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Wie ein leichter Sommerwind: Ferien in Skandinavien
Am Zeugnistag ist Emmy im Glück: Sie hat in Englisch die volle Punktzahl erreicht! Das war die Bedingung für eine Reise nach New York mit ihrem Vater. Neben den coolen Programmpunkten wie Freiheitsstatue, Central Park und Empire State Building freut sich Emmy besonders auf die gemeinsame Zeit allein mit ihrem Vater. Der wohnt seit einigen Monaten nicht mehr bei Emmy und ihrer Mutter, sondern bei seiner schwangeren Freundin ... Emmy ist schon am Kofferpacken, als ihr Vater die New-York-Reise absagt, weil es bei seiner Freundin Komplikationen gibt. Emmy fühlt sich verraten! Der von ihrer Mutter eiligst organisierte „Ersatz-Urlaub“ nach Finnland droht zur Katastrophe zu werden …
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Seitenzahl: 169
Veröffentlichungsjahr: 2020
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© 2020 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Carola Henke
Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler unter
Verwendung von Fotos von Gettyimages / Jasmina 007
und Shutterstock (bejo, kzww)
hf · Herstellung: MJ
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-25678-4V001www.cbj-verlag.de
»Unsere Klassenbeste in diesem Schuljahr ist … Emmy Sonnenschein.«
Emmy strahlte über das ganze Gesicht und wurde ihrem Nachnamen mehr als gerecht. Sie sprang auf, und ihr Herz klopfte so heftig, dass sie kaum atmen konnte. Ihre Mitschüler klatschten, sogar Sven, der sich für den schlauesten Jungen auf diesem Planeten hielt.
Frau Schulte überreichte ihr das Zeugnis. »Englisch volle Punktzahl. Emmy, das hat mich am meisten gefreut. Das beweist, dass man alles schaffen kann, wenn man sich nur ein wenig anstrengt und sich auf das Wesentliche konzentriert.«
Emmy hörte Nadja neben sich maulen. »Na klar, Schulte. Halt einfach die Klappe.« Nadja stand mit Frau Schulte auf Kriegsfuß, und zwar besonders wegen ihrer Englischleistungen. Die waren, wenn man der Lehrerin glaubte, unterirdisch. So wie Emmys Englischnoten bis zu diesem Schuljahr. Aber dass Emmy plötzlich so super Noten in Englisch geschafft hatte, war wirklich nicht Frau Schultes Verdienst.
Sie hatte einen viel besseren Ansporn. Eine Reise nach New York mit ihrem Vater. Die hatte er ihr fest versprochen, wenn sie in Englisch volle Punktzahl erreichen würde. Mit dem Fahrstuhl bis in die höchste Etage des Empire State Buildings fahren, mit dem Fahrrad durch den Central Park cruisen, mit dem Boot um die Freiheitsstatue herumkurven. Und genauso wichtig: endlich mal wieder mit ihrem Vater allein sein.
Seit ihre Eltern geschieden waren, sah sie ihn nicht mehr so oft, wie sie es sich wünschte. Und nun bekam seine neue Freundin auch noch ein Baby.
Emmy würde Schwester werden und darauf hatte sie gar keine Lust.
Jessica war Emmys Reitlehrerin gewesen, so hatten sich ihr Vater und sie kennengelernt. Wirklich Pech, dass die beiden sich ineinander verliebten. Doppeltes Pech, dass Emmy Jessica wirklich sehr gemocht hatte.
Nur nicht als Freundin ihres Vaters.
Das alles würde sie ihrem Vater sagen, wenn sie erst allein unterwegs wären. Und dass sie sich ohne ihn oft einsam fühlte.
Während Frau Schulte weiter Zeugnisse verteilte, zog sie heimlich ihr Handy aus dem Rucksack und fotografierte ihr Zeugnis. Das Bild schickte sie an ihren Vater. Hey, Papa. Welcome to New York. Kannst schon packen. Deine Klassenbeste. Gerade rechtzeitig schob sie das Handy zurück, denn eine Sekunde später stand Frau Schulte wieder neben ihrem Tisch.
Nadja hatte eines der schlechtesten Zeugnisse und musste einen ewig langen Vortrag über verpasste Chancen über sich ergehen lassen.
»Oh Mann, ich hasse Frau Schulte«, stöhnte Nadja, kaum dass es zum Stundenende läutete. Zum allerletzten Mal vor sechs Wochen Ferien.
