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Janes 18. Geburtstag, der für sie die endgültige Verwandlung zur Sirene und das Ende ihres Lebens als Mensch bedeutet, rückt mit jedem Tag näher. Die Sorge, nicht genügend verbleibende Zeit zu haben und die Angst vor dem Leben nach ihrer Verwandlung, bestimmen Janes Alltag. Was wird aus ihrer Beziehung zu Rob? Wie werden ihre Mutter Abbie und die Menschen in ihrem Leben ihr Verschwinden verkraften? Ihre Familie im Meer, ihre Begleiterinnen und die Freundschaft zu einem echten Gestaltenwandler geben Jane Hoffnung, doch schon bald muss sie sich die Frage stellen: Wie viel ist sie bereit, für die Personen, die sie liebt und ein Leben, über das sie so wenig weiß, aufzugeben?
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Seitenzahl: 312
Veröffentlichungsjahr: 2021
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© privat
Celina Balzer wurde 1995 in Koblenz geboren.
Es bereitete ihr schon immer große Freude, sich Geschichten auszudenken. Im Alter von fünfzehn Jahren begann sie »Meeresfunkeln«, den ersten Roman der Reihe um Jane, zu schreiben. Für ihr Studium der Musik zog es sie nach Großbritannien.
In ihrer Freizeit macht und hört sie am liebsten Musik, trifft Freunde, geht zu Konzerten und ins Theater, liest und schreibt.
Neben »Tiefseeschwärze« sind auch »Meeresfunkeln« und »Seesternenhimmel«— erster und dritter Teil der Reihe — von Celina Balzer erschienen.
Für alle, die dunkle Zeiten erfahren, meistern und überstehen.
Siebzehn
Pflichten
Die Geschichte der Musen
Schreckliche Gedanken
Ein wichtiges Gespräch
Eine schwere Entscheidung
Abhängig
Großartige Neuigkeiten
Versprechen
Ein ewiges Band
Spaziergang an Land
Sorgen
Kenix
Alleine
Tiefste Finsternis
Sternenleere Nacht
Weg aus der Dunkelheit
Ich lag wach in meinem Bett und starrte die Wand über mir an. Das Klingeln des Weckers ertönte, ich stand auf und lief die Treppe hinunter. Mum wartete bereits unten auf mich.
»Alles Gute zum Geburtstag!«, rief sie mir entgegen und schnitt den Kuchen an, der auf dem Tisch stand.
»Danke.«, gab ich kaum hörbar von mir und setzte mich. Mum schob mir zwei Päckchen herüber, die sie wunderschön verpackt hatte. Ich öffnete vorsichtig die Schleifen, faltete das Papier auf und entdeckte zwei wirklich schöne Pullover.
»Danke, die sind echt toll.«, meinte ich und lächelte. Ich aß noch ein Stück Kuchen, zog dann meine Jacke an und verabschiedete mich von Mum.
Es schellte an der Haustür. Ich öffnete und sah in zwei strahlende Gesichter.
»Happy Birthday!«, sagten beide.
Tiffany umarmte mich und Rob gab mir einen zärtlichen Kuss.
»Wir müssen los!«
Wir gingen nach draußen. Es war ein ein recht milder Septembertag.
»Das Geschenk musst du später aufmachen.«, meinte Rob und hielt es mir hin. Es war eine kleine Schachtel und ich war wirklich gespannt.
Auch Josie hatte an meinen Geburtstag gedacht und schenkte mir einen selbst gestrickten Schal. Ich versuchte zu verbergen, dass ich mich eigentlich gar nicht richtig freute, wie es alle anderen vielleicht annahmen. Ich war nicht wirklich glücklich. Ich dachte die ganze Zeit über daran, dass ich nur noch ein Jahr hatte. Dann würde ich mich äußerlich verändern und nie wieder sichtbar altern. Das bedeutete, dass ich nur noch ein Jahr das Leben eines normalen Teenagers führen konnte, obwohl mein Leben auch jetzt alles andere als völlig normal war.
»Willst du es nicht aufmachen?«, fragte mich Josie, weil ich Robs Geschenk noch immer nicht geöffnet hatte.
»Doch, ich bin noch nicht dazugekommen und er will dabei sein.«
»Du kannst dich so glücklich schätzen.«, sagte Josie. Dabei wirkte sie irgendwie traurig, auch wenn ich mir nicht erklären konnte, weshalb.
»Ich bin auch glücklich, eine so gute Freundin wie dich zu haben.«, entgegnete ich mit einem Zwinkern und wir gingen zurück zum Unterricht.
Am Nachmittag kam Rob vorbei und ich öffnete das Geschenk. Es war eine wunderschöne goldene Kette mit einem Herzanhänger, in welchem unsere Initialen eingraviert waren.
»Ich dachte, damit sind wir verbunden, egal wo du bist.«, sagte er.
»Danke. Es ist wunderschön.«, flüsterte ich und küsste ihn.
In der Nacht brachte mich Mum an den Hafen. Meine Familie hatte mich eingeladen, um mit ihnen meinen Geburtstag zu feiern.
»Die Kette, die Rob dir geschenkt hat, ist einfach wunderschön.«, stellte Mum während der Fahrt noch einmal fest.
Meine Hand fuhr an meine Brust und ich spürte, dass ich die Kette noch immer trug. Vorsichtig nahm ich sie ab. Ich hatte meiner Familie noch nicht erzählt, dass ich mit Rob zusammen war. Und ich hatte erst recht nicht erzählt, dass er das Kind einer Muse war, die dem obersten Stand angehörte, und die ich jetzt zu meinen Freunden zählte.
