Mein italienischer Vater - Anika Landsteiner - E-Book

Mein italienischer Vater E-Book

Anika Landsteiner

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Beschreibung

Ohne groß nachzudenken, bricht Laura auf nach Süditalien. Ihre Mutter ist gerade gestorben, ihre große Liebe zerbrochen. Jetzt will sie zu ihrem Vater, irgendwo muss es doch auf dieser Welt einen Ankerpunkt geben. Vor Jahren hat sie ihn zum letzten Mal gesehen, und mit ihrer Ankunft bringt sie alles durcheinander: Emilio sitzt im Rollstuhl, an seiner Seite Gianna, die ihn schon immer geliebt hat. Das Auftauchen der Tochter könnte ihr Glück zerstören. Schon bald nach ihrer Ankunft in der fremden Heimat stellt Laura fest, dass sie die ganze Wahrheit über ihre deutsch-italienische Familie noch lange nicht kennt.

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Seitenzahl: 513

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Zum Buch

Eine Reise nach Apulien und ganz Italien in einem Leben

Ohne groß nachzudenken bricht Laura auf nach Süditalien. Ihre Mutter ist gerade gestorben, ihre große Liebe zerbrochen. Jetzt will sie zu ihrem Vater, irgendwo muss es doch auf dieser Welt einen Ankerpunkt geben. Vor Jahren hat sie ihn zum letzten Mal gesehen, und mit ihrer Ankunft bringt sie alles durcheinander: Emilio sitzt im Rollstuhl, an seiner Seite Gianna, die ihn schon immer geliebt hat. Das Auftauchen der Tochter könnte ihr Glück zerstören. Schon bald nach ihrer Ankunft in der fremden Heimat stellt Laura fest, dass sie die Wahrheit über ihre deutsch-italienische Familie noch lange nicht kennt.

Zur Autorin

ANIKA LANDSTEINER, geboren 1987, war Schauspielerin, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Sie leitete das Magazin MUCBOOK, mittlerweile schreibt sie für verschiedene Zeitschriften, moderiert ihren Podcast ÜberFrauen und führt den mit dem ISARNETZ Blogaward ausgezeichneten Reiseblog anidenkt. Die Autorin wohnt in München. Mein italienischer Vaterist ihr erster Roman im Diana Verlag.

ANIKA

LANDSTEINER

MEIN

ITALIENISCHER

VATER

ROMAN

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Copyright © 2018 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München. Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.www.ava-international.de Redaktion: Wiebke Bach Covergestaltung: Favoritbüro GbR, München Covermotiv: © Plainpicture/Millennium/Robert Reader Satz: Leingärtner, Nabburg Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-641-21850-8V002
www.anikalandsteiner.dewww.diana-verlag.de
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Für meine Eltern.

Ich bin nicht tot, ich tauschte nur die Räume.

Ich leb in euch, ich geh durch eure Träume.

MICHELANGELO BUONARROTI

PROLOG

Lavia, Italien, Mai 2017

ES WÜRDE EIN HEISSER Tag werden. Am Horizont lag ein dünner pinkfarbener Streifen, der von Minute zu Minute breiter und kräftiger wurde.

Als die Sonne aufging, war keine Wolke am Himmel zu sehen. Das Blau ging in Weiß über. Laura kniff die Augen zusammen. Die Sonnenbrille lag zu Hause auf dem Küchentisch.

Zu Hause.

Sie setzte sich auf einen großen Stein und spürte, wie sich ihre Atmung langsam beruhigte. Der Weg hier hoch war nicht allzu lang gewesen, aber steil, er hatte durch den Wald geführt, der so würzig nach seinen Aleppo-Kiefern roch; der Mai war nun fast vorbei, die Tage hingen zwischen der Leichtigkeit des Frühlings und der Trägheit des Sommers.

Nun saß sie hier. Das Meer vor ihr war vollkommen ruhig, und die Oberfläche hatte ihre ganz besondere Farbe. Milchblau. Ein paar kleine Boote steuerten aus dem Hafen, dahinter sanfte Wellen. Die riesigen Klippen waren schroff, ihr weißer Kalkstein leuchtete. Nur aus der Nähe sah man, dass sie sich aus einzelnen Steinschichten zusammensetzten, dünne Platten, immer wieder übereinandergelegt. Doch von hier, aus der Ferne, wirkten sie wie ein mächtiger Felsen, aus dem knorrige Kiefern wuchsen.

Ein paar Äste knackten, dann hörte sie ihn laut seufzen. Sie drehte sich um, und er stand da, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Hier oben bin ich lang nicht gewesen.«

Sie hatten die ganze Nacht geredet, und als es dämmerte, hatten sie sich auf den Weg hierherauf gemacht.

Emilio setzte sich neben sie auf den Stein, auf seiner Stirn perlte Schweiß. Für einen Moment tat es Laura leid, dass sie ihn überredet hatte, so früh am Morgen wandern zu gehen, nachdem sie keine Minute geschlafen hatten. Doch als er ihren prüfenden Blick auffing und lächelte, verwarf sie den Gedanken. Es ging ihm besser. Es ging ihnen beiden gut. Das zu spüren fühlte sich an wie ein warmer Frühlingswind, der durchs Haar strich, wie Meersalzkrusten auf der Haut, wie ein randvoller Teller Pasta nach einem langen Sommertag, wie der Moment, wenn sie am Strand einschlief und die Wellen hineinrauschten in das diffuse Empfinden, zwischen den Welten zu balancieren. Wie ganz Italien in einem Leben.

In der Ferne konnte sie den Trabucco erkennen. Sofort musste sie an den Nachmittag auf dem Fischergalgen denken und schloss für einen Moment die Augen. Wie sich ihr Leben in den letzten zwölf Monaten gedreht hatte.

Sie wollte gerade aufstehen, als Emilio seine Hand auf ihr Knie legte. Sie hielt inne und wusste, dass er die Frage stellen würde, vor der sie noch vor ein paar Wochen unglaubliche Angst gehabt hatte. Die Frage, die sie sich stellte, seitdem sie hierhergekommen war.

»Und?«, sagte ihr Vater schließlich mit belegter Stimme. »Bleibst du bei mir?«

Und Laura wusste, was sie ihm sagen wollte. Nur nicht wie.

1

München, Deutschland, September 2016

LAURA STEMMTE SICH gegen die Tür. Etwas hatte sich verzogen, und sie klemmte seit einigen Tagen. Vielleicht sollte sie das reparieren lassen. Nicht heute. Heute war, und das merkte sie in dem Moment, als sie sich gegen die Tür stemmte, kein guter Tag.

Als sie in der Diele stand, kam ihre Mutter auf sie zu. Sie trug eines ihrer selbst genähten Kleider. Sie ging barfuß, und das bunte Seidenkleid um ihren schlanken Körper fiel in ihre Bewegungen hinein. Ihre Fingernägel hatte sie pink lackiert, das rote Haar zu einem Dutt drappiert. Laura blieb stehen und spürte einen Luftzug.

Die Balkontür stand offen, und die bodenlangen Baumwollgardinen, deren Enden verstaubt waren, bewegten sich so sanft, dass sie es kaum wahrnahm. Das Klappern von Geschirr und einzelne Stimmen drangen ins Zimmer, vielleicht von der Straße, vielleicht aus der Wohnung darunter.

Sie blickte zurück in die leere Diele. Die Tatsache, dass das Kleid, das sie gerade an ihrer Mutter gesehen hatte, im Schrank im Schlafzimmer hing, überschwappte sie wie eine Welle, der sie nicht versuchte auszuweichen. Sie würde sie ja doch kriegen. Laura musste sich an die Wand lehnen, ihr wurde schwindelig. Langsam rutschte sie an ihr hinunter und blieb eine Weile dort sitzen. Die Wand fühlte sich unangenehm warm an, genauso wie der Holzboden, sie hasste diesen Sommer. Er pochte in jeder Ritze, selbst hier, in dieser leeren Diele war er immer noch unerträglich präsent. Laura wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war der erste Sommer in ihrem Leben, den sie als hämisch und hinterlistig empfand. Der nicht enden wollte. Den sie einfach nur ertrug. Weil ihre Mutter gestorben war, bevor der Sommer überhaupt richtig begonnen hatte.

Diese Jahreszeit war ihnen beiden immer die liebste gewesen. Magdalena hatte immer gesagt, dass die meisten Menschen nur die Fröhlichkeit des Sommers wahrnähmen, jedoch nie diese zarte Melancholie, die sich in lauen Nächten um die Köpfe lege, sodass man gar nicht schnell genug im Auto nach Italien sitzen könne. Wenn es nur die Melancholie wäre, dachte sich Laura, und nicht diese grellen Farben von nicht enden wollendem Sonnenschein.

Sie musste die Balkontür versehentlich offen gelassen haben, als sie gestern gegangen war. Sie sah nach draußen, und ihr Blick fiel auf das Café gegenüber. Der Platz, an dem sie gern saß, war frei, doch sie legte sich, und in diese Abfolge von Bewegungen hatte sich eine seltsame Routine geschlichen, auf das große Sofa, dessen abgewetztes Leder für einen kurzen Moment ihren Körper kühlte. Schon war es vorbei. Sie schloss die Augen.

