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Unwiderstehlich erzählt Frank Goosen von seinem Aufwachsen im Ruhrpott, von der Jugend und der Liebe. Beim Sex auf der Halde gezeugt, eine Kindheit in den wilden Siebzigern und bleiernen Achtzigern, die Nöte der Pubertät und die Qualen zahlreicher Zweierbeziehungen: Frank Goosen umkreist mit unwiderstehlichem Witz sein Leben vor und nach der Geburt, auf und hinter der Bühne. Auf wunderbare Weise erzählt er Geschichten über Freundschaft und Rivalität, den Ruhrpott und den Segen einer Minibar.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Frank Goosen
Komische Geschichten
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Titelseite
Über Frank Goosen
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Frank Goosen veröffentlicht seit 2001 erfolgreiche Romane und Kurzgeschichten, darunter »Liegen lernen«, »Sommerfest«, »Sweet Dreams« oder zuletzt »Spiel ab!« Einige der Bücher
wurden verfilmt oder für die Bühne adaptiert. Frank Goosen ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt nach wie vor in seiner Geburtsstadt Bochum.
zur Kurzübersicht
Frank Goosen schildert seine Kindheit in den Siebzigern und die Nöte der Pubertät in den Achtzigern, die Qualen zahlreicher Zweierbeziehungen – bis er schließlich ohne Gegenwehr geheiratet wird, um wiederum Glück und Glanz des Vaterseins zu empfi nden. In »Mein Ich und sein Leben« entgeht keine Lebensphase des praktizierenden Komikers Frank Goosen der zugespitzten und pointensicheren Beschreibung: die Erinnerungen an die Schulkumpels Mücke und Pommes, an peinliche Liebesnächte und betörend schlechte Lieblingsmusik; an den entsetzlichen Dia-Abend mit aus dem Urlaub heimkehrenden Freunden oder an Eduard, der auf Borkum Geschmack an Mohnkuchen, einer jungen Bäckersfrau und einem anderen Leben fi ndet; an die Familienmythen um Onkel Hanno, der in seinem Viertel die Stromversorgung just in dem Moment kappte, wo Rahn hätte schließen müssen – und an die schlechtesten Motels der Republik. In »Mein Ich und sein Leben« lässt Frank Goosen sein Ich in immer neue Rollen schlüpfen. Auf ganz wunderbare Weise fügen sich diese vielen Geschichten mit ihrem zum Teil wiederkehrenden Personal zu einer ganz neuen Geschichte zusammen, einer Geschichte über das Leben, über die Liebe und das Erwachsenwerden.
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Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln
Zuerst erschienen im Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2004
Eichborn Verlag – Ein Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2011 by Bastei Lübbe AG, Köln
© 2015, 2025, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
Covermotiv: © alexlukin – Fotolia.com
Illustrationen: © Moni Port
ISBN978-3-462-31413-7
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Widmung
Illustration
Motto
I Bevor ich Ich war
Zigaretten, so wertvoll wie Gold
Strike, Bossa Nova, strike!
Liebe ohne Raum oder: Das Haldenkind
II Wie ich Ich wurde
Spüli, Pommes, Mücke und ich
Alle meine Tiere
Gott segne Debbie Harry!
Dancing Kings
Bayernkurier und Penisleder
Dylandance
Eine Brücke über unruhiges Wasser
Ich und der Butt: Jetzt geht’s los
III Das Ich und die anderen
Herrje!
Moderne Menagen
Das Glück der Pinguine
Bad Love
In der Wohnung über ihm übt Audrey Hepburn auf der Geige
Misstrauischer Monolog
Wie Ralle zum Film kam (und ich nicht)
Heiß und fettig
Hochzeit mit Ginger Rogers
Natürlich hätten wir nicht zu diesem Dia-Abend gehen sollen …
Siebzehn für immer, achtzehn, bis ich sterbe?
