Mein Freund Maigret - Georges Simenon - E-Book

Mein Freund Maigret E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Auf Porquerolles wird ein Fischer ermordet. Eigentlich nicht Maigrets Zuständigkeitsbereich. Aber der Mann hat kurz vor seinem Tod behauptet, mit Maigret befreundet zu sein. Kurzerhand reist der Kommissar an die Côte d'Azur. Zu seinem Leidwesen in Begleitung von Inspektor Pyke von Scotland Yard, der mehr über die Methoden seines berühmten französischen Kollegen erfahren will. Maigret würde gerne das Inselleben genießen, aber die Anwesenheit des Briten mahnt ihn zur Pflicht. Maigrets 31. Fall spielt auf der Insel Porquerolles an der Côte d'Azur.

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Georges Simenon

Mein Freund Maigret

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Bärbel Brands

Kampa

1Der überaus reizende Mr Pyke

»Sie standen im Eingang Ihres Lokals?«

»Ja, mein Kommissar.«

Es war sinnlos, ihn zu korrigieren. Vier oder fünf Mal hatte Maigret versucht, ihm zu erklären, dass er einfach »Herr Kommissar« sagen solle. Aber war das von Bedeutung? Was war hier überhaupt von Bedeutung?

»Ein graues Auto, ein großer Sportwagen, hat einen Augenblick gehalten, und ein Mann ist mit einem Satz herausgesprungen, so haben Sie es doch ausgesagt?«

»Ja, mein Kommissar.«

»Um in Ihre Bar zu gelangen, musste er dicht an Ihnen vorbei und hat Sie sogar leicht angerempelt. Nun befindet sich aber über der Tür ein Neonleuchtschild.«

»Es ist violett, mein Kommissar.«

»Na und?«

»Weiter nichts.«

»Weil Ihr Neonschild violett ist, sind Sie also nicht in der Lage, den Mann wiederzuerkennen, der sich einen Augenblick später durch den Samtvorhang schob und mit seinem Revolver auf Ihren Barkellner zielte?«

Der Wirt hieß Caracci oder Caraccini – Maigret musste jedes Mal in der Akte nachsehen. Er war klein, trug Schuhe mit hohen Absätzen, sah aus wie ein Korse (die immer ein wenig an Napoleon erinnern) und hatte einen riesigen gelben Diamantring am Finger.

Das ging so seit acht Uhr morgens, und jetzt war es bereits elf. In Wahrheit hatte es schon mitten in der Nacht angefangen, da alle, die man in der Rue Fontaine – in der Bar, wo der Barkellner erschossen worden war – aufgegriffen hatte, die Nacht in Polizeigewahrsam verbringen mussten. Drei oder vier Inspektoren, darunter Janvier und Torrence, hatten sich Caracci oder Caraccini bereits vorgenommen, aber nichts aus ihm herausbekommen.

Obwohl es dem Kalender nach Mai war, regnete es schon seit vier oder fünf Tagen wie im tiefsten Herbst. Auf den Dächern, den Fensterbänken und den Schirmen spiegelte sich das Wasser wie auf der Seine, auf die der Kommissar blickte, wenn er den Kopf ein wenig neigte.

Mr Pyke rührte sich nicht. In einer Ecke saß er steif auf seinem Stuhl wie in einem Wartezimmer, und das ging einem allmählich auf die Nerven. Langsam wanderte sein Blick zwischen dem Kommissar und dem kleinen Mann hin und her, ohne dass man hätte erraten können, was in diesem englischen Beamtenhirn vorging.

»Sind Sie sich darüber im Klaren, Caracci, dass Ihr Verhalten Sie teuer zu stehen kommen könnte und Sie riskieren, Ihre Bar vielleicht für immer schließen zu müssen?«

Unbeeindruckt, beinahe komplizenhaft zwinkerte der Korse Maigret zu, lächelte und strich sich mit seinem ringgeschmückten Finger die schwarzen Schnurrbartspitzen glatt.

»Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen, mein Kommissar. Fragen Sie nur Ihren Kollegen Priollet.«

Obwohl es einen Toten gab, kümmerte sich tatsächlich Kommissar Priollet, Leiter der Sittenpolizei, um diesen Fall. Das Milieu, in dem der Mord begangen worden war, unterlag seiner Aufsicht. Aber leider war Priollet auf der Beerdigung eines Verwandten im Jura.