Die große Dachgeschosswohnung, die im Sommer immer stickig und warm war, hatte bereits ihrer Großmutter gehört, und als diese vor ein paar Jahren gestorben war, war Magdalena, Lauras Mutter, eingezogen. In diesem Sommer war es nun Laura, die überlegte, ihre kleine, für sie belanglose Wohnung aufzugeben und in das Erbstück ihrer Mutter einzuziehen. Ohnehin verbrachte sie jeden Tag lange Stunden hier. Gleichzeitig ertrug sie den Gedanken nicht, tatsächlich einzuziehen, denn das fühlte sich in etwa so an, als würde sie dem Tod ihrer Mutter zustimmen. So weit war sie noch nicht. Die Hutboxen, die sich in zwei Türmen vom Parkettboden bis knapp unter die Decke stapelten. Die meterhohen Massai-Figuren aus Kenia, die Kaffeesäcke aus Äthiopien, aus denen Magdalena Sitzkissen genäht hatte, die vielen verschiedenen Buddha-Statuen von ihren Reisen nach Indonesien. Der riesige Spiegel in der Diele, verziert mit Tausenden von winzigen Mosaikplatten, ein Souvenir aus Usbekistan. Laura liebte diese Wohnung, die so viel über ihre ehemalige Bewohnerin erzählte. Und deshalb war es noch nicht ihre.

Sie öffnete die Augen, und ihr Blick fiel auf den Globus, der direkt gegenüber auf der dunklen Teakkommode stand. Das Spiel, das sie immer gespielt hatten, als Laura noch klein war. Magdalena drehte den Globus, und Laura stoppte die Bewegung mit ihrem Zeigefinger. Wenn ihre Mutter in dem Land, das Laura getroffen hatte, gewesen war – und die Chance war groß, denn Laura kannte niemanden, der so viel gereist war, wie ihre Mutter –, dann erzählte Magdalena ihr alles, was sie darüber wusste. Alles, was sie erlebt hatte, bevor Laura geboren worden war.

Immer noch roch sie den leichten Parfümgeruch ihrer Mutter in den Textilien, eine Mischung aus Patschuli und Rosenholz und etwas, das sich immer dazwischenmischte, sie aber nicht bestimmen konnte. Wenn sie lange auf dem Sofa lag und der Geruch aus dem Kissen verschwand, nahm sie sich ein anderes und blieb auch darauf so lange liegen, bis der Geruch endgültig weg war. Irgendwann, das wusste sie, würde er nur noch in ihrer Erinnerung existieren.

Sie stand auf und wollte gehen, wie jeden Tag, wenn sie sich fragte, warum sie überhaupt hergekommen war. Um es sich selbst noch schwerer zu machen? Sie wollte hier sein, und sie wollte nicht hier sein. Die Altbauwohnung war die Chronik einer unabhängigen Frau, einer Weltenbummlerin, und es war absurd, dass alles hier nach Abenteuer roch und die Lebenslust ihrer Mutter in jeder Seite jedes Tagebuchs, in jedem Rahmen jedes Bildes steckte, und doch alles nun vorbei war. Der Tod passte nicht in diese Wohnung. Er hatte hier keinen Platz, und doch nahm er ihn sich ungefragt. Und Laura war nicht bereit, das Apartment aufzulösen oder einfach einzuziehen. Sie hing zwischen Vergangenheit und Zukunft, was von außen betrachtet normal schien, für sie jedoch ein Zustand war, der sie zerriss. Sie fühlte sich, als könnte sie weder vor und schon gar nicht zurück.

Sie fuhr mit ihrer nackten Fußsohle über den Flokati, ganz unbewusst. Dann schlüpfte sie wieder in ihre Sandalen, schloss die Balkontür und sah bereits von oben, dass ihr Lieblingsplatz vor dem Café immer noch frei war. Von dort aus konnte sie den französischen Balkon sehen, an dem sie gerade stand. Und dieser Blick war nah genug, um immer zurückzukehren, und doch weit genug weg, um ihn überhaupt zu ertragen.

Obwohl der Metallstuhl trotz Kissen unbequem war und der Tisch auf dem Kopfsteinpflaster immer wackelte, mochte sie diesen Platz. Seit zwei Wochen, seitdem sie aus der Reha zurück war – der Aufenthalt dort war ein Vorschlag ihrer Tante gewesen, weil Laura nach der Beerdigung ihrer Mutter nicht auf die Beine kam –, saß sie hier fast jeden Tag, weil es ihr oftmals schwerfiel, die Wohnung einfach so zu verlassen und nach Hause zu gehen. Sie brauchte eine Zwischenstation, einen Puffer zwischen beiden Wohnungen, einen Moment, in dem sie unter Leute gehen konnte, so tun konnte, als wäre alles in Ordnung. Als würde sie nur schnell einen Kaffee trinken, bevor sie noch den Wochenendeinkauf erledigen und dann zu Hause für Freunde oder den Mann kochen würde.

»Einen Cappuccino, bitte«, sagte sie zu der Kellnerin und holte ihr Notizbuch aus der Tasche.

Hundetrainerin. Begründung: Nähe zum Tier, weniger Nähe zu Menschen.

Noch mal studieren gehen. Begründung: Keine.

Café eröffnen. Begründung: Immer Kaffee. Nachteil: Zu viele Menschen, zu laut.

Einfach ans Meer fahren. Begründung: Italien, Italien, Italien.

Apropos Italien: Papa besuchen (vielleicht).

Begründung: La Famiglia.

Restaurantkritikerin. Begründung: Klingt gut.

Vorteil: Viel essen, viel trinken.

Zurück ins Übersetzungsbü WAS WILL ICH WIRKLICH!?!?

»Vielleicht noch einen Cappuccino?«, fragte jemand. Laura schreckte aus ihren Gedanken auf.

»Gerne, danke«, antwortete sie ohne aufzusehen, legte den Kuli weg und rieb sich die Augen. Erst dann fiel ihr auf, dass es eine männliche Stimme war. Sie drehte sich um. Jemand stand am Tresen, allerdings war es so dunkel im Café, dass sie ihn nicht richtig sehen konnte. Sie fing an, einen Stern neben die Liste in ihr Notizbuch zu malen, und dann noch einen und noch einen.

»Darf ich mich dazusetzen?« Laura hob den Kopf. Er war groß, vielleicht eins neunzig und hielt eine Tasse mit überschwappendem Milchschaum und einen Espresso in den Händen.

»Warum?«

»Weil ich dir gerade einen Kaffee spendiere?« Er grinste.

»Aha«, sagte Laura, und weil er sich ihr bereits gegenübersetzte und sie nicht wusste, was sie antworten sollte, schwieg sie. Er legte die Sonnenbrille, die in seinem dichten Haar kaum zu sehen war, auf den Tisch und lächelte sie wieder an. Nettes Lächeln. Schönes Lächeln. Schöne Zähne. Sie gab sich unbeeindruckt.

»Ich bin nicht gut in Small Talk«, sagte sie schließlich und fing an, den Milchschaum von ihrem Kaffee zu löffeln, um den Mann, der ihr vollkommen fremd war, nicht ansehen zu müssen. Ihre Hand zitterte leicht.

»Das Wetter ist herrlich, oder?«, sagte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

Da musste sie lachen.

»Und was willst du wirklich?«, fragte er sie. Laura musterte ihn einen Augenblick, das schmale Gesicht, die Grübchen, den Dreitagebart, der in einen Schnauzer überging.

»Du hast meine Notizen gelesen«, antwortete sie, und anstelle dessen, was sie sonst machen würde, nämlich aufstehen und gehen, ließ sie den Satz lediglich als Feststellung stehen. Und blieb sitzen.

»Nur ganz kurz«, sagte er. Sie schwiegen eine Weile, und Lauras Blick wanderte zur Wohnung ihrer Mutter. Er beobachtete sie dabei, und als sie es spürte, war es ihr nicht unangenehm. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal so angeschaut worden war. Da war so eine Ehrlichkeit in seinen Augen. Als hätte er ihr diese Frage wirklich gestellt und Laura sie sich nicht zwischen den Schichten der ganzen großen Belanglosigkeit eingebildet.

»Ich heiße Laura«, sagte sie dann. Sie streckte ihm über den kleinen Tisch hinweg ihre Hand entgegen. Er betrachtete ihre Finger, und sie fragte sich, ob es ihn störte, dass ihre Fingernägel rot lackiert waren, der Lack teilweise abgesplittert.

»David«, sagte er und nahm ihre Hand.

