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Was, wenn die Lust, neu anzufangen, unbändig ist? Wenn sich der brennende Wunsch danach, frei und selbstbestimmt zu leben, nicht länger leugnen lässt? In einem heißen Berliner Sommer driften drei Paare auseinander, werden sich fremd, zu gegenläufigen Strukturen. Im flimmernden Zentrum die schwangeren Körper von Siv, Leyla und Esther – drei Frauen, die sich der Enge ihrer Lebensentwürfe widersetzen und radikal abwenden von einem scheinbar vorgezeichneten Weg. Kraftvoll und zugleich mit einer großen Zartheit zeichnet Verena Güntner widerständige, sinnliche Figuren und erzählt von brüchigen Beziehungen, Schwesternschaft und Aufbruch.
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Seitenzahl: 256
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ein Tag am See, eine Frau geht ins Wasser. Ausbrechen, abbrechen, abtauchen. Ist es Siv, Leyla oder Esther? Die drei sind keine Freundinnen – und doch haben sie eins gemeinsam.
Siv ist Anfang vierzig und mit sich im Reinen: Sie will keine Kinder. Auch dann nicht, als sie überraschend schwanger wird. Jan, mit dem sie in einer offenen Beziehung lebt, erträgt nicht, dass allein Siv darüber entscheidet, wie es weitergehen soll. Leyla und David haben alles darangesetzt, Eltern zu werden. Bis Leyla schwanger wird und unbedingt ihren Körper zurückwill. In Siv findet sie eine unerwartete Verbündete. Auch Esther, Leylas Arbeitskollegin, bekommt ein Kind. Statt ihres Partners Jacob, der sich akribisch auf seine Vaterrolle vorbereitet, nimmt sie Lem zu den Untersuchungen bei der Gynäkologin mit, obwohl sie ihn nur flüchtig kennt. Drei Frauen, die sich den Versuchen der Männer, ihre Körper zu kontrollieren, kompromisslos widersetzen werden. Und die sich dabei näherkommen, als sie es wollten.
Mit literarischer Präzision und abgründigem Humor erzählt Verena Güntner von gesellschaftlichen Beziehungsnormen und dem Versuch, sie zu überwinden. Immer wieder verrutscht dabei die Realität und gibt den Blick frei auf das Absonderliche und Urkomische unserer Existenz.
© Stefan Klüter
Verena Güntner, 1978 geboren, spielte nach ihrem Schauspielstudium viele Jahre am Theater. Ihr Debüt ›Es bringen‹ erschien 2014. Ihr zweiter Roman ›Power‹ wurde 2020 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und 2021 mit dem Schubart-Literaturförderpreis bedacht. Als Teil des feministischen Literaturkollektivs Liquid Center gab Verena Güntner 2024 gemeinsam mit Elisabeth R. Hager und Julia Wolf den Kollektivroman ›Wir kommen‹ heraus. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Verena Güntner
Medulla
Roman
Von Verena Güntner ist bei DuMont außerdem erschienen: Power
Die Arbeit an diesem Roman wurde gefördert durch ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats und durch das INITIAL-Stipendium der Akademie der Künste.
E-Book 2025 © 2025 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44bvUrhG behalten wir uns explizit vor. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Gaeb & Eggers. Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: © plainpicture/Daniel Wimmer Satz: Angelika Kudella, Köln E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck ISBN E-Book 978-3-7558-1132-9
www.dumont-buchverlag.de
Love is only a feelingJoey Bada$$[1]
Believe in life after loveCher[2]
Die verschränkten Arme sind ihre Sense. Sie dreht den Kopf zum Fenster und atmet laut aus. Möwen segeln durchs Bild, sie zoomt sie ran, konzentriert sich auf ihr Gleiten und blendet ihn weg. Vor einer Viertelstunde hat es geklingelt und sie geöffnet, weil sie dachte, es wäre der Paketdienst. Sie hat ihm nichts zu trinken angeboten, sich aufs Sofa fallen lassen und einsilbig auf seine Fragen geantwortet, ihn kein einziges Mal dabei angesehen. Den Kuchen hielt er die ganze Zeit über in den Händen.
»Komm doch nachher zu uns«, sagt er.
»Nein, lieber nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Weil ich nicht will.«
Das Gespräch ist kaputt. Auch ihr Vater spürt das und lässt die Schultern hängen. Sie geht an ihm vorbei zur Wohnungstür, öffnet sie mit einem Ruck und hält sie auf.
»Meinst du nicht, es würde dir guttun?«
»Nein.«
»Deine Mutter würde sich freuen.« Ihr Vater zögert einen Moment. »Wir wären froh, du würdest ihn einmal anrufen, ihm die Chance auf ein Gespräch geben.«
»Noch eins?«
»Er meldet sich auch bei uns.«
»Ich weiß.«
»Jeden Tag.«
Plötzlich misstrauisch hebt sie den Kopf. »Ist er bei euch? Wartet er dort auf mich? Willst du deswegen, dass ich mitkomme?«
»Mir wäre einfach wohler, wenn du heute nicht allein bist.«
»Und mir wäre wohler, du würdest jetzt gehen.«
Sie macht ein Gesicht, das ihm zeigen soll, bei ihr ist nichts mehr zu holen. Es wirkt, beim Rausgehen stellt er den Kuchen auf die Bank im Flur, einen Fünfzigeuroschein legt er daneben.