Meine Familie wartete bereits auf mich. Leslie, Caroline, Isabella und Sofie waren auch da. Sie schenkten mir Sirenenkleidung und einen weiteren Gegenstand, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Es sah für mich aus wie ein kleiner, glänzender schwarzer Würfel.
»Weißt du, was das ist?«, fragte mich Linda. »Das ist ein Nessim.«
Sie nahm meine Hand und streckte sie vor mir aus. Sie drehte sie so, dass meine Handfläche geöffnet nach oben zeigte. Dann platzierte sie den schwarzen kleinen Würfel unterhalb meines Handgelenks. Sofort änderte sich seine Farbe von schwarz zu weiß und er fing an zu leuchten. Caroline grinste.
»Keine Sorge, das gehört so.«, meinte sie und berührte ganz sanft den kleinen Würfel.
Auf meiner Handfläche erschienen gut leserlich schwarze Buchstaben, die sich zu Worten anordneten und so einen Text ergaben. Ich wollte gerade zu lesen anfangen, als ich feststellte, dass der Text in der mir noch unbekannten Sprache der Sirenen verfasst war.
»Damit du zu unserer Sprache zurückfindest... Du wirst mit der Zeit immer mehr verstehen, du brauchst bloß etwas Geduld. Ich bin mir sicher, wenn du dich ihr öffnest und dir Texte durchliest, wirst du schon bald viel mehr verstehen.«, sagte Casy und zwinkerte mir zu, denn er wusste, dass Geduld nicht gerade eine meiner Stärken war.
Linda drehte den kleinen Gegenstand ganz vorsichtig nach links und ein neuer Text erschien.
»Du kannst ganz viele Schriften auf dieses Nessim übertragen und sie so mit an Land nehmen und dort lesen. Je nachdem in welche Richtung du das Nessim drehst, kannst du zu den anderen Texten gelangen oder im Text vor- und zurückspringen.«
Ich sah Linda etwas ungläubig an.
»Das ist fantastisch! Vielen, vielen Dank!«
Da es Freitag war, konnte ich an diesem Abend bei meiner Familie bleiben. Auf meinen Wunsch hin versprachen sie mir, dass ich am darauffolgenden Morgen die nahegelegene Stadt besuchen dürfte, natürlich nur in Begleitung von Linda.
Schon früh morgens wurde ich wach. Ich freute mich wie ein kleines Kind auf den bevorstehenden Tag, denn die Stadt zu erkunden, bedeutete für mich auch, mehr über Sirenen und somit mehr über mich zu erfahren. Bei dieser Gelegenheit wollte ich auch unbedingt die Bibliothek der Stadt aufsuchen.
Sobald wir am nächsten Morgen die Bibliothek erreicht hatten, war Linda plötzlich verschwunden. Entweder hatte sie bei ihrer Suche nach einer ganz bestimmten Schrift, von der sie mir schon auf unserem Hinweg erzählt hatte, mich einfach alleine gelassen oder ich hatte in meiner Faszination einfach nicht mitbekommen, wo Linda hingeschwommen war. Ich entschied mich, alte Schriften zu finden, um so viel wie möglich über Sirenen zu erfahren und mein Wissen zu erweitern. Ich erkundigte mich, wo ich danach suchen musste und schließlich fand ich alte Schriften, wusste aber nicht, wovon sie handelten.
Ich war mir darüber im Klaren, dass ich sie nicht selbst übersetzten konnte. Und damit war auch das Nessim, von dem ich so fasziniert war, für mich noch nicht wirklich nutzbar, denn es konnte die Texte ebenfalls nicht übersetzen. Aber Linda oder Caroline würden das sicher für mich übernehmen.
Gerade, als ich nach Linda suchen wollte, da ich mich etwas verloren fühlte und ihre Hilfe brauchte, um mich besser zurechtzufinden, traf ich ihn zum ersten Mal. Er schwamm auf mich zu und lächelte.
»Kann ich dir weiterhelfen?«, fragte er.
»Ja.«, entgegnete ich und sah in die blauen Augen eines Unbekannten.
»Ich suche alte Schriften, mit deren Hilfe ich so viel wie möglich über die Geschichte der Sirenen erfahren kann.«
»Oh.«, entgegnete er. »Dafür interessiere ich mich auch.«
Er zeigte auf das Gefäß in seiner Hand, das einen alten Text beinhaltete.
»Weißt du was? Nimm du es einfach. Das müsste genau das Richtige für dich sein.«
»Bist du sicher?«
»Absolut.«, erwiderte er mit einem Lächeln.
»Danke, das ist wirklich sehr nett.«, entgegnete ich und lächelte ihn an.
»Gern geschehen, Amarilla.«, antwortete er.
»Woher kennst du meinen Namen?«, fragte ich verwundert.
»Na ja, ein paar Dinge weiß jeder über die Wächterin des Zeichens des Wassers.«, antwortete er.
»Wirklich? Was denn für Dinge?«
»Dass du entführt wurdest, weiß jeder. Das wüsste vermutlich auch dann jeder, wenn du nicht die Auserwählte wärst. Aber man weiß zum Beispiel auch, wie du zu uns zurückgefunden hast.«, erwiderte er.
»Aha.«, antwortete ich. »Du weißt, wie ich heiße, aber ich kenne deinen Namen noch immer nicht.«, sagte ich fast ein wenig beleidigt.
»Verzeihung. Ich bin Paul.«, antwortete er und strich durch sein aschblondes Haar.
Er lächelte mich an und verabschiedete sich anschließend. Ich blickte erneut auf die Schrift, die Paul mir überlassen hatte und war gespannt, welche Informationen diese beinhalten würde.
Nachdem ich eher zufällig Linda wiedergefunden hatte, beschlossen wir, zurück nach Hause zu schwimmen. Ich besuchte noch kurz meine Begleiterinnen und bat Caroline darum, mir das, was ich aus der Bibliothek mitgenommen hatte, zu übersetzen.