»Kommt überhaupt nicht infrage.«

»Was?«

»Dass du dich mit dem triffst.«

»Warum?«

Rio warf einen Blick über seine Schulter und hakte sich dann bei ihr ein. Sie hatte ihn nach dem Treffen mit David angerufen und vorgeschlagen, ihn nach Feierabend am Büro abzuholen. Sie waren noch an der Isar gewesen und hatten ihre Füße ins kalte Wasser baumeln lassen, bevor sie zu Lauras Wohnung liefen. Er senkte seine Stimme und sagte: »In dieser Stadt kennt jeder jeden, man muss echt höllisch aufpassen, über wen man spricht.« Er schob seine runde Hornbrille zurecht. »Weil es mit Davids nur Ärger gibt. Ich weiß das am besten.« Er zog eine Grimasse und wirkte dabei unfreiwillig komisch.

Rio hatte sie vor ein paar Wochen in der Rehaklinik kennengelernt. Er war die einzige Person, mit der sie momentan das Bedürfnis hatte, Zeit zu verbringen. Nicht um nebeneinanderher zu leben, sondern um zu reden. Zu schweigen. Und sich auch dann zu verstehen. Er war auch der Einzige, bei dem sie spürte, sie selbst sein zu können, obwohl sie so durcheinander war, dass sie keine Ahnung hatte, wer sie war. Rios Gegenwart entspannte sie, und gleichzeitig musste sie feststellen, wie wenig Menschen in ihrem Leben waren, auf die sie sich in Zeiten wie diesen verlassen konnte. Was Rio und Laura verband, war, dass sie sich bei einer Reha kennengelernt hatten und damit direkt ins Leben des anderen gesprungen waren. Schattenseiten wussten, Oberflächlichkeit wegstrichen. Das sparte Zeit, kostete aber Emotionen. Was der wirkliche Auslöser für Rios Reha war, wusste sie nicht genau, da er viele Dinge gleichzeitig angesprochen hatte: Burn-out, schwierige Familienverhältnisse, Identitätskrisen. Nicht dass er schwul war, sondern dass er nicht wusste, wohin er gehörte, und diese Verlorenheit hatten sie gemeinsam.

»Versteh mich nicht falsch, so ein One-Night-Stand würde dir sicherlich guttun. Aber such dir dafür jemanden, der dir nicht so sehr gefällt wie der.« Sie blieb vor ihrer Haustür stehen und blinzelte ihn an.

»Er gefällt mir nicht so sehr. Woher willst du das überhaupt wissen?«

Rio verschränkte die Arme. »Weil du gerade das Gegenteil behauptest.«

Sie kniff ihn in den Arm und kramte nach ihrem Schlüssel. Als sie ihn ins Schloss steckte, drehte sie sich zu ihm um. Er stellte ihr keine dieser Fragen, die alle anderen stellten, nur um das eigene Gewissen zu beruhigen. Laura eine SMS schreiben, eine Frage stellen, check. Ob es ihr wieder besser gehe, welchen Plan sie nun verfolge, ob sie zurück in ihren Job im Übersetzungsbüro kommen werde, ob sie vielleicht einfach woanders als Übersetzerin arbeiten wolle, wann sie die Wohnung ihrer Mutter auflösen werde. Laura wusste nicht, ob Rio all das nicht fragte, weil er auf ihre Gegenfragen, die sie vermutlich gestellt hätte, ebenfalls keine Antworten wusste, aber es war ihr egal. Alles, was zählte, war, dass er es einfach nicht tat.

»Danke, Rio«, sagte sie.

Er streichelte ihr über den Arm. »Jederzeit.«

Dann steckte er die Hände in die Hosentaschen und ging. So, wie er sich kleidete, sandfarbene Espadrilles, helle Leinenhose, dunkles Shirt, große Brille, mit seinem rotbraunen Haar, das etwas zu lang war und ihm in die Stirn fiel, erinnerte er sie immer an den jungen Matt Damon in der Verfilmung von Der talentierte Mr. Ripley.

Sie lehnte ihren Kopf an die Haustür, sie war vollkommen erschöpft von den langen Nächten, die nicht enden wollten, und den heißen Tagen, die sie noch träger machten.

2

DIE LETZTEN MONATE waren anstrengend gewesen. Wenn das überhaupt das richtige Wort war. Da war kein Raum gewesen für Leichtigkeit oder den flüchtigen Versuch eines Tagtraums. Die Zeit hatte immer ein Auge auf Laura gehabt. Nach der Krebsdiagnose Anfang Juni waren ihrer Mutter sehr vorsichtig ein paar Monate angedeutet worden. Am Ende waren es wenige Wochen gewesen. Sie hatten die Koffer gepackt und waren nach Paris gefahren, um Wein zu trinken in dieser einen winzigen Vinothek unterhalb von Sacré Cœur, in einer unscheinbaren Seitenstraße, umgeben von Senioren, die kurzärmelige Karohemden trugen und den beiden immer wieder zuzwinkerten. Das war alles gewesen, was Laura bekommen hatte. Zweiundsiebzig Stunden Vorgeschmack darauf, wie es noch so viele Jahre hätte sein können. Ein Restfunken von dem, was gewesen war. Der Gedanke, diese irrsinnige und lächerliche Diagnose – es war schließlich ihre Mutter, ihre beste Freundin und nicht irgendwer – überwinden zu können, war vor allem in Paris zu einem so realistischen Plan herangewachsen, dass die Fallhöhe bei der Rückkehr nach Hause alle Kräfte geraubt hatte, die übrig waren. Es war nicht viel gewesen, aber das verzweifelte Aufbäumen während dieses einen Spaziergangs über den Pont Neuf war in sich zusammengefallen, und ein paar Augenblicke später wusste Laura nicht, wie das alles eigentlich hatte passieren können und welchen Gesetzen die Tatsache, dass ihre Mutter ihr innerhalb von wenigen Wochen genommen wurde, überhaupt folgen konnte.

Doch jetzt, an diesem kühlen Spätsommerabend, an dem es regnete – es fiel der Regen, der ankündigte, dass der Sommer nun wirklich vorbei war –, stand sie vor Davids Tür und spürte nicht nur die Gänsehaut auf ihren Armen, sondern die Leichtigkeit, die sich um ebendiese legte.

»Ich will mehr.«

Sie war überrascht, weil es sich so plump anhörte, aber sie drehte sich um und griff nach dem Topf auf dem Herd. David lachte kurz auf, dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Das könnte fast ansteckend sein.«

»Was?«, fragte sie und stellte den Topf wieder zurück. Er verwirrte sie.

»Deine Immunität gegen Romantik.« Da musste sie lächeln.

»Ist das eine Diagnose?«, fragte sie und spielte darauf an, dass er Kardiologe war. Aber sie stimmte nicht, denn das, was er von ihr kannte, war lediglich ihr riesiger Apparat an Selbstschutz, eingebettet in ein charmantes Lächeln, das sie sich über die Jahre angeeignet hatte. Aber das musste er ja nicht wissen.

»Du hast heute zum zweiten Mal Kerzen angezündet, und ich habe nicht auf dem Absatz kehrtgemacht. Das ist ein Fortschritt.« David stand auf und ging um den Tisch herum. Er schob ihren Stuhl zurück, sodass er sich vor sie an die Tischkante lehnen konnte. »Du bist gestern aber auch nicht gegangen, als du die Kerzen gesehen hast.«

»Aber ich wollte.« Er schaute ihr so lange in die Augen, als wollte er hineinkriechen. Laura fragte sich, ob er wusste, dass sie log.

»Du hast mich geküsst, da stand ich noch im Türrahmen, mit meiner Flasche Wein in der Hand«, sagte sie.

Er lächelte. »Ging nicht anders.« Laura sagte sich, dass sie sicherlich nicht die erste und wahrscheinlich auch nicht die zweite Frau war, der er das sagte. Die Frage, ob sie vielleicht die letzte sein würde, kam ihr erst gar nicht in den Sinn.

»Und nun?«

Er nahm ihre Hand und strich mit dem Daumen immer wieder darüber. Seitdem sie an seiner Tür geklingelt hatte, hatte sie nicht ein einziges Mal an ihre Mutter gedacht, seit zwei Stunden sprang ihr Herz zwar im Quadrat, aber es tat nicht mehr weh dabei. Und alleine diese Tatsache war es wert gewesen, ein zweites Mal hierherzukommen, in die Wohnung eines völlig Fremden, der ihr so schlicht offenbarte, was er für sie empfand, dass sie nicht aufhören konnte, ihn vollkommen infrage zu stellen; um dann spätestens, wenn er sie küsste, ihre Skepsis zu verwerfen.

Es war verrückt gewesen. Am Tag zuvor hatten sie bis in die Abendstunden im Café gesessen, danach hatte er sie zu sich eingeladen. Er wollte für sie kochen, und das tat er dann auch. Und nun saß sie wieder hier, wieder in seiner Wohnung, und er hatte wieder gekocht. Er drückte ihre Hand, und sie hob den Kopf.

»Ich mache das normalerweise nicht«, sagte sie. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, küsste sie und sagte: »Ich auch nicht.«

Der Regen hatte aufgehört. Die Luft war kühl, der Spätsommer fürs Erste weggewischt, zurück blieb noch der Geruch des dampfenden Asphalts. Davids Kater, der zwar nicht auf den Namen »Hund« hörte, aber wirklich so hieß, lag zusammengerollt auf der Fensterbank. Sein langes hellrotes Fell, von weißen Streifen unregelmäßig durchzogen, war so dicht und weich, dass der Kater riesig erschien und Laura sich fragte, wie dick das Tier darunter wirklich war.