»Kauf dir was Schönes. Und bitte …«, er dreht sich in der Tür noch mal um, aber sie schüttelt energisch den Kopf.
Als er weg ist, macht sie alle Fenster auf und lässt die schlechte Luft raus, die er dagelassen hat. Sie steigt unter die Dusche, schrubbt sich am ganzen Körper mit einer Bürste ab und wäscht sich die Haare mit Seife, weil kein Shampoo mehr da ist. Dann lässt sie den warmen Wasserstrahl minutenlang über ihren Körper laufen, hält plötzlich inne und lauscht. Das Telefon klingelt. Ohne das Wasser abzustellen, tritt sie aus der Dusche, geht dem Telefon entgegen und zieht eine nasse Spur durch die Wohnung hinter sich her. Das alte Telefon ihrer Eltern mit Wählscheibe und einem Klingeln, das sich einem in den Kopf fräst, steht auf dem Tisch vor dem Fenster.
»Ja?«, sagt sie und kippt in eine Stille, die sie sofort an den Hörer saugt. Tropfgeräusche auf Parkett, die nassen Haare kleben wie Greifarme auf den Brüsten. Sie bleibt dran, lauscht in den Abgrund, legt dann auf. Es klingelt sofort wieder.
»Ja?«
Schweigen. Sie legt auf, fast unmittelbar danach klingelt es erneut.
»Ja?«
Sie legt auf. Klingeln.
»Ja?«
Legt auf. Klingeln.
»Ja?«
Klingeln.
»Ja?«
Klingeln.
»Ja?«
Klingeln.
»JA?«
Sie friert, ein Windstoß durch das geöffnete Schlafzimmerfenster streift ihren blanken Rücken wie ein Schuss.
»Ich habe heute Geburtstag«, sagt sie matt, als würde das etwas ändern. »Bitte, lass es jetzt gut sein.« Lachhaft, ihr Satz! »Ich lege zum letzten Mal auf!«
Die Stille frisst sich durch den Hörer, hängt an ihrem Hals wie ein Kampfhund, der sich verbissen hat. Stundenlang klingelt es weiter, klingelt bis in den Abend und in die Nacht hinein. Es hält sie beide zusammen, dieses Klingeln, ist ihr Gespräch seit Wochen, seit der Trennung, die keine war. Sie schläft erschöpft auf dem Boden ein, die Arme um die Beine geschlungen, ein kühler und kühler werdendes Paket. Das Klingeln mischt sich in ihren Traum, ein Echo aus der wachen Welt ihrer Wohnung, treibt sie vor sich her, die sie in brütender Hitze über ein abgemähtes Feld läuft, das Kind auf dem Arm.
Als sie aufwacht, ist das Telefon stumm. Irgendwann in der Nacht muss er aufgegeben haben. Nicht für lange, da ist sie sicher. Gleich nach dem Aufstehen wird er von Neuem beginnen.
Ihre Glieder sind steif von der Kälte, der Härte der Dielen. Sie rappelt sich hoch, geht ins Badezimmer, trinkt mit offenem Mund und wachsender Gier aus dem Strahl des noch immer laufenden Duschwassers, dreht ab und steigt in die Klamotten von gestern, die in einem Haufen auf dem Boden liegen. Sie geht in die Küche. Seit vierundzwanzig Stunden hat sie nichts gegessen. Der Kühlschrank ist leer, bis auf eine große Fleischtomate, die sie mit drei Bissen verschlingt. Einen kurzen Moment bleibt sie am Fenster stehen und speichert das gewohnte Bild der gegenüberliegenden Hauswand ab. Die Pflanzen auf den Simsen, die halb zugezogenen Vorhänge und ungeputzten Scheiben. Dahinter die Leute in ihren Wohnungen, deren Alltag ihr vertraut ist, ohne dass sie sie kennt; die Streitereien der Kinder, die der Eltern, die Einsamkeit der Einsamen.
In ihren Rucksack passen ein dünner und ein dicker Pullover. Ein Flanellhemd, eine kurze, eine lange Hose, zwei T-Shirts, der Badeanzug und ein Handtuch. Acht Unterhosen und fünf Paar Socken. Eine Regenhaut, eine Mütze, ein großer Schal, der auch eine Decke sein kann. Obenauf legt sie eine Zahnbürste, Zahncreme und einen Plastikbecher, Pflaster, Desinfektionsspray, einen Löffel und ein scharfes Messer. Eine Flasche Wasser. Sie verschnürt den Rucksack und schultert ihn. Noch bevor das Telefon das erste Mal klingelt, schlüpft sie aus der Wohnung. Die Tür bleibt einen Spaltbreit offen, auf dem Wohnzimmertisch ein Zettel, darauf steht: Lasst es bleiben.