Mum holte mich später an Land mit dem Auto ab und fragte mich, was ich im Meer unternommen hatte. Ich erzählte ihr von meinem Aufenthalt in der Bibliothek und den Geschenken meiner Familie und Begleiterinnen.
Zuhause angekommen, legte ich mich in mein Bett und platzierte das Nessim auf meinen rechten Unterarm, weil ich noch überhaupt nicht müde war. Ich versuchte, ein wenig zu lesen, ohne auch nur das Geringste zu verstehen. Ich entschied mich aber dann doch dafür, zu schlafen.
Ich träumte in dieser Nacht von all den mir fremden Wörtern, die ich zuvor aufgenommen hatte, und es war mir, als könnte ich ganz klar ihre Bedeutung vor meinem inneren Auge sehen. Vielleicht würde es mir doch schon bald gelingen, sie zu verstehen und vielleicht sogar zu sprechen.
Ich hatte das Gefühl, die Worte in mir zu hören, sie zu verstehen und Sätze bilden zu können. Natürlich glaubte ich nicht wirklich daran, so schnell eine Sprache sprechen zu lernen, obwohl ich mich immer sehr für Sprachen interessiert hatte, weil sie es möglich machten, mit Menschen überall auf der Welt zu kommunizieren. Manchmal, wenn ich aufgrund meiner Bauchschmerzen für längere Zeit nicht zur Schule hatte gehen können, hatte Mum mir ein Buch zum Erlernen einer Sprache mitgebracht. Und ich lernte schnell. Nicht, dass ich viele Sprachen hätte fließend sprechen können, aber ich konnte mich zumindest begrenzt mitteilen und das machte mich durchaus stolz.
Der nächste Morgen war ein Sonntag. Mum hatte frei und machte mir Frühstück, während ich ihr von meinem merkwürdigen Traum berichtete.
»Sie haben mir gesagt, dass ich zu ihrer, meiner Muttersprache zurückfinden würde. Sie glauben, es wird viel einfacher sein, als ich annehme.«
Das Telefon klingelte und Rob fragte mich, ob ich Zeit hätte, mit ihm spazieren zu gehen. Ich aß zu Ende, machte mich fertig und hörte dann das Klingeln an der Tür. Mum öffnete und ich ging mit Rob. Er sah, dass ich die Kette, sein Geschenk an mich, trug und er lächelte mir zu.
»Rob, es tut mir leid, dass ich es ihnen noch immer nicht erzählt habe.«, sagte ich, weil mich das schlechte Gewissen plagte.
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, nie wieder unehrlich zu sein, weil ich Rob so lange verschwiegen hatte, dass ich eine Sirene war und ihn sogar angelogen hatte, aber mit meiner Familie war das anders. Ich war die Wächterin des Zeichens des Wassers. Ich fürchtete ihre Reaktion, wenn ich ihnen erzählen würde, dass ich mit einem Menschen zusammen war, der auch noch eine Muse als Mutter hatte. Vielleicht würden sie mir dann nicht mehr vertrauen. Es schien unmöglich, die drei Gattungen zu verbinden, auch wenn ich hoffte, dass es gerade mir gelingen könnte. Doch im Moment würde ich mit meiner Beichte zu viel Chaos verursachen. Ich konnte es ihnen einfach noch nicht sagen.
»Das ist schon okay. Von mir aus muss niemand von uns wissen. Das ist nicht das, was zählt. Ich will, dass es dir gut geht und ich verstehe, dass es schwierig ist, aber nicht unmöglich. Versprich mir bloß, dass du mir nie wieder etwas verheimlichen wirst. Egal, was es ist und wie sehr es dich belastet, sag es mir. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du versuchtest, mich zu beschützen. Das ist nicht deine Aufgabe. Ich möchte wissen, wenn du vor irgendetwas Angst hast, wenn du dich sorgst oder in Gefahr bist...«, entgegnete Rob und sah mich eindringlich an.
Ich wendete meinen Blick ab. Alles, was mich ängstigte, war Rob zu verlieren und ich würde immer Angst davor haben. Aber mehr Angst als davor, ihn zu verlieren, hatte ich davor, dass ihm etwas zustoßen könnte. Ich wollte, dass er glücklich war. Auch wenn er das nicht immer verstehen könnte. Ich würde immer versuchen, ihn zu schützen.
Ich nickte.
»Sieh mich an, Jane. Versprich es mir.«
Ich sah ihn an und versuchte dennoch zu vermeiden, dass er mir ganz tief in die Augen und damit in mein Innerstes blicken konnte, denn er kannte mich wie niemand anderes. Und dann versprach ich ihm, was ich vielleicht nicht halten könnte.
Nachts war ich wieder im Meer. Ich schwamm zu meiner Familie und war äußerst verwundert, einen jungen Meermann dort anzutreffen.
Sajara begrüßte mich.
»Wer ist das?«, fragte ich sie leise.
»Eadoin. Er ist Lindas Freund. Heute ist er zum ersten
Mal zu Gast bei uns. Er ist sehr freundlich. Komm, ich stell ihn dir vor.«
Sajara machte mich mit Eadoin bekannt. Er war wirklich sehr sympathisch und ich verstand mich auf Anhieb gut mit ihm. Er wusste, dass ich die Wächterin war. Linda hatte es ihm erzählt, aber erst, als sie sich bereits länger kannten.
Linda strahlte. Warum hatte sie ihn nur so lange verschwiegen? Wir aßen zusammen, dann verabschiedete er sich. Ich blickte zu Linda herüber. Sie wich meinem Blick verlegen aus. Aber ich ließ nicht locker, denn sie musste mir unbedingt erzählen, wie sie ihn kennengelernt hatte und warum sie nie ein Wort darüber verloren hatte, dass sie einen Freund hatte, der auch noch so sympathisch war. Dass er gut aussah, war ja nicht wirklich eine Besonderheit. Ich hatte noch nie eine Sirene getroffen, von der ich etwas anderes hätte behaupten können.