Ihre Haut klebte. Sie legte das dünne Laken zwischen die Oberschenkel und drehte ihr hellbraunes Haar zu einem Dutt zusammen. Er hatte sie die ganze Zeit über beobachtet, er hatte jeden Ton, den sie von sich gegeben hatte, gehört. Und jetzt, wo sie hier lag und seine Augen eine imaginäre Linie von ihrer linken Schulter über ihre Schlüsselbeine zur rechten Schulter verfolgten, musste sie daran denken, wie er sie schon gestern im Café beobachtet hatte. Wenn sie redete, wenn sie schwieg, wenn sie mit den Fingern auf dem Tisch trommelte. Und sie kannte es einfach nicht. Sie versuchte, in seinen Blicken und Berührungen etwas zu finden, das sie schon einmal so erlebt hatte, das ihr vertraut war, aber es war noch nie so gewesen. Sie hatte noch nie so schnell einem Mann vertraut. Sich bei einem Mann so schnell wohlgefühlt. Was sich endlich richtig anfühlte, verunsicherte sie auf einmal. David war plötzlich einfach da, stand in diesem Chaos, das ihr Leben war. Und die Sache war die: Sie war nicht der Typ, der sich zurücklehnte und das Leben machen ließ.

»Wie geht es jetzt weiter? Mit uns, meine ich …«

Er schob die Augenbrauen zusammen und richtete sich auf. Als er verstand, was sie meinte, fuhr er sich durchs Haar und seufzte.

»Ich habe dir das extra nicht vorher gesagt.«

Laura versuchte, den aufkeimenden Schmerz hinunterzukämpfen.

»Was hast du mir nicht gesagt?«

»Ich wollte nicht, dass du denkst, ich würde dich nur ins Bett kriegen wollen.« Er hielt inne und wandte sich kurz ab, als würde er die richtigen Worte suchen, die er brauchte, um ihr das sagen zu können. Dann drehte er sich zu ihr.

»Ich schätze, ich hab mich so dermaßen in dich verliebt, dass ich …« Er hielt wieder inne, und sie runzelte die Stirn, um von ihrem Lächeln, das sie kaum zurückhalten konnte, abzulenken.

»… dass ich nichts anderes mehr tun möchte, als nackt mit dir im Bett zu liegen.«

Laura lachte laut auf, und Hund hob den Kopf. Er musterte sie, wie es nur ein schlecht gelaunter Kater tun konnte, dann rollte er sich wieder zusammen. Laura ließ sich in die Kissen fallen, sie kostete ihre Erleichterung vollkommen aus, doch als sie merkte, dass sie die Einzige war, die lachte, richtete sie sich auf. Ihre Gesichter waren einander so nah, dass sich ihre Nasenspitzen berührten.

»Du meinst das ernst«, sagte sie, und er nickte.

3

LAURA ÖFFNETE DEN MÜLLEIMER, schmiss den Stapel ungeöffneter Beileidsbekundungen hinein und schloss ihn wieder. Dann goss sie die Blumen in der Wohnung ihrer Mutter und dachte daran, was die Therapeuten während ihrer Kur ihr immer wieder eingetrichtert hatten. Sie solle ihre Gefühle zum Ausdruck bringen. Sie beim Namen nennen und sie nach außen transportieren. Das war für jemanden wie sie, die weniger sprach, als man es von einer Halbitalienerin vermuten sollte, und die gar nichts davon hielt, ihr Inneres nach außen zu kehren, die absolute Bestätigung, am falschen Ort zu sein. Also hatte sie irgendwann angefangen, sich ihre Zustände auszudenken. »Heute ist ein guter Tag, danke«, hatte sie dann manchmal geantwortet. In der Reha war ihr Alltag eine beschissene Abfolge beschissener Augenblicke, ein unnützes Leben, das ihr selbst am allerwenigsten noch etwas brachte. Und auch wenn sie wusste, dass Magdalena so eine Einstellung nie geduldet hätte, konnte sie nicht anders, als lediglich zu akzeptieren, dass sie selbst am Leben war und irgendwie funktionieren oder für den Anfang zumindest existieren musste. Vielleicht wollte Laura all die endlosen Stunden, die zu Tagen und schließlich Wochen geworden waren, bis David plötzlich vor ihr stand und es ein bisschen leichter wurde, einfach nur von Magdalena wachgerüttelt werden. Manchmal hatte sie sich gewünscht, ihre Mutter mit der Lethargie ihres neuen Lebens so rasend zu machen, dass Magdalena es sich mit dem Sterben noch mal anders überlegen würde.

»Was machen wir heute Abend?«, fragte David, nachdem sie den ganzen Nachmittag im Café gesessen hatten und er gerade die Haustür aufschloss. Bisher hatten sie die meiste Zeit bei ihm verbracht, denn ihr kleines Apartment wollte Laura ihm noch nicht zeigen, und über die Wohnung ihrer Mutter konnte sie noch nicht sprechen. Sie konnte ja noch nicht mal über ihre Mutter sprechen.

»Ich muss mich kurz frisch machen«, sagte sie, um einen Augenblick für sich zu haben. In Momenten wie diesen, in denen ihr klar wurde, wie viel Zeit sie bereits gemeinsam verbrachten, und sie spürte, wie gut er ihr tat, trat sie manchmal unbewusst einen Schritt zurück. Sie schloss die Badezimmertür hinter sich und betrachtete sich im Spiegel. Zum ersten Mal seit Langem, zum ersten Mal wirklich wieder bewusst. Ihr Blick ging von der Stirn über die blaugrünen Augen zur kleinen Nase, sprang von Sommersprosse zu Sommersprosse zu den vollen Lippen. Ihre Haut wurde schnell braun, und jetzt, wo es bereits Mitte Oktober war und die Tage immer kürzer und kühler wurden, sah sie gut aus. Oder zumindest besser. Als im Juni, da hatten die Augenringe durch ihre blasse Haut geschimmert und sie hatte kein Interesse daran gehabt, die bläulichen Ränder zu kaschieren. Doch jetzt war ihre Haut braun gebrannt und makellos, sie sah jünger aus als neunundzwanzig, und ihre Augen leuchteten. Die Farbe wurde Monat für Monat dunkler, genauso wie das Jahr selbst.

Laura wusch sich die Hände und legte sie sich dann in den Nacken. Sie fing an, die Sommersprossen auf ihrer Nase zu zählen, doch es waren zu viele. Dann bürstete sie sich ihr hellbraunes, schulterlanges Haar mit einem Kamm, den sie auf der Kommode hinter sich liegen sah, und hielt in der Bewegung inne. David ging auf dem alten Holzboden der Diele auf und ab, das Knarzen verschluckte immer wieder, was er sagte, doch sie konnte definitiv hören, dass er etwas sagte. Seine Stimme klang aufgebracht. Er musste telefonieren, doch er redete dabei so leise, dass sie es als unnatürlich empfand.

»Ja … ja, ist ja gut. Ich muss sowieso noch ein paar Dinge bei dir abholen.«

Laura ging mit dem Kamm in der Hand zur Tür und legte ihr Ohr daran. Sie beobachtete sich im Spiegel und verzog ihr Gesicht, weil sie sich blöd vorkam.

»Natürlich denke ich oft an dich, ständig, wie auch … warum …?« Er klang, als müsse er jemanden am anderen Ende der Leitung beruhigen. Oder sich selbst. Oder beide. Eine Weile sagte er nichts mehr. Dann: »Sag mir wann, und ich bin da, okay … nein, heute geht es nicht.«

Das war das Letzte, das sie hatte verstehen können. Er war in ein anderes Zimmer gegangen. War ihm aufgefallen, dass Laura ihn hören konnte? Sie legte den Kamm weg, sie war sowieso schon viel zu lange im Badezimmer. Leise öffnete sie die Tür und ging an seinem Schlafzimmer vorbei. Die Tür war angelehnt, seine Stimme drang immer wieder ganz leise in die Diele, doch sie konnte die Wortfetzen nicht mehr verstehen. Laura versuchte, auf die Fragen, die sich in ihr auftürmten, ganz rational zu reagieren. Doch die Wahrheit war, dass sie überlegte, ob die Person, mit der er telefonierte, eine Frau war. Eine andere.

Der rote Kater schlich um Lauras Beine und machte einen Buckel. Sie hob ihn hoch, ging mit ihm in die Küche und kraulte ihn. Und wartete.

»Also? Was machen wir heute?«, sagte David, als er in die Küche kam. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, dass ihr Herz genauso sehr raste wie ihre Gedanken. Laura musterte ihn für einen Moment, doch er ließ sich nichts anmerken. Er war vollkommen entspannt, was sie allerdings nicht beruhigte. Sie kannte ihn ja überhaupt nicht. Oder? Sie saß hier, in seiner Küche, verhielt sich, als wäre sie seine Freundin, und kannte ihn überhaupt nicht. Als er die Stirn runzelte, zuckte sie die Achseln.