IV Das Ich unterwegs
Ich in Hotels
Lob der Minibar
Vatertag in der Selterbude des Lebens Oder: Mittagspause in Bad Oldesloe
Bitte verlassen Sie diesen Ort so, wie Sie ihn vorzufinden wünschen
Minne menne tänään?
Eduard an der See mit Mohnkuchen
V Das Ich in der Nacht
Wenn ich Fantasie hätte
Nachts rede ich mit Dingen
Was ist Schlaf?
Nachtlicht
Art of dying
Parallele Welten
Die Geschichten: Wo sie herkommen und wo sie schon waren
Für Fritz, Johannes, Agnes und Richard Pelzl
»Jeder kennt die Situation: Man steht bis zu den Knien im Feuchtbiotop, da fällt der Amphibienbestimmungsschlüssel in den Schlick.«
(Aus dem Fachmagazin Umwelt, gefunden im Hohlspiegel)
Rumba pa ti
Es ist nicht so, dass es in meiner Familie und ihrer Umgebung ausschließlich Wahnsinnige gegeben hätte. Aber manchmal, wenn man sie voneinander reden hört, wenn das Gen der Gehässigkeit und der üblen Nachrede aktiviert wird, kommt man schon ins Grübeln.
In meinem Kopf ist das alles gespeichert als das Gerede von »Erwachsenen«, auf diesen Familienfeiern aufgeschnappt und unverdaut in meinem Hirn eingelegt, haltbar wie Leichenteile in Formaldehyd. Familienfeiern: immer nur Krankheit, Tod und Seuche. Wer wieder alles an »Krepps« verreckt war und wer an Staublunge, der Ritterschlag unter den Krankheiten in unserer Gegend.
Als Kind hatte ich immer Angst, die Erwachsenen würden sich plötzlich ausziehen und ihre Narben vergleichen, und seitdem ich mal meine Großtante Wally durch Zufall und das geöffnete Badezimmerfenster nackt gesehen hatte, wusste ich, dass auch meine Neugier Grenzen hatte.
Und immer wieder Russland. Als Kind dachte ich, für die alten Männer wäre »Russland« das, was für die jungen Paare »Mallorca« war. Sie redeten darüber, als ob es ein missglückter Urlaub gewesen sei, zu viel Regen, zu viel Schnee, zu viel Dreck und Schlamm, zu viele Russen. Aber es hörte sich nicht an, als sei es wirklich schlimm gewesen. Wenn die Männer darüber redeten, dann redeten nur sie darüber, die Frauen hielten den Mund oder gingen raus oder sahen aus dem Fenster, aber sie konnten nicht mitreden, und die Männer wirkten fast glücklich. »Ach, Sie waren auch in Russland« war ein verheißungsvoller Gesprächsauftakt, bald darauf wurde getrunken und geduzt. War denn von uns niemand in Frankreich gewesen? Niemand in Belgien oder Norwegen oder was weiß ich, was für Länder die Nazis alle überfallen hatten. Warum waren nicht wenigstens ein paar von ihnen in amerikanischer Gefangenschaft gelandet anstatt alle »beim Russen«. Was wäre aus unserer Familie geworden, wenn sie nach dem Krieg zu Glenn Miller getanzt hätte anstatt zu Rudi Schuricke? War auch daran der Kommunismus schuld? An der geschmacklichen Verirrung meiner Familie?