Ich setzte mich neben Linda. Sie sah mich auf eine merkwürdige Art und Weise an.
»Was ist?«, fragte sie und lächelte.
»Erzähl mir alles!«, rief ich und lachte.
»Da gibt es nichts zu erzählen.«, erwiderte sie.
»Nein, natürlich nicht...« Ich verdrehte die Augen. »Erzähl mir, wo du ihn kennengelernt hast.«
»Er hat mich angesprochen, völlig unerwartet und als ich in seine Augen sah, wusste ich, dass ich ihn unbedingt näher kennenlernen muss und dann haben wir uns unterhalten und uns danach noch viel öfter unterhalten und schließlich ineinander verliebt. Wir sind seit einem Monat ein Paar.«, meinte sie und sah mich an.
Ich lächelte und hörte ihr aufmerksam zu.
»Glaub mir, du wirst auch jemanden finden. Jemanden zu haben, den man liebt und der einen auch liebt: Das ist etwas Wunderbares.«
Ja, das wusste ich nur zu gut. Wie würde ich ihr erklären, dass ich niemanden mehr finden musste und dass ich sogar schon länger als sie so unendlich verliebt war? Alles, was ich wusste, war, dass ich es ihr heute nicht mehr erzählen würde, mehr aber auch nicht. Ich würde es so lange, wie es mir irgendwie möglich war, geheim halten.
Später holte mich Mum wie immer ab. Ich war müde und wollte nur noch in mein Bett. Morgen würde ich Rob erzählen, was ich erfahren hatte und irgendwann würde ich auch ihn meinen Eltern vorstellen.
Ich war froh, dass Linda so glücklich war. Sie war die erste aus meiner Familie, die ich getroffen hatte und war von Anfang an für mich da gewesen. Sie war jemand ganz Besonderes — sie war meine Schwester und gleichzeitig auch eine sehr gute Freundin. Ich hatte nie eine Schwester gehabt und dann hatte ich ganz plötzliche eine ältere Schwester.
Auch Rob freute sich über Lindas Glück, aber ich spürte, dass es ihn auch irgendwie traurig machte, dass ich im Gegensatz zu Linda, ihn nicht Sajara und Casy vorstellen konnte. Ich wusste, dass er sich manchmal Gedanken darüber machte, nicht in mein Leben zu passen und glaubte, es mir unnötig schwer zu machen. Er wusste, was ich davon hielt und dass ich früher genauso gedacht hatte in Hinblick auf sein Leben, aber ich liebte ihn und er mich. Es spielte keine Rolle, egal wie unterschiedlich wir waren. Ich hätte ihn selbst dann geliebt, wäre auch er zur Muse geworden. Zum Glück gab es aber keine männlichen Musen, das hätte alles um ein Vielfaches erschwert. Wir hätten uns immer schrecklich eigenartig in der Gegenwart des Anderen gefühlt. Aber auch das hätte uns niemals trennen können.
Am Montag in der Schule schien es Josie wirklich nicht gut zu gehen. Sie wirkte die meiste Zeit über abwesend und traurig. Ich wollte unbedingt für sie da sein. Sie war meine Freundin, im Gegensatz zu Emma, die sich irgendwann nicht mehr gemeldet hatte. Ich wollte sie noch nicht verlieren, wo ich doch wusste, dass uns nur noch wenig Zeit blieb. Nur noch ein Jahr, bis ich sie nie wieder sehen dürfte. Gerade, weil sie mir so viel bedeutete. Ich mochte es gerne in ihrer Nähe zu sein, vielleicht auch gerade, weil sie der einzige Mensch war, der mir nahe stand und nicht wusste, wer ich wirklich war. Für sie war ich Jane, niemand sonst. Das war etwas Besonderes für mich.
»Was ist, Josie?«, fragte ich sie.
»Nichts.«, antwortete sie und wandte den Kopf ab.
»Ich merke doch, dass dich etwas bedrückt. Sag mir, was los ist. Ich bin deine Freundin, ich bin für dich da und ich will dir helfen, damit es dir besser geht.«, sagte ich zu ihr, woraufhin sie anfing, zu weinen.
Ich nahm sie in den Arm und wartete geduldig, bis sie wieder sprechen konnte.
»Es ist eigentlich nichts, was dich interessieren würde.«, meinte sie und wischte sich die Tränen ab, die ihr Gesicht hinunter liefen.
»Natürlich interessiert es mich.«, entgegnete ich und sah sie an.
Sie war jemand ganz Besonderes, jemand, den man in meinen Augen einfach mögen musste und trotzdem war sie eine Art Außenseiterin, genau wie ich, da ich kaum Kontakt zu den anderen Mitschülern hatte. Meine Situation war allerdings anders. Ich wollte nicht noch mehr Menschen kennenlernen, die ich später verlassen und nie wiedersehen würde. Dabei ging es mir nicht um den Schmerz, den es in mir auslösen würde. Ich wollte bloß keinen Platz im Leben eines Menschen einnehmen und später durch mein plötzliches Verschwinden eine Leere hinterlassen. Ich wollte den Kreis der Menschen, die ich verlassen würde, so klein wie möglich halten.
