Meer der Tusche - Richard Weihe - E-Book

Meer der Tusche E-Book

Richard Weihe

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Beschreibung

Über den wohl einflussreichsten chinesischen Maler und Kalligraphen, Bada Shanren, ist nur wenig überliefert. 1626 als Prinz der kaiserlichen Familie geboren, erlebte er bald den Untergang der uralten Ming-Dynastie. Von da an studierte Bada die Stille, die Natur und die Tusche und begann zu malen. Richard Weihe zeichnet das Porträt dieses Mannes und bringt seine Bilder zum Sprechen.

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Richard WeiheMeer der Tusche

Erzählung mit zehn Bildern

Elster Verlag · Zürich

Über dieses Buch

Über den wohl einflussreichsten chinesischen Maler und Kalligrafen, Bada Shanren, ist nur wenig überliefert. 1626 als Prinz der kaiserlichen Familie geboren, erlebte er bald den Untergang der uralten Ming-Dynastie (1644). Von da an studierte Bada die Stille, die Natur und die Tusche und begann zu malen. Richard Weihe zeichnet das Porträt dieses Mannes und bringt seine Bilder zum Sprechen.

Nachdem sich Bada Shanren nach dem Untergang der Ming-Dynastie aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, beschäftigte er sich in den nächsten Jahrzehnten mit der Tuschemalerei. Obwohl über sein Leben wenig bekannt ist, gelingt es Richard Weihe ausgezeichnet, Leben und Geist dieses großen Kontemplativen zu imaginieren, indem er zehn Bilder des Künstlers wie Wegmarken der Orientierung einsetzt.

«In der dichten Verwebung von Stoff und Form leuchtet hier und dort, fast unscheinbar, die alte Essenz der Literatur: die arrangierte, durchgestaltete Illusion, die den Lesenden von Seite zu Seite eine eigene Welt erschafft.» (Neue Zürcher Zeitung)

Der Autor

Richard Weihe studierte an der Schauspielakademie Zürich, später an den Universitäten Zürich, Oxford, Bonn und Cambridge; Promotion und Habilitation in den Bereichen Theater und Philosophie. Er arbeitet als Dozent an der Universität Witten/Herdecke und an der Scuola Teatro Dimitri in Verscio, Tessin.

1

Am 26. April mittags erreichten die Boten nach durchrittener Nacht die Nordgrenze und übergaben dem befehlshabenden General Wu Sangui ein Schreiben. Darin stand, dass der Rebellenführer Li Zicheng am Vortag in Peking eingefallen war und die Hauptstadt besetzt hielt. Der Kaiser habe sich angesichts des drohenden Unheils erhängt. Die Zukunft der Dynastie hing in der Luft.

Der General war mit der Aufgabe betraut, die Grenze gegen das Volk der Mandschu zu sichern. So nannten sich die vereinigten Dschurdschen-Stämme der Mandschurei. Die Stadt Shenyang hatten sie zu Mukden umgetauft. Von der neuen Hauptstadt dehnten sie ihre Macht allmählich nach Westen aus, ins Grenzland zu China, bis an die Große Mauer.

In seiner Verzweiflung und unter dem Druck der Ereignisse öffnete General Wu die Grenze und bat die starken Mandschus um Hilfe für einen Feldzug gegen den Rebellen Li. Die Nachbarn zögerten nicht, dem Gegner beizustehen. Mit vereinten Kräften gelang es den noch kurz zuvor befeindeten Truppen, Li aus der Hauptstadt zu vertreiben. Dies geschah am 2. Juni.

General Wus Truppen folgten den Aufständischen auf den Fersen, als sie sich nach Westen zurückzogen. Am 6. Juni nahmen die Mandschus ihrerseits Peking ein, ohne auf Widerstand zu stoßen. An diesem Tag begann ihre Eroberung Chinas. Es war der Frühsommer des Jahres 1644. Die Mandschus beendeten die dreihundertjährige Herrschaft der Ming und riefen den Beginn eines neuen Zeitalters aus.

Allerdings war der Süden des riesigen Reiches noch nicht eingenommen.

2

Der Begründer der Ming-Dynastie hatte von seinen zahlreichen Frauen und Konkubinen zweiunddreißig Kinder, davon sechsundzwanzig Söhne. Sein siebzehnter Sohn wurde im Jahre 1378 geboren. Er erhielt den Titel des Ersten Königs von Ning und begründete die Ning-Linie des Kaiserhauses. Der Kaiser belehnte ihn mit der südlich des Jangtse gelegenen Provinz Jiangxi. Deren Hauptstadt war Nanchang, und Nanchang blieb über die Jahrhunderte hinweg der Stammsitz der Ning-Linie. Der König mit fünfundzwanzig Brüdern hatte selbst auch viele Kinder. Als einer ihrer zahllosen Nachkommen kam 1626, in der elften Generation des Yiyang-Zweigs der Ning-Linie, Zhu Da zur Welt.

