, war ihm klargeworden, dass es den anderen genauso gehen musste. Denn hier saß er unter Gleichgesinnten.
Die Rede des weisen Mannes stärkte den Glauben an seinen Weg wie nichts zuvor. Es ließ ihn den Sinn dessen, warum er tat, was er tat, auf ganz tiefer Ebene spüren. Das war wichtig. Denn die vielen langen Dienste und die ständige Hektik, weil es zu viele Patienten und zu wenig Zeit gab, hatten einige Zweifel gesät. Aber auf einmal hatte er wieder sein Herz gespürt und gewusst, dass sein Weg der richtige war und der einzige, den er gehen wollte.
Dann meditierte er in seiner Vision und als er in dieser Meditation in eine tiefe Versenkung eingetaucht war, war er zurückgekehrt. Von da an war alles anders und es hatte sich die Kette an Ereignissen in Bewegung gesetzt, die ihn ins Weltall geführt hatte. Vor allem war es die Leidenschaft gewesen, noch härter zu arbeiten und das Wissen, dass es jemanden gab, der den Ausweg aus allem Leiden kannte.
Er konzentrierte sich wieder auf seine Sitzhaltung und überprüfte die wichtigsten Punkte. Seine Wirbelsäule saß aufrecht. Seine Hände lagen im Schoß und formten das Mudra. Sein Blick war leicht nach unten gerichtet und die Augen halb geschlossen. Das Ganze krönte sein meditatives Halblächeln. Dann richtete er sich wieder auf seinen Atem aus.
Langsam zog die Luft an seiner Nasenspitze entlang. Sie fühlte sich anders an als auf der Erde. Vor allem war sie hier im Weltraum um ein Vielfaches wertvoller. Er genoss den Moment und ging tiefer. Langsam verzogen sich seine gegenständlichen Gedanken. Tiefe Freude breitete sich in seinem Geist aus und auch sein Körper wurde von einem angenehmen Wohlgefühl geflutet. Er ließ für einen Moment vollkommen los und genoss diesen befreiten Zustand.
Doch der Buddha hatte von Anfang an gelehrt, dass es gefährlich war, sich zu intensiv an diese Zustände zu klammern. So konzentrierte er sich wieder und drang ein in den Zustand des vollkommenen Gleichmuts. Sein gesamtes Wesen stellte seine Pendelbewegung zwischen den Extremen ein. Der Gleichmut wurde zu seiner zweiten Haut. Aber das grenzenlose Weltall rief nach mehr.
Er spürte den weiten Raum, in dem sich der Gleichmut manifestierte und wurde eins mit diesem Raum. Jegliche Individualität wurde zu einem Fluss im grenzenlosen Raum des Universums. Er spürte die Grenzenlosigkeit, wie er vorher die Begrenzung gespürt hatte. Dann fokussierte sich das Gefühl der Vielheit, bevor es durchsichtig wurde und er hindurchtrat. Dann spürte er das Bewusstsein, dem alles zu Grunde lag. Aus der Grenzenlosigkeit des Raums wurde die Grenzenlosigkeit des Bewusstseins. Er war eins mit der gesamten Weltseele.
Auf Erden war er niemals voll zu diesem Bewusstsein durchgedrungen, aber inmitten des schwerelosen Raums war es leichter zu manifestieren. Aber einer seiner Gurus war einer der größten Meditationsmeister ihrer Zeit und er hatte ihm beigebracht, dass die meditative Reise nach diesem formlosen Zustand des grenzenlosen Bewusstseins noch nicht beendet war.
Die alten Texte waren eine spärliche Landkarte. Nur wer den Weg schon gegangen war, verstand sie intuitiv. Die Erklärungen hatten tausende Jahre überleben müssen und waren zu einer schablonenhaften Beschreibung geworden. Dennoch halfen sie die wesentlichen Elemente zu beachten; zugleich verschwiegen sie, wie facettenreich jeder einzelne Meditationszustand war. Denn er war nicht einfach nur jenseits der Körperlichkeit gegangen. Er war eins mit dem grenzenlosen Bewusstsein geworden. Er spürte die Existenz von überirdischen Wesenheiten und er spürte den Schmerz der vielen Kranken auf Erden.
Im Sekundentakt tauchten Bewusstseinsfetzen auf. Er wusste nicht, ob sie echt waren oder nur ideelle Muster des real Möglichen innerhalb des Existenzkontinuums. Aber am Ende zählte das nicht, denn unter sich gab es Millionen Menschen, die genau so litten.