»Mein Vater verlässt meine Mutter wegen seiner Sekretärin, sie heißt Anna.«, sagte Josie plötzlich. »Meine Eltern wollen sich jetzt trennen. Ich war so blind. Sie wirkten immer so glücklich und dabei ging es meiner Mutter schon lange schlecht. Sie liebt meinen Vater. Und er betrügt sie. Sie wusste es, verstehst du? Sie hat nichts gesagt! Ich hätte für sie da sein sollen, ihr besser zuhören sollen. Irgendwie hätte ich es doch merken müssen, aber ich habe nichts bemerkt und sie hat gelitten.«, weinte Josie.
Sie war so davon überzeugt, dass sie etwas falsch gemacht hatte, obwohl sie nicht für ihre Mutter verantwortlich war.
»Ich glaube, deine Mutter wollte dich nicht belasten und das ist auch richtig! Glaubst du, sie will dich so sehen? Gerade du nimmst dir alles zu Herzen. Du hättest ihr nicht helfen können und wenn sie gewusst hätte, dass dich ihre Sorgen so sehr belasten, dann wäre sie noch unglücklicher gewesen.«
Josie sah mich an. »Glaubst du?«
»Ja, ich bin mir sicher.«, antwortete ich und umarmte sie noch einmal.
Josie machte sich immer so viele Gedanken und die Zeit, die ich noch mit ihr verbringen konnte, wollte ich nutzen, um für sie da zu sein. Sie brauchte das. Ich war ihre beste Freundin und ich wusste, dass echte Freunde für einander da waren, dass man sich um eine gute Freundschaft bemühen muss und sie ein Geschenk ist. Und Josie war ein Geschenk. Durch sie fühlte ich mich in meinem chaotischen Leben irgendwie normal. So, als wäre ich ein siebzehnjähriges menschliches Mädchen. Ich war ihr dafür unendlich dankbar. Das gab sie mir und es war mir wichtig, ihr auch etwas zurückzugeben.
Als ich am Abend bei meiner Familie war, gab mir Caroline den Text, den sie für mich übersetzt hatte. Ich schien einen Volltreffer gelandet zu haben. Der Text handelte unter anderem von Wächtern und Wächterinnen und ihre Aufgaben.
Ich war ganz aufgeregt, noch mehr darüber zu erfahren, was es bedeutete, Wächterin zu sein, was mich nun mein ganzes Leben lang begleiten würde. Ich wollte so viel darüber wissen, wie auch die Wächter und Wächterinnen vor mir. Ich wollte nicht unerfahrener oder schwächer sein als sie, auch wenn mir meine Eltern immer wieder bestätigten, dass ich alles richtig machte.
Es war ein sehr alter Text und er bedeutete mir viel. Vor Jahrhunderten hatten Sirenen bereits festgehalten, was die Rolle eines Wächters oder einer Wächterin ausmachte und was ihnen in Bezug auf ihr sich dadurch verändertes Leben aufgefallen war. Das Zeichen des Wassers machte sie etwas weniger verletzlich, aber es ließ sie nicht mehr los.
Ich las die ersten Zeilen und Caroline erklärte mir alles, was ich nicht verstand. Das Zeichen des Wassers hatte unglaubliche Kräfte. Es war mitunter in der Lage, die Menschen in meinem direkten Umfeld zu beeinflussen. Und in manchen Fällen könnte ich seine Kräfte sogar kontrollieren. Aber auch das Zeichen des Wassers konnte manchmal von anderen Sirenen beeinflusst werden, weshalb ich immer vorsichtig sein musste, was ich auch war. Wer Wächter oder Wächterin des Zeichen des Wassers war, hatte große Macht. Das Zeichen des Wassers verlieh sie ihm oder ihr. Die Wächter hatten sie immer nur zum Positiven eingesetzt.
Ich wunderte mich für einen Augenblick, dass mir noch nie in den Sinn gekommen war, mir das Zeichen des Wassers für bestimmte Zwecke zu Nutze zu machen. Mir war es aber auch recht, es einfach nur zu behüten. Ich wollte kein Chaos anrichten. Aber ich hatte mir ja auch genau deswegen den Text übersetzten lassen, weil ich mehr über das Zeichen des Wassers und seine Eigenschaften erfahren wollte und vielleicht würde auch ich irgendwann seine Kraft einmal nutzen können.
Dann las ich, dass, wenn ein Wächter oder eine Wächterin ein eheähnliches Bündnis eingeht, sich automatisch die Aufgabe, das Zeichen des Wassers zu beschützen, auch auf den Partner überträgt. Ich konnte das nicht richtig nachvollziehen. Weshalb sollte sich jene Aufgabe des oder der Auserwählten auf jemand anderes übertragen?
»Caroline, warum überträgt sich die Aufgabe auch auf den Partner eines Wächters?«, fragte ich sie.
Sie lächelte.
»Ich weiß nicht alles. Und du fragst mich wirklich schwierige Dinge. Das Zeichen des Wassers alleine bereitet mir schon Kopfzerbrechen. Warum existiert es? Ich werde womöglich niemals eine Antwort darauf finden.«, entgegnete sie. »Aber wenn du willst, kann ich dir sagen, was ich und viele andere Sirenen vermuten: Es dient dazu, den Wächter zu entlasten. Das ist, was ich für am wahrscheinlichsten halte. Gerade, wenn das Paar Kinder hat, ist es sinnvoll, wenn die schwere Aufgabe des Wächterseins geteilt wird. Natürlich bleibt weiterhin der Wächter der primäre Hüter des Zeichen des Wassers, aber der Partner kann das Zeichen des Wassers als Einziger an sich nehmen, ohne dass der Wächter damit ein Problem hat.«, meinte Caroline und lächelte.