»Und tolle Ferien wünsche ich euch allen, kommt erholt zurück!«, rief Frau Schulte ihren hinausstürmenden Schülern hinterher.
»Süße, das tut mir so leid«, bemitleidete Emmy ihre Freundin und nahm sie in den Arm, als sie sich durch das Gewusel auf dem Schulhof schoben.
»Das werden schlimme Ferien«, sagte Nadja düster. »Meine Eltern werden mir Nachhilfe aufbrummen. Und wetten, ich muss die Kohle, die sie dafür aus dem Fenster schmeißen, in der Eisdiele abarbeiten? Tschüss, Badesee.«
Nadja verreiste in den großen Ferien nie, weil ihre Eltern ein Eiscafé hatten. Erst in der Winterpause fuhren sie nach Sizilien, dort wohnte die Familie ihres Vaters.
»Na, du Streberin!«, rief Sven und boxte Emmy freundschaftlich in die Seite. »Gibst du ’ne Runde Eis aus auf deinen Sieg? Nächstes Jahr bin ich wieder vorn.«
Emmy tippte sich an die Stirn. »Spinner. Mir doch egal, wer Klassenbester ist. Ich wollte nur nach New York.«
Für Sven war immer alles Wettstreit. Bestes Zeugnis, schnellster Läufer, coolste Party, weiteste Reise. Sven verzog das Gesicht. »New York? War ich schon dreimal. Matte Sache. Ich fliege morgen mit meinem Alten zum Schnorcheln nach Mauritius. Das ist abgefahren.«
Auch Svens Eltern waren geschieden wie viele andere Eltern von Emmys Mitschülern. Im Gegensatz zu ihr nahm Sven die Trennung seiner Eltern sportlich, sie konkurrierten um ihn und Sven pickte sich die Rosinen raus. Dieses Jahr hatte anscheinend sein Vater das Rennen gemacht – mit Mauritius.
»Ein richtiger Kotzbrocken bist du!«, rief ihm Nadja hinterher. »Tu mir den Gefallen und lass dich von ’nem Hai auffressen!«
Sven lachte gelassen. »Hast du in Erdkunde etwa auch ’ne Fünf? An den Stränden von Mauritius gibt’s keine Haie, du Geografie-Genie.« Bevor Nadja so richtig wütend werden konnte, nahm Emmy ihre Hand.
»Lass doch, der kapiert es sowieso nicht. Ich hab aber wirklich Lust auf Eis. Mama ist heute für eine Reportage in Brandenburg unterwegs und kommt erst am Abend nach Hause. Ich weiß nicht, wann Papa und ich nach New York fliegen, aber bestimmt sehr bald. Das Appartement von seinem Kumpel ist nur im Juli frei. Dann sehen wir uns eine halbe Ewigkeit nicht.«
Nadja umarmte Emmy. »Ach, Schatz, ich werde dich so vermissen. Los, jetzt lassen wir uns von meinem Vater den größten Eisbecher der Stadt zaubern.« Sie holten ihre Fahrräder aus dem Fahrradkeller und trafen Frau Schulte, die gerade ihren Helm festzurrte. »Schöne Ferien euch beiden«, wünschte sie ein zweites Mal. »Emmy, hast du nicht Lust, mit deiner Freundin in den Ferien zu üben? Nadja, du bist doch nicht dumm, bloß stinkfaul.« Nadjas Gesicht verfinsterte sich augenblicklich.
»Tut mir leid, Frau Schulte«, lachte Emmy. »Aber ich bin in New York.« Frau Schulte guckte beeindruckt. »Donnerwetter, wie toll. Schreibt deine Mutter dort eine Reportage?« Emmy schüttelte ihren Lockenkopf. »Nein. Ich fahre mit Papa. Ganz allein.«
Frau Schulte lächelte Emmy an. »Das freut mich wirklich für dich, Kind. Dann hast du deinen Vater mal ganz für dich allein. Die Trennung deiner Eltern ist doch noch gar nicht so lange her. Prima, dass sich das nicht negativ auf deine schulischen Leistungen ausgewirkt hat.« Sie nickte Nadja zu. »Du kannst dir wirklich ein Beispiel an deiner toughen Freundin nehmen.« Sie schwang sich auf ihr Fahrrad und radelte winkend davon.
