Meeresfunkeln - Celina Balzer - E-Book

Meeresfunkeln E-Book

Celina Balzer

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Beschreibung

"Ich öffnete meine Augen erneut und versuchte die Bilder in meinem Kopf zu ordnen. Plötzlich erschien mir alles wie ein Traum. Was geschehen war, hatte so wenig mit der Realität zu tun, dass ich an meinem Verstand zweifelte. Stimmte etwas nicht mit mir? Aber während ich darüber nachdachte, wurde meine Erinnerung immer klarer. Ich hatte mich verwandelt!" Nach einem weiteren Umzug hofft Jane, mit ihrer Mutter in Edinburgh glücklich zu werden. Tatsächlich findet sie in dem sympathischen Rob einen Freund und zwischen den beiden bahnt sich eine Liebesbeziehung an. Doch nach einem Sturz ins offene Meer ändert sich für Jane alles. Sie muss feststellen, dass ihr bisheriges Leben eine Lüge war und sie kein gewöhnlicher Mensch ist. Das Abenteuer ihres Lebens beginnt...

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Seitenzahl: 225

Veröffentlichungsjahr: 2021

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© privat

Celina Balzer wurde 1995 in Koblenz geboren.

Es bereitete ihr schon immer große Freude, sich Geschichten auszudenken. Im Alter von fünfzehn Jahren begann sie schließlich »Meeresfunkeln« zu schreiben. In ihrer Freizeit trifft sie sich am liebsten mit ihren Freunden, spielt Violine und Viola oder schreibt. Neben »Meeresfunkeln« sind auch »Tiefseeschwärze« und »Seesternenhimmel«— zweiter und dritter Teil der Reihe — von Celina Balzer erschienen.

Für Sofie

Inhaltsverzeichnis

Ein neuer Anfang

Die Bekanntschaft

Die Familie

Wasserwelten

Peinlichkeiten

Zwei Teile

Warmer Regen

Augenblicke

Gefährlicher Neumond

Neuigkeiten

In meinen Händen

Gefahr

Freundschaft

Danksagung

Ein neuer Anfang

Meine Mutter wollte mit mir umziehen. Und wir beide hatten beschlossen, dass es in Ordnung sei. Meinen Vater hatte ich nie richtig kennengelernt. Er war Meeresbiologe und nach einem Tauchgang vor langer Zeit nie wieder gefunden worden. Deshalb musste meine Mutter ihn für Tod erklären. Ich war damals gerade einmal drei Jahre alt.

Lediglich ein paar Fotos hatte ich von ihm. Ich hätte ihn sehr gerne richtig kennengelernt und es war auch nicht immer leicht für mich gewesen, ohne Vater. Vor allem war es für mich schwer zu verstehen gewesen, wie er tot sein konnte, ohne dass es einen Ort gab, an dem er wirklich begraben lag.

Mum hatte mir von Anfang an gesagt, dass es keine Beweise für seinen Tod gäbe. Ich weiß nicht, warum ihr das so wichtig gewesen war und sie es für richtig gehalten hatte. Ich hatte mich immer gefragt, ob sie mir oder viel eher sich selbst Hoffnungen machen wollte, dass er eines Tages zurückkehrt. Er war aber nicht zurückgekommen. Nie.

Früher sorgte ich deswegen in den Schulen, die ich besuchte, für Gesprächsstoff. Es hatte Zeiten gegeben, in denen ich einfach behauptet hatte, dass mein Vater noch leben würde. In einem anderen Land. Weit weg. Aber das war, als ich noch sehr jung war und es schrecklich fand, die anderen Kinder zu sehen, wenn ihre Väter sie vom Kindergarten oder der Schule abholten. In diesen Momenten hatte ich mir dann immer auch so einen Vater gewünscht und war ganz traurig gewesen.

Manchmal behauptete Mum, wenn ich traurig war, dass ich ihm ähnlich sei, aber das traf nicht zu. Ich sah ja nicht mal meiner Mutter ähnlich. Sie hatte blonde, leicht lockige Haare und mein Vater rote, zumindest auf den Fotos, die ich von ihm hatte. Meine Haare hingegen waren braun. Ich hatte rein gar nichts vom Aussehen meiner Eltern.