Leiden war das verbindende Element allen Lebens auf der Erde. Diese traurige Erkenntnis war der erste Stein von Buddhas Haus. Dieses Leiden war seit dem Tod Shakyamunis nicht kleiner geworden. In den letzten Jahrhunderten hatte es sich potenziert. Wurden früher ein paar Küken geboren, wurden einige vielleicht gefressen und nur ein paar überlebten. Heute wurden alle männlichen Küken direkt nach der Geburt bei lebendigem Leib geschreddert und ihre Schwestern in kleine Gehege gesperrt, die sie in den Wahnsinn trieben.
So wie das Leid der Tiere exponentiell zuzunehmen schien, sah es auch für die Menschen nicht besser aus. Es gab immer wieder Phasen friedlicher Ruhe, aber sie waren nur das Intermezzo zwischen pausenloser Dramatik. Opfer waren meist die Kleinsten, die Schwächsten und die Ärmsten. Er spürte das stumpfe Beben eines Herzens. Es war ein Junge in den Weiten der westafrikanischen Kakaoplantagen. Gerade einmal zwölf Jahre alt war das sein ganzes Leben. Zu essen gab es außer Cassavawurzeln wenig und die giftige Chemie der Herbizide fraß sich in die eitrigen Wunden, wo er sich mit der Machete verletzt hatte, als er die Kakaofrüchte geerntet hatte.
Dann begann sein Becken zu drücken. Wie in einer Vision öffnete er die Augen und sah in sein eigenes Gesicht. Wäre die Mediation nicht so tief und rein gewesen, hätte er sich sicher erschreckt. Aber selbst als der Schmerz kam, blieb er ruhig und gesammelt. Kurz schweiften seine Augen in der Vision über eine polierte Metallplatte. Er erkannte das Gesicht und kurz wurde die Vision unscharf und er fiel zur angrenzenden Meditation zurück. Denn die Erinnerungen an diesen Tag waren noch tief in sein autobiografisches Gedächtnis eingebrannt.
Es war das Krankenhaus am Rand der Stadt gewesen, wo sich ein riesiger Wohnblock an den anderen reihte und das einzige Zuverlässige die ständige Kriminalität war. Er hatte sich freiwillig dafür gemeldet, dort in seinem letzten Ausbildungsjahr arbeiten zu wollen. Denn er wollte helfen und kein anderer guter Arzt wollte dorthin gehen. Tatsächlich war er der Einzige aus seinem Jahrgang aus über achtzig Medizinern.
Schon nach einer Woche hatte er verstanden, warum er der Einzige war. Denn das Elend war unerträglich. Pausenlos kamen neue Patienten mit Schussverletzungen oder Messerstichen. Dazu kamen die Drogenkonsumenten, die ihren Körper systematisch zerstörten. Die Frau war eine von ihnen gewesen.
Im ganzen Bezirk gab es keine zehn Hebammen, aber es wurden mehr Kinder geboren als sonst wo in der Stadt. Eine Freundin hatte sie hergebracht. Ihre Fruchtblase musste schon vor Stunden geplatzt sein. Aber die glasigen Augen der Frau hatten ihm verraten, dass sie erst noch etwas anderes gebraucht hatte. Leider blutete sie auch und das Kind war schon voll auf dem Weg. Dann steckte es fest und er musste mit der Saugglocke ran. An sich kein großer Akt hätte sie nicht angefangen zu bluten.
Das Blut begann zu fließen wie der Fluss Nil. Außer ihm war nur eine Krankenschwester dagewesen. Sie hatte schon eine zwölf Stunden Schicht hinter sich und ihr fielen fast die Augen zu. Ihm selbst ging es nicht besser und ihr Kampf um das Leben der Frau wurde zu einem Kampf gegen Windmühlen. Als sie endlich das Baby raushatten und sogar noch eine zweite Schwester gekommen war, die jetzt das Baby übernahm, wandten sie sich der Mutter zu. Doch außer dem Lächeln einer Toten gab es dort nichts mehr zu sehen.
Seitdem war sie ihm oft in seinen Träumen erschienen. Mal war er der Arzt, mal ihr Freund und mal das Baby in seinen Träumen gewesen. Deshalb wunderte es ihn nicht, dass sie auch diesmal erschien. Plötzlich spürte er einen Strang, der nach seinem Bewusstsein griff. Er klammerte sich daran, ohne es zu wollen und dann zog er ihn davon.