»Sie weigern sich also auszusagen?«

»Ich weigere mich nicht, mein Kommissar.«

Wütend und mit schwerem Schritt ging Maigret zur Tür und öffnete sie.

»Lukas! Bearbeite ihn noch ein bisschen!«

Dieser Blick, mit dem Mr Pyke ihn anstarrte. Pyke mochte der netteste Mensch der Welt sein, aber es gab Momente, in denen sich Maigret dabei ertappte, ihn zu hassen. Genauso wie seinen Schwager Mouthon. Jedes Jahr im Frühling kam Mouthon in Begleitung seiner Frau, Madame Maigrets Schwester, an der Gare de l’Est an. Auch er war der netteste Mensch der Welt, wollte niemandem etwas Böses, und seine Frau war die Fröhlichkeit in Person. Kaum hatte sie die Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir betreten, verlangte sie nach einer Schürze, um im Haushalt zu helfen. Am ersten Tag war das ganz bequem. Am zweiten auch noch nett.

Schließlich verkündete Mouthon:

»Wir reisen morgen wieder ab.«

»Aber nein, nicht doch!«, entgegnete Madame Maigret. »Warum wollt ihr schon wieder weg?«

»Weil wir euch sonst am Ende noch zur Last fallen.«

»Nie im Leben!«

Und Maigret stimmte ihr im Brustton der Überzeugung zu:

»Nie im Leben!«

Am dritten Tag wünschte er sich, dass ihn eine unvorhergesehene Aufgabe davon abhielte, zu Hause zu Abend zu essen. Aber seitdem seine Schwägerin mit Mouthon verheiratet war und das Paar sie alljährlich besuchte, hatte sich nie, niemals, nicht ein einziges Mal einer jener Fälle ereignet, die ihn sonst tage- und nächtelang in Anspruch nahmen.

Ab dem fünften Tag wechselten seine Frau und er verzweifelte Blicke. Die Mouthons blieben neun Tage, waren gleichbleibend liebenswürdig, charmant, zuvorkommend und so diskret, wie man nur sein kann, sodass Maigret sich dafür schämte, sie allmählich zu hassen. Mit Mr Pyke war es genauso, auch wenn er Maigret erst seit drei Tagen auf Schritt und Tritt folgte.

Während eines Urlaubs hatten die Maigrets beiläufig zu den Mouthons gesagt: »Warum kommt ihr nicht einmal im Frühling für eine Woche nach Paris? Wir haben ein Gästezimmer, das immer leer steht.«

Sie waren gekommen. Und im Fall von Mr Pyke war es ganz ähnlich verlaufen. Vor einigen Wochen hatte der Polizeipräsident dem Oberbürgermeister von London einen offiziellen Besuch abgestattet. Dieser zeigte ihm die Büros des berühmten Scotland Yard, und der Polizeipräsident war angenehm überrascht, dass den höheren Beamten der englischen Polizei der Name Maigret etwas sagte und sie sich für seine Methoden interessierten.

»Warum kommen Sie nicht einfach vorbei und schauen ihm bei der Arbeit zu?«, hatte der gute Mann gesagt.

Und man hatte ihn beim Wort genommen. Genauso wie es die Mouthons getan hatten. Man hatte Inspektor Pyke nach Paris geschickt, und seit drei Tagen folgte er Maigret überallhin. Dabei war er so diskret und unaufdringlich, wie man nur sein kann. Aber er war dennoch da.

Trotz seiner fünfunddreißig oder vierzig Jahre wirkte er so jung, dass man ihn für einen eifrigen Studenten hätte halten können. Er war bestimmt intelligent, vielleicht sogar hochintelligent. Er sah zu, hörte zu und dachte nach. Er dachte so angestrengt nach, dass man das Gefühl hatte, ihn denken zu hören, und das wirkte ermüdend. Als würde er Maigret observieren. Jeder Handgriff, jedes Wort schien sich im Hirn des teilnahmslos dreinblickenden Mr Pyke festzusetzen. Nun hatte es aber seit drei Tagen nichts Interessantes zu tun gegeben. Routine, Papierkram, langweilige Verhöre wie das von Caracci. Sie verstanden sich inzwischen ohne Worte. In dem Augenblick zum Beispiel, da der Besitzer des Nachtlokals in das Büro der Inspektoren geführt und die Tür sorgfältig geschlossen worden war, stand in den Augen des Engländers deutlich die Frage zu lesen: ›Auf die harte Tour?‹