Sie kann mit dem Bus fast ganz durchfahren, hat sich oben in die erste Reihe gesetzt. Der Doppeldecker legt Kilometer um Kilometer zurück, die Stadt fadet langsam aus.
Den ganzen Weg vom Bahnhof bis zum See läuft sie zu Fuß, braucht drei Stunden, jetzt dämmert es. Ihren Rucksack stellt sie unter einem Baum ab, legt sich ins Wasser wie ein gestrandeter Wal, behält die Kleidung an. Wale stranden nicht an brackigen Seeufern. Sie weiß das und macht es trotzdem. Am Himmel stehen Wolken, zerpflückt sehen sie aus, wie unecht. Sie taucht ab.
Wasser schießt Siv in die Nase, als sie sich überschlägt. Sie dreht sich wieder und wieder, bis ihr die Luft ausgeht und sie auftauchen muss. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Samstagnachmittag, die feuchte Hölle auf Erden. Die schrillen Stimmen der Kinder prallen auf die Wasseroberfläche und schallen blechern durch die Schwimmhalle. Sie taucht noch mal unter und öffnet die Augen. Mehrere Dutzend zappelnder Beine, dazwischen die ordentlichen Schwimmbewegungen der Rentner*innen, die stoisch ihre Bahnen durch das Gewimmel ziehen.
Hanna sitzt am Beckenrand, die Füße im Wasser. Sie winkt ihr zu, will gehen.
»Jetzt schon?«
Statt zu antworten, steht Hanna auf und läuft zu den Duschen. Siv zieht sich am Beckenrand hoch und folgt ihr langsam.
Durch den viel zu harten Strahl reichen sie sich Shampoo und Duschgel hin und her. Schauminseln treiben auf den Kacheln Richtung Abfluss. Siv gibt dem Drang zu pinkeln nach und lässt es laufen. Hanna macht es ihr nach. Breitbeinig stehen sie da, lachen laut, als ein kleiner Junge, die Taucherbrille noch auf der Stirn, zu seiner Mutter läuft und entrüstet mit dem Finger auf sie zeigt.
Auf dem Weg nach Hause halten sie sich an den Händen. Hanna raucht, ab und an steckt sie auch Siv die Zigarette in den Mund. Seit sie aufgehört hat, genießt Siv das leichte Kratzen im Hals, den intensiven Tabakgeschmack, der sie daran erinnert, wie das Rauchen schmeckte, als sie als junges Mädchen damit anfing. Damals, sie war vierzehn, schloss sie sich im Badezimmer ein, sobald ihre Eltern das Haus verlassen hatten, zog sich Hose und Unterhose aus und hielt sich die Duschbrause zwischen die Beine. Danach zwängte sie sich aus dem winzigen Fenster über dem Waschbecken und kletterte aufs Flachdach, zündete sich eine Camel an, empfing den wohligen Schwindel und schnippte die Asche über die Regenrinne in die Tiefe.
Hanna nimmt ihr die Zigarette wieder ab und läuft rückwärts vor ihr her. Sie trägt schwarze Jeansshorts und Schnürstiefel ohne Socken. Siv muss an die verhornte Stelle an Hannas rechter Ferse denken, die sie so gerne anfasst.
»Kommst du noch mit zu mir?«, fragt Hanna und legt den Kopf schief.
Im Treppenhaus laufen sie an Hannas überquellendem Briefkasten und der getigerten Katze aus dem ersten Stock vorbei, der Hanna mit großer Zärtlichkeit über den Rücken streicht. Dabei schaut sie Siv an, als gelte die Streicheleinheit nicht nur der Katze, sondern auch ihr.
Die Matratze liegt unter dem geöffneten Fenster, eine der beiden Bettdecken ist bezogen. Hannas Haut riecht nach Chlor, ist fast weiß. Siv drückt ihr Gesicht in Hannas Bauch, saugt an ihrem Nabel.
Danach schiebt ihr Hanna ein Kissen zwischen die Beine, um sie abzutrocknen, und greift nach der Sprudelflasche, die neben dem Bett steht.
»Mach mal den Mund auf«, sagt sie und Siv dreht sich auf den Rücken. Hanna trifft nicht genau, das Wasser läuft Siv links und rechts aus den Mundwinkeln, den Hals runter und sickert ins Laken.
»Ich hab zurzeit dauernd Durst«, sagt Hanna, beugt sich über Siv und steckt ihr die Zunge in den Mund, schlürft Minischlucke.
»Wie spät ist es denn?«, fragt Siv und stützt sich auf.
Hanna lehnt sich aus dem Bett, öffnet ihr Notebook und hält es ihr hin.
»Ich muss los.« Siv sammelt ihre Anziehsachen ein, die im Zimmer verstreut auf dem Boden liegen. »Ich hab Jan versprochen, dass ich diesmal mit ins Theater gehe.«
»Du hasst doch Theater.«
»Ja, aber er halt nicht.«
Hanna lacht, sitzt an die Wand gelehnt, den Rechner auf dem Schoß, sie tippt.