Tante Wilhelmine ist bescheuert geworden. Daran war der Russe auf jeden Fall schuld. Ihr Mann, Onkel Theo, war einer der Letzten, die aus Russland zurückkamen, ›55, an der Hand von Adenauer, dem Kanzler der Alliierten. Aber was Onkel Theo da auf seinen Schultern hatte, war nicht mehr sein Kopf, das war etwas anderes. Und er war jemand anderes. Tante Wilhelmine sagte immer, und das ziemlich laut: »Ich erkenne ihn nicht wieder. Ich erkenne ihn nicht wieder.«
Onkel Theo lief die Straße rauf und runter und sammelte Zigaretten, schnorrte sie von den Passanten, sammelte Kippen aus dem Rinnstein auf und klaute sie in der Kneipe vom Nebentisch, wenn keiner hinsah. Alle wussten, dass Onkel Theo Zigaretten klaute, aber keiner sagte was, denn in Russland, wo Onkel Theo so lange gewesen war, da waren Zigaretten wertvoller gewesen als Gold. »Das muss man sich mal überlegen«, sagte mein Großvater, der wegen eines Arbeitsunfalls von ›38 nicht eingezogen worden war, nur ganz am Ende, zum Volkssturm, aber da war nicht mehr viel passiert, »das muss man sich mal überlegen, eine Zigarette mehr wert als ein ganzer Barren Gold!«
Wenn Onkel Theo die Leute auf der Straße um eine Zigarette bat, war das die einzige Gelegenheit, bei der er redete. Sonst kriegte er den Mund nicht mehr auf. »Ich erkenne ihn nicht wieder«, sagte Tante Wilhelmine, »früher hat er Witze erzählt, ganz unanständige, er hat sogar gesungen. Das muss man sich mal vorstellen, ich erkenne ihn nicht wieder.« Zu Hause hat er, wenn er etwas wollte, einfach draufgezeigt. Auf das Brot, das Salz, die Milch, die Butter. Und Tante Wilhelmine hat es ihm dann gegeben. Abends saß er in seinem Sessel und zählte seine Zigaretten. Er rauchte sie nämlich nicht, er sammelte sie nur. In einer Kiste. Dann in zwei Kisten, dann in drei. Und immer so weiter, zwei Jahre lang. Dann hat er sich umgebracht. Aufgehängt am Fensterkreuz. Und Tante Wilhelmine hat ihn gefunden, wer sonst. »Mein Gott, Theo, ich erkenne dich gar nicht wieder!«, soll sie als Erstes gesagt haben. Aber so genau weiß das keiner, denn es war ja keiner dabei, und vielleicht haben sie sich nur über sie lustig gemacht.
Sie hat sowieso erst keinem was gesagt, als sie ihn gefunden hat, sondern: sie ist einkaufen gegangen. Es war nötig, sie hatte keine Eier und keine Margarine mehr. Sie kaufte auch ein paar Flaschen Bier für ihren Mann, wenn er abends beim Zigarettenzählen einen heben wollte, weil es etwas zu feiern gab, wenn er wieder etwas reicher geworden war. Denn jede Zigarette war mehr wert als ein ganzer Klumpen Gold, da konnte man schon mal einen drauf trinken.
Viel später, Stunden später, ist dann die Tante Wilhelmine zur Nachbarin gegangen und hat gesagt: »Ich glaube, wir müssen einen Krankenwagen rufen, dem Theo geht’s nicht gut.«
Zehn Jahre Russland hatte er überlebt, aber zwei Jahre neues Deutschland hatten ihm den Rest gegeben.
Für Tante Wilhelmine war ihr Mann im Krankenhaus. Natürlich, wo sonst. Schließlich ist er von einem Krankenwagen abgeholt worden. Und wo bringt ein Krankenwagen die Leute wohl hin? Natürlich ins Krankenhaus. Zur Beerdigung ist sie nicht hingegangen. Die halbe Straße war da, aber nicht Tante Wilhelmine. Als man sie mitnehmen wollte, hat sie gesagt, sie lasse sich nicht auf die Beerdigung von irgendwelchen wildfremden Leuten schleppen, außerdem müsse sie die Betten machen und den Flur putzen und den Müll runterbringen und die Kohlen aus dem Keller holen und ob sich denn überhaupt jemand vorstellen könnte, wie viel Arbeit man hätte mit so einem Haushalt, da hat man keine Zeit, ständig auf Beerdigungen zu rennen, und jetzt lasst mich in Ruhe.