Zu sehen war nichts, aber es gab unsichtbare Gefühle, die mit ihm ohne Worte sprachen. Er spürte sie, aber sie waren anders und er spürte sich. Aber auch er war anders. Sie waren es, aber sie waren nicht mehr so und dann fühlte er den Hauch der Zeit und er begriff, dass er in sein früheres Leben sah. Es gab keinen Zweifel mehr, dass ihre Verbindung viel älter gewesen war und scheinbar hatte er wieder versagt.
Erschrocken riss er die Augen auf und starrte durchs Bullauge ins All hinaus. Er sah den Mars. Sein roter Ton erinnerte ihn an Amitabha und ohne lange zu zögern, begann er das Mantra mit Amitabhas Namen zu rezitieren. Die kleine Kapsel drehte sich sehr langsam, aber er hielt seinen Blick auf einen Punkt an der Scheibe gerichtet. Das Mantra ging ihm leicht über die Lippen. Bei einem langen Retreat in einem taiwanesischen Tempel in Los Angeles hatte er einmal mehrere Tage lang nur Amitabhas Namen rezitiert, um das reine Land auf Erden zu manifestieren.
Was war das reine Land, von dem die lila Buddhina gesagt hatte, es könne auf Erden realisiert werden? Es war ein Ort der Weisheit und Güte. Die Menschen wären dort füreinander da und sie würden ihren Geist zum Wohle für alle Wesen kultivieren. Dass letzteres möglich war, bewiesen alle Mediziner und Ärztinnen. Denn sie schulten, übten und trainierten ihren Geist dazu, so gut wie möglich zu helfen.
Leider war die Welt kein Buddhafeld. Aber das lag nicht daran, dass sie es nicht sein könnte oder der Planet zu rau wäre. Die Geister der Menschen waren der Grund. Sie waren getrieben von ihren Ängsten und ihrer Gier. Die Angst wurde schnell zu Hass und die Gier sorgte dafür, dass es ihnen egal war, wie es den anderen ging. Sie kümmerten sich um sich. Ob der Freund neben ihnen an Hunger litt oder dringend Medizin zur Heilung benötigte, interessierte sie nur insofern, als es ihnen selbst Vorteile brachte.
Dabei war der Schritt zu einem gütigen Herzen leichter, als viele glaubten. Es gehörte nicht viel dazu. Man musste einfach nur richtig hinsehen und zuhören. Sobald man die Welt so sah, wie sie war, veränderte das etwas in einem. Man öffnete sich und man begann zu fühlen, dass da eine Verbindung bestand, die seit dem ersten Atemzug dagewesen war. Aber Blindheit war wahrscheinlich der Hauptgrund für das Elend der Welt.
Die Menschen wollten nicht sehen. Sie wollten nicht über ihren kleinen Tellerrand hinausgucken. Sie lebten in ihrer kleinen Blase und egal, wie einfach es war, darüber hinauszuschauen und dadurch ein besseres Leben zu erlangen, sie taten es nicht. Bei hunderten Junkies und den vielen Gangmitgliedern hatte er das immer wieder erlebt. Sie klammerten sich an ihre Welt aus Leid, als ob es alles wäre. Klar war das die Anhaftung, aber es war vor allem traurig. Denn allein schon, wenn die Mehrheit der Menschen der Erde bereit wären, sich vom Leiden, vom Hass und von der Gier abzuwenden, würde die Erde sich zu einem halben Paradies verwandeln.
Wieder zog ihn sein Bewusstsein zu der schwangeren Frau zurück. Damals hatte er gedacht, sie wäre die ganze Zeit ohnmächtig oder weggetreten gewesen. Er hatte viel zu wenig Zeit gehabt, sich um sie zu kümmern. Er und die Schwester waren ganz mit der Rettung des Babys beschäftigt gewesen. Aber jetzt sah er, dass ihre Augen einen ganz kleinen Schlitz geöffnet gewesen waren. Trotz ihrer Drogenabhängigkeit hatte sie einen klaren Geist und ernsthafte Intelligenz besessen. Das machte es ihm noch schwerer. Doch plötzlich hörte er, wie sie Danke flüsterte und in seine Richtung schaute. Dann war alles taub und er erinnerte sich, dass das der Moment gewesen war, als das EKG die Nulllinie angezeigt hatte.
Der Dank wog schwer. Wenn die Meditation so tief war, konnte es wenig Zweifel geben, dass ihm das Universum etwas mitteilen wollte. Tatsächlich hatte ihn der Kleine damals nicht losgelassen und er hatte zumindest eine alte Freundin angerufen. Sie hatte die Adoption in eine Familie übernommen, der es finanziell und psychisch sehr gut ging, auch wenn das nicht seine Mutter ersetzen würde, so hatte er dem Kleinen zumindest eine Chance geschenkt.