Wahrscheinlich. Leute wie Caracci fasst man nicht mit Samthandschuhen an. Und dann? Nichts von Belang. Der Fall war völlig uninteressant. Der Barkellner war wahrscheinlich erschossen worden, weil er selbst etwas auf dem Kerbholz hatte oder zu einer rivalisierenden Bande gehörte. Von Zeit zu Zeit rechnen diese Kerle miteinander ab, bringen sich gegenseitig um und erleichtern der Polizei die Arbeit.

Ob Caracci spricht oder schweigt, früher oder später wird einer die Sache ans Licht bringen, ein Spitzel wahrscheinlich. Ob sie in England auch Spitzel haben?

»Hallo! … Ja … Ich bin’s … Wer? … Lechat? … Kenne ich nicht … Woher, sagen Sie, ruft er an? … Aus Porquerolles? Stellen Sie ihn durch.«

Noch immer ruhte der Blick des Engländers auf ihm wie das Auge Gottes in der Geschichte von Kain und Abel.

»Hallo! … Ich kann Sie sehr schlecht verstehen … Lechat? … Ja … Gut … Ja, das habe ich verstanden … Porquerolles … Habe ich auch verstanden.«

Den Hörer am Ohr, schaute er zu, wie der Regen die Scheiben herunterrann, und dachte daran, dass auf Porquerolles, einer kleinen Insel im Mittelmeer, vor der Küste zwischen Hyères und Toulon, jetzt mit Sicherheit die Sonne schien. Er war noch nie dort gewesen, hatte aber schon viel von der Insel gehört. Die Leute kehrten braun gebrannt wie die Beduinen zurück. Es war übrigens das erste Mal, dass man ihn von einer Insel aus anrief, und er dachte darüber nach, dass die Telefonkabel unter dem Meer verlaufen mussten.

»Ja … Wie? … Ein kleiner Blonder in Luçon? … Ja, ich erinnere mich …«

Er hatte einen Inspektor Lechat kennengelernt, als er wegen einer ziemlich verworrenen Verwaltungsangelegenheit für einige Monate nach Luçon in die Vendée geschickt worden war.

»Sie sind jetzt also bei der Bereitschaftspolizei von Draguignan … Und rufen aus Porquerolles an …«

In der Leitung rauschte es. Hin und wieder hörte man die Telefonistinnen von Stadt zu Stadt rufen:

»Hallo! Paris … Paris … Hallo! … Paris … Paris …«

»Hallo! Toulon … Ist da Toulon? … Hallo! Toulon …«

Funktionierte das Telefon jenseits des Kanals besser? Mr Pyke lauschte und schaute unablässig, und Maigret spielte mit einem Bleistift, um nicht aus der Haut zu fahren.

»Hallo! … Ob ich einen gewissen Marcellin kenne? … Was für einen Marcellin? … Wie bitte? … Einen Fischer? … Sprechen Sie etwas deutlicher, Lechat … Ich verstehe nichts von dem, was Sie mir erzählen … Ein Mann, der auf einem Boot lebt? … So … Und weiter? … Er behauptet, er sei mein Freund? … Wie bitte? … Er hat das behauptet? … Tot? … Letzte Nacht ermordet worden? … Das geht mich nichts an, mein lieber Lechat … Das fällt nicht in meinen Dienstbereich … Er hatte den ganzen Abend von mir gesprochen? … Was sagen Sie? Deswegen sei er umgebracht worden? …«

Er hatte den Bleistift hingelegt und versuchte, mit seiner freien Hand die Pfeife wieder anzuzünden.

»Ich notiere, ja … Marcel … also nicht Marcellin … Wie Sie wollen … P wie Paul … A wie Artur … C wie Cäsar … ja … Pacaud … Haben Sie die Fingerabdrücke eingeschickt? … Ein Brief von mir? … Sind Sie sicher? … Ein Bogen mit Briefkopf? … Mit was für einem? … Brasserie des Ternes? … Das ist möglich … Und was habe ich geschrieben?«

Wenn nur Mr Pyke nicht da gewesen wäre und ihn so beharrlich beobachtet hätte!