»Schreibst du alles von heute auf?«
»Alles, ja.«
»Auch das gerade.«
»Ja, natürlich.«
»Das muss ich aber noch absegnen.«
»Auf keinen Fall segnest du das ab. Ist doch nur für mich.«
Hannas Tagesblätter. Sie schreibt an ihnen, seit sie vierzehn ist, hält täglich fest, was passiert, ihr passiert. Sie hat einen Schrank voller Notizbücher aus der Zeit, bevor sie einen Rechner besaß. »Keine Tagebücher, eher eine Manie. Die obsessive Chronik meiner Existenz«, sagte sie zu Siv, als sie das erste Mal bei ihr war.
»Ich würde so gerne mal darin lesen.«
»Ja, das denke ich mir.« Hanna klappt demonstrativ den Rechner zu. »Wenn alles fertig ist.«
»Wann wird das sein?«
»Natürlich nie.« Sie kratzt sich am Busen, und Siv beugt sich zu ihr runter, küsst sie zwischen die Augenbrauen. Im Türrahmen dreht sie sich noch mal um. Hanna hat die Decke weggeschlagen, sitzt mit gespreizten Beinen da und schaut auf einen blutigen Fleck auf dem Laken.
»Warte.« Siv läuft ins Bad und kommt mit einem Tampon wieder. »Halt still«, sagt sie und schiebt ihn vorsichtig rein.
»Danke, sehr freundlich«, sagt Hanna und lehnt sich mit herausforderndem Blick an die Wand.
»Leider muss ich zu Kleist.«
Jan steht rauchend am Eingang. Er trägt einen etwas zu knappen Anzug in Mauve, seine Loafer mit fliederfarbenen Socken.
Siv lacht. »Ist heute Premiere?«
»Du kommst ganz schön spät.«
Jan nimmt Theater sehr ernst. Er hat Jahresabos für drei der großen Häuser in Berlin, auch wenn er nur ein Drittel der Vorstellungen schafft.
»Los jetzt!« Er wirft seine Zigarette weg und hält ihr ungeduldig die Tür auf.
Im letzten Moment huschen sie in den Saal, schlängeln sich umständlich durch ihre Reihe, genervtes Schnauben der schon Sitzenden.
»Verzeihung«, murmelt Jan und quetscht sich mit rotem Kopf in seinen Sessel.
Es wird dunkel, und Jan atmet erleichtert aus. Siv lehnt ihren Kopf an seine Schulter, stimmt in seinen Atemrhythmus mit ein und lässt das Stück unbeteiligt an sich vorbeitreiben.
In der S-Bahn auf dem Heimweg sitzt Siv auf Jans Schoß. Sie flüstert ihm ins Ohr, erzählt vom Nachmittag mit Hanna, jedes Detail, spart nichts aus. Jan, der nickt, seine Hand dabei auf ihrem nackten Oberschenkel. Der wegen des Tampons grinst und sagt, »das hast du von mir!« Zu Hause wünscht sie sich Tomatensalat, duscht, während er ihn zubereitet. Schüttelt, das Badetuch noch umgewickelt, lachend den Kopf, weil er zusätzlich Garnelen angebraten hat, mit Zitrone, Chili und Knoblauch. Beim Essen lästern sie über die Inszenierung, Lars Eidinger und den schlechten Prosecco. Als Jan sich den Mund mit einer Serviette abwischen will, beugt sie sich zu ihm rüber und leckt ihn mit der Zunge sauber.
»Danke für diesen Service.« Er lehnt sich ein Stück zurück.
»Bist du müde?«
»Ein bisschen. Ist das schlimm?«
»Nein«, sie streichelt sein Gesicht. »Gar nicht.«
Als er aufstehen will, hält sie ihn fest.
»Komm, wir lassen alles stehen und gehen schlafen. Ein einziges Mal. Die Brösel nicht wegwischen. Nichts abspülen. Alles eintrocknen lassen. Trau dich!«
Jan stöhnt. Sie sind ihm eingeschrieben, die vielen Jahre in der Küche: Ordnung und Kontrolle. Er verzieht gespielt gequält sein Gesicht.
»Na gut«, sagt Siv, und er springt auf, erledigt alles in Windeseile.
»Freust du dich auf morgen?«
Jan verdreht die Augen.
»Gar nicht?« Sie lacht wieder. »It’s just a number, darling.«
Im Bett liegen sie dicht beieinander. Wenn er früher nachts nach Hause kam, sog Siv den Geruch der Speisen ein, die er im Restaurant zubereitet hatte und der an seinen Haaren haftete. Sie riet. »Steinbutt mit Meerrettichcrème? Nein, warte … Dorade!« Jan machte mit, nickte oder schüttelte den Kopf, und Siv pflügte mit der Nase durch seine dunklen Locken. Jetzt streicht sie mit der Hand über seinen kahl geschorenen Schädel, schnuppert daran, forscht nach Zitronen und Knoblauch, nach Schärfe, aber nichts. Sie lässt sich ins Kissen zurückfallen und schläft ein.