Jetzt war auch Tante Wilhelmine nicht mehr wiederzuerkennen. Jeden Tag hat sie im ganzen Haus geklingelt und allen gesagt, sie mache sich jetzt auf den Weg ins Krankenhaus, zu ihrem Mann. Und dann ging sie in den Stadtpark und versuchte, Tauben zu Tode zu füttern, zweiunddreißig Jahre lang. Säckeweise Brotkrumen warf sie diesen dämlichen Viechern vor die Füße, und die Viecher konnten nicht aufhören zu fressen, es kamen immer mehr, und mindestens die Hälfte von denen muss eingegangen sein, zu fett geworden und an aufgeblähten Lebern verreckt. Ohne Tante Wilhelmine hätten wir hier bestimmt längst eine unglaubliche Taubenplage. ›89 traf sie der Schlag, ganz schnell, auf der Straße, auf dem Weg »ins Krankenhaus«, mit einer Tüte Brotkrumen in der Hand, die auf die Straße und den Bürgersteig rollten, als Tante Wilhelmine hinfiel.
Beim Taubenfüttern ist sie beobachtet worden, von der Frau Klappek, die meinte, Tante Wilhelmine sei übergeschnappt, was ja nun auch nicht so ganz falsch war. Frau Klappek konnte den ganzen Wirbel nicht verstehen, sie hatte nie einen Mann gehabt, weder vor dem Krieg noch danach, sie war einfach zu hässlich und zu böse, sie sah aus wie etwas, das von einem Müllwagen gefallen war, jedenfalls sagte das mein Großvater. »Die hat der Klüngelskerl verloren, und ich sage euch, der hat auch nicht nach ihr gesucht.«
»Klüngelskerl«, so nannte man bei uns die Männer, die mit einem Pritschenwagen durch die Straßen fuhren und eine Glocke schwangen, damit man ihnen Schrott und Altmetall brachte.
Mit Frau Klappek war ich nie verwandt, jedenfalls nicht offiziell. Aber vielleicht irgendwie im Geiste. Ich stelle mir vor, wie Frau Klappek der Tante in den Stadtpark folgt, sie aus sicherer Entfernung beim Taubenfüttern beobachtet, immer wieder den Kopf schüttelt und murmelt: »Die ist doch übergeschnappt.«
Und ich stelle mir vor, ich selbst könnte heute dasitzen und Frau Klappek beobachten, wie sie Tante Wilhelmine beobachtet. Wenn ich es mir recht überlege, würde ich mir das Ganze am liebsten aus der Perspektive einer Taube ansehen, schließlich könnte ich mir dabei noch den Bauch vollschlagen.
Wie gesagt, es ist nicht so, dass es in meiner Familie und ihrer Umgebung nur Schwachsinnige gegeben hätte. Aber manchmal ziehe ich lieber die Mütze tiefer in die Stirn, wenn ich an einem Spiegel vorbeigehe.
Ich kann mich kaum noch an Onkel Hanno erinnern. Als er, wie man bei uns sagt, »den Arsch zukniff«, war ich noch ein »Blag«, vielleicht gerade mal zweieinhalb Käse hoch. Von Onkel Hanno ist aber ständig geredet worden, auf den Geburtstagsfeiern und Beerdigungen, auf den Hochzeiten und den Osterkaffeetrinken. Er hatte im Krieg ziemlich was auf die Mütze bekommen, im wahrsten Sinne des Wortes: Irgendetwas war ihm auf den Stahlhelm gefallen und hatte ihm das Hirn durcheinandergebracht. Immerhin musste er nicht mehr an die Front, wurde aber in den letzten Kriegstagen zum Volkssturm eingezogen und musste mit einem Sechzehnjährigen unsere Straße abriegeln. Wie aussichtslos die Lage des Tausendjährigen Reiches war, mag man daraus ersehen, dass man Onkel Hanno bedenkenlos ein Gewehr in die Hand gab, mit dem er dann auch gleich zwei Schäferhunde und eine Ziege erlegte sowie dem Blockwart ins Bein schoss. Der machte sich gleich humpelnd auf den Weg zur Gestapo. Doch unterwegs fiel ihm eine amerikanische Bombe auf den Kopf, und der Blockwart ward über den ganzen Block verteilt und Onkel Hanno noch mal davongekommen.