»Ich schreibe mit, ja … Ginette fährt morgen ins Sanatorium. Sie lässt Sie vielmals grüßen. Herzlichst … Und das ist mit ›Maigret‹ unterschrieben? Aber nein, das ist nicht unbedingt gefälscht. Ich glaube, mich an etwas zu erinnern … Ich werde in den Ermittlungsakten nachschauen … Zu Ihnen kommen? Sie wissen doch, dass ich nicht zuständig bin.«

Er wollte schon einhängen, konnte sich aber eine Frage nicht verkneifen, auch auf die Gefahr hin, dass Mr Pyke sich darüber wunderte.

»Scheint bei Ihnen die Sonne? … Der Mistral? … Aber auch Sonne? … Gut … Sobald ich etwas weiß, rufe ich Sie zurück. Versprochen.«

Wenn Mr Pyke auch kaum Fragen stellte, so schaute er Maigret doch auf eine Art an, die ihn zum Sprechen nötigte.

»Kennen Sie die Insel Porquerolles?«, fragte Maigret, und es gelang ihm endlich, seine Pfeife anzuzünden. »Sie soll sehr schön sein, bestimmt so schön wie Capri und die griechischen Inseln. Letzte Nacht ist dort ein Mann ermordet worden. Der Fall gehört nicht in meinen Zuständigkeitsbereich, aber man hat in seinem Boot einen Brief von mir gefunden.«

»Ist er wirklich von Ihnen?«

»Wahrscheinlich. Der Name Ginette sagt mir irgendetwas. Kommen Sie mit hinauf?«

Mr Pyke kannte sich bereits gut im Präsidium aus, weil man ihn gleich zu Beginn überall herumgeführt hatte. Hintereinander stiegen sie ins Dachgeschoss hinauf, in dem Karteikarten zu sämtlichen Personen, die jemals mit dem Gesetz in Berührung gekommen waren, archiviert wurden. Der Engländer verursachte bei Maigret beinahe einen Minderwertigkeitskomplex, und er schämte sich für den weißhaarigen Angestellten im langen grauen Kittel, der Veilchenbonbons lutschte.

»Sagen Sie, Langlois … Geht es Ihrer Frau wieder besser?«

»Das war nicht meine Frau, Monsieur Maigret, sondern meine Schwiegermutter.«

»Ach so, ja. Verzeihen Sie. Ist sie operiert worden?«

»Sie ist gestern wieder nach Hause gekommen.«

»Sehen Sie doch bitte einmal nach, ob Sie etwas über einen Marcel Pacaud finden. Mit d am Ende.«

War man in London besser organisiert? Man hörte den Regen auf das Dach prasseln und durch die Regenrinnen hinabrauschen.

»Marcel?«, fragte der Angestellte, der auf eine Leiter gestiegen war.

»Ja, geben Sie mir die Karteikarte.«

Neben den Fingerabdrücken befanden sich darauf ein Foto von vorn und eins im Profil, auf denen Marcel Pacaud ohne Kragen und Krawatte im grellen Scheinwerferlicht des Erkennungsdienstes abgelichtet war.

Pacaud, Marcel-Joseph-Etienne, geboren in Le Havre, Seemann …

Mit gerunzelter Stirn betrachtete Maigret die Fotos und versuchte, sich zu erinnern. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war der Mann fünfunddreißig Jahre alt gewesen. Er war mager und sah krank aus. Eine blutunterlaufene Stelle über dem rechten Auge deutete darauf hin, dass man ihn, bevor er fotografiert worden war, nicht gerade sanft verhört hatte.

Es folgte eine ziemlich lange Liste seiner Straftaten. Mit siebzehn war er in Le Havre wegen Körperverletzung verurteilt worden. In Bordeaux ein Jahr später erneut Körperverletzung. Dazu kamen Erregung öffentlichen Ärgernisses wegen Trunkenheit und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Und ein weiteres Mal Körperverletzung in einem berüchtigten Lokal in Marseille.

Maigret hielt die Karte so, dass auch sein englischer Kollege sie lesen konnte. Aber Mr Pyke zeigte sich in keiner Weise erstaunt, als wollte er sagen: ›Das gibt es bei uns auch.‹

Besonders schwerer Fall des Hausierens.