4

ES WAR DIE ART von Entscheidung, die längst gefällt worden war, während eine kluge Stimme noch immer rief, es sein zu lassen. Die rationale und meist sehr kluge Stimme hatte keine Chance, wenn sich das Herz bereits verrannt hatte. Deshalb saß Laura seit einer Minute aufrecht in Davids Bett und überlegte seit ziemlich genau dieser Minute, ob sie das tun sollte, wovon sie wusste, dass sie es nicht tun sollte.

Um sich selbst etwas mehr Zeit zu schenken, griff sie nach Davids Hemd, das auf dem Boden neben ihr lag, zog es an und knöpfte es so langsam, wie es möglich war, von oben nach unten zu. Dann rollte sie beide Ärmel bis über ihre Ellbogen hoch. Sie seufzte. Es kribbelte in ihr, das konnte sie nicht leugnen. Es kribbelte von den Fußzehen über die Fingerkuppen bis zur Kopfhaut. Also stand sie auf.

David war zum Bäcker zwei Straßen weiter gegangen. Das hatte er schon ein paar Mal gemacht, eigentlich immer, wenn sie ausschliefen und er nicht ins Krankenhaus musste. Laura wusste daher, dass es mindestens zehn, maximal fünfzehn Minuten dauerte, bis er zurück war. Es blieben ihr also noch rund acht Minuten. Vollkommen sichere acht Minuten, in denen sie wie eine Irre seine Wohnung durchsuchen konnte, um sehr wahrscheinlich auf nichts zu stoßen, was sie weiterhin beunruhigen würde. Das war der Plan. Und weil solche Szenen in Filmen immer schiefgingen, stellte sie den Timer ihres Handys auf sieben Minuten.

Das Schlafzimmer war spartanisch eingerichtet. Es gab darin lediglich das edle Boxspringbett, die weiße Kommode und einen schmalen Schrank, in dem seine Hemden und Anzüge hingen und in dem, wie sie nun sah, als sie ihn öffnete, auf einem Brett darunter auch Bettwäsche und ein Schlafsack lagen. Unter dem Brett standen fünf Schuhpaare, die sie noch nie an ihm gesehen hatte, sie waren allerdings so schick, dass sie vermutete, er würde sie ausschließlich zu seinen Anzügen tragen, die noch schicker waren. Sie schloss den Schrank leise und hielt einen Moment inne. Es war nicht möglich, über den Holzfußboden in der Diele zu gehen, ohne es im Schlafzimmer zu hören. Sie würde Davids Schritte hören können. Noch sechseinhalb Minuten. Sie zog die erste Schublade der Kommode auf. Die kluge Stimme meldete sich, surrte wie eine Fliege um Lauras Kopf herum. Sie wusste, wie falsch es war, und doch fing sie an, Unterhosen und Socken zu durchwühlen. Nichts, wonach sie suchte, obwohl sie gar nicht wusste, was sie finden wollte. In der zweiten Schublade waren Handtücher, in der dritten waren medizinische Fachbücher, die er entweder versteckte oder die nicht mehr ins Bücherregal im Wohnzimmer passten, Kerzen, verschiedene Vasen und zwei Hanteln verstaut, alles perfekt nebeneinander angeordnet. Diese Wohnung sieht aus, als hätte sie Marie Kondo persönlich eingerichtet, dachte sie bei sich. Laura schob die Schublade wieder zu und spürte eine gewisse Erleichterung in sich aufsteigen. Eigentlich hatte sie keine Ahnung, was sie da tat, aber die Tatsache, alleine in Davids Wohnung zu sein, und die Tatsache, dass sie sein seltsames Telefonat zwei Wochen zuvor nicht aus dem Kopf bekam, entwickelte eine Kraft, die sie wie ein Geist durch das Zimmer schob. Noch fünf Minuten.

Laura wusste, dass sie Küche und Wohnzimmer nicht mehr durchsuchen konnte. Und auch nicht wollte. Die kluge Stimme atmete auf. Da sich ihre Suchaktion also auf das Schlafzimmer beschränkte, ging es Laura wesentlich besser. Theoretisch hätte sie einen frischen Kissenbezug oder ein Paar Boxershorts suchen können, die sie manchmal anzog, wenn sie den Tag in der Wohnung verbrachten. Sie fühlte sich wohl in Davids Klamotten. Und sie fühlte sich zumindest für die nächsten fünf Minuten wohl damit, sich selbst anzulügen.

Sie kniete sich vor das Bett und entdeckte darunter mehrere Schuhkartons. Sie zog einen hervor und öffnete ihn, Kartenspiele und Krimskrams, sie zog den zweiten hervor, doch bevor sie den Deckel abnahm, hielt sie erneut kurz inne. Die Uhr in der Küche tickte. Unter dem offenen Fenster fing jemand an, »Mario« zu rufen. Ansonsten war nichts zu hören.

In Schuhkartons wurden fast immer persönliche Dinge aufbewahrt. Kleinigkeiten, die man nicht wegwerfen wollte, gleichzeitig aber nicht wusste, was man damit anfangen sollte, außer sie einfach aufzuheben. Sie fand, was sie womöglich gesucht hatte und was sie genauso wenig etwas anging: Konzertkarten, Flugtickets nach Oslo und Tel Aviv, ein paar ausländische Münzen, zwei Kuverts, die sie vorsichtshalber für den Moment weglegte, Fotos. David hatte ein Faible für Einwegkameras. Das wusste sie, weil die Dinger überall herumlagen und er auch Laura schon fotografiert hatte. Sie ging den Stapel durch. Auf fast allen Bildern war eine schöne junge Frau zu sehen. Sie lächelte in die Kamera, mal mit einem Hut, mal mit Sonnenbrille, mal trug sie beides. Eines der Fotos zeigte David mit der blonden Frau Arm in Arm auf einer Aussichtsplattform. Im Hintergrund das Meer und kleine Häuser mit weißen Fassaden und blauen Kuppeln. Laura tippte auf Griechenland. Sie drehte das Bild um. Es war erst ein gutes Jahr alt. Wer war die Frau? Sie sahen aus wie ein junges, glückliches Paar. Wann hatten sie sich getrennt? Waren sie überhaupt getrennt und, wenn ja, wie lange schon? Ihr Magen zog sich zusammen.

Laura hörte das Klicken des Schlüssels im Schloss und wie die Wohnungstür aufging. Einen Moment hielt sie inne. Sie war noch nicht fertig. Doch dann, vollkommen panisch, setzte sie den Deckel auf den Karton, schob ihn zurück unter das Bett, stand auf, und schon öffnete sich die Schlafzimmertür. David wich einen kleinen Schritt zurück, weil sie direkt vor ihm stand. Er lächelte, vielleicht, weil sie sein Hemd trug. Sein Blick ging zu ihrer rechten Hand, und sie spürte im gleichen Moment, dass sie das Foto noch immer festhielt. Die kluge Stimme verabschiedete sich. David neigte seinen Kopf und erkannte, was es war. Er wirkte, als verstünde er den Zusammenhang nicht. Es war zu spät, das Bild hinter ihrem Rücken zu verstecken und die Situation wegzulächeln. Laura konnte sich nicht bewegen, lediglich ihre Hände fingen an zu zittern. David stand immer noch im Türrahmen. Er hielt in jeder Hand eine Papiertüte, seine Schultern wirkten so schwer, als wäre Blei in den Tüten statt frisch gebackener Croissants. Laura war sich noch nie so dumm vorgekommen wie in diesem Moment. Sie hatte Angst, alles, was sie sich aufgebaut hatten, kaputt gemacht zu haben, und sie wusste, wie berechtigt diese Befürchtung war. Fotos der vermeintlichen Exfreundin, eine Kiste voller Erinnerungen, das war so normal, so nicht falsch, dass sie sich zutiefst schämte. Ihr Handy klingelte auf voller Lautstärke. Beethovens Ode an die Freude. Er zuckte zusammen, sie erschrak. Obwohl sie den Klingelton selbst eingestellt hatte. Der Timer. Sie sprang zum Bett und schaltete ihn aus.

»Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«

Eben noch waren die Minuten viel zu schnell vergangen und nun schien die Zeit auf einmal stehen geblieben zu sein. Angespannte Stille erfüllte den Raum. Nur von draußen drang wieder der Ruf nach »Mario« durch das Fenster herein. Laura fühlte sich wie in einer Zeitschleife. Sie saß auf dem Bett und traute sich nicht einmal, den Kopf zu heben, weil David ihr direkt gegenüberstand. Er hatte sich an den Türrahmen gelehnt und die beiden Papiertüten auf die Kommode neben sich gelegt.