Vorsichtshalber jedoch ist er geflohen. Ein paar Tage lang hörte niemand etwas von ihm, dann hieß es, er sei in amerikanischer Gefangenschaft – was ziemlich merkwürdig war, denn das Ruhrgebiet gehörte zur britischen Besatzungszone, und Onkel Hanno war doch wohl kaum nach Kaiserslautern oder Heidelberg gelaufen, wo die Amis saßen, lagen, standen. Ein paar Wochen behielten sie ihn bei sich, dann war ihnen klar, dass keine Gefahr von ihm ausging, und sie brachten ihn nach Hause. Bei den Amis hatte Onkel Hanno aber seinen ganz persönlichen Schlachtruf gelernt, mit dem er bis zu seinem Tode die Familie terrorisierte. Völlig unvermittelt schrie er manchmal: »Strike, Bossa Nova, strike!« Niemand wusste, was das bedeuten sollte, und allen ging es auf die Nerven, aber das war dem Onkel egal, denn er war jetzt der Familienidiot und durfte alles.
Außerdem malte Onkel Hanno. Kleine blöde Bilder, auf denen Verwandte zu sehen sein sollten. Tatsächlich aber sah alles aus, als hätte man einen Frosch auf weißem Papier totgeschlagen. Aber der Onkel hatte ja sonst nichts, an dem er sich erfreuen konnte, also sagten alle, die Bilder seien aber wirklich sehr schön. Onkel Hanno baute sich selbst Rahmen aus einfachem Holz und einer Scheibe Glas und rahmte seine Bilder wie Kunstwerke eines genialen, aber leider schwachsinnigen Geistes. Er ließ es sich nicht nehmen, die Produkte seiner Kreativität in den Wohnungen aller wohlmeinenden Verwandten und Bekannten, die sich nicht deutlich genug wehrten, aufzuhängen, und zwar höchstselbst. Zu diesem Zwecke hatte er sich von seinem Bruder, der ihm gesetzlich vorgesetzt war, eine ganz eigene Bohrmaschine erbettelt, und so zog Onkel Hanno von Haus zu Haus, bohrte Löcher und hängte seine gerahmten Kunstwerke in jedermanns Wohnung auf. Die Bohrlöcher passten den Leuten nicht, aber sie ließen Hanno machen, immerhin war er bescheuert.
Es gibt viele Geschichten über Onkel Hanno, die alle zur Familienmythologie gehören, aber besonders gern erzählen Zeitgenossen die aus dem Juni 1954. Die ganze Siedlung war obenauf, denn Fritz und Ottmar, der Boss, Toni, der Chef und all die anderen standen im Finale und wussten selbst nicht, wie sie dahin gekommen waren, und jetzt ging es noch mal gegen die Ungarn, die uns in der Vorrunde mit acht zu drei eingesargt hatten. Aber heute ist Finale, sagten alle, die Karten wurden neu gemischt. Als in Bern angepfiffen wurde, saßen die ganze Familie, sogar die Frauen, und noch einige Leute aus der Nachbarschaft vor dem Radio meiner Urgroßeltern, jenem Gerät, über das schon Goebbels zum totalen Krieg gebrüllt hatte, und den das Gerät wie zum Trotz überlebt hatte. In Bern nieselte es.
»Dat is dem Fritz sein Wetter«, zitierte mein Uroppa den Chef, denn Nieselregen, das war Fritz-Walter-Wetter, damit kam der gut klar, und das war ja schon mal die halbe Miete. Und die Ungarn waren bestimmt ganz anderes Wetter gewohnt. Welches, war nicht ganz klar, aber bestimmt ganz anderes.