Meine Mum hatte mich immer alleine großgezogen, ohne die Hilfe ihrer Eltern oder der meines Vaters. Ihre eigenen waren zudem recht früh verstorben. Und die Beziehung zu den Eltern meines Vaters hatte sich nach dessen Verschwinden immer mehr verschlechtert. Mum sprach nicht so gerne von ihnen. Ich wusste, dass sie enttäuscht war, weil sie eben nie Unterstützung von ihnen erfuhr, zumindest nicht in der Weise, wie sie es sich gewünscht hätte. Tief im Inneren wusste ich, dass es die Art meiner Großeltern war, mit dem Verlust ihres einzigen Sohnes umzugehen. Sie fanden keinen anderen Weg, die Erinnerungen hinter sich zu lassen.

Mum hatte mir schon immer viele Freiheiten gelassen. Manchmal war sie den ganzen Tag über nicht zu Hause. Ich hätte mir oft gewünscht, dass sie mehr Zeit für mich hätte, sich mehr um mich gesorgt und mir weniger erlaubt hätte.

»Jane, du hast es gut! Meine Mutter nervt mich mit ihrer übertriebenen Fürsorge. Das ist schrecklich. Genieße deine Freiheit!«, hatte Emma mal zu mir gesagt.

Sie war, seit wir nach Hawick gezogen waren, meine beste Freundin gewesen.

»Aber es kann doch auch nicht normal sein, dass sich die eigene Mutter mehr mit ihrer Arbeit beschäftigt als mit ihrem einzigen Kind!«, gab ich dann zur Antwort.

Meine Mutter war jedenfalls davon überzeugt, dass man sich egal in welchem Alter selbst beschäftigen könne. Zumindest für eine Weile und erst recht im Alter von sechzehn Jahren. Und darin war ich auch ziemlich gut. Ich konnte mich wunderbar alleine beschäftigen. Sogar an meinem sechzehnten Geburtstag.

Ich nahm es ihr nicht einmal besonders übel, schließlich gab es ja Gründe für ihre Abwesenheit. Trotzdem versuchte sie immer bei mir zu sein, wenn es mir schlecht ging. Und das kam häufig vor.

Ich war oft krank. Sehr oft. Ich musste immer wieder in ärztliche Betreuung. Mum war nicht immer bei mir, auch wenn sie es versuchte. Sie war keine schlechte Mutter, ich liebte sie von ganzem Herzen. Sie meinte es gut und sie war stark für uns beide. Sie musste ja schließlich Geld verdienen. Dennoch wäre es schön gewesen, wäre sie bei mir gewesen, wenn ich manchmal vor Bauchschmerzen sterben wollte.

Ich litt an einer seltenen, weitestgehend unerforschten Krankheit. In unregelmäßigen Abständen bekam ich starke Bauchschmerzen, die sich durch nichts erklären ließen.

Eine Vielzahl von Ärzten und Ärztinnen hatte versucht, meinen Beschwerden auf den Grund zu gehen. Nichts konnte mir helfen, keine Schonkost, keine Tees, keine Massagen, keine Naturheilkunde und keine Wundermittelchen. Ich hatte sie alle ausprobiert. Auf meine Ernährung zu achten, half ein wenig, aber nicht sonderlich viel. Doch es reichte mir schon, dass ich mir einbildete, dass die Schmerzen dadurch wenigstens etwas gelindert wurden.

Wann immer wir glaubten, auf dem richtigen Weg zu sein, folgte dann doch jedes Mal wieder ein weiterer Besuch bei Ärzten.

Manche Mitschüler beneideten mich darum, dass ich so oft fehlte, aber ich konnte sie nie verstehen, wo es doch so wichtig war, am Unterricht teilzunehmen. Immer wieder musste ich den versäumten Unterrichtsstoff nacharbeiten. Und weil ich immer wieder fehlte, fiel es mir schwer, Freunde zu finden und Freundschaften aufrecht zu erhalten.

***

Ich beobachtete, wie meine Mutter mehrere Koffer vor die Haustür stellte. Sie atmete angestrengt aus und band ihre Haare mit einem Haargummi zusammen.

»Jane, pack doch bitte schon mal deine Sachen in den Van!«, rief sie mir dann zu.