Er sog die Luft ein. Dann lächelte er, als ihm bewusst wurde, wie klein seine Kapsel und sein Luftvorrat waren. Er verstand nicht viel von der Technik, aber sie schaffte es, die Luft fast sauberer als auf Erden schmecken zu lassen. Für die Meditation war das sehr förderlich. Er hatte schon in Gegenden mit großem Smog meditiert und dann immer Probleme gehabt, sich einspitzig auszurichten.
Ein weiterer Tag war vorbeigegangen. Die Zeit seines Retreats war begrenzt. Die Hälfte der Zeit war bereits verstrichen. Bisher hatte er viel für sich erreicht. Aber er war nicht hier hochgekommen, um für sich etwas zu erreichen. Er wollte Einsichten gewinnen, um ein besserer Heiler zu werden. Das war die Losung des blauen Buddha-Ordens und er einer ihrer fortgeschrittenen Adepten. Er durfte nicht zur Erde zurückkehren ohne Früchte. Denn die jüngere Generation blauer Bodhisattvas sah zu ihm auf. Sein Erfolg würde zu ihrem Erfolg werden, denn sie würden alles dafür geben, ihm nachzueifern.
Sechs Wochen blieben ihm in der Erdumlaufbahn. Noch machte er sich keine Hektik. Er dachte an das Wunder Maitreyas, der dem großen Bodhisattva Asanga erschienen war. Er faltete die Hände und rief den Namen des Medizin-Buddhas und bat ihn, ihm auch zu erscheinen. Allein war die Lösung dieser Aufgabe unmöglich. Trotz all der technischen Fortschritte und den neuen AIs kratzte er immer noch an der Oberfläche des Problems. Die Verseuchung in manchen Autokratien war so toxisch, dass die Menschen dort reihenweise wegstarben. Aber die Gifte flogen mit den Winden und den Wolken um den Globus. Sie bauten sich auch nicht einfach ab, wenn sie abregneten. Sondern sie blieben im Boden stecken. Die Zahl der Krebsfälle war in den letzten Jahren explodiert. Trotz der großen Fortschritte, denn fast alle Krebsarten waren mittlerweile heilbar, wucherten und streuten die Tumore und hatten eine regelrechte Pandemie ausgelöst, in deren Folge das knapp ausgestattete Gesundheitssystem schon mehrfach kollabiert war. Allein im letzten Jahr sollten wegen dieses Dilemmas über hunderttausend Menschen in den freien Ländern gestorben sein, weil sie nicht rechtzeitig behandelt werden konnten. Was sie brauchten, war eine einfache Lösung. Es war egal, ob das ein Impfstoff war oder ein Serum, das den Körper dazu brachte, den Krebs zu bekämpfen, um so seine Ausbreitung zu verhindern.
Für einen Moment hatte er es für möglich gehalten, dass der Medizin-Buddha vor ihm erscheinen würde. Aber bei Asanga hatte es neun lange Jahre gedauert. Auf seine Frage, warum Maitreya ihm nicht schon früher erschienen war, hatte der nur gesagt, dass er schon die ganze Zeit da gewesen war. Nur Asanga war nicht bereit gewesen, ihn zu sehen. Er hatte keinen Zweifel, dass der Medizin-Buddha da war. Nur seine verblendeten Augen und sein vernebelter Geist versperrten ihm den Blick auf den blauen Heiler.
Der Weg des Dharma war hart. Das galt besonders für die Fortgeschrittenen. Am Anfang war es sogar ziemlich simpel. Man saß viel und meditierte. Gelegentlich hörte man sich einen Vortrag an und versuchte ein paar Charakterfehler loszuwerden. Aber für alle, die wirklich die Bedeutung von Buddhas Lehre verstanden, wurde es schwierig.
Man konnte als Buddhist nicht mehr wert sein als ein anderer Buddhist, egal wie viel man übte und wie groß der Fortschritt war. War das in anderen Religionen der Grund, sich anzustrengen. So ging es im Dharma in den höheren Übungen nur darum, anderen zu helfen und das Leid zu überwinden. Mit der höheren Entwicklung wurde man gewahr, um wie viel umfassender das Leiden war.