Onkel Hanno erschien als Vorletzter, unterm einen Arm ein selbst gemachtes Bild der deutschen Fußballnationalmannschaft mit allen Spielern nebst Ersatzkräften, dem Chef und noch dem letzten Ballaufpumper, unterm andern Arm die Bohrmaschine.
»Na, Hanno«, sagte meine Uromma, »dat mit die Bohrmaschine vergessenwa heute abba ma!«
»Strike, Bossa Nova, strike!«, rief der Onkel und präsentierte sein neuestes Werk.
»Wat is dat denn?«, wollte meine Uromma wissen. »Dat sieht ja aus wie verdaut!«
Es wurde Bier getrunken, obwohl es erst Nachmittag war, und auch Onkel Hanno bekam eine Flasche, obwohl er das nicht vertrug, aber es war ja Finale, da konnte man mal eine Ausnahme machen.
Der alte Herr Stankowski kam ein paar Minuten zu spät und blieb im Türrahmen stehen. Er sagte, er habe noch seine Zähne suchen müssen. Dummerweise hatte er sie nicht gefunden. Wenn er Wörter mit »s« sprach, rotzte er Tante Hilde auf den Dutt.
Die anfänglich heitere und gelöste Stimmung verschwand, als die Ungarn schon nach acht Minuten zwei zu null führten, durch Tore von Puskas und Czibor. Onkel Hanno hatte nach beiden Toren begeistert seinen Schlachtruf losgelassen und in die Hände geklatscht. »Halt’s Maul, du Idiot, oder ich schmeiß deine letzten Gehirnzellen auch noch in die Pfanne«, sagte meine Uromma. Der Umgangston in unserer Familie war schon immer eher zupackend.
»Tja«, kommentierte mein Uroppa den Zwischenstand, »da is wohl nix zu machen. Da wolltense dem Paster auf die Mütze scheißen, aber dann hatterse noch abgesetzt.« Niemand wusste, was das bedeuten sollte, denn wenn der »Paster« die Mütze abgenommen hatte, dann konnte man ihm doch direkt auf den Kopf scheißen, und das war doch eindeutig besser als nur auf die Mütze. »Ich habbet ja gleich gesacht!«, meinte mein Uroppa und hatte schon mit allem abgeschlossen.
»Waat ma app!«, mahnte Herr Stankowski und nässte zum wiederholten Male Tante Hildes Hinterkopf, obwohl in dem Satz doch gar kein »s« vorgekommen war. Zwei Minuten später nur erzielte der große Max Morlock dann den Anschlusstreffer, und als sich alle fast die Seele aus dem Leib gejuchzt hatten, rief mein Uroppa: »Morgenluft!«
Acht Minuten später war der Boss zur Stelle: Helmut Rahn machte ihn rein, und alles war wieder offen. »Habbich doch gleich gesacht!«, meinte mein Uroppa. »Nich so schnell den Hering wieder innet Wasser werfen!« Alle pflichteten ihm bei. Siebenundzwanzig nervenaufreibende Minuten später ging man in die wohlverdiente Pause. In der zweiten Halbzeit ging es hoch her, wie man sich denken kann und wie immer wieder erzählt wurde. Die Magyaren, allen voran der große, edle Ferenc Puskas, pflügten die deutsche Hälfte, bis man Steckrüben hätte säen können. Posipal, Kohlmeyer, Eckel, Liebrich, Mai, Rahn, Morlock, Schäfer, Fritz und Ottmar standen wie eine Eins, und wenn sie mal nicht standen, war da noch der Turek, der Toni, der Fußball-Gott. Es war allerhand los im Wohnzimmer meiner Urgroßeltern, und bald waren alle besoffen, aber nicht nur vom Bier. Onkel Hanno rutschte auf seinem Stuhl hin und her und bekam es wohl langsam mit der Angst. Die Spannung war kaum noch erträglich. Es ging dem Ende zu.