Ich lief die Treppe zu meinem Zimmer hinauf und nahm meinen Koffer in die Hand. Ich sah mich noch einmal in meinem Zimmer um. Die Delphinbordüre würde ich vermissen. Eigentlich hätte ich aus dem Alter längst raus sein müssen, ein Tapetenwechsel wäre schon lange fällig gewesen. Aber Mum hatte einfach viel zu wenig Zeit für solche Dinge und ich hatte nie Emma darum bitten wollen, mir beim Tapezieren oder Streichen zu helfen. Sie sagte sowieso immer: »Ich habe zwei linke Hände. Ich kriege nichts hin!«

In diesem Zimmer steckten viele Erinnerungen. Wir waren schon öfter umgezogen, aber hier waren wir am längsten geblieben. Das war schon etwas Besonderes. Es gab keinen Ort, der Mum hielt. Für unsere vielen Umzüge und Ortswechsel gab es keinen wirklichen Grund. Doch Mum fühlte sich nie irgendwo zu Hause. Sie konnte Dad einfach nicht vergessen und sie schien zu glauben, dass eine neue Umgebung ihr dabei helfen könnte.

Mum meinte, dass wir in unserem neuen Zuhause vielleicht sogar noch länger bleiben würden. Zumindest solange, bis ich irgendwann einmal ausziehen würde. Und manchmal konnte ich diesen Moment kaum erwarten. Ein weiteres Mal würde ich nicht mit ihr umziehen.

Sie hatte eine neue Stelle angenommen. Genau wie mein Vater vor seinem Verschwinden erforschte sie das Meer. Ich konnte manchmal ihr Interesse und ihre Faszination am Meer nicht nachvollziehen. Ihr lag so viel an ihrem Beruf, mehr als an allem anderen, zumindest fühlte es sich so an. Gerade, da sie doch Dad durch das Meer verloren hatte, konnte ich ihre Leidenschaft nicht verstehen. Aber es schien, als fühlte sie sich durch das Meer mit ihm verbunden. Mehr denn je und mehr als durch alles andere.

Unser Umzug nach Edinburgh, in die Nähe des Meeres, war schon längere Zeit geplant. Ich wusste noch nicht, was ich ohne Emma machen sollte. Sie würde mir schrecklich fehlen. Zwar konnte Mum das verstehen, aber sie meinte, Emma sei ja nicht aus der Welt und jeder Schmerz würde irgendwann weniger werden.

»Die Zeit heilt alle Wunden, Liebling. Ich habe schließlich auch den Tod deines Vaters verkraftet!«

Aber ich war mir da nicht so sicher. Noch vor ein paar Jahren war Mum manchmal abends total fertig von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte den ganzen Abend lang geweint. Außerdem war sie in den Jahren nach dem Tod meines Vaters nie mit jemand anderem ausgegangen.

Sie war ein kluger, netter und offener Mensch, aber sie schien sich für niemand anderes zu öffnen oder zu interessieren. Ich hoffte für sie, dass sie glücklich war und wollte mir gar nicht vorstellen, wie es ihr gehen würde, wenn ich tatsächlich eines Tages ausziehen würde.

Ich war ihr nicht ähnlich. Nicht nur rein äußerlich. Vielleicht kam ich eher nach meinem Vater oder nach meinen Großeltern, nach den Personen, die nie wirklich Teil meines Lebens gewesen waren.

Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich versuchte es zu verbergen. Schnell wischte ich die Tränen ab.

»Jane! Wo bleibst du denn?«, rief meine Mutter leicht genervt.

»Ich komme ja schon!«, gab ich zurück und spurtete die Treppe wieder herunter.

Emma kam mir entgegen, als ich den Kofferraum schloss. Ich fing augenblicklich wieder an zu weinen. Emma nahm mich in den Arm.

»Wir bleiben Freundinnen, egal was passiert! Ich komme dich in den Sommerferien besuchen! Und was auch geschehen mag, du kannst mich anrufen!«, versprach sie.

Ich hoffe so sehr, dass sie recht behält, dachte ich, denn ich war unglaublich traurig und fühlte mich leer. Und hinzu kam, dass sich meine Bauchschmerzen ankündigten.

Ich stieg ins Auto und biss die Zähne zusammen, als es los ging. Emma winkte mir mit Tränen in den Augen zu. Mum hupte laut und wir fuhren meinem neuen Leben entgegen, das ich vorerst gar nicht wollte.