Buddha hatte gelehrt, dass der Leidenssame in allen lag. Für Anfängerinnen des Pfades schien das unlogisch, aber sobald sich das Weisheitsauge öffnete und man sah, wie grenzenlos das Leiden war und auf wie vielen subtilen Ebenen es wie ein undurchdringliches Netz wirkte, erschlug es einen. Von da an gab es nur noch das Nirvana. Denn nur das Nirvana konnte einen selber oder die anderen aus dem Sog Samsaras befreien.
Wieder waren sechs Stunden vergangen. Er hatte stramm wie ein alter Meister aus den Höhlen des tiefen Asiens gesessen. Er hatte sich nicht einmal erlaubt, seinen Urin abzulassen. Denn er wollte das Ziel erreichen. Aber er spürte, wie er verkrampfte. Das war kein gutes Zeichen. Auch sein Körper signalisierte ihm, dass seine Batterien leer waren. Das Gähnen kam, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Er kippte einfach nach hinten, obwohl ihn die Schwerelosigkeit auffing. Dann kam der Schmerz seiner Knie. Obwohl er seit Jahren meditierte, gab es immer noch körperliche Grenzen.
Es war Zeit, seinem Körper neue Energie zu geben. Er holte seine Schlafbrille raus und setzte sie auf den Kopf. Die Sonne ging im All öfter auf und unter als auf der Erde. Dann entrollte er seinen Schlafsack und befestigte ihn an den Halterungen in der Wand. Er bugsierte seinen Schlafsack in die Halterung und setzte sich die Schlafbrille auf die Nase. Seitdem er im Weltraum war, hatte er sehr intensive, fast luzide Träume. Bisher waren sie alle profan gewesen, aber in den letzten beiden Nächten hatte sich etwas verändert. Er war mit einer Grundstimmung aufgewacht, als ob ihn etwas Tiefes auf der anderen Seite seines Bewusstseins erwartete.
In einer kleinen Tasche im Schlafsack steckte eine Mala. Er fischte sie heraus. Dann legte er sich auf die Seite und rezitierte eine alte Gatha. Er senkte die Mala und begann das Mantra des Bhaisajyaguru zu rezitieren. Schon die ersten Silben lösten die Bindungen an seinen Körper. Er spürte, wie sein Geist begann die irdische Welt loszulassen. Im nächsten Moment war er wieder woanders.
Er wanderte. Er fiel in ein bodenloses Loch. Sogar ein Ozean breitete sich vor seinen nackten Füssen aus, während Wellen auf dem weichen, weißen Sand eines unbekannten Strandes spielten. Dann flog er mit den Wolken. Von einer luxuriösen Villa sprang er zu einem Slum mit Leuten, deren Persönlichkeit vom Fentanyl gebrochen worden war. Elend reihte sich an grenzenlosen Wohlstand. Einen Moment später stand er in einem kleinen Raum mit vielen Hühnern, die kreischten, während er, wie von einer unsichtbaren Hand gesteuert, sich ein Huhn nach dem anderen griff und ihnen den Kopf mit einem riesigen Hackbeil abschlug.
Er sah sich, wie er aus der Gebärmutter flutschte und in Sekunden zum Mann reifte. Dann war er plötzlich wieder in seiner kleinen Kapsel. Aber sie war anders. Alles in ihr war schwarz angemalt. Auch er trug schwarze Kleidung und die Mala in seiner Hand war aus verbotenem Elfenbein. In jede einzelne Perle war ein Totenkopf geschnitzt.
Eine dunkle Stimme waberte in seinem Kopf und als er mit seiner Zunge über seine Zähne glitt, spürte er metallische Aufsätze. Er drehte sich zur Seite und betrachtete sein Spiegelbild in einer polierten Metalloberfläche. Auf seinen Zähnen glänzte es golden. Mit Grauen fuhr er sich über das teure Gebiss. Er stieß sich ab und flog zum Bullauge der Kapsel. Innerlich war er froh, dass die Erde noch da war. Erst dann sah er die Unterschiede. Es gab kein Grün mehr. Dort, wo die alten Urwälder sein sollten, die einst mit großer Anstrengung vor der Abholzung gerettet worden waren, sah es braun und grau aus.
Plötzlich pochte eine Stimme in seinem Kopf. Es war nicht seine Stimme, aber er wusste, was es war. In seinem Kopf steckte ein Mentalchip, wie er einst verboten worden war, nachdem China damit versucht hatte, Agenten zu rekrutieren. „Der Sieg heilt. Kampf um jeden Preis. Wir sind der Sturm und werden alles erobern!“ Wie ein Mantra hämmerte der Slogan immer wieder in seinem Kopf. Er versuchte, sich zu wehren, aber sein Gehirn begann zu schmerzen.