Gab es das in England auch? Es bedeutete, dass Marcel Pacaud als Zuhälter gearbeitet hatte. Wie üblich hatte man ihn daraufhin zum Absolvieren seines Militärdienstes nach Afrika geschickt.

Körperverletzung in Nantes …

Körperverletzung in Toulon …

»Ein Kampfhahn«, sagte Maigret trocken.

Aber dann wurde es ernster.

Paris: Entôlage.

»Was ist das?«, fragte der Engländer.

Wie soll man das einem Herrn erklären, der einer Nation angehört, die als die prüdeste der Welt gilt?

»Das ist gewissermaßen ein Diebstahl, der unter besonderen Umständen begangen wird. Wenn ein Herr ein unbekanntes Fräulein in ein mehr oder weniger zwielichtiges Hotel begleitet und sich hinterher darüber beschwert, dass seine Brieftasche verschwunden ist, nennt man das ›Entôlage‹. Das Fräulein hat fast immer einen Komplizen. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ich verstehe.«

Dreimal war Marcel Pacaud wegen einer derartigen Mittäterschaft verurteilt worden, und jedes Mal war die Rede von einer gewissen Ginette. Und es wurde noch schlimmer. Offenbar hatte Pacaud einem Herrn, der sich zur Wehr gesetzt hatte, einen Messerstich versetzt.

»Das sind dann wohl die sogenannten mauvais garçons«, merkte Mr Pyke leise an. Sein Französisch war so klar artikuliert, dass es beinahe einen ironischen Unterton bekam.

»Genau. Ich habe ihm geschrieben, ich erinnere mich. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen zugeht.«

»Sehr korrekt.«

»Davon bin ich überzeugt. Bei uns werden die Jungs manchmal hart angepackt. Wir gehen nicht immer sehr behutsam mit ihnen um. Aber erstaunlicherweise nehmen sie uns das selten übel. Sie wissen, dass wir nur unsere Pflicht tun, und mit jedem Verhör lernt man sich schließlich besser kennen.«

»Ist das derjenige, der Sie als seinen Freund bezeichnet hat?«

»Ich bin überzeugt, dass er das auch so gemeint hat. Ich erinnere mich vor allem an das Mädchen, wegen des Briefkopfs. Wenn wir dazu Gelegenheit haben, werde ich Ihnen die Brasserie des Ternes zeigen. Es ist dort sehr gemütlich, und das Sauerkraut ist ausgezeichnet. Essen Sie gern Sauerkraut?«

»Gelegentlich«, antwortete der Engländer nicht gerade begeistert.

»Nachmittags und abends sitzen dort immer ein paar Damen an einem Tisch. Und auch Ginette zeigte sich dort gern. Sie ist Bretonin und kommt aus einem Dorf in der Nähe von Saint-Malo. Sie hat als Mädchen für alles bei einem Fleischer im Viertel angefangen. Sie liebte Pacaud über alles, und wenn er von ihr sprach, traten ihm Tränen in die Augen. Wundert Sie das?«

Mr Pyke wunderte sich über gar nichts. Sein Gesicht verriet nicht die geringste Gefühlsregung.

»Ich habe mich nebenbei ein bisschen um die beiden gekümmert. Ginette litt an Tuberkulose. Aber sie hat sich nie behandeln lassen, weil sie sich nicht von ihrem Marcel trennen konnte. Als er im Gefängnis saß, habe ich sie schließlich überzeugen können, einen meiner Freunde, einen Lungenspezialisten, aufzusuchen. Und er hat sie in ein Sanatorium in Savoyen eingewiesen. Das ist alles.«

»Und das haben Sie Pacaud geschrieben?«

»Ja. Pacaud saß im Gefängnis in Fresnes, und ich hatte keine Zeit, dorthin zu fahren.«

Maigret gab Langlois die Karteikarte zurück und ging zur Treppe.

»Wie wär’s, gehen wir Mittag essen?«

Das war auch wieder so ein Problem, fast eine Gewissensfrage. Wenn er Mr Pyke in allzu feine Restaurants führte, riskierte er, dass seine Kollegen jenseits des Kanals auf den Gedanken kommen könnten, dass die französische Polizei ihre Zeit mit Schlemmereien verschwende. Wenn er ihn dagegen in ein bescheidenes Lokal einlud, würde man ihn vielleicht für geizig halten.