Ich ließ das Fenster hinunter, sah winkend zurück und schluchzte laut. Mum legte mir ihre linke Hand auf meine Hände.

»Alles wird gut.«, flüsterte sie.

Das Bauchweh nahm zu, so sehr, dass ich schon bald eine meiner grün-blau gefärbten Tabletten nahm, die mir aufgrund meiner Beschwerden bereits vor langer Zeit verschrieben worden waren. Ich sah mir die Landschaft an und dachte an die Zukunft. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich hatte mich nie irgendwo sonderlich gut eingelebt, weil ich einfach nie lang genug an einem Ort geblieben war. Ich fürchtete mich vor dem, was vor mir lag.

Das Gefühl kannte ich bisher nicht. Ich war schon so oft umgezogen, dass es für mich nichts Neues und Beängstigendes hätte sein dürfen. Aber dieses Mal war es anders. Ich fühlte mich schrecklich. Als würde ich alles hinter mir lassen.

Es war schwer genug für mich gewesen, Emma als Freundin zu gewinnen, weil ich nie wirklich eine tiefe freundschaftliche Bindung zu jemandem erfahren hatte, zumindest nicht so. Aber genau das war es gewesen, was ich mir immer gewünscht hatte. Eine Freundschaft für lange Zeit. Jemanden, auf den ich mich immer verlassen kann.

Ich versuchte, die schlechten Gedanken beiseitezuschieben und Edinburgh eine Chance zu geben.

Ich wurde wach, als meine Bauchschmerzen immer schlimmer wurden. Ich musste wohl irgendwann während der Fahrt eingeschlafen sein, auch wenn ich mich gar nicht mehr daran erinnern konnte. Wir waren schon gleich da. Mum stoppte den Wagen und öffnete die Tür.

Ich rieb mir die Augen, öffnete die Beifahrertür und sah auf unser neues Haus, das wir gemeinsam ausgesucht hatten. Irgendetwas hatte dieses Haus, ich mochte es von Anfang an. Schon als ich es während der Besichtigung das erste Mal betreten hatte, wusste ich irgendwie, dass ich mich hier wohlfühlen würde, auch wenn mir ein weiterer Umzug überhaupt nicht gefiel.

Mum mochte das Haus hingegen so gern, weil es das Haus mit dem größten Baum davor war. Um das Haus herum verlief eine Mauer und der Baum stand ganz dicht daran.

Ich stieg langsam aus und nahm mein Gepäck aus dem Kofferraum. Ich sah mich um. Es war wirklich eine schöne Gegend. Und das Haus war ein Traum, aber ich konnte mich einfach nicht so richtig freuen. Zum ersten Mal gab es jemanden, den ich schrecklich vermissen würde.

»Können wir morgen ans Meer gehen?«, bat ich Mum.

»Natürlich. Deshalb sind wir ja schließlich hier hergezogen, oder nicht?«, entgegnete Mum und schenkte mir ein Lächeln. »Und ich bin froh, dem Meer wieder so nah zu sein. Vielleicht tut dir die Luft ja ganz gut. In Buckhaven ging es dir doch auch immer besser.«

Früher war ich ein paar mal bei meinen Großeltern, Mums Eltern, zu Besuch gewesen, aber ich konnte mich kaum daran erinnern. Die Eltern meiner Mutter waren kurz nacheinander verstorben, als ich gerade einmal vier Jahre alt gewesen war. Mum kam aus Buckhaven. Sie hätte dort ihre Liebe zum Meer entdeckt, erzählte sie oft. Sie liebte das Meer so sehr. Auch nach Dads Verschwinden hatte sich daran nie etwas geändert. Dad, ich und das Meer waren die drei großen Lieben ihres Lebens. Irgendwie beneidete ich sie um diese bedingungslose, unzerbrechliche Liebe zum Meer.

In der ersten Zeit nachdem sie Dad für Tod erklärt hatte, war sie sich nicht sicher gewesen, ob sie jemals wieder ihrem Beruf nachgehen könnte. Aber sie hatte sich für das Meer entschieden. Die einzige Einschränkung war, dass sie nicht mehr in direkter Nähe des Meeres wohnen wollte. Doch irgendwann, hatte sie mir gesagt, sei ihr bewusst geworden, dass sie das Meer auch in der Nähe ihrer Wohnung brauche. Und so entschied sie, nach Edinburgh zu ziehen.