Siv, die träumt, die Jan, der nie träumt, am nächsten Morgen von ihrer Nacht erzählen wird, alles ausschmücken, Dinge dazuerfinden wird. Atemlose, wilde Traumgeschichten, die Jan gierig in sich aufnehmen, an denen er sich berauschen wird, als wären es seine eigenen. Er sauge sie aus wie ein Vampir, behauptet Siv manchmal, und er gibt es ohne Umschweife zu, denn beide wissen, dass er an ihrer Energiestrom-Nadel hängt. »Ich bin die Mistel deines Lebens«, sagt er dann und versucht, seinen Körper zu einem kugeligen Mistelbusch zu formen, wie sie überall an den Bäumen im Viktoriapark hängen. Schon immer ekelt er sich vor ihrem Anblick. Sie lachen darüber, Misty nennt sie ihn, weil sie findet, das passe auch sonst sehr gut zu ihm. »Nicht ganz durchsichtig, das bist du.«
Die Rocket Epica-Kaffeemaschine glänzt in der Morgensonne wie ein frisch polierter Wagen. Jan hat den ganzen Vormittag mit der Pflege seines Lieblingsküchengeräts verbracht. Die beiden Edelstahlkessel entkalkt, mit einer filigranen Bürste auch feinste Ritzen von Kaffeepulver befreit und die Siebträger mehrfach durchgespült, zum Schluss das Farbdisplay vorsichtig mit einem Brillentuch gereinigt. Zufrieden bereitet er nun seinen ersten Espresso zu. Siv ist schon aus dem Haus, hat sich gegen sieben aus dem Bett geschlichen und eine riesige Spreewaldgurke auf dem Küchentisch hinterlassen, in der eine pinkfarbene Kerze steckt, die Packung Streichhölzer liegt direkt daneben. Jan hat eine Schwäche für Essiggurken und zieht sie jedem Stück Kuchen vor. Schlecht eingelegte Gurken nimmt er deshalb persönlich und hat immer mehrere Gläser im Kühlschrank, die er ausschließlich in Feinkost- oder Hofläden kauft.
Er setzt sich an den Tisch, zündet die Kerze an, prostet sich selbst mit der Espressotasse zu und legt die Füße auf einen Stuhl. Der Blick durch das Panoramafenster zeigt einen bedeckten Himmel, was ihn ärgert, weil er sich diesen Tag immer sonnig vorgestellt hat. Er bläst die Kerze aus und greift mit beiden Händen nach der Riesengurke. Herzhaft beißt er hinein. Sie ist saftig und spritzt, auch in den letzten Schluck Espresso, was er seufzend zur Kenntnis nimmt. Er schiebt die Tasse zur Seite, sein Blick fällt auf sein Telefon. Erste Nachrichten sind eingetrudelt, Herzchen, Feuerwerk, Luftballons, on-fire-Emojis. Er überfliegt die Glückwünsche, bemerkt an sich eine leichte Enttäuschung über die wenig einfallsreichen und unpersönlichen Formulierungen, auch darüber, dass niemand angerufen hat, und steht auf. Unter der Dusche holt er sich unmotiviert einen runter, stutzt anschließend seine Schamhaare mit einer Nagelschere und sprüht den Körper mit einem Meersalz-Bodyspray ein, das ihn mehrmals hintereinander niesen lässt. Auf dem Weg zum Schlafzimmer checkt er noch mal sein Smartphone, aber außer einem GIF mit einer brennenden Geburtstagstorte, das eine seiner Azubis geschickt hat, ist nichts gekommen. Im Schlafzimmer steht er unentschlossen vor dem Kleiderschrank, zieht Leinenhemden und dünne Sommerpullover heraus, streift sie über und betrachtet sich im Spiegel. Nichts sitzt so, wie es sitzen soll. Er will Lässigkeit und beiläufige Eleganz ausstrahlen, stattdessen zeichnet sich in allem deutlich sein Bauch ab, er sieht blass und kränklich aus. Er spürt einen kurzen Anflug von Verzweiflung, kämpft das Gefühl nieder und schaut auf die Uhr. Ob er noch einen Abstecher zum Shoppen nach Mitte schafft, überlegt er, verwirft den Gedanken aber sofort wieder und greift nach seinem nachtblauen Samtanzug von Herr von Eden, für den er schon viele Komplimente bekommen hat und der für diese Jahreszeit eigentlich zu warm ist. Als er sich gerade ein cremefarbenes Baumwoll-Shirt über den Kopf ziehen will, klingelt sein Telefon. Es ist Ellen. Sie beginnt, Happy Birthday zu singen, aber Jan würgt sie nach den ersten Tönen ab.
»Soll ich doch schon kommen?«
»Nein, Siv und ich haben alles im Griff.«
»Wäre kein Problem.«
»Mach doch mal was nur für dich.«
Schlecht gelaunt legt er auf.