Der Schmerz wurde mit jeder Silbe schlimmer. Er begann, sich gegen den Kopf zu schlagen. Aber es half nichts. Es stach ganz tief in seinem Kopf, bis er sich gezwungen sah, mitzusprechen. Im selben Moment hörte der Schmerz auf. Tatsächlich wirkte es so, als würde sich ein feines Opiat in seinen Synapsen ausbreiten.
Zweimal sprach er den Slogan mit. Dann übergab er sich. Die Worte widersprachen dem Ruf seines Herzens. Was er sagte, war krank. Aber im selben Moment kehrte der stechende Schmerz zurück und er war stärker als zuvor. Er fiel zu Boden und hielt sich schmerzverzerrt den Kopf fest. Doch erst als er wieder mitsprach, hörte es auf. Doch dann ertönte ein schrilles Kreischen.
Müde und verschwitzt schlug er die Augen auf. Seine Robe war wieder blau. Er realisierte, dass das Kreischen der Funk von der Erde war. Er nahm den Anruf an. Scheinbar waren seine Werte während des Schlafs so abgesackt, dass unten im Terminal die Alarmglocken angegangen waren. Er gab Entwarnung. Er bestätigte, dass alles okay war. In Wahrheit hatte er noch immer das beklemmende Gefühl in seinem Kopf. Denn der Traum wirkte noch sehr lebendig nach.
Er war das glückliche Ergebnis seiner günstigen Umstände. Wenn einige Dinge in seiner Jugend anders gelaufen wären, hätte auch er vom Tugendpfad abkommen können. In diesem Moment begriff er, wie nah dran er gewesen war. Es war zum Glück nicht eingetreten, obwohl er gute Freunde von damals hatte, die nicht so klug gewesen waren. Sie waren auf die schiefe Bahn geraten und einige von ihnen waren lange tot, weil Alkohol und Drogen oder irgendwelches Metall sie aufgefressen hatte.
Zuerst krabbelte er aus dem Schlafsack. Dann stieß er sich ab in Richtung Bullauge. Er sah auf die Erde. Sie war wunderschön. Mittlerweile hatten die Weltraumteleskope die halbe Milchstraße abgesucht, aber noch immer hatten sie kein Lebenszeichen gefunden. Es war wirklich möglich, dass dieser kleine Planet der einzig Belebte in der gesamten Galaxie war.
Es war traurig, wie sehr die Menschen ihre Heimat zerstörten. In ihrem Wahn hatten sie den Großteil ihrer irdischen Ressourcen fast aufgebraucht. Der Hauptgrund, warum es mittlerweile so erschwinglich war, eine Kapsel ins All zu schicken, lag daran, weil die Konzerne immer mehr in die Raumfahrt investierten, weil sie hofften so Rohstoffe erschließen zu können. Dabei gab es in den Schubläden, Blogs und Dateien heilsame Lösungen für jedes Problem da unten. Nur umsetzen wollte sie niemand, weil es billiger und einfacher war, einfach alles auszubeuten und die Natur zu zerstören.
Plötzlich tauchte ein blauer Schleier auf. Zuerst bemerkte er ihn nicht. Doch dann wurde er weniger transparent. Er rieb sich die Augen. Wer so viel Fokus auf die Farbe Blau legte, konnte schnell mal etwas sehen, dass nicht da war. Doch es war da; egal, wie sehr er sich die Augen rieb. Er stieß sich ab, bis er die Konsole erreichte, die rechts neben dem Bullauge angebracht war. Er drückte eine Tastenkombination und im nächsten Moment sprang der kleine Bildschirm mit der Außenkamera an.
Zu seinem Erstaunen war der blaue Schleier auch dort zu sehen. Er fragte seinen AI-Assistenten nach einer Farbanalyse, als auch er die Farbe Blau nannte, stieß er sich wieder ab und schwebte zurück zum Bullauge. Der blaue Schimmer war dichter geworden. Da war etwas an ihm, das nicht natürlich wirkte. Plötzlich wurde ihm klar, was anders war.
Der blaue Schleier hatte sich an manchen Stellen zusammengezogen. Dadurch wirkte es immer mehr wie die Form eines fünfzackigen Sterns. Aber es schien nicht das Ende zu sein. Denn die Form wurde immer präziser. Es ähnelte immer mehr der Silhouette eines blauen Menschen. Dann zogen sich die unteren Sternzacken zusammen und er begriff, dass der blaue Schleier sich in die Meditationshaltung begeben hatte. Perplex sah er hin und wusste nicht, was er denken sollte. Auf einmal blitzte es an der Stelle, wo der Kopf der blauen Silhouette war.