Zuerst weigerte ich mich. Ich wollte nicht weg, nicht schon wieder. Ich hasste es umzuziehen, immer wieder neu anfangen zu müssen. Doch Mum schien es zu genießen, es tat ihr gut. Nur unter der Bedingung, diesmal wirklich so lange an einem Ort zu bleiben, bis ich ausziehen würde, war ich einverstanden gewesen.

»Such dir schon mal ein Zimmer aus!«, schlug mir Mum vor und öffnete die Tür.

Ich sah mich um und ging dann die Treppe hinauf. Oben blieb ich stehen. Mir gegenüber befand sich ein Raum. Ich öffnete die Tür und trat hinein. Der Raum war schön. Nicht sehr groß, aber er gefiel mir gut.

»Ich glaube, ich habe eins gefunden.«, rief ich Mum zu, die die Haustür hinter sich schloss.

»Gut. Ich hoffe, die Lieferwagen mit den Möbeln kommen gleich.«, sagte Mum. »Dann kannst du anfangen dein Zimmer einzurichten. Ist der Anstrich für dich in Ordnung oder müssen wir morgen noch Farbe besorgen?«

Das Zimmer war in einem ganz leichten, sanften Gelbton gestrichen. Das machte das Zimmer schön hell. Ich fühlte mich wohl darin.

»Die Farbe ist schön.«, rief ich und ging die Treppe hinunter.

»Kannst du mir mit den Kartons helfen?«, fragte Mum. »Aber wenn deine Bauchschmerzen zu stark sind, dann lass es lieber.«

»Nein, es geht schon.«, erwiderte ich und ging zum Auto.

Ich nahm zwei Kartons und stellte sie im Flur auf den Boden. Bei dem neuen Haus hatte ich immer noch ein gutes Gefühl, warum auch immer, und meine Angst verflog langsam. Etwas war anders als bisher. Vorher hatte ich es einfach immer akzeptiert, wie es war, aber diesmal fühlte ich mich tatsächlich wohl.

Mum sah mich an und kam zu mir. Sie legte ihre Arme um meinen Hals und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Wir sahen beide aus dem Fenster meines neuen Zimmers.

»Es ist schön hier.«, sagte ich und lächelte.

Die Bekanntschaft

Schon am nächsten Morgen schlenderten Mum und ich am Hafen entlang. Ich sah aufs Meer hinaus und atmete tief ein und aus, weil mir Mum empfohlen hatte, das zu tun.

Die Luft tat mir wirklich gut und für einen Moment glaubte ich tatsächlich, dass meine Bauchschmerzen weniger wurden. Aber vermutlich bildete ich mir das bloß ein. Ich hatte schon zu viel ausprobiert. Nichts von all dem hatte jedoch geholfen. Wie sollte dann ein Spaziergang am Hafen meine Bauchschmerzen lindern? Ich war mir immer noch nicht sicher, ob Edinburgh wirklich das Richtige für mich war.

Als kleines Mädchen war ich schon mal hier gewesen. Ich mochte die Stadt. Trotzdem wäre ich augenblicklich wieder in mein altes Leben in Hawick zurückgekehrt. Zu Emma, in mein schönes, kleines Zimmer und in meine alte Schule, in der ich mich stets wohl gefühlt hatte.

Am Abend legte ich mich in mein neues Bett und konnte gut einschlafen. Meine Bauchschmerzen waren nur noch sehr schwach, weshalb ich zur Ruhe kommen konnte. Ich war so müde von den vergangenen Tagen und fiel sofort in einen tiefen Schlaf. Mich überkam allerdings ein sehr merkwürdiger Traum. Ich schwamm darin im Meer und hörte plötzlich Stimmen. Stimmen, die mir sonderbar bekannt vorkamen. Ich konnte nicht wirklich verstehen, was mir die Stimmen mitzuteilen versuchten, aber ich konnte es durch Bilder, die ich sah, begreifen. Dann war plötzlich alles in ein grelles Licht getaucht und ich sah nur noch eine Fischflosse und unglaublich viele Muscheln, die in allen Regenbogenfarben glitzerten. Anschließend drehte sich alles um mich herum und ich geriet in einen Strudel, der mich immer mehr nach unten in die Tiefen des Meeres zog.