Mit dem Aperitif war es dasselbe. Sollte man einen trinken oder besser nicht?

»Überlegen Sie, nach Porquerolles zu fahren?«

Hatte Mr Pyke etwa Lust, eine Reise in den Süden zu unternehmen?

»Das hängt nicht von mir ab. Theoretisch habe ich außerhalb von Paris und dem Seine-Département nichts zu suchen.«

Der Himmel war von einem hässlichen, hoffnungslosen Grau, sodass selbst der Gedanke an den Mistral den Reiz einer solchen Reise nicht minderte.

»Essen Sie gern Kutteln?«

Er führte ihn in die Markthallen und bestellte Kutteln à la Caen und Crêpes Suzette, die man ihnen in hübschen Kupferpfannen servierte.

»So was nennen wir tote Tage.«

»Wir auch.«

Was mochte der Mann von Scotland Yard von ihm denken? Er war gekommen, um »Maigrets Methoden« zu studieren, aber Maigret hatte gar keine. So fand er lediglich einen dicken, etwas plumpen Mann vor, der ihm wie der Prototyp des französischen Beamten erscheinen musste. Wie lange würde er ihm noch wie ein Schatten folgen?

Um zwei Uhr waren sie wieder am Quai des Orfèvres, und Caracci hockte noch immer in dem Glaskäfig, der als Warteraum dient. Man hatte also noch nichts aus ihm herausbekommen und würde ihn erneut verhören müssen.

»Hat er etwas gegessen?«, fragte Mr Pyke.

»Ich weiß es nicht. Kann sein. Manchmal lassen wir ihnen ein Sandwich bringen.«

»Und sonst?«

»Sonst lassen wir sie ein bisschen fasten, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.«

»Der Chef verlangt nach Ihnen, Kommissar.«

»Gestatten Sie, Monsieur Pyke?«

Das war immerhin eine kurze Erholungspause. Mr Pyke würde ihm nicht in das Büro des Chefs folgen.

»Kommen Sie herein, Maigret. Ich habe eben einen Anruf aus Draguignan bekommen.«

»Ich weiß schon Bescheid.«

»Richtig, Lechat hat sich ja bereits mit Ihnen in Verbindung gesetzt. Haben Sie im Augenblick viel zu tun?«

»Nicht allzu viel. Abgesehen von meinem Gast …«

»Geht er Ihnen auf die Nerven?«

»Er ist der korrekteste Mensch der Welt.«

»Erinnern Sie sich an diesen Pacaud?«

»Als ich seine Karteikarte gelesen habe, ist mir alles wieder eingefallen.«

»Finden Sie nicht, dass das eine merkwürdige Geschichte ist?«

»Ich weiß nur, was Lechat mir am Telefon gesagt hat. Er hat so eindringlich versucht, mir alles zu erklären, dass ich am Ende nichts mehr verstanden habe.«

»Ich habe lange mit dem dortigen Polizeichef gesprochen. Er will unbedingt, dass Sie vor Ort sind. Seiner Meinung nach ist Pacaud Ihretwegen ermordet worden.«

»Meinetwegen?«

»Anders kann er sich den Mord nicht erklären. Seit Jahren hat Pacaud, bekannt unter dem Namen Marcellin, in seinem Boot auf Porquerolles gelebt. Jeder auf der Insel kannte ihn. Soweit ich verstanden habe, hatte er mehr von einem Clochard als von einem Fischer. Im Winter tat er überhaupt nichts. Im Sommer fuhr er Touristen, die angeln wollten, um die Insel herum. Niemand konnte ein Interesse daran haben, ihn umzubringen. Er hatte keine Feinde. Man hat ihm auch nichts gestohlen, aus dem einfachen Grunde, weil da gar nichts zu stehlen war.«

»Wie ist er ermordet worden?«

»Das ist genau die Frage, die der dortigen Polizei Kopfzerbrechen bereitet.«

Maigrets Chef sah seine Notizen durch, die er sich während des Telefongesprächs gemacht hatte.