Das Licht des kleinen Blitzes traf seine Augen. Es blendete ihn. Aber es fühlte sich anders an. Tausendmal in seinem Leben hatte ihn die Sonne oder irgendwelche Scheinwerfer von heranfahrenden Autos geblendet. Doch in diesem Licht lag eine andere Form von Energie. Er blinzelte und konnte gerade noch durch seine Augenschlitze sehen, wie ein kleiner Lichtblitz auf ihn zuraste.
Verwundert versuchte er, die Augen aufzureißen. Aber es schmerzte. Er nahm seine Hände zu Hilfe und riss sie auf. Da war er wieder. Der kleine Lichtblitz schoss mit irrer Geschwindigkeit auf ihn zu und im nächsten Augenblick durchdrang er die Scheibe des Bullauges. Aus Angst, vom Blitz verbrannt zu werden, riss er sich die Hand vors Gesicht. Dann leuchtete seine Hand, wie als er als kleines Kind immer mit einer Taschenlampe gespielt hatte. Der Blitz traf ihn genau an der Stirn, wo sein drittes Auge saß.
Er wurde zurück in die Kapsel gestoßen. Ungewöhnlich schnell schwebte er nach hinten, bis er am Ende der Kapsel gegen die Rückwand stieß. Seine Augen waren noch immer geblendet. Aber da war noch etwas anderes. Auch wenn er es nur indirekt sah, so spürte er die Energie durch seine Chakren fließen und er spürte, wie die Schlange erwachte.
Sein gesamter innerer Körper war in heiliges Licht getränkt. Er spürte, wie es jede Pore seines Körpers ausfüllte. Es nährte ihn. Seine Muskeln wurden warm und luden sich auf wie eine Batterie. Mehrere Minuten ging dieser Prozess. Er wunderte sich schon, dass die Erde sich nicht meldete, denn sein Körper musste am Limit sein. Dann begann sich das Licht in seinem Herzen zu sammeln.
Es füllte sich gut an und für einen Moment konnte er sich ganz dem angenehmen Gefühl hingeben. Ausgehend von seinem Herzen verbreitete sich ein wohliges Glücksgefühl. Doch dann nahm die Konzentration der Lichtenergie zu. Das Glücksgefühl stieg. Es war wunderbar, doch es erreichte eine Schwelle, die ihn überforderte. Es war eine körperliche Grenze erreicht. Sein Leib war einfach nicht imstande, so viel Glück und Freunde zu empfinden. Er stöhnte laut und im selben Moment begann die Energie zu wandern.
Die intensive Lichtkugel stieg seinen inneren Energiekanal hinauf. Sie wanderte durch die Brust und ließ ihn tief Luft holen. Dann erreichte sie den Hals und er streckte seinen Kopf nach oben, um auszuatmen. Bestimmend erhob sich das Licht in seinen Kopf und ließ ihn jeden Teil seines Schädels spüren. Das Gefühl war wunderbar. Es war, als würde sich ein ganzes Universum vor ihm öffnen und zugleich hatte er den Eindruck, dass diese Energie weit über die Grenzen ihres Weltalls hinausging.
Die Welt des blauen Medizin-Buddhas war sein reines Land. Es lag in fernen Sphären. Niemand wusste, wo es war. Vielleicht lag es in den Weiten dieses Universums oder in einer Welt, die fern von diesem Universum lag. In diesem Moment bekam er das Gefühl, dass die Verbindung, die sich durch das Licht aufgebaut hatte, von außerhalb ihres Universums kam. Vielmehr hatte er keinen Zweifel, denn das Bewusstsein war so rein, dass es nicht von dieser Welt stammen konnte.
Eine Gestalt manifestierte sich in seiner Brust. Instinktiv griff er nach ihr, kam aber nur bis zu seiner Brust. Aber sie war dahinter und nahm den heiligen Lotossitz ein. Es war sein innerer Guru, daran hatte er keinen Zweifel. Er hatte einst Monate in einem kleinen Kloster im besetzten Tibet verbracht. Es war so alt gewesen, dass sie außer ein paar Solarpanels fast nichts aus der Neuzeit besessen hatten. Dort war eine alte Meisterin gewesen, die den Weg der Visualisierung des tantrischen Pfades gelehrt hatte.