Völlig erschrocken und schweißgebadet wachte ich auf. Ich war geschockt. Alles hatte so eigenartig real auf mich gewirkt. Ich verstand nichts von dem, was ich geträumt hatte, aber dann fiel mir wieder ein, dass ich am Tag zuvor mit Mum am Meer spazieren gewesen war und ich vielleicht deshalb auch vom Meer geträumt hatte.

Ich stieg aus meinem warmen Bett und sah auf den Wecker. Elf Uhr morgens. Ich hatte sehr lange geschlafen, viel länger als sonst. Normalerweise stand ich immer schon um sieben Uhr auf, selbst am Wochenende, aber heute schien irgendwie alles anders zu sein.

Mum saß an unserem Frühstückstisch im Bademantel und las ein Buch. Sie sah kurz auf, als sie mich die Treppe hinunterkommen sah und lächelte.

»Ich rufe kurz Emma an. Ich habe ihr versprochen, mich bei ihr zu melden.«

»Richte ihr liebe Grüße von mir aus.«, entgegnete Mum und war sofort wieder in ihr Buch vertieft.

Früher hatten Emma und ich uns immer unsere wildesten Träume erzählt und darüber gelacht, aber dieses Mal erzählte ihr nichts von meinem sonderbaren Traum, als wäre er ein Geheimnis, das verborgen bleiben musste.

»Wie ist es so?«, fragte sie mich.

Ich wusste es noch gar nicht. Ich war noch nicht zur Schule gegangen, hatte erst wenig gesehen und hatte somit noch kein richtiges Urteil über mein Umfeld gefällt. Die Nachbarn hatte ich auch noch nicht gehört oder gesehen, aber alles in allem gefiel es mir doch ganz gut.

»Es ist in Ordnung.«, antwortete ich ihr.

»Ich werde mir dein neues Zuhause sicher bald ansehen können. Spätestens, wenn ich dich in den Sommerferien besuchen komme.«

»Ja, aber das dauert noch ewig lange. So kommt es mir zumindest vor!«, entgegnete ich.

»Ich muss auflegen, Jane. Ich ruf dich morgen nach der Schule an, ja?«

Und schon hatte sie aufgelegt. Ich war traurig darüber, dass wir uns nicht mehr so oft sehen würden. Sie war meine einzige Freundin und jetzt war ich ganz alleine.

Am darauffolgenden Tag fuhr mich Mum zu meiner neuen Schule, die mir rein äußerlich nicht so recht gefiel. Ich stieg aus und winkte Mum zu, die davonfuhr. Zuerst musste ich mich im Sekretariat melden und wurde zu meiner ersten Unterrichtsstunde geführt. Mrs Miller war meine Englischlehrerin. Sie war ganz nett, bat mich jedoch, mich vor der gesamten Klasse vorzustellen. Es war mir unangenehm, aber ich überstand es irgendwie.

Meine neuen Mitschüler waren alle in Ordnung. Ein paar waren wirklich nett zu mir. Ein Mädchen namens Josie Shepherd wies mich auf wichtige Dinge hin, führte mich herum und bat mir ihre Hilfe an.

»Falls du sie mal brauchst. Ich denke aber, dass du sicher schulisch keine großen Probleme hast, oder? Ich helfe dir aber auch gerne bei anderen Dingen!«, sagte sie etwas nervös, aber herzlich.

»Vielen Dank! Mit so viel Hilfsbereitschaft hätte ich am ersten Tag nicht gerechnet!«, gab ich zu.

»Tja, so ist Josie.«, sagte ein Junge in unserer Nähe lachend. Josie lief rot an.

»Du scheinst einen guten Ruf zu haben.«, stellte ich fest.

»Ich helfe bloß gerne.«, antwortete Josie und lächelte. »Das ist alles.«

Mum holte mich nach der Schule ab und wir fuhren nach Hause.

»Jane, ich muss gleich wieder los zur Arbeit. Bleibst du so lange alleine?«, fragte sie mich und ließ mich aussteigen.

Ich nickte. Was blieb mir auch anderes übrig?