Das schien mir einleuchtend. Ich nahm das Zeichen des Wassers in meine Hand. Ich spürte erneut, wie sehr wir miteinander verwoben waren. Es war unmöglich dieses Gefühl in Worte zu fassen. Ich spürte es seit dem ersten Moment, in dem ich es berührt hatte. Als könnten wir nie wieder ohne einander sein. Dieses Gefühl war unglaublich stark und so, wie ich das Zeichen des Wassers brauchte, um zu leben, erinnerte es mich an die stärkste Form von Liebe. Wenn es plötzlich jemanden gibt, der dir mehr bedeutet als alles zuvor, der dein ganzes Leben verändert und den du so sehr liebst, dass du weißt, dass dir nie wieder etwas mehr Schmerzen bereiten könnte, als diese Person leiden zu sehen.
Die Kräfte, die das Zeichen des Wassers auf mich ausübte, waren vergleichbar mit einer Art von Besessenheit und ich wollte mich nicht so abhängig von ihm machen, aber dagegen anzukämpfen war unglaublich schwierig. Vor allem war es schwer, klar zu denken, wenn ich glaubte, dass es in Gefahr war. Ich schämte mich noch immer dafür, wie ich beim ersten Aufeinandertreffen mit dem Zeichen des Wassers mit meiner Familie gesprochen hatte. Ich war nur fixiert auf das Zeichen des Wassers gewesen. Und es beeinflusste mich noch immer, was ich allein dadurch spürte, dass ich nicht wirklich Angst davor hatte, völlig von ihm eingenommen zu sein.
Es hätte mich schlimmer treffen können. Ich weiß nicht, was gewesen wäre, wenn ich aufgrund der Macht die von ihm ausging, nie wieder zurück an Land gekonnt hätte.
Ich spürte einen Stich in meinem Bauch und wusste, dass es wieder so weit war. Es würden wieder schmerzvolle Tage folgen. Ich bat Caroline, noch bevor ich wieder an Land ging, darum, das alte Dokument noch ein paar Tage für mich aufzubewahren. Ich wollte es selbst zurück in die Bibliothek bringen. Natürlich mit dem Hintergedanken, wieder dorthin zu können, um weitere alte Schriften auszuleihen. Ich konnte es beinahe nicht erwarten, aber in den nächsten Tagen würde ich erst mal nicht wieder ins Meer können. Ich hatte zu große Bauchschmerzen und es war Neumond, wovor ich mich noch viel zu sehr fürchtete, als es wieder mitzuerleben.
Damals hatte ich förmlich um diese Erfahrung gebettelt. Ich hatte nicht gewollt, dass die anderen etwas erleben, was ich noch nicht kannte. Ich weiß nicht, warum ich so dickköpfig gewesen war und meine Familie überredet hatte, denn noch während meines ersten Neumonds hatte ich mir geschworen, es so schnell nicht wieder mitzuerleben.
Rob besuchte mich in den nächsten Tagen häufig. Von alldem, was ich durch Carolines Übersetzungen erfahren hatte, erzählte ich ihm nichts.
Vor allem das mit der Hochzeit und der Übertragung der Pflicht, immer das Zeichen des Wassers zu schützen, wollte ich ihm nicht berichten. Ich wusste, dass ich irgendwann nicht mehr als Mensch an Land leben oder gar Rob besuchen könnte. Ich würde durch und durch eine Sirene sein, weil die Tabletten niemals in der Lage sein würden, meine Verwandlung an meinem 18. Geburtstag aufzuhalten. Ich würde nur als Gestaltenwandlerin ab und zu an Land kommen können und das machte ein gemeinsames Leben an ein und demselben Ort unmöglich. Ich hatte wirklich große Angst davor, denn es schien hoffnungslos. Rob konnte nicht mit mir im Meer leben, er war ein Mensch, und ich könnte nie wieder als Mensch leben, was vielleicht sogar zur Folge haben würde, dass wir unsere Beziehung aufgeben müssten. Bei dem Gedanken daran zog sich alles in mir zusammen.
Ich verdrängte die Gedanken, um die Zeit mit ihm zu genießen. Er hatte die gleichen Sorgen. Ich wollte also nicht auf Hochzeiten zwischen Sirenen zu sprechen kommen.
Nachdem Rob gegangen war, kam Mum nach Hause. Sie hatte Phil besucht. Ich hatte alles mögliche dafür getan, dass sie ihn wenigstens besuchen durfte. Es bedeutete ihr so unglaublich viel. Mum hatte mir erzählt, dass sie, als ich noch klein war, oft tauchen gegangen war und versucht hatte, ihn irgendwie zu finden, aber es war ihr nie gelungen. Deshalb war es ihr auch so schwer gefallen, ihn zu vergessen, denn er war niemals tot gewesen, er hatte immer gelebt. Zwar hatte Mum das nicht sicher gewusst, aber sie hatte es immer gehofft und auch irgendwie gespürt.
Sie war immer überglücklich, wenn sie von einem Besuch bei ihm wiederkam. Sie liebte ihn noch wie früher. Zumindest für sie schien es ein Happy End zu geben, denn ich ging davon aus, dass sie ihn schon irgendwann wieder frei lassen würden.
»Na, geht es dir besser?«, fragte Mum.
»Nein, nicht wirklich.«, antwortete ich und trank einen Schluck Wasser.
Mum sah mich plötzlich ganz eigenartig an und kam auf mich zu. Sie strich mir die Haare aus dem Gesicht.
»Jane, es würde mir vermutlich das Herz brechen, aber, wenn du möchtest, dann kannst du aufhören diese verdammten Tabletten einzunehmen, hörst du?«, bot sie mir an. »Du brauchst sie nicht. Ich habe dir schon genug angetan und ich kann nicht mehr ertragen zu sehen, wie sehr du leidest.«
»Mum!«, rief ich. »Ich kann nicht aufhören damit. Ich habe nur noch ein Jahr, das hast du mir selbst damals erzählt. Ich werde die schöne Zeit mit Rob nicht aufgeben wegen Schmerzen, die ich schon immer hatte. Es wird so oder so unglaublich schwer für uns. Aber die Zeit, die mir bleibt, möchte ich nutzen.«, entgegnete ich und fing an zu weinen.