»Da ich den Ort nicht kenne, kann ich mir nur schwer ein genaues Bild davon machen. Vorgestern Abend …«

»Ich dachte, es sei gestern Abend gewesen …«

»Nein, vorgestern. Ein paar Leute hatten sich in der Arche Noah versammelt, das muss ein Gasthaus oder ein Café sein. Um diese Jahreszeit trifft man dort, wie es scheint, nur auf Stammgäste. Alle kennen sich. Marcellin war auch da. Und im Verlauf eines ganz allgemeinen Gesprächs hat er Sie erwähnt.«

»Warum?«

»Das weiß ich auch nicht. Man redet doch gern über berühmte Leute. Marcellin hat behauptet, Sie seien sein Freund. Vielleicht hatten einige Leute Zweifel an Ihren Fähigkeiten geäußert. Jedenfalls hat er Sie mit außergewöhnlicher Leidenschaft verteidigt.«

»War er betrunken?«

»Er war immer mehr oder weniger betrunken. Es herrschte gerade ein starker Mistral. Ich weiß zwar nicht, was genau der Mistral damit zu tun hatte, aber soweit ich verstanden habe, war er von Bedeutung. Denn wegen des Mistrals hat Marcellin nicht wie gewöhnlich in seinem Boot geschlafen, sondern in einer Hütte in der Nähe des Hafens, wo die Fischer ihre Netze aufbewahren. Als man ihn am nächsten Morgen dort fand, hatte er mehrere Kugeln im Kopf, die aus nächster Nähe abgeschossen worden waren, und eine in der Schulter. Der Mörder hat sein ganzes Magazin auf ihn abgefeuert, und damit nicht genug, er hat ihn auch noch mit einem schweren Gegenstand ins Gesicht geschlagen. Er scheint wie ein Berserker gewütet zu haben.«

Maigret blickte durch den Regenvorhang auf die Seine und dachte an die Sonne des Mittelmeers.

»Boisvert, der Hauptkommissar, ist ein feiner Kerl. Ich kenne ihn von früher. Es ist nicht seine Art zu übertreiben. Er ist soeben am Tatort eingetroffen, muss aber heute Abend schon wieder abreisen. Wie Lechat geht er davon aus, dass das Gespräch über Sie das Drama ausgelöst hat. Er hält es sogar für möglich, dass man mit Marcellin gewissermaßen Sie treffen wollte, verstehen Sie? Jemand, der einen so tiefen Groll gegen Sie hegt, dass er sich an einem vergreift, der behauptet, Ihr Freund zu sein, und Sie verteidigt.«

»Gibt es solche Leute auf Porquerolles?«

»Das ist es ja eben, was Boisvert sich nicht erklären kann. Auf so einer Insel kennt jeder jeden. Niemand kann die Insel unbemerkt betreten oder verlassen. Bisher gibt es nicht den geringsten Verdacht. Wir können nur ins Blaue hinein irgendjemanden verdächtigen. Was meinen Sie dazu?«

»Ich glaube, Monsieur Pyke hätte Lust, in den Süden zu reisen.«

»Und Sie?«

»Ich wohl auch, wenn ich allein fahren könnte.«

»Wann können Sie losfahren?«

»Ich nehme den Nachtzug.«

»Mit Monsieur Pyke?«

»Mit Monsieur Pyke!«

 

Ob der Engländer davon ausging, dass die französische Polizei über schnelle Autos verfügte, die sie an die Tatorte brachten?

Er musste jedenfalls annehmen, dass die Kommissare der Kriminalpolizei bei ihren Reisen über unbegrenzte Mittel verfügten. Hatte Maigret richtig entschieden? Allein hätte er sich mit einem Liegeplatz zufriedengegeben. Aber an der Gare de Lyon hatte er gezögert und im letzten Augenblick zwei Schlafwagenplätze gekauft.

Der Zug war äußerst luxuriös. Im Gang kamen Ihnen wohlhabende Reisende mit eindrucksvollen Gepäckstücken entgegen. Eine Gruppe elegant gekleideter Menschen, die Arme voller Blumensträuße, begleitete eine Filmdiva zum Zug.

»Das ist der Train Bleu«, murmelte Maigret, wie um sich zu entschuldigen.

Wenn er nur gewusst hätte, was sein Kollege dachte. Obendrein mussten sie sich voreinander ausziehen, und am nächsten Morgen würden sie sich den winzigen Waschraum teilen müssen.