Die folgende Geschichte handelt von Zhu Da, dem Prinzen von Yiyang, dem fernen Abkömmling des Königs von Ning, des siebzehnten Sohns des Stammvaters der Ming.

Als Prinz genoss Zhu Da eine behütete Kindheit im Palast, voller Glanz und Reichtum. Im Alter von acht Jahren begann er, Gedichte zu schreiben. Auch zeigte er schon früh eine besondere Fähigkeit beim Siegelschnitzen. Wegen seiner Talente wurde er gehätschelt und bewundert. Es waren unbeschwerte Jahre voller Zukunft.

3

Zhu Das Vater betätigte sich als Maler und Kalligraf. Auch dessen Vater war ein Maler und Gelehrter gewesen, über den man ehrfürchtig sprach.

Für Zhus Kammer hatte ihm sein Großvater ein Rollbild mit einem Drachen gemalt. Der Drache erschien dem jungen Zhu als das größte Wesen, das es gab. Der schlangenhafte Körper wand sich in rhythmischen Schlingen und wirkte so lebendig, dass Zhu jeden Morgen froh war, seinen Drachen in unveränderter Stellung auf dem Bild zu sehen.

In seinen Träumen löste sich das Feuer speiende Ungeheuer vom Papier und der kleine Zhu musste ins Wasser springen, um sich zu retten. Er tauchte unter und die Flammen verwandelten sich auf der Wasseroberfläche zischend in Dampf. Durch das Wasser emporblickend sah er die grün schimmernden Augen und die aufgeblähten Nüstern des Drachens in einer Dampfwolke. Auch im Morgenlicht wirkte der Drache, als könnte er jeden Moment vom Papier fliegen oder dadurch entweichen, dass er das Papier um sich herum in Brand steckte. Je nach Lichteinfall schien die schuppige Haut des Ungeheuers grünlich bis türkis zu funkeln.

Doch der Großvater hatte keine Farben verwendet, nur schwarze Tusche auf bräunlichem Papier.

An einem seiner ersten Geburtstage malte ihm der Vater eine riesige Lotusblume. Zhu hatte eine solche Blume noch nie gesehen und kannte auch deren Namen nicht.

Sein Vater legte ein großes Blatt Reispapier auf den Boden und griff nach dem Pinsel mit den verdichteten Haaren. Er tränkte ihn mit Tusche und strich das Haarbüschel an einem Stein ab, der die Form eines Pfirsichs hatte. Dann fuhr er mit einem einzigen langen, satten Pinselstrich in einem leichten Bogen von unten nach oben über das Blatt. Das obere Ende des Strichs entfaltete sich unter seiner Hand zu einer Blüte.

Am unteren Ende des Blumenstiels malte der Vater über die ganze Breite des Blattes eine Fläche in schimmerndem Grau, das sich stellenweise zu dunkleren Flecken verdichtete. Nachdem die Tusche getrocknet war, hängte er das bemalte Papier an die Wand.

Nun bemerkte Zhu, dass der schlanke Stängel der Lotusblume aus einer schlammigen, schmutzigen Wasserfläche emporwuchs, um in der klaren Frühlingsluft ihre Blüte zu öffnen.

Sah er denn nicht eine Blüte? Aber warum erschien sie ihm weiß? Hatte sein Vater den Pinsel nicht in pechschwarze Tusche getaucht?

Einige Blätter schwammen auf dem Wasser, und Zhu meinte gar eine sanfte Brise zu spüren, die über das Wasser hinwegstrich, den Stängel leicht krümmte und ihm das Parfüm der Blüte in die Nase wehte.

Sein Vater saß ruhig da, betrachtete stirnrunzelnd das Blatt und sagte kein Wort. Vielleicht hätte er in diesem Moment gerne etwas gesagt über diese Blume, die an der Wand hing, zu seinem Sohn, der sie mit weit geöffneten Augen und zusammengepressten Lippen ansah.

Doch sein Vater blieb stumm. Zhu hatte seinen Vater noch nie reden hören. Und doch war ihm, als kennte er seine Stimme.

Sie saßen da, nebeneinander, und betrachteten das Bild. Zhu meinte plötzlich, röchelnde Laute aus der Kehle seines Vaters zu vernehmen und ergriff seinen Arm. Doch sein Vater hatte nichts gesagt, wendete nur den Kopf, blickte ihn mit seinen alten wässerigen Augen an, und die Linie zwischen seinen Lippen verzog sich an den Enden ein wenig nach oben.

– Du hast vorhin gegluckst, Vater, sagte Zhu. Wie ein Fisch unter Wasser.

Sein Blick heftete sich wieder auf die Lotusblume.

Der Fisch blieb stumm.

– Wahrscheinlich hast du mir schon alles gesagt.

4

Einmal ließ ihn der Vater barfuß in ein Becken voll Tusche treten und dann über die Länge einer Papierbahn hinweggehen. Zhus Fußabdrücke waren anfangs nass und schwarz, wurden von Schritt zu Schritt heller, bis sie kaum mehr zu sehen waren. Dann hüpfte er vom Papier wieder auf den Holzboden.