Mum nahm mich in den Arm.
»Du hättest etwas Besseres verdient als ein Leben mit einer Frau, die so egoistisch war und ihre Bedürfnisse denen eines kleinen Kindes überordnete. Es tut mir leid, Jane. Ich werde dich vermissen!«
Ich glaubte immer schon daran, dass alles einen Sinn haben musste. Wäre ich, wie für mich vorbestimmt, immer Sirene gewesen, wäre ich Rob nie begegnet. Deshalb war ich meinen Eltern immer auch ein Stück weit dankbar. Natürlich war es keineswegs richtig, was sie damals getan hatten, aber, wenn es nicht so gewesen wäre, wäre ich nicht ich. Ich hätte keine für mich wichtigen Freundschaften geschlossen. Ich hätte nicht Rob und er nicht mich gefunden und ich hätte keine Freundschaft mit Musen schließen können.
Ich drückte Mum ganz fest und dachte die ganze Zeit daran, dass ich eigentlich glücklich war. Vielleicht würde es mir gelingen trotz meines Lebens als Sirene mit Rob zusammen zu sein. Unsere Liebe war dazu stark genug, ich wusste es. Und über das Zeichen des Wassers war erst wenig bekannt. Vielleicht hatte es noch nicht alle seine Fähigkeiten offenbart. Vielleicht konnte es mir helfen.
Glücklich schloss ich am Abend die Augen und hielt das Zeichen des Wassers fest in meinen Händen.
Am darauffolgenden Tag spürte ich schon keine Bauchschmerzen mehr. Neumond war auch vorbei und ich wollte wieder zurück ins Meer. Ich war gespannt, ob ich noch ein paar weitere Schriften finden würde.
Als ich zum Aufenthaltsort meiner vier Begleiterinnen kam, bat ich Caroline, mir das alte Dokument zu geben, denn ich wollte zur Bibliothek, um ein paar neue auszuleihen und dann könnte ich dieses abgeben.
»Ich kann dich aber leider nicht begleiten und Leslie, Sofie und Isabella sind nicht hier. Fühlst du dich sicher genug, die Bibliothek alleine aufzusuchen?«, fragte Caroline mich, nachdem sie mir das Dokument überreicht hatte.
Ich hoffte, dass ich es auch alleine schaffen würde. Ich wollte ja auch eigenständig sein, schließlich war ich die Wächterin, die mächtigste Sirene von allen. Mir war es unangenehm, immer Hilfe zu benötigen, weil ich eigentlich ein sehr selbstständiger Mensch war, was daran lag, dass ich bereits als kleines Kind viel Zeit alleine verbracht hatte. Ich hoffte nun, auch alleine etwas Brauchbares zu finden.
Als ich die Bibliothek erreichte, wusste ich gar nicht genau, wonach ich suchen sollte. Es war aber alles so spannend und faszinierend für mich. Ich sah mich etwas hilflos um. Diese Bibliothek war anders als die, die ich aus meinem Leben als Mensch kannte. Es gab niemanden, den ich hätte fragen können, was mich verwunderte. Sirenen schienen einander großes Vertrauen entgegenzubringen, denn es gab nicht einmal eine Aufsicht. Es waren ein paar junge Sirenen anwesend, die konzentriert Texte lasen. Ich hörte, wie einige Sirenen Sprachen der Menschen lernten und es schien so, als gäbe es keine Sprache, die sie nicht lernen konnten. Ich fragte mich, wie es für sie möglich war und was es für einen Sinn für sie machte, so viele Sprachen zu lernen, wo sie doch kaum mit Menschen in Kontakt traten.
Ich entschied mich, nach Schriften über Gestaltenwandler und ihre wichtige Rolle im Leben der Sirenen zu suchen. Planlos durchstöberte ich die Bibliothek, aber ich konnte einfach ihre Sprache noch nicht verstehen und somit war ich nicht in der Lage, auch nur einen Titel eines Schriftstückes zu entschlüsseln.
»Brauchst du Hilfe?«, hörte ich jemanden hinter mir.
Ich drehte mich um und sah Paul. Er sah mich freundlich an.
»Oh ja. Gibt es irgendwelche Schriften über Gestaltenwandler und ihre Aufgaben?«, fragte ich und war heilfroh, dass Paul in der Bibliothek war.
»Ich denke schon, lass uns danach suchen.«, meinte er und schwamm mir voraus.
»Bist du oft hier?«, fragte ich.
»Ja. Meine Familie hat diese Sammlung an Schriften vor vielen Jahren nach und nach zusammengetragen und stetig erweitert. Es ist für mich ein ganz besonderer Ort und ich versuche, so viel Zeit wie möglich hier zu verbringen.«, antwortete er.
»Ich mag Bibliotheken auch sehr gern. Ich liebe die Ruhe dort.«, sagte ich und folgte ihm in einen der vielen Abschnitte der Bibliothek.
»Dort oben!«, sagte Paul und zeigte auf eine Reihe von Schriften, die sich hoch über unseren Köpfen befanden. Ich schwamm hinauf und er übersetzte mir ihre Titel und ich entschied mich für eine Sammlung von Texten, die über viele Jahre gesammelt worden waren und alle von Gestaltenwandlern handelten.
»Woher weißt du so viel über den Inhalt der Schriften?«, fragte ich ihn, denn mir war aufgefallen, dass Paul über alle Schriften etwas sagen konnte.
»Ich habe alles, was sich hier befindet, gelesen.«, sagte er und sah mich verwundert an. »Lesen Menschen nicht so viel?«
Wie hatte er alle Bücher lesen können? Es war die größte Bibliothek, die ich je gesehen hatte.