Laura hatte nicht auf seine Frage geantwortet. Aus Angst, noch mehr Schaden anzurichten, und die richtigen Worte, wenn es solche überhaupt gab, fehlten ihr sowieso. Sie konnte nicht erklären, warum sie etwas getan hatte, was sie bei einem anderen Menschen verurteilen würde. Ihr war Privatsphäre, allen voran ihre eigene, extrem wichtig. Geheimnisse zu bewahren, nicht alles bei der erstbesten Gelegenheit preiszugeben. Nicht mal ihre Mutter hatte alles über sie gewusst. Die Befürchtung, sich in ihrer eigentlich perfekten Vorstellung von David zu irren, hatte sie zu etwas gedrängt, was ihrem Wesen überhaupt nicht entsprach: Die Grenze eines anderen zu überschreiten.

Das Foto lag umgedreht neben ihr auf dem zerwühlten Laken. Sie wollte es nicht mehr sehen, schließlich war darauf ein fremdes Paar abgebildet. Eines, das sie nicht kannte, von dem sie nichts wusste. Ein Mann, ihr Freund, der vielleicht ein ganz anderer mit dieser Frau war als jetzt mit ihr. Sie wollte nichts über diese Beziehung wissen, einzig, ob sie vorbei war. Aber sie wusste auch, dass sie nicht an der Reihe war, um Fragen zu stellen.

Laura faltete ihre kalten, schweißnassen Hände in ihrem Schoß. Irgendwann würde sie ihn anschauen müssen. Also hob sie den Kopf. Er hatte die Arme verschränkt und fixierte das umgedrehte Foto neben ihr. Laura hatte sich einiges zurechtgelegt in den letzten Minuten, doch sie vermutete, dass ihre Gedanken lediglich in ihrem Kopf funktionierten. Im Reden war sie nicht besonders gut. Am liebsten hätte sie David einen Brief geschrieben.

»Santorini, letztes Jahr Anfang September. Wir feierten unseren zwölften Jahrestag. Und bevor du nachrechnest, ja, wir sind mit achtzehn zusammengekommen. Vor drei Monaten hat sie sich von mir getrennt, warum, weiß sie selbst nicht genau. Deswegen meldet sie sich auch ständig bei mir. Wir haben nie zusammengewohnt, weil es sich nie ergeben hat. Wir haben uns aber auch nie getrennt, bis sie es jetzt eben getan hat, und wir haben uns auch nie sonderlich viel gestritten. Es war die rundum perfekte Beziehung, ohne großartige Stolpersteine, ohne Affären. Keine Dramen … zumindest keine nennenswerten. Sie war unkompliziert. Immer fröhlich. Vielleicht münden solche geradlinigen Straßen irgendwann immer in eine Sackgasse.« Die letzten Sätze hatte er mehr zu sich selbst als zu Laura gesagt, trotzdem konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, ihn mit ihrem Handeln in die Ecke gedrängt zu haben. Unangenehm und schwer legten sich diese kleinen Intimitäten nun auf sie, weil sie nicht hatte warten können, dass er es irgendwann von selbst erzählen würde. Sie hatte sich verrannt, und jetzt waren sie da angekommen, wo sie ihm nicht vertraute und er … sie wusste nicht, wie der Satz weitergehen würde. Sie hielt all diese Informationen in ihren Händen, die sie eigentlich gar nicht hatte wissen wollen. Nicht so.

»Laura.« Er setzte sich neben sie auf das Bett, eine Geste, die sie nicht einordnen konnte. Dann nahm er ihre Hand und drehte den dünnen goldenen Ring, den sie an ihrem Mittelfinger trug, hin und her. Warum war er nicht sauer auf sie? Und wenn er es doch war, warum zeigte er es nicht? Das war doch absurd.

»Du bist ziemlich verrückt. Du trinkst mich locker unter den Tisch, das haben wir ja neulich beim Griechen festgestellt. Und ich bin mir noch nicht sicher, ob ich das gut finde. Du summst dieses eine Lied von Paolo Conte immer, wenn du spülst«, er hielt kurz inne, und dann sang er leise, »It’s wonderful, it’s wonderful, it’s wonderful …« Sie lachte kurz auf, sie hatte keine Ahnung, dass sie das wirklich tat, obwohl sie den Ohrwurm sofort parat hatte.

»Du arbeitest nicht mehr, und ich weiß nicht, warum, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du mir das bald erzählen wirst. Du entscheidest dich immer für die Eissorten, die ich nie nehmen würde, und dadurch kann ich nie bei dir probieren …« Sie drehte sich zu ihm und schüttelte den Kopf.

»Es sind immer diese furchtbaren Sorten. Lavendel, Rosmarin, Matcha!«

Sie verstand nicht. »Was willst du mir damit sagen?«, fragte sie, und die Leichtigkeit war plötzlich und unvermittelt zurück, hopste wie ein Gummiball durch das Zimmer. David stand auf, griff nach den Tüten und ging in die Küche. Er legte zwei Croissants und zwei Brötchen auf einen Teller und öffnete den Kühlschrank. Laura folgte ihm und zog an seinem T-Shirt. Er drehte sich um und berührte sie an den Schultern. »Ich will damit sagen, dass ich gerade sehr glücklich bin. Und dass Kassandra mich verlassen hat, die beste Sache war, die mir hätte passieren können.« Er strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr.

»Mein Leben, das war … schön. Aber langweilig. Ich habe es einfach nicht mitbekommen all die Jahre.«

»Vielleicht war es einfach nur anders. Mit ihr«, sagte sie, dachte jedoch: Kassandra? Wenn man so hieß, sollte man doch wirklich was erleben. Sie stellte zwei Teller auf den Tisch und legte Besteck daneben. David sagte nichts. Er stand noch immer am offenen Kühlschrank, als hätte er vergessen, was er eigentlich machen wollte.

»Ich habe mich letzte Woche mit ihr getroffen.«

Weil Laura nicht mehr darüber reden wollte, sagte sie: »Ist okay. Ihr wart zwölf Jahre zusammen und seid erst seit ein paar Monaten getrennt.« Sie ging zu ihm und küsste ihn. »Es tut mir leid, was ich gemacht habe. Ich will nicht wissen, ob und wann du sie triffst. Wenn sie das braucht, um … abschließen zu können? Dann triff dich mit ihr.«

Er biss sich auf die Lippe. »Es ist nicht nur das.« David setzte sich an den Tisch. Laura blieb einen Augenblick stehen, dann setzte sie sich ihm gegenüber. Die Situation kippte und bekam die Atmosphäre eines Verhörs, obwohl sie ihn nichts fragte und er nichts sagte. Als hätte sie eine Tür geöffnet, von deren Existenz sie gar keine Ahnung gehabt hatte. Die Uhr tickte, der Kühlschrank surrte, der Raum wurde immer lauter. David rieb sich die Augen, und Laura hörte auf zu atmen. Weil sich unangenehme Dinge genau so anbahnten. Durch Stille.

»Kassandra ist schwanger.«

5

ALS LAURA ZWEIUNDZWANZIG gewesen war und seit Wochen darüber nachgedacht hatte, sich von ihrem Freund zu trennen, hatte sie sich an einem Freitagabend im Bad ihrer Wohnung wiedergefunden, mit einem Schwangerschaftstest in der Hand und dem dringenden Bedürfnis, nicht pinkeln zu müssen. Klara, ihre langjährige Schulfreundin, die ihr allerdings nie wirklich wohlgesinnt war, saß währenddessen in der Küche. Laura hatte darauf bestanden, den Test alleine zu machen, und wollte niemanden um sich, der noch hibbeliger und nervöser war als sie selbst. Und das war Klara gewesen, die die gemeinsame Freundschaft jedoch schon immer als Wettbewerb gesehen hatte. Wer würde das bessere Abitur schreiben? Wer würde schneller verheiratet sein? Sie baute zu dieser Zeit gerade mit ihrem Freund die Dachgeschosswohnung im Haus seiner Eltern aus und hatte ein paar Tage zuvor ihren Verlobungsring gefunden, der in der Jackentasche ihres Bald-Verlobten steckte.

Lauras Freundin lebte bereits mit Anfang zwanzig in einer so weit entfernten, anderen Welt, dass es die denkbar schlechteste Idee gewesen war, gerade in ihrem Beisein den Test zu machen. Denn im Fall zweier Streifen wäre Klara ziemlich sicher nach Hause gefahren und hätte ihren Freund dazu überredet, sofort mit der Kinderplanung anzufangen, weil Laura nun einen Vorsprung hatte.

Laura hätte bereits damals dringend neue Freunde gebraucht. Menschen, die ihr Bestes wollten. Menschen, die sie verstanden. Und für die mit zweiundzwanzig Jahren die Vorstellung von einem Ring am Finger und einem positiven Schwangerschaftstest die reinste Hölle war.