Mit einem neuen Espresso geht er ins Arbeitszimmer und öffnet das Notebook. Er liest ein paar Zeilen, die ihn sofort langweilen, und schlägt es wieder zu. Seit einem halben Jahr arbeitet er an seinem Memoir. Er hat noch keinen Verlag dafür, über eine befreundete Bestseller-Autorin, die seit Jahren mehrmals im Monat im Leppert speist, aber den Kontakt der Chefin einer bekannten Literaturagentur bekommen, der er die Idee vom Buch vor einigen Wochen gepitcht hat und die sich interessiert gab, einen längeren Auszug zu lesen, sobald er so weit ist. Wann genau das sein soll, ist ihm nicht ganz klar, und je öfter er darüber nachdenkt, desto unwahrscheinlicher erscheint ihm, dass dieser Moment irgendwann kommen wird.
Zwei weitere Espressi später macht sich Jan auf den Weg. Die Sonne ist rausgekommen, trifft ihn unvermittelt, als er aus der Haustür tritt. Das Sakko über dem Arm, geht er in der brütenden Nachmittagshitze ein Stück die Dudenstraße entlang, schaut sich immer wieder nach einem Taxi um, winkt schließlich eines heran. Er bittet den Fahrer, die Musik lauter zu stellen, kippt sich eine halbe Packung Minz-Tic-Tacs in den Mund und lutscht an den kleinen Pillen herum, während der Berliner Westen zu 90er-Jahre-Eurotrash-Bässen an ihm vorbeizieht. Er legt entspannt den Kopf zurück.
»Kann ich hier rauchen?«
Auch der Fahrer zündet sich eine an, und sie kommen ins Gespräch. Das Übliche, Wetter und Verkehr, die Konkurrenz durch Uber, Lokalpolitik.
»Ich hab heute Geburtstag«, sagt Jan, als eine Pause entsteht.
»Echt?«
»Ja, wir fahren gerade zu meiner Party.«
Der Fahrer pfeift. »Glückwunsch! Wie alt?«
»Was denkst du?«
»Keine Ahnung.« Er mustert ihn über den Rückspiegel, grinst. »Dreißig?«
»Pfff«, macht Jan, und dabei strömt Qualm aus seiner Nase.
»Ich will nix Falsches sagen, Meister.«
Jan hält eine Hand hoch, spreizt die Finger.
»Fünfzig? Respekt! So alt will ich auch mal werden.«
Jan lacht. »Ach, ich weiß nicht.«
»Kein gutes Alter?«
Statt zu antworten, zerkaut er Tic Tacs. »Was hast du noch vor?«, fragt er zurück.
»Heute Abend?«
»Nee, ich meine generell. Was willst du eigentlich machen?«
Der Fahrer versteht nicht.
»Im Leben.«
»Das hier.«
»Taxifahren?«
»Ja, klar.«
»Macht dir Spaß?«
»Warum?«
»Nicht?«
»Doch.« Der Wagen auf der Nebenspur kommt gefährlich nahe, und der Fahrer haut fluchend auf die Hupe. »Ist eben Arbeit.«
»Was kommt denn monatlich so rein?«
»Ach, na ja.«
»Willst du mal Familie?«
»Hab ich schon.« Der Fahrer klappt die Blende runter. Ein Foto klemmt dahinter. »Meine Jungs, drei und sechs.«
Jan beugt sich nach vorne. Die beiden tragen identische Shirts und Hosen, im Mund jeweils eine dicke Plastikzigarre. »Und deine Frau?«
»Keine Frau.«
»Ach so?«
»Lange Geschichte«, sagt er und klappt die Blende wieder hoch.
Sie halten vor dem Laden. Jan gibt ihm drei Zwanziger. »Stimmt so.«
Der Fahrer pfeift durch seine Zahnlücke. »Übertreib’s nicht! Hab ich heute Geburtstag oder du?«
»Wie lange fährst du noch?«
»Bis Mitternacht.«
»Komm vorbei hinterher. Bist eingeladen.«
»Daraus wird nix.« Der Fahrer tippt auf die Blende. »Treib’s nicht zu wild, mein Freund.«
Im Leppert zieht der Kartoffelsalat in riesigen Glasschüsseln, während Risotto und Suppe, verteilt auf mehrere Töpfe, auf dem Herd köcheln und die Hühnchen in Zitronensauce in großen Brätern im Ofen garen. Jan schaut Ellen über die Schulter, die vor sich hin seufzt.
»Ich ändere die Sitzordnung jetzt schon zum fünften Mal.«
»Von mir aus können alle sitzen, wo sie wollen«, sagt Jan, lehnt sich über den Tresen und zapft sich von hinten ein Bier. Er geht zu Siv, die am Kopfende der langen Tafel telefoniert.
»Die Blumen kommen nicht rechtzeitig. Der Lieferwagen ist liegen geblieben. Ich hole schnell einen Strauß vom Blumenladen die Straße runter.«
Sie will aufstehen, aber Jan hält sie am Arm fest.
»Bitte, bleib.« Er setzt sich neben sie, vergräbt seinen Kopf in ihrem Schoß.