Diese große Realisierte hatte ihm alles abverlangt, aber am Ende hatte sich der innere Guru in ihm manifestiert, nachdem sie lange über einen unendlichen Punkt meditiert hatten, in dem grenzenloses Potential enthalten war. Damals war er völlig beeindruckt gewesen. In seiner Studienzeit hatte er kurz eine Freundin gehabt, die ihn zum Drogenkonsum angestiftet hatte. Er erinnerte sich an die extrem realen Halluzinationen, die einige Drogen ausgelöst hatten. Aber die Reinheit der Manifestation des inneren Gurus in diesem abgelegenen Tal in den Höhen des Himalaja war besser. Er hatte sich so real angefühlt und jede seiner Bewegungen hatte sich wie eine echte Bewegung angefühlt.
Doch jetzt war sein innerer Guru in strahlendes Blau gehüllt und er war realer und selbstständiger als jemals in dem kleinen, tibetischen Kloster. Nachdem er seinen Sitz eingenommen und die stabilisierende Atemmeditation beendet hatte, sah er ihn mit stechendem Blick an. Zwar konnte er das Bild nur wie über einen Bildschirm in seinem Geist sehen, aber es war ein so dominanter Blick, dass er schlucken musste.
Der Guru zeigte das Mudra, das als das heilige Mudra des blauen Bhaisajyaguru bekannt geworden war. Er streckte den rechten Arm durch und ließ die Hand offen nach vorne zeigen, sodass die Rückseite der Hand den Boden berührte. Plötzlich wuchs eine Pflanze um seinen rechten Arm. Ihre Blätter strahlten in einem Türkis und dann erschienen die drei legendären Früchte. Anmutig spürte er jede Bewegung des Gurus und der Pflanze, als ob sie seine eigenen wären. Zugleich war da dieses Gefühl, dass sie zu einer fremden Entität gehörten.
Ein Leuchten begann, sich von der Ushnisha des Gurus auszubreiten. Es war innen gelb, aber nach außen hin wurde es zu einem Blau und an den Rändern strahlte es lila. Es nahm immer mehr Raum ein und seine Intensität wurde stärker. Nachdem es seinen ganzen Brustraum ausgefüllt hatte, begann es, sich über seine Gedanken zu legen. Es wurde zu einer zweiten Haut, nur dass sie innen war. Dann verschwand das Bild vor seinen Augen.
Für den Bruchteil einer Sekunde verspürte er Angst, aber der Guru sendete ein Zeichen. Augenblicklich erlangte er sein Vertrauen zurück. Er ließ sich auf die Reise ein und als das Leuchten schwächer wurde, kristallisierten sich die Schemen vor ihm heraus.
Es dauerte einen Moment, ehe er begann zu deuten, was er sah. Der Gegenstand zu seiner Rechten kam ihm sofort bekannt vor, aber es dauerte, bis er begriff, dass er es ganz genau kannte. Es war ein Elektronenmikroskop und erinnerte ihn an sein eigenes Labor. Neben ihm stand eine Zentrifuge und daneben mehrere Geräte zur Diagnostik. Er sah die Laborwagen und die strahlend weißen Kühlschränke. War es sein Labor oder war es das nicht? Vieles war wie bei ihm, aber es fühlte sich anders an. Plötzlich begriff er, was es war.
Er streckte seine Hand in der Vision aus. Zumindest hatte er geglaubt, dass es seine Hand sei. Doch als er nach unten blickte, erkannte er einen blauen Arm. Auch die Haut seiner Finger war in einem himmlischen Blau. Er merkte, wie es ihn unruhig machte, selbst die kleine Figur seines inneren Gurus, die sich in seiner Brust manifestiert hatte, beschleunigte ihre Atmung. Das Bild wackelte kurz und er begriff, dass er sehr schnelle Schritte machte, als wollte er rennen.
Er hielt erst beim Waschbecken an. Es war da, wo es in seinem Labor war, aber dennoch wirkte es anders. Aber das war nicht entscheidend. Der Blick in den Spiegel war das Kuriose. Das war nicht sein Gesicht. Ehrlich gesagt wusste er nicht, wem dieses Gesicht gehörte, obwohl er es genau kannte.
Das Lächeln war einnehmend. Die Zähne strahlten in einem natürlichen Weiß, wie er es noch nie gesehen hatte. Die Lippen waren eine Nuance dunkler als der Rest der blauen Haut. Auch die Locken des Haares waren dunkelblau und auf ihnen thronte eine überweltliche Ushnisha. Sogar die Augen waren blau und kristallklar und sie schauten ihn direkt an, aber nicht wie die Augen eines Menschen, der sich im Spiegel betrachtete.