Was sie damals, als sie auf dem kalten Fliesenboden saß, am meisten beschäftigt hatte, war nicht ausschließlich die Tatsache gewesen, womöglich schwanger zu sein, sondern, von wem. Die Vorstellung, für immer an einen Menschen gebunden zu sein, mit dem sie seit Wochen hatte Schluss machen wollen, fühlte sich beklemmend an. Weil nichts passte, nie gepasst hatte, außer vielleicht der beidseitige Wunsch, mal wieder einen Partner zu haben. Sie hatte sich in das Gefühl verliebt, jemanden an ihrer Seite zu haben. Aber nicht in ihn und, da war sie sich sicher gewesen, er auch nicht in sie. Als ein paar Minuten später feststand, dass sie kein Baby bekommen würde, war ihre Freundin nach Hause gefahren – nicht bevor sie Laura ein herablassendes »das wird schon« mitgab –, während Laura selbst ihre Beziehung noch am gleichen Abend beendete und der Gedanke an ein Kind wieder verschwand; und einige Jahre lang nicht ein einziges Mal mehr aufflammte. Bis zu dem Morgen in Davids Küche.

Es vergingen ein paar Sekunden, bis Davids Worte bei Laura ankamen. Wie ferngesteuert stand sie auf und stellte sich neben den Stuhl. Sie kaute eine Weile an ihrem Daumennagel, suchte Lösungen für das Gehörte, verwarf sie, fand erneut welche. Dann setzte sie sich wieder und grinste ihn an.

»Du sagst das, weil du doch sauer auf mich bist. Weil dein schwarzer Humor aus dir spricht.« Ihre Stimme war tief, und obwohl sie zitterte, sprach keine Hoffnung oder eine Frage aus ihr, sondern ihre eigens gebaute Tatsache. David schloss die Augen. Dann öffnete er sie wieder, doch er sagte nichts.

»Na gut. Sie ist also schwanger, aber nicht von dir. Wenn sie dich als Freund braucht, stelle ich mich da keinesfalls in den Weg.« Der Versuch, sich selbst zu beruhigen, funktionierte nicht.

David griff über den Tisch und nach ihrer Hand und hielt sie fest, und Laura fragte sich, ob er ihr überhaupt zugehört hatte. Es gab kein Problem. Also mussten sie auch nicht Händchen halten. Sie war hungrig.

»Das mag vollkommen wahnsinnig klingen. Ist es auch. Aber ich habe ein paar Tage Vorlauf, also lass mich das erklären, ja?« Sie zog ihre Hand weg.

»Ich werde … Vater. Aber das ist nicht dein Problem, sondern meins. Du wirst davon gar nichts mitbekommen. Ich habe Kassandra von dir erzählt und ihr gesagt, dass das nichts an der jetzigen Situation ändern wird.«

Wie im Halbschlaf stolperte sie durch seine Worte. Sie nahm wahr, was er sagte und wie er dabei aussah, ruhig, fast schon entspannt, als wäre die Nachbarskatze entlaufen, aber jeder zuversichtlich, dass man sie finden würde. David, der vor ihr saß, vermischte sich mit dem David, der hinter ihren Augen entstand: David, wie er ein Baby wickelte. David neben einem Kleinkind, mit dem er einen Weihnachtsbaum schmückte.

»Vielleicht lügt Kassandra«, sagte Laura und zog dabei den Namen in die Länge. Ihre Augen brannten, als sie sie für einen kurzen Moment schloss.

»Das ist nicht ihre Art.«

»Okay. Dann ist es vielleicht nicht von dir«, schlug sie erneut vor, weil er beim ersten Versuch nicht darauf reagiert hatte.

»Das hat sie mir zwar versichert, aber auch das ist nicht dein Problem.« Laura spürte seinen suchenden Blick, doch ihre Augen wichen ihm aus. Sie fragte sich, wie lange er bereits davon wusste, warum er es ihr heute, jetzt, sagte. Ob er es ihr gesagt hätte, wenn sie nicht seine Sachen durchwühlt hätte. David sprach so seltsam, so distanziert, als wäre sie eine seiner Patientinnen. Er redete von einem Kind, das erst in einigen Monaten auf die Welt kommen würde, genügend Zeit, um sich darauf vorzubereiten, und dessen Existenz zwar ihn, aber nicht sie und schon gar nicht ihre junge Beziehung belasten sollte. Dass er Kassandra finanziell und bei wichtigen Entscheidungen unterstützen werde, dass das jedoch, zumindest vorab, alles sei. All das sagte er, als stünden sie beide an einem Fließband und müssten die Informationen lediglich weiterreichen, verpacken und verstauen, irgendwohin, wo sie Laura nicht tangieren würden. Und dann würde alles gut sein, und die Croissants wären immer noch warm, und sie könnten nach dem Frühstück zurück ins Bett gehen und vielleicht selbst versuchen, ein Baby zu machen. Denn warum eigentlich nicht?

»David!«, fiel sie ihm ins Wort, in seine unaufhörliche Rede vom Können und Wollen, die er doch nur für sich selbst herunterleierte. Er schwieg. Endlich.

»David, du wirst Vater. Checkst du nicht, was das bedeutet?«

»Ich bin Arzt, Laura.«

Sie stöhnte und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

»Die Mutter ist nicht irgendein One-Night-Stand. Du bekommst ein Kind! Mit der Frau, mit der du gefühlt dein ganzes Leben zusammen warst.« Laura wunderte sich darüber, dass sie ihm plötzlich die Ernsthaftigkeit der Angelegenheit erklären musste. Die Fakten. Und die Gefühle, die sich dazwischen bemerkbar machen konnten. Es ging um ein neues Lebewesen. Es ging um sein Kind.

»Wie weit ist sie?«

Er zögerte, dann legte er sich die Hände in den Nacken und knetete ihn. »Siebzehnte Woche.« Er schloss die Augen. »Sie hat es wohl durch die Trennung und das alles erst spät bemerkt und sich dann eine Weile nicht getraut, es mir zu sagen.« Laura ließ sich keine Zeit, das, was er sagte, sacken zu lassen. »Und seit wann weißt du es nun?«

»Seit einer Woche.«

Es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt für Vorwürfe. Sie hatte schließlich vor einer halben Stunde in seinen privaten Erinnerungen gewühlt. Und sie hatte keine Kraft, um diese Konversation zu führen. Nicht heute, nicht jetzt. Sie stand auf und zog sich an. Als sie die Wohnungstür hinter sich schloss, sah sie in den Augenwinkeln, wie David am Tisch saß, in sich zusammengesunken, seine Hände vor sich gefaltet. Die Kühlschranktür stand immer noch offen.

Rio hatte recht gehabt mit seiner Prognose. Er hatte das mögliche Unglück an einem Namen festgemacht, und das war so lächerlich, dass sie es nach wie vor nicht glaubte. Und trotzdem verschwamm nun der Silberstreifen, der so plötzlich da gewesen war. Wo er bis vor Kurzem noch geschimmert hatte, machte sich nun Angst breit. Laura befürchtete, dass David und sie sich nach dem ersten Schock sagen würden, dass sie das gemeinsam schaffen könnten, und Laura ihn dann trotzdem in den kommenden Monaten und Jahren erst mit seiner Exfreundin und dann mit seinem Kind teilen müsste. Etwas passierte in seinem Leben, worin sie selbst keinen Platz hatte. Was sie nicht mit ihm gemeinsam erleben konnte, weil er das bereits mit einer anderen Frau tun würde. Kassandra. Die aussah, wie der Name es vermuten ließ. Eine perfekte Frau, ohne tote Mutter und ohne Augenringe. Die Frau, die ihren Freund so gut kannte, wie es Laura vielleicht nie möglich sein würde.

All diese Gedanken hatten ihr keine Sekunde Zeit gelassen, die Situation mit Abstand betrachten zu können. Und als sich das ganze große, wackelige Kartenhaus an Befürchtungen und Ängsten aufgebaut hatte, setzte Laura ihm selbst die letzte Karte obendrauf. Der Gedanke, der sie nämlich beschlich, als sie am Abend alleine in ihrem Bett lag, war, dass sie sich wünschte, sie wäre es. Sie wäre diejenige, die schwanger von ihm war. Noch nie hatte sie den Wunsch verspürt, Mutter zu werden. Weil sie seit Jahren in keiner festen Beziehung gewesen war, und, wenn doch, dann war sie es mit Männern, die dieses Gefühl in ihr nicht hervorgeholt hatten. Aber mit David konnte sie es sich nicht nur vorstellen, ein Teil von ihr wollte es sogar. Sie waren erst seit ein paar Wochen zusammen, das zwischen ihnen war so frisch, dass sie sich manchmal gar nicht traute, sich darüber zu freuen, aus Angst, es aus Versehen kaputt zu machen. Und trotzdem. Als sie sich in ihrem Bett wälzte und nicht schlafen konnte, weil ihr Freund Vater werden würde, aber nicht sie die Frau war, die ihm die Nachricht überbracht hatte, sondern eine andere, stand sie wieder auf, zog sich Schuhe und Mantel an und lief durch die Nacht.