»Jedenfalls«, sagte Mr Pyke, schon in Pyjama und Morgenmantel, »können wir jetzt mit den Ermittlungen beginnen.«

Was genau wollte er damit sagen? Sein Französisch klang dermaßen akzentuiert, dass man immer einen verborgenen Sinn hinter seinen Worten vermutete.

»Ja, das können wir.«

»Haben Sie Marcellins Karteikarte abgeschrieben?«

»Nein. Ich muss Ihnen gestehen, ich habe nicht daran gedacht.«

»Haben Sie sich Gedanken darüber gemacht, was aus der Frau – Ginette, nicht wahr – geworden ist?«

»Nein.«

War das ein vorwurfsvoller Blick, den Mr Pyke ihm zuwarf?

»Haben Sie einen Blanko-Haftbefehl dabei?«

»Nein, auch nicht. Nur ein Gesuch um Rechtshilfe, das mir erlaubt, Leute vorzuladen und zu verhören.«

»Kennen Sie Porquerolles?«

»Ich bin noch nie dort gewesen. Ich kenne den ganzen Süden kaum. Ich habe einmal in Antibes und Cannes ermittelt und erinnere mich vor allem an eine drückende Hitze und ein unstillbares Schlafbedürfnis.«

»Gefällt Ihnen das Mittelmeer nicht?«

»Grundsätzlich mag ich keine Gegenden, in denen ich die Lust an der Arbeit verliere.«

»Weil Sie gern arbeiten, nicht wahr?«

»Ich weiß es nicht.«

Das stimmte. Einerseits schimpfte er jedes Mal, wenn ein Fall seinen täglichen Trott unterbrach, andererseits wurde er missmutig und unruhig, sobald man ihn ein paar Tage in Frieden ließ.

»Können Sie im Zug gut schlafen?«

»Ich schlafe überall gut.«

»Können Sie beim Rattern des Zuges besser nachdenken?«

»Ich denke wenig nach, wissen Sie.«

Es war Maigret unangenehm, dass sein Pfeifenqualm das ganze Abteil ausfüllte, umso mehr, da der Engländer nicht rauchte.

»Jedenfalls wissen Sie noch nicht, aus welchem Winkel Sie sich der Sache nähern werden.«

»Nicht im Geringsten. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt einen Winkel gibt.«

»Vielen Dank.«

Man spürte förmlich, dass Mr Pyke jedes Wort registriert und in seinem Hirn einsortiert hatte, um sich später bedienen zu können. Das war Maigret höchst unangenehm. Er sah ihn schon vor sich, wie er nach seiner Rückkehr die Kollegen von Scotland Yard zusammenrief (womöglich vor einer schwarzen Wandtafel) und ihnen präzise artikuliert seinen Vortrag ankündigte:

»Die Methoden des Kommissars Maigret …«

Und wenn es nun ein Reinfall würde? Wenn es sich um einen jener Fälle handelte, in denen man wie ein Blinder herumtappt und erst zehn Jahre später durch einen Zufall auf die Lösung kommt? Oder wenn es eine ganz einfache Angelegenheit war, wenn Lechat morgen auf den Bahnhof gestürzt käme und meldete:

»Alles erledigt. Wir haben einen Säufer festgenommen, der den Mord gestanden hat.«

Oder wenn …

Madame Maigret hatte ihm keinen Morgenmantel eingepackt. Sie hatte nicht gewollt, dass er den alten mitnahm, der aussah wie eine Mönchskutte. Schon vor zwei Monaten hatte er sich einen neuen kaufen sollen. Er fühlte sich in seinem Nachthemd reichlich unwohl.

»Einen Schlummertrunk?«, fragte Mr Pyke und reichte ihm einen silbernen Flachmann und einen Becher. »So nennen wir den letzten Whisky vorm Schlafengehen.«

Maigret trank einen Becher. Er mochte das Zeug nicht besonders, aber vielleicht schätzte Mr Pyke den Calvados, den er ihm die vergangenen drei Tagen aufgedrängt hatte, ebenso wenig.

Endlich schlief er ein, wohl wissend, dass er schnarchte. Als er erwachte, sah er Olivenbäume am Ufer der Rhône und erkannte daran, dass sie Avignon bereits hinter sich gelassen hatten.