Der Vater griff zum Pinsel und beschriftete das Rollbild am oberen Rand: Ein kleiner Abschnitt auf dem langen Weg meines Sohnes Zhu Da. Und weiter unten: Ein Weg kommt zustande, indem er begangen wird.

Zum Palast gehörte eine eigene Werkstatt zur Herstellung von Pinseln und Tusche. Zhu schaute gerne dem Meister und seinen Gehilfen bei der Arbeit zu. Die Werkstatt war düster und staubig wegen der offenen Öfen. Dort aus dem Feuer stammte sein farbiger Drache, dachte Zhu, und auch die weiße Lotusblume.

Eines Tages, nachdem er wiederholt gebettelt hatte, erklärte ihm der Meister, wie die Tusche gemacht wird.

– Zur Herstellung benötigen wir zwei Zutaten, sagte er, Ruß und Leim. Vom Ruß kommt die Farbe, der Leim bindet sie. Wir mischen beide und verarbeiten sie in Mörsern zu einer knetbaren Masse. Diese Paste pressen wir in vorgefertigte Holzformen und lassen sie trocknen, bis sie ganz hart ist.

– Was ist Ruß?, wollte Zhu wissen.

– Wir sammeln im Wald harzreiche Zweige alter Kiefern. Die verbrennen wir im Ofen. Übrig bleibt ein feines schwarzes Pulver. Dieses Pulver ist der Ruß.

– Und wie macht Ihr den Leim?

– Um Leim herzustellen, lassen wir aus dem Bezirk Dai Hirschgeweihe kommen. Wir zerschneiden das Horn in fingerlange Stücke und legen sie in den Fluss.

Sie bleiben zwölf Tage und zwölf Nächte im Wasser, bis sie ganz ausgewaschen und sauber sind. Dann legen wir die Stücke in eine große Pfanne. Wenn man sie lange genug kocht, werden sie zu einer dicken Brühe. Wenn man sie noch länger kocht, werden sie schließlich zu Leim. Um diesen Leim richtig mit dem Ruß zu vermischen, braucht es dreißigtausend Stöße im Eisenmörser.

Der Meister ließ ihn in den riesigen Topf blicken, in dem gerade eine Suppe mit Hirschhornbrocken kochte, doch Zhu hielt sich die Nase zu und drehte sich schnell weg.

– Wie das stinkt!

– Der Geruch ist etwas unangenehm, das stimmt. Auch Euren Vater hat er immer gestört. Daher entwickelte er ein eigenes Rezept.

Der Meister nahm ein kleines Fläschchen vom Regal.

– Hier, riecht einmal daran, Prinz.

Zhu stieg ein angenehm würziger Duft in die Nase.

– Das ist ein Gemisch aus Gewürznelken, Kampfer und Moschus. Wir benutzen es als Parfüm. Sein Aroma ist stärker als der Geruch des Leims.

Nun hielt ihm der Meister eine zweite Phiole unter die Nase. Es war ein fruchtiger, berauschender Duft, der Zhu sofort gefiel.

– Das ist Rindenaufguss des Granatapfelbaums, sagte der Meister. Es handelt sich um ein geheimes Präparat Eures Vaters, das er stets beifügt. Darum heißt seine Tusche Der Gesandte des Granatapfelbaums.

Der Meister hob den Zeigefinger und blickte Zhu streng in die Augen:

– Aber ich habe Euch nichts gesagt, mein Prinz.

5

Im Alter von dreizehn Jahren ließ sich Zhu Da in Nanchang als Student für den Staatsdienst einschreiben. Eine glänzende Zukunft lag vor ihm; das Leben eines noblen Kunstfreundes und Literaten, der seine Zeit zwischen dem Studium der Schönheit, der Regelung der Provinzaffären und dem Vergnügen aufteilt.

Schon wenige Jahre später wählte seine Familie ein Mädchen aus gutem Hause als passende Gemahlin für den Prinzen. Noch im ersten Jahr nach der Hochzeit brachte sie ein Kind zur Welt.

Es war das Jahr, als die Ming-Dynastie zu Ende ging und die der Qing begann.

Zuerst fiel die Hauptstadt in die Hände der Mandschus. Doch nach der Eroberung von Peking war der Großteil des Landes noch unter chinesischer Herrschaft. Von der Hauptstadt aus begannen die Mandschus mit der systematischen Eroberung des ganzes Reiches. Es gelang ihnen rasch, chinesische Kollaborateure für ihren Feldzug zu gewinnen.

Nanking hatte seit jeher die Bedeutung einer zweiten Hauptstadt im Süden. Dort vermochten die Ming-Prinzen ihre Herrschaft nach dem Fall von Peking zu halten. Es entbrannte jedoch ein Kampf um die Thronfolge. Aus der Reihe der Konkurrenten wurde schließlich der Prinz von Fu von einem Klüngel einflussreicher Beamter zum neuen Kaiser ernannt.