Eine Woche lang hatten sie nichts voneinander gehört. Nicht weil er nicht wollte sondern, weil sie nicht konnte. Und als sie ihm nach einer Flasche Prosecco – mit der sie sich nie hatte betrinken wollen, sondern lieber auf etwas Freudiges angestoßen hätte – mitten in der Nacht schrieb, dass sie sich wünschte, es wäre ihr und Davids Kind, da hatte es keine fünf Minuten gedauert, bis er antwortete: »Ich auch.«

6

Lavia, Italien, Dezember 2016

SIE SASS SCHON EINE ganze Weile in der Dunkelheit neben ihm. Sie hatte das Licht beobachtet, wie es durch das halb heruntergelassene Bastrollo auf den Holzboden gefallen war. Lange Streifen, die immer kürzer wurden, schließlich verschwanden. In den Lichtstrahlen hatten winzige Staubteilchen getanzt, die sie in der Nase kitzelten. Sie hatte ihre Konzentration darauf verwandt, nicht zu niesen. Sie wollte ihn nicht wecken, er brauchte seinen Schlaf.

Als Gianna hörte, dass Emilio aufwachte, knipste sie die Nachttischlampe an. Sie musste wieder niesen, und als sie es nicht mehr unterdrücken konnte und ein kurzer Laut im Zimmer hallte, schreckte er auf. Emilio kniff die Augen zusammen, dann stöhnte er. Sie rubbelte sich mit ihrer knubbeligen Hand über die Nase, und obwohl ihre Hand sauber war, wischte sie die Innenfläche an der Schürze ab.

»Gesundheit«, sagte er und räusperte sich. Er runzelte die Stirn, und Gianna sah, dass er genervt war, dass sie schon wieder an seinem Bett saß und gewartet hatte, bis er aufwachte. Aber es war ihr egal.

»Wie oft soll ich es dir noch erklären?«, fragte er, und die Strenge in seiner Stimme tat ihm genauso leid wie seine durch die Luft wirbelnden Hände. Er meinte es nicht so, und vielleicht lag es auch daran, dass er gerade erst aufgewacht war. Obwohl er Gianna schon seit seiner Kindheit kannte, war es ihm unangenehm, dass sie neben seinem Bett saß, weiß Gott, wie lange und warum. Sie war ihm zu nahe, und gleichzeitig wollte er sie nicht wegstoßen. Vor einer Woche war sie einfach an ihm vorbeigegangen, nachdem er ihr die Tür geöffnet hatte, in beiden Händen je eine vollgepackte Borsa. Weil er im Rollstuhl saß und seine Arme von der neuen Belastung immer noch schmerzten, war sie vor ihm in der Küche. Als er hineinrollte, hatte sie den Einkauf bereits auf der Anrichte ausgebreitet. Fenchel, Favebohnen, frische und getrocknete Tomaten, Auberginen und Zucchini, mehrere Zehen Knoblauch, rote Zwiebeln, zwei Stangen Weißbrot, Miesmuscheln, Eier, Schinken und Salami, Caciocavallo, denn nur dieser Käse kam ihm ins Haus, ein Stück Lammrücken und Orecchiette, seine Lieblingspasta – sie musste den ganzen Markt leer gekauft haben.

»Ich bin sehr dankbar, dass du mir hilfst. Aber mich beim Schlafen beobachten, das hilft mir nicht. Wahrscheinlich ist’s der Grund, warum ich überhaupt so schlecht schlafe.«

Gianna verschränkte die Arme vor ihrer Brust und atmete tief ein. Dann sagte sie in einem Tonfall, den er nicht mochte und den sie immer an den Tag legte, wenn sie ihn belehren wollte: »Du schläfst so schlecht wegen dem hier.« Sie machte eine Handbewegung, als würde sie eine Zigarette zum Mund führen und dann den Rauch ausblasen.

»Du musst dich schonen, und wenn du was brauchst, dann sitz ich hier und bin bereit.« Emilio wollte sich nicht von ihr bemuttern lassen. Und selbst wenn er ihre Fürsorge hätte zulassen wollen, er hätte es gar nicht gekonnt. Wie auch? Er war alleine, und das schon so lange, dass er vergessen hatte, wie es war, es nicht zu sein.

Emilio deutete auf seine Beine, die reglos unter der Bettdecke lagen. »Ich hab keinen Krebs, ich hab zwei gebrochene Beine.«

Gianna kräuselte die Lippen. »Eben. Mit Krebs könntest du ja laufen.«

Er wollte etwas erwidern, doch er wusste, dass es zwecklos war. Sie war sechsundsechzig, und selbst jetzt, wo sie alt wurde, hatte sie sich nicht verändert, im Gegenteil. Er ließ sich zurück in seine Kissen fallen.

Emilio sah sie vor sich, wie sie an ihrem dreißigsten Geburtstag in der Küche stand und er, eingequetscht zwischen seinen Eltern und mit einem riesigen Blumenstrauß in der Hand, in der schmalen Tür. Sein Vater hatte den bodenlangen weißen Spitzenvorhang zur Seite geschoben, und Gianna hatte ihn angelächelt, nicht seinen Vater, sondern ihn, sich die Hände an der Schürze abgewischt und alle drei nacheinander mit Küssen bedacht.

Gianna schlug die Bettdecke zurück und brachte, als wäre es gestern gewesen, den Geruch der frischen Petersilie, der damals an ihren Händen gehaftet hatte, zurück in sein Bewusstsein.

»Du musst essen.« Sie griff unter seine Beine. Beide Unterschenkel waren glatt durchgebrochen.

»Ganz unkompliziert! Na wenigstens ist dir das gelungen, was?«, hatte Letterio gesagt und dabei den ersten Gips angelegt. Es war nicht immer von Vorteil, jeden hier zu kennen, hatte Emilio sich dabei gedacht und ein schmerzvolles Geräusch von sich gegeben, das man mit einem missbilligenden Lachen hätte verwechseln können.

Gianna schob seine Beine sanft, aber bestimmt in Richtung Bettkante, sodass er seinen Oberkörper unweigerlich drehen musste und schließlich aufrecht saß, mit beiden Füßen auf dem Boden. Sie kribbelten, und als er anfing, seine Zehen zu bewegen, stach ihn ein Juckreiz in die linke Wade. Er wollte sich kratzen, doch der dicke Gips hinderte ihn daran. Wortlos reichte Gianna ihm eine lange Häkelnadel, die er zwischen Haut und Gips schob und an der juckenden Stelle hin und her bewegte. Er stöhnte laut auf, es tat fast so gut wie das Gras, das er heute im Morgengrauen geraucht hatte. Der Schmerz in seinem verstauchten Handgelenk war wieder so stark geworden, dass er ihn kaum ausgehalten hatte.

Sie schob den Rollstuhl direkt vor Emilios Füße und griff ihm unter eine Achsel. Ihr Griff war fest, es hätte wehgetan, hätte er sich gegen ihre Bewegung gestemmt. Emilio ließ sich in den Rollstuhl fallen. Gianna wischte sich die kleinen Schweißperlen über ihrem Mund mit dem Handrücken ab und strich ihre Schürze glatt.

»Wir werden immer besser, was?«, sagte er, doch da schob sie ihn schon aus dem Zimmer. Jetzt, wo er im Rollstuhl saß und sie ihn durch das Haus schob, als wären sie beide auf der Flucht, war er schneller unterwegs als früher zu Fuß.

Gianna schaltete die Herdplatte an, auf der ein großer Topf stand. Daneben lag auf einem Brett frisch geschnittene Petersilie. Emilio war bereits mit seinem Rollstuhl an den alten Servierwagen gefahren und hatte sich seinen Grappa eingeschenkt, der neben einer Flasche Whisky und mehreren Likören stand. Er wusste, dass sie das Zeug hasste und dass er zu viel davon trank, generell. Er erinnerte sich daran, wie Gianna einmal vor Jahren zu ihm gesagt hatte, dass sie die Flaschen einfach aus dem Fenster werfen würde, damit sie an den Felsen zerschellten. »Wäre es mein Haus«, hatte sie noch hinzugefügt. Er hatte sich dabei gefragt, ob sie damit nicht eigentlich meinte: »Wärst du mein Mann.« Er spürte ihren Blick im Rücken, während er sich einschenkte.

»Es gibt Gemüsesuppe.«

Er stellte die Flasche zurück, die silbernen Ringe, die er nur zum Schlafengehen abnahm, klirrten gegen das Glas. Er atmete tief ein und aus, um ruhig zu bleiben. »Passt wunderbar zum Grappa«, sagte er und trank einen Schluck. Emilio drehte sich nicht zu ihr, weil er wusste, dass er sie mit seinen spitzen Bemerkungen provozierte. Er wollte sie nicht verletzen, aber sie erstickte ihn. Jahrelang hatte er seine Einsamkeit in Alkohol ertränkt, und jetzt sollte er auf einmal Suppe essen. Als Gianna nichts sagte, schob er den Rollstuhl ein Stück zurück, sodass er sie sehen konnte, doch sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und rührte leise die Suppe um.

»Kein Fisch?«, fragte er und lächelte dabei, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. Sie drehte sich um und stemmte die Hände in ihre Hüften, die unverhältnismäßig schmal waren im Vergleich zu ihren großen Brüsten. »Kein Fisch.« Dann zuckten ihre Mundwinkel, und sie musste schließlich lachen.