»Nachher können wir uns gemeinsam die Innenstadt genauer ansehen!«, meinte sie aufmunternd.

Ich nickte, gab ihr einen Kuss und ließ sie fortfahren. Dann setzte ich mich an unseren Küchentisch, weil ich noch keinen neuen Schreibtisch hatte und fing an, meine Hausaufgaben zu machen. Emma hatte gesagt, sie würde nach der Schule anrufen. Normalerweise konnte sie es kaum abwarten, bei mir anzurufen und wenn sie in der Vergangenheit gesagt hatte, sie würde nach der Schule anrufen, klingelte sobald sie zu Hause war bei uns das Telefon. Aber heute war es anders. Ich starrte immer wieder auf mein Handy, weil ich gerne mit jemandem gesprochen hätte, aber es klingelte nicht und Emma hatte auch keine Nachricht hinterlassen.

Ich sah kurz aus dem Fenster und bemerkte plötzlich draußen etwas. Langsam stand ich auf und stellte mich für einen Moment vor das Fenster. Ich konnte aber nichts erkennen und setzte mich wieder.

Dann sah ich wieder etwas in meinem Augenwinkel. Irgendeine Gestalt, die vor unserer Mauer vorbeischlich. Mir wurde etwas mulmig zu Mute. Das fängt ja gut an, dachte ich. Gleich am zweiten Tag überfallen und ausgeraubt zu werden, war keine schöne Vorstellung für mich. Obwohl ich mich fürchtete, ging ich zur Tür und öffnete sie, mein Handy fest umklammert, für den Fall, dass ich die Polizei verständigen musste.

Ich sah umher und fragte mich, was ich wohl gesehen hatte. Dann, ganz plötzlich, fiel etwas Großes aus dem Baum, der an unserer Mauer stand, auf unsere Wiese und stöhnte.

Ich erschrak und machte einen Schritt zurück. Der Körper auf dem Boden räkelte sich auf und strich sich den Schmutz von der Hose. Erst jetzt erkannte ich, dass es ein Junge war, etwa in meinem Alter.

»Hast du dich verletzt?«, fragte ich besorgt und sah zu ihm herüber.

»Nein. Es ist nichts passiert.«

»Wirklich nicht? Du bist sehr hart gestürzt!«

»Nein, es geht schon.«, antwortete er und sah mich an.

»Was hast du denn dort oben gemacht?«, wollte ich wissen.

»Das ist mir wirklich unangenehm. Normalerweise mache ich so etwas nicht.« gestand er. »Das Haus stand ziemlich lange leer. Es liegt auf meinem Schulweg. Jetzt plötzlich ist es wieder bewohnt und ich wollte wissen, wer dort eingezogen ist. Für gewöhnlich bin ich nicht so neugierig. Es tut mir leid.«, gab er verlegen zu.

»Aha.«, lachte ich. »Und du dachtest, du erfährst, wer eingezogen ist, indem du auf deren Mauern und Bäume kletterst?«

»Nein, aber es war mir peinlich, hier herumzuschnüffeln und da habe ich den Baum gesehen...«

»Ich verstehe.«, meinte ich grinsend und sah ihm dann in die Augen. »Ich bin Jane Starling. Ich lebe hier mit meiner Mutter Abbie und wer bist du, wenn ich fragen darf?«

»Ich bin Robert Cariston. Aber alle nennen mich nur Rob. Ich wohne mit meinen Eltern und meiner Schwester ein paar Straßen weiter. Schön dich kennenzulernen!«, meinte Rob und sah dabei sehr freundlich aus.

Er räusperte sich und strich durch sein braunes Haar.

»Wo kommst du her?«, wollte er dann noch wissen.

»Ich habe vorher in Hawick gewohnt.«, antwortete ich.

»Lebst du schon immer hier?«

»Ja, ich bin hier groß geworden. Seit siebzehn Jahren lebe ich hier. Mein ganzes Leben. Ich liebe Edinburgh. Ich glaube, ich kann mir gar nicht vorstellen, irgendwo anders zu wohnen.«

Bei dem Gedanken daran, wie oft ich im Gegensatz zu ihm bereits umgezogen war, musste ich schmunzeln.

»Magst du das Meer?«, fragte er mich dann.