»Oje«, sie krault seinen Nacken. »Wirst du jetzt doch sentimental?«
»Natürlich. Gehört sich das nicht so zum Ende einer Ära?«
»Welcher Ära genau?«
»Der Jugend?«
»Der verlängerten Jugend meinst du?«
»Okay, der unverantwortlich in die Länge gezogenen Jugend.«
»It’s about time, Misty.«
»Für was?«
»Reife. Vernunft. Yoga!«
Jan stöhnt auf, lässt seinen Stuhl nach hinten umkippen und gleitet zu Boden. Siv beugt sich über ihn und kneift ihm in die Backe. »So groß ist er geworden. Unverantwortlich groß.« Sie steht auf. »Ich hol jetzt diesen verdammten Strauß.«
»Nein«, Jan krallt sich an ihrem Bein fest. »Bitte nicht. Billige Schnittblumen, ein ökologisches Debakel!«
Siv macht sich los, schnappt sich ihre Tasche und verlässt den Laden. Jan bleibt auf dem Boden sitzen, angelt das Bierglas vom Tisch und schaut zur Tür, durch die in diesem Moment David kommt, Leyla dicht hinter ihm.
»Sind wir die Ersten?«
»Wie immer«, er prostet den beiden zu, zieht das Bier in wenigen Schlucken runter und hievt sich hoch.
Glückwünsche, Umarmungen. Jan tritt einen Schritt zurück, mustert die beiden, lobt Leylas Outfit, einen fliederfarbenen, weit geschnittenen Leinenanzug zu beigen Lederhalbschuhen. »Alles von Hanna«, wehrt Leyla sein Kompliment ab, und Jan schaut zu David, der ein weißes V-Neck, schwarze Bootcut-Jeans und Sneaker trägt.
»So jugendlich heute«, sagt Jan und packt David um die Hüfte. »Ist das schon die Midlife-Crisis, die mir noch bevorsteht?«
Er boxt David gegen die Schulter, legt den Arm um ihn und führt ihn in die Küche, während Leyla Ellen begrüßt.
Jan hebt einen Topfdeckel an, fächelt David mit der Hand den Dampf zu, der anerkennend nickt und nach einer kleinen Portion Kartoffelsalat verlangt.
»Mit Salatgurke, interessant. Rezept deiner Eltern?«, fragt er kauend.
»Ja, alles heute Abend. Nur die veganen Sachen nicht.«
»Wie viele Leute kommen denn?«
»Keine Ahnung. Frag Siv. Oder Ellen!« Er nimmt ihm die Schüssel aus der Hand, löffelt schmatzend den Rest aus, und geht zur Schwingtür, lugt durch das eingelassene Fenster. Das Leppert füllt sich. Freund*innen und Bekannte, alle herausgeputzt, einige, die er lange nicht gesehen hat, manche, die er lieber noch länger nicht gesehen hätte. Der plötzliche Drang, sich heimlich zu verabschieden, durch die Hintertür zu verschwinden, diesem Abend davonzulaufen. Stattdessen stößt er die Tür auf, ruft: »Was zur Hölle wollt ihr denn alle hier? Ihr seid doch viel zu jung für mich!«
Als die Gäste sitzen, steht Jan auf. »Ich hoffe, niemand hat eine Rede vorbereitet?« Er schaut mahnend in die Runde, zeigt mit dem Finger von einem zum anderen, Lachen, Kopfschütteln, Ellen, die abwehrend die Arme hebt. »David, du?«
»Ich bitte dich!«
»Gut, dann bin ich beruhigt. Also Leute, wir machen ganz normales Abendessen. Bisschen was trinken, bisschen unterhalten, auf den Toiletten rummachen auch in Ordnung, wer will, aber nicht ausflippen, ja? Bitte keine Ständchen und nix Selbstgedichtetes. Ich freue mich einfach, dass ihr euch alle in dieses mediokre Speiselokal begeben habt.«
An dieser Stelle pfeifen einige Gäste.
»Okay, okay, sagen wir dank Ellen und meinem fantastischen Team in ein ganz passables Fast-Sterne-Lokal begeben habt, zu diesem wenig spannenden Anlass. Und jetzt«, ruft er und haut auf den Tisch, »esst, Freunde, werdet satt und bleibt nicht zu lange. Ich brauche ab heute viel mehr Schlaf, wie ihr euch vorstellen könnt.«
Er macht eine kleine Verbeugung, die Runde klatscht, und Siv, die am anderen Tischende sitzt, zwinkert ihm zu.
Der Rest des Abends perlt dahin wie die zwei Dutzend Flaschen Crémant, die die Kellner*innen ohne Pause in die Gläser der Gäste füllen. Über der Szene abgestandene Hitze, die die Gesichter rot glänzen lässt. Jan hat sich ein Stück abseits gesetzt, spürt, wie die Nässe seiner Achseln das Shirt durchdrungen hat, sich ins Futter des Sakkos frisst. Er ist zu eitel, es auszuziehen, fächert sich stattdessen mit der Weinkarte Luft zu und beobachtet die Runde. Geöffnete Blusen, aufgekrempelte Hemdsärmel, angetrunkenes Gekicher. Er ist zufrieden, ohne genau zu wissen, weshalb. Siv, die auf Hannas Schoß sitzt, die Arme um ihren Hals geschlungen, mit ihr flüstert, die Augen leicht glasig vom Alkohol, das Lachen, das sie nur bei ihr benutzt. Hanna, die sich ihm zuwendet, ihr Glas in seine Richtung hebt. Ihr gegenüber Leyla, die die Haare mit einer Gabel festgesteckt hat, an Davids Schulter gelehnt zu dösen scheint.