»Dumme Pute!«, rief ihr Nadja hinterher, aber erst, als sie sicher war, dass Frau Schulte sie nicht mehr hören konnte. Sie äffte die letzten Sätze der Lehrerin nach. »Die ist nicht ganz fit im Oberstübchen«, sagte sie. »Meint sie, meine Eltern sollen sich auch scheiden lassen, damit ich besser in der Schule werde? So ein Bullshit. Außerdem lassen sich meine Eltern niemals scheiden, die sind Italiener. Die lassen nur ihre armen Kinder für sich arbeiten. Kein Wunder, dass ich keine Zeit zum Lernen habe.« Sie trat mit dem Fuß wütend gegen ein fremdes Fahrrad.
Emmy guckte mitleidig. »Lass die Schulte doch quatschen. Komm jetzt, ich brauche dringend ein Eis.«
Obwohl es sehr warm war, traten die beiden mit voller Kraft in die Pedale.
»Oh nein, schon wieder der Klugscheißer!«, rief Emmy, als sie auf das Café zusteuerten.
Tatsächlich belagerte nicht nur Sven, sondern ihre halbe Klasse die Eisdiele von Nadjas Eltern.
»Egal«, erwiderte Nadja. »Papa freut sich, wenn die Bude voll ist. Sven lassen wir einfach links liegen. Er wird gleich mega-neidisch gucken, wenn Papa uns seinen gigantischen Eisbecher zaubert.« Sie zog Emmy mit sich hinter die Theke zu ihrem Vater. »Papa, Emmy ist Klassenbeste geworden, sie braucht dringend ein Eis, und ich auch.«
Herr Molino strahlte Emmy an. »Bravissimo, bella cara. Glückwunsch.«
Er schüttelte ihr die Hand und drückte sie so fest an sich, dass sie keine Luft mehr kriegte.
»Und dein Zeugnis, Nadja?«, fragte er.
Nadja seufzte. »Frag nicht, Chef. Oder nicht jetzt. Später.«
Herr Molino nickte wissend. »Das musst du mit Mama besprechen. Sie ist hinten und macht neues Eis.«
Nadja schüttelte den Kopf. »Nicht der richtige Zeitpunkt.« Sie zog Emmy mit sich nach draußen zu einem leeren Tisch. »Mama wird stinksauer sein«, sagte sie und räumte das schmutzige Geschirr weg.
Wenig später brachte Herr Molino die zwei größten Eisbecher, die Emmy je gesehen hatte. Ihren Becher hatte er noch mit einer Schokoladen-Eins verziert und jeder Menge Streusel.
»Da sind echte Goldplättchen drauf«, erklärte er stolz. »Glückwunsch, Emmy.« Er zündete zwei Sternenwerfer an, die er in eine Waffel gesteckt hatte.
»Voll lieb, Herr Molino!«, rief Emmy gerührt.
»Die Streberin lebe hoch!«, brüllte Sven und animierte die anderen Gäste zum Klatschen.
Nadja kicherte. »Der Trottel ist in dich verknallt!«
Emmy guckte entrüstet. »So ein Quatsch«, sagte sie entsetzt und stieß ihren Löffel wie ein Schwert in die oberste Schicht Eis. »Hmmm, lecker«, schwärmte sie. Manchmal redete Nadja wirklich Unsinn. Sven und sie hatten am selben Tag Geburtstag, nur war er ein Jahr älter als sie.
Als Emmy im April zwölf geworden war, hatte Sven sie zu seiner Feier in die Bowling Bahn eingeladen, als einziges Mädchen. Natürlich war sie nicht hingegangen. Sie hatte mit Jungs nichts im Sinn, und vor allem nicht mit diesem Angeber Sven, der einen ständig belehrte und alles besser wusste. Sie spürte, dass er immer wieder zu ihr herüberschaute, und versuchte, seinen Blick auf keinen Fall zu erwidern.
»Boah, ich bin schon voll satt«, stöhnte sie, als sie sich durch die Hälfte des Eisbechers geschaufelt hatte.
»Ich finde ja Baran nett«, sagte Nadja und nahm das Jungsthema zu Emmys Leidwesen wieder auf. »Ich verstehe nicht, wieso der mit Sven befreundet ist.«
Emmy fischte eine Weintraube aus ihrem Eisbecher. »Kannst du aufhören, über die Jungs zu quatschen?« Sie beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Sven aufstand und zu ihnen herüberschlenderte.