Ich nickte. »Ja.«

»Wir haben eine Yacht, wenn du Lust hast, kannst du am Samstag mit uns eine kleine Tour machen.«, bot Rob nervös an.

»Ich werde meine Mutter fragen. Aber es würde mir sicher gefallen!«

»Das freut mich!«, sagte Rob mit einem Lächeln.«

»Gibst du mir deine Nummer? Dann gebe ich dir Bescheid, ob ich kommen kann, sobald ich mit meiner Mutter gesprochen habe.«, entgegnete ich und lächelte zurück.

Ich war froh, endlich mal jemanden aus der näheren Umgebung kennengelernt zu haben. Ich wusste nicht genau, was ich von Rob halten sollte, außer, dass er sehr nett zu mir war. Ich musste lachen, als ich an seinen Sturz vom Baum dachte.

Mum kam spät nach Hause. Ihr Tag war sichtlich anstrengend gewesen. Ich setzte mich zu ihr auf die Couch und wollte wissen, ob ich am Wochenende mit Rob und seiner Familie eine Bootstour machen dürfte.

»Kennst du die Leute überhaupt? Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Lass es besser bleiben!«, gab Mum mir zur Antwort und setzte ihre Lesebrille auf, die sie im Haar stecken hatte.

»Wieso? Rob ist ein ganz freundlicher Typ und außerdem kenne ich sonst eigentlich niemanden hier. Ich bin froh, wenn ich Anschluss finden kann!«, entgegnete ich und konnte meine Mutter nicht verstehen.

»Und was ist, wenn du plötzlich deine Bauchschmerzen bekommst? Die Leute sind dann doch völlig überfordert und wissen nicht weiter. Das solltest du ihnen nicht zumuten!«

»Mum! Mit Emma bin ich sogar schon campen gewesen. Damals fandest du die Idee toll. Was ist denn jetzt auf einmal los? Jetzt bin ich eine Zumutung? Darf ich keine neuen Freunde finden?«

»Liebling, ich erlaube es nicht. Das ist die Antwort. Ende der Diskussion!«, schrie meine Mutter beinahe.

Da war ein Funkeln in ihren Augen, das mir das Gefühl gab, als gäbe es einen ganz anderen Grund dafür, dass Mum mich nicht mit Rob einen Ausflug machen ließ, welchen sie mir aber, warum auch immer, vorenthielt.

Ich lief in mein Zimmer und schloss mich ein. Was war nur in sie gefahren? Noch nie hatte ich es erlebt, dass sie so hart zu mir war. Sie war immer der lockere Typ Mutter gewesen, um den mich ja schließlich viele beneidet hatten. Vielleicht war ihr erster Arbeitstag der Grund für ihre Verstimmtheit, dachte ich. Ich ließ aber nicht locker und sprach sie auch beim Frühstück am nächsten Morgen darauf an.

»Jane! Ich habe es dir verboten. Ich will nicht, dass du mit fremden Leuten unterwegs bist. Was weißt du, was dieser Ron von dir will?«

»Er heißt Rob, Mum, und er war sehr nett zu mir. Er will mir doch bloß helfen, mich hier einzufinden. Das ist wirklich lieb von ihm. Wenn ich ihm absage, dann wird er sicher ein schlechtes Bild von mir haben und das möchte ich einfach nicht.«, antwortete ich.

»Ich glaube nicht, dass er, wenn er so nett ist, wie du sagst, einen schlechten Eindruck von dir hat, wenn du ihm sagst, dass du nicht kannst. Und wenn schon, du lernst sicher noch andere in deinem Alter kennen! Falls nicht, haben wir doch immer noch uns!«, meinte Mum und zog mich an sich. Ich schüttelte sie ab.

»Das ist wirklich gemein von dir! Ich bin dir scheinbar total egal. Ich werde hingehen, ob es dir gefällt oder nicht!«, schrie ich und rannte aus dem Haus.

»Das lässt du schön bleiben!«, rief mir Mum hinterher, aber ich hörte sie schon kaum mehr.

Ich beeilte mich, um rechtzeitig zur Schule zu kommen. Josie begrüßte mich freundlich, was meine schlechte Laune etwas aufbesserte.

»Was ist denn los?«, wollte sie wissen. »Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst, aber ich bin gerne für dich da!«