»Ich glaube nicht. Wie hast du das geschafft? Es ist so unheimlich viel zu lesen. Ein Mensch bräuchte die ganze Zeit seines Lebens dafür, um alles zu lesen, was in dieser Bibliothek an Schriften vorhanden ist, wenn nicht länger.«
»Amarilla, die Sache ist ganz einfach: Ich bin kein Mensch. Ich bin eine Sirene. Wir unterscheiden uns von Menschen nicht nur in Hinblick auf Äußerlichkeiten. Wir lesen sehr schnell. Wahrscheinlich ist es das.«, entgegnete Paul.
Er sah mich an. Ich war noch immer völlig verwundert. Ich konnte mir dieses riesige Ausmaß an Worten nicht vorstellen. Ich las Bücher gern, aber ich würde nie in der Lage sein, so viel zu lesen.
»Du wirst es auch irgendwann können, keine Sorge. Unsere Sprache ist ganz anders als eure und daran liegt es vielleicht auch. Jede Sirene beherrscht diese Fähigkeit. Es würde mich doch sehr wundern, wenn du es nicht könntest. Es gibt weitaus schwierigere Sachen im Leben einer Sirene.«
Ich war mir nicht ganz sicher, ob er recht behalten würde. Wenn ich an mein Geburtstagsgeschenk dachte und daran, wie ich mir immer wieder Texte darauf durchlas, aber nichts davon auch nur ansatzweise verstehen konnte, kamen große Zweifel in mir auf, dass ich jemals die Sprache der Sirenen beherrschen würde.
Es wurde Zeit für mich, die Bibliothek wieder zu verlassen.
»Kommst du mich bald wieder besuchen?«, fragte Paul.
»Muss ich ja wohl.«, antwortete ich mit einem Lächeln und zeigte auf die Textsammlung, die ich mir ausleihen wollte.
»Ich freue mich. Vielleicht kann ich dir ja dann noch ein paar andere Texte empfehlen.«.
Ich machte mich auf den Weg zu Caroline.
»Und hast du etwas gefunden?«, fragte sie mich, als sie mich sah.
»Ich glaube schon. Hilfst du mir?«, fragte ich und überreichte ihr die Schriften.
»Natürlich. Dafür bin ich doch da.«, lachte sie.
Ich mochte es nicht, dass sich meine Begleiterinnen, wie sie sich nannten, obwohl sie meine besten Freundinnen waren, mir unterlegen fühlten. Für sie stand seit ihrer Geburt fest, dass sie meine Begleiterinnen sein würden. Sie kannten es nicht anders.
»Ich finde das nicht selbstverständlich.«
»Ach, Jane. Was redest du denn da? Als du noch nicht wirklich Teil unseres Lebens warst, fühlten wir uns sehr oft nicht wohl, eben weil du nicht da warst. Es ist unser Leben, dir zu helfen. Du kannst es nicht verstehen. Ich fühle mich unvollständig ohne meine Aufgabe, dir zu helfen. Ich bin so geboren.«, erklärte Caroline.
»Ich will nicht, dass du so abhängig von mir bi...«
»Jane!«, unterbrach Caroline mich und warf mir einen wütenden Blick zu. Dann verflog die Wut in ihren Augen und sie sah mich freundlich an. »Willst du nun, dass ich dir helfe oder nicht?«
Ich nickte und gab auf.
Caroline überflog die Texte in Windeseile, legte sie beiseite und schrieb die Übersetzungen auf eine gepresste Wasserpflanze, die mich an Papier erinnerte. Ich weiß nicht genau, was es war, aber ich konnte alles lesen und Caroline versicherte mir, dass ich die Texte im Wasser und an Land lesen könnte. Nach nur zehn Minuten gab sie mir eine vollständige Übersetzung.
»Glaubst du, ich werde das auch noch erlernen, dieses blitzartige Lesen und Schreiben?«, fragte ich Caroline ohne große Hoffnung.
»Ich weiß nicht. Schnelles Schreiben ist für uns nicht schwer, aber ich schreibe noch etwas schneller als andere. Das ist mein persönliches Talent.«
Und ich wusste auch genau, warum sie es besaß, genauso wie ihre Intelligenz. Ich fragte mich wieder, wann ich endlich in der Lage sein würde, fließend meine Muttersprache zu sprechen. Und je öfter ich sie hörte, desto mehr erinnerte ich mich daran, dass ich sie nie ganz vergessen hatte. Manchmal war ich als kleines Mädchen nachts aufgewacht, weil ich schlecht geträumt hatte. Es waren Träume, die ich nicht verstand. Dunkel, kalt, blau und in einer anderen Sprache. Ich hielt es für gewöhnlich, dass man manchmal eben solche Träume hatte. Je älter ich wurde, desto seltener wurden aber jene Träume und ich hatte ihnen sowieso nie eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Jetzt wusste ich, dass mein Unterbewusstsein die Sprache der Sirenen nie ganz verdrängt hatte. Einmal hatte ich Linda gefragt, wie sie ihre Sprache nannten. Sie hatte gelacht und mich angesehen.
»Ich weiß schon. Ihr Menschen habt viele unterschiedliche Sprachen. Wir sind anders. Wir haben nur eine Sprache. Findest du das nicht sinnvoller?«, meinte sie dann.
Ich nickte. Ich war heilfroh, Englisch zu beherrschen. Damit verstand man mich fast überall. Auf der anderen Seite war es bestimmt etwas Besonderes, von Niemandem aus anderen Ländern verstanden zu werden.
Sirenen kannten nicht einmal verschiedene Dialekte. Ich wusste nicht, wie sie das machten. Sie sprachen auch alle