»Krass, Emmy, dass du es schaffst, so einen Monsterbecher wegzuputzen«, begann er das Gespräch. »So viel Zucker ist voll ungesund, das weißt du schon?«
Emmy guckte genervt. »Vielen Dank für die Info. Ich kümmere mich selber um mein Leben. Sonst noch was?«
Sven nickte. »Ja, wegen NY. Ich hab noch einen ganzen Stapel Reiseführer, du kannst dir natürlich auch so ’ne New-York-App runterladen. Aber ich dachte, ich sollte dir ein paar wirklich coole Tipps geben, was du dort so machen kannst. Ich hab auch einen Cousin in Manhattan, ich mach dir gerne den Kontakt. Wann geht’s los? Ich kann dir das Zeug heute Nachmittag vorbeibringen.«
Emmy sah aus dem Augenwinkel, dass Nadja kurz davor war, laut loszulachen. Das fehlte gerade noch, Nerv-Sven rückte ihr auf die Pelle.
Never, never, never. Jetzt ließ er sich auch noch megalässig auf den Stuhl fallen, der am Nebentisch frei geworden war, und lächelte sie an. »Ich würde schon gerne wissen, wie du das geschafft hast, deine Noten so krass zu verbessern«, sagte er.
»Zisch ab«, mischte sich Nadja ein. »Und hör auf, dich bei Emmy einzuschleimen.«
Sven schenkte ihr einen vernichtenden Blick. »Das Eis von deinem Alten ist Spitzenklasse. Verstehe gar nicht, dass er so eine Loserin als Tochter hat.«
Nadja sprang wütend auf und ballte die Fäuste.
»Hey, lass doch, Süße«, sagte Emmy und umfasste Nadjas Fäuste. »Das ist der Typ nicht wert.«
Auch Herr Molino war auf Nadja aufmerksam geworden. »Alles okay, Nadja?«, rief er zu ihnen herüber.
»Irgendwann hau ich dir deine Nase zu Brei«, sagte sie wütend zu Sven.
Sven reagierte nicht auf Nadja, er schaute immer noch Emmy an. »Also, was sagst du zu meinem Angebot?«
In diesem Augenblick brummte Emmys Handy in ihrer Hosentasche. Sie fummelte es mühsam heraus und begann zu strahlen.
»Mein Vater«, sagte sie und nahm das Gespräch an. »Hey, Paps, megacool oder? Ich bin sogar besser als Sven Winter. Weißt du schon, wann wir starten? Ich freue mich so, ich hab schon mit Packen angefangen, aber Mama war nicht sicher, ob ich nicht mit den Noten übertreibe. Wann sehen wir uns?« Sie lauschte in das Telefon. »Was?«, sagte sie mit einer ganz komischen Stimme. »Nicht wahr, Papa, nicht wahr!«, brüllte sie dann und beendete das Gespräch abrupt. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«
»Was ist los?«, fragte Nadja erschrocken. »Emmy! Was ist los?« Plötzlich war es ganz still im Eiscafé. Alle Gäste starten Emmy an.
»Scheiße!«, schluchzte Emmy. »Verdammte Scheiße.« Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie das Handy in ihre Hosentasche zurücksteckte.
»Was geht ab?«, fragte Sven. »Emmy, jetzt sag schon. Ist jemand tot?«
Nadja warf Sven einen genervten Blick zu. Emmy tastete nach ihrem Rucksack und setzte ihn in Zeitlupentempo auf ihren Rücken.
»Ja, ich bin tot«, antwortete Emmy heiser. »Wenn ihr echten Spaß haben wollt, dann kommt mit in den Volkspark, da kriegt ihr was Cooles zu sehen.« Sie stürmte davon.
»Emmy, warte! Bitte warte doch auf mich!«, rief Nadja und rannte ihre Freundin nach.
»Baran, zahlst du?«, rief Sven. »Los, hinterher.«
Er folgte Emmy und Nadja. Und nicht nur er. Auch die anderen Schüler aus Emmys Klasse brachen hastig auf.
»Wo wollt ihr denn alle hin, Kinder?«, rief Herr Molino verblüfft. »Nadja, sagt mir bitte einer, was passiert ist?«
»Emmy hat was vor, Herr Molino«, klärte ihn Baran auf. »Mehr wissen wir auch nicht. Das Eis war wirklich lecker.« Er legte zehn Euro auf den Tisch und raste davon. Herr Molino schüttelte den Kopf. »Kinder«, murmelte er.
Emmy rannte in Höchstgeschwindigkeit durch die Straßen, überquerte zwei Ampeln bei Rot und stolperte beinahe über einen Sportkinderwagen, der vor einem Bioladen stand.