»Mach doch mal eins auf«, ruft David plötzlich, der seinen Blick wahrgenommen hat.
Jan räuspert sich. »Was meinst du?«
David und einige andere zeigen auf die Geschenke, die sich neben ihm auf dem Tresen stapeln.
Jan stöhnt.
»Ja, bitte!«, sagen Siv und Hanna gleichzeitig.
Er wendet sich widerwillig dem Haufen zu, fischt eines heraus. Eine vergriffene Ausgabe des Gourmand-Magazins, die ihm noch in seiner Sammlung fehlt.
»Oh, wow! Die Burger-Ausgabe. Ellen, die ist von dir, oder?«
Ellen nickt verlegen.
»Und was ist das?« Jan packt eine Vinyl aus. »Natürlich von dir.« Er zeigt auf Siv und zieht die Mundwinkel traurig nach unten. »Der wäre auch fünfzig geworden nächstes Jahr.« Er hält die Platte über sich und schließt die Augen. »Kurze Schweigeminute für Tomcraft, bitte.«
Die Gäste senken ihre Köpfe.
»Weiter geht’s«, sagt Jan schon im nächsten Moment und klatscht in die Hände. Er greift nach einem weiß eingeschlagenen quadratischen Paket. Ein Bilderrahmen kommt zum Vorschein.
»Oh«, sagt David und reibt sich nervös über die Stirn.
»Ist das von dir?«
Er nickt.
Jan betrachtet das Bild eingehend.
»Soll ich das sein?«
David zuckt unentschlossen die Schultern, während Leyla ihm die Hand auf den Arm legt.
»Ich dachte für hier«, sagt er leise. »Oder für zu Hause. Oder gar nicht.« Er lacht, nimmt einen großen Schluck Rotwein und verschluckt sich, muss husten. Leyla klopft ihm schnell auf den Rücken.
»So siehst du mich also?« Jan schaut ihn ernst an. »Muss ich mir Sorgen um meine Gesundheit machen?«
David wird von einem neuen Hustenkrampf geschüttelt, kann nichts erwidern.
»Ich mach doch nur Spaß«, sagt Jan und wirft das Bild mit der Vorderseite auf den Tresen. Er schaut sich um. »Kann mal wer unserem sensiblen Künstler ein Glas Wasser bringen?«
Eine Mitarbeitende eilt herbei.
Jan gießt sich Wodka nach. »Noch eins?«, fragt er, wendet sich von David ab und der Runde zu und schlägt die Beine übereinander. Zustimmendes Johlen. Er schält ein Glas mit schwarz glänzenden Kugeln in Murmelgröße aus blassgrünem Seidenpapier.
»Was ist das?«
»Lakritz.«
Das war Esther, die, eine kleine Wasserflasche in der Hand haltend, neben Leyla sitzt. Bis auf die kirschroten Lippen ist sie ungeschminkt, trägt die rotblonden Haare straff zurückgebunden und ein weißes weites Männerhemd, das bis oben zugeknöpft ist. Sie ist die Einzige, die ihm noch nicht gratuliert und kein Wort über das Essen verloren hat. »Schwarze Juwelen der Lakritzkunst«, sagt sie mit einem ironischen Unterton.
»Dänische«, fügt Jacob hinzu, der ganz in Schwarz gekleidet ist und an einer Saftschorle nippt.
»Aha«, macht Jan und bedankt sich. »Moment mal, wer hat euch eigentlich eingeladen?«
Gelächter.
Jan wiegt das Glas in seinen Händen. Jede*r weiß, dass er Lakritz hasst. Er hält lächelnd Esthers Blick, als er es mit einem lauten Plopp öffnet und sich eine der Kugeln lässig in den Rachen wirft. »Sehr fein«, sagt er lutschend, kaut, verzieht das Gesicht und reicht das offene Glas in die Runde. »Bedient euch, Freunde.«
Er schaut zu Siv, die sich ein Lachen kaum verkneifen kann. Sie hat die beiden nur auf die Gästeliste gesetzt, um Leyla zu ärgern, die sich den ganzen Abend angestrengt mit Esther über Arbeitsthemen unterhalten hat und dabei aussah, als wäre sie lieber woanders.
»Noch eins, noch eins, noch eins«, rufen einige.
Jan sinkt im Stuhl zusammen, führt eine Hand zum Herz. »Jetzt reicht’s, Leute. Ich muss mich erholen. Ihr habt mich mit euren reizenden Gaben ganz erschöpft.«
Er winkt Ellen, die ihr Gespräch mit Hanna unterbricht und zu ihm kommt.
»Macht Siv noch Musik?«
»Nein.«
»Nicht?«
»Sie hat Lem gefragt.«
»Lem?«
»Der Neue. Er hat sowieso gleich Schluss.«
Jan kippt den Rest Wodka und steht schwankend auf.
»Ach, der.«