»Emmy!«, rief Nadja. »Emmy, jetzt warte doch bitte auf mich.« Aber Emmy rannte sogar noch schneller.
Passanten blieben stehen und schauten den Kindern verblüfft hinterher. Ein ganzer Rattenschwanz folgte Emmy in den Volkspark.
»Was ist da los?«, fragte ein älterer Herr. »Ist schon wieder ein Marathon? Ständig ist Marathon.« Er schob seine Gehhilfe verwirrt weiter.
»Emmy hat was vor«, keuchte Baran. »Im Volkspark.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Im Volkspark? Ja, was denn?« Er bekam keine Antwort, denn Baran war schon weitergesprintet.
Emmy erreichte das Tor vom Volkspark, überquerte die Liegewiese, auf der sich schon jede Menge eingeölter Sonnenanbeter rekelten, und rannte an der Hundebadestelle vorbei, bis sie schließlich atemlos den Grillplatz erreichte. Um diese Uhrzeit war es dort noch ziemlich leer und die fest installierten Grills und Feuerkörbe waren verwaist. Das würde sich im Laufe des Nachmittags ändern. Nur eine türkische Familie baute gerade Tapeziertische für ein Grillfest auf und schmückte ihren Platz wie für eine Geburtstagsparty. Ein junger Typ übte auf einer Ney, einem türkischen Blasinstrument, das einer Flöte sehr ähnelte, ein Geburtstagsständchen.
Emmy blieb vor einem leeren Feuerkorb stehen und starrte hinein. Ein paar unbenutzte Holzkohle-Stücke lagen noch von einer vergangenen Grillparty daneben. Sie ordnete die Holzkohle in dem Korb kreisförmig an und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Die Tränen waren getrocknet und fühlten sich klebrig an. In ihrer Hosentasche vibrierte das Handy, aber sie beachtete es nicht. Sie wartete, bis die anderen herankamen, allen voran Nadja.
»Was ist denn passiert? Und warum ist dein Gesicht schwarz!«, rief sie panisch.
Emmy betrachtete ihre Hände, die voller Kohlenstaub waren. »Kriegsbemalung«, sagte sie.
Sven schubste Nadja beiseite und stellte sich dicht neben Emmy. »Was’n los, Streberin?«
Inzwischen hatten ihre Mitschüler einen stummen Kreis um sie gebildet und starrten sie neugierig an.
»Ist wer aus deiner Familie verunglückt?«, fragte Baran mitfühlend. Sein Vater arbeitete auf einer Baustelle. Vor ein paar Wochen war er vom Gerüst gefallen und hatte sich die Wirbelsäule verletzt. Seither lag er im Krankenhaus und Baran besuchte ihn jeden Nachmittag. Nicht einmal zum Fußballtraining ging er seither.
Emmy schüttelte den Kopf. »Nö«, sagte sie.
»Ein Glück«, sagte Baran.
»Was ist dann?«, fragte Nadja.
»Ich flieg nicht nach New York«, brach es aus Emmy heraus. »Mein total bescheuerter Vater bricht wieder einmal sein Versprechen. New York fällt aus. Scheiße, Scheiße, Scheiße.«
Nadja schrie auf. »Oh nein. Das ist ja voll gemein. Süße, es tut mir so leid.«
Sie wollte Emmy umarmen, aber die stieß ihre Freundin rüde zurück, sodass sie in Barans Arme stolperte. »Hoppla!«, riefen beide und grinsten sich verlegen an.
»Aber warum?«, bohrte Sven weiter. »Und warum setzt du ihn nicht unter Druck? Mache ich mit meinen Eltern auch so. Klappt immer. Die haben ständig ein schlechtes Gewissen.«
Emmy seufzte tief. »Das hat keinen Sinn. Die Freundin von Papa kriegt doch ein Baby, und jetzt gibt es Probleme und sie muss eine Weile zur Sicherheit im Krankenhaus bleiben. Papa will sie nicht alleine lassen.« Sie biss sich auf die Lippen. »Aber mich schon, mal wieder.«
Nadja stöhnte. »So ein Mist. Nee, da ist natürlich nichts zu machen.«
Baran stimmte Nadja zu. »Hey, Emmy, klar, das ist echt dumm. Aber es geht um dein Geschwister. Familie ist heilig, immer. Ich bin jeden Tag bei Papa.«
Emmy sah ihn wütend an. »Jessica und das Baby sind nicht meine Familie. Papa, Mama und ich sind Familie. Was redest du für einen Quatsch. Misch dich nicht in meine Angelegenheiten ein.« Sie nahm ihren Rucksack von den Schultern.
»Emmy, beruhig dich, Baran hat es nur nett gemeint«, verteidigte Nadja ihren Mitschüler.
Emmys Gesicht verfinsterte sich noch mehr. »Leute, kapiert es doch. Papa hat mir versprochen, dass wir nach New York fliegen. Ich habe mich das ganze Schuljahr abgerackert und bei Frau Schulte rumgeschleimt, um bessere Noten zu kriegen. Das war ein Deal. Den habe ich ernst genommen. Und jetzt ist alles umsonst. Mein Vater hat sein Wort gebrochen.« Sie öffnete ihren Rucksack und holte ihr Zeugnis heraus.
»Was machst du da?«, fragte Nadja verwundert.
»Lagerfeuer«, sagte Emmy. »Oder nenn es Zeugnis-Bestattung.«
Sven starrte sie an. »Nicht wirklich, oder?« Er strich sich schockiert über die Haare.
»Wohl wirklich«, antwortete Emmy. »Oder glaubst du, ich quatsche Müll.« Sie schaute hinüber zu dem Flötenspieler. »Hey, du, Flötenmann. Wir könnten ein wenig Musik brauchen. Spiel was für uns«, sagte sie.
Der Musiker kam neugierig näher und schaute zu, wie Emmy ihr Zeugnis auf die Holzkohle legte. »Hat jemand Feuer?«, fragte sie.
Der Musiker holte ein Feuerzeug hervor, das die Form eines Tigers hatte.
Emmy knipste es an. »Tschüss, New York, tschüss, Papa. Ich hab echt keinen Bock mehr auf Familie.« Sie kokelte eine Ecke des Zeugnisses an.
Nadja griff nach ihrer Hand. »Süße, mach das nicht. Du kriegst voll Ärger.«
Emmy lachte bitter auf. »Ich hab schon Ärger, was soll da noch kommen?«
Das Publikum begann, im Takt zu klatschen und zu rufen: »Hey, hey, hey.«
Der Musiker begriff, um was es hier ging. Er setzte die Flöte an die Lippen und spielte einen flotten Trauermarsch. Einige Schaulustige zückten ihre Handys und filmten die Zeremonie.
»Tschüss, Zeugnis, tschüss, Papa«, sagte Emmy mit Zittern in der Stimme. Tränen rollten über ihr Gesicht, als das Papier flackernd verbrannte.
»Du bist echt krass«, sagte Sven erschüttert. »Das hätte ich dir nie zugetraut. Wärst du nicht bereits vollgestopft mit Eis, hätte ich dich auf eines eingeladen. Aber ich muss jetzt sowieso los, packen. Das Ding landet bestimmt auf YouTube und du kriegst megaviele Klicks. Neid! Mach’s gut, Emmy. Du kommst schon noch nach NY, und wie gesagt: So cool ist es dort sowieso nicht. Verpasst nicht wirklich was. Tschüss.«
Nadja sah ihm finster hinterher. »Spinner.«
Baran nahm seinen besten Freund in Schutz. »Er meint es nicht so. Leute, ich geh dann auch mal. Meinem Vater das Zeugnis zeigen. Alles in Ordnung mit dir, Emmy?«
Als Emmy nicht antwortete, gab er sich die Antwort selber. »Na, jetzt natürlich nicht. Trotzdem viel Glück für deine Stiefmutter und das Baby.«
Nadja rollte die Augen. »Mann, Baran. Einfach mal die Klappe halten, oder? Emmy hat gerade andere Sorgen.«
Baran zuckte verlegen mit den Schultern. »Sorry, meine Meinung. Wir sehen uns dann im Eiscafé oder? Ohne meinen Vater fahren wir nicht in die Türkei.«
Nadja nickte. »See you. Alles Gute für deinen Vater, Baran.« Sie lächelte ihn an und Baran wurde rot.
»’tschuldigung, Süße«, sagte Nadja. Emmy hatte die ganze Zeit regungslos dagesessen und in den Feuerkorb gestarrt. »Tut es dir jetzt leid?«, fragte Nadja vorsichtig. »Wir könnten uns eine Notlüge ausdenken. Dass du das Zeugnis verloren hast oder es dir geklaut worden ist, am besten du sagst, dein ganzer Rucksack ist geklaut worden. Den können wir ja bei mir zu Hause verstecken. Was meinst du?«