Sorry not sorry - Anika Landsteiner - E-Book
SONDERANGEBOT

Sorry not sorry E-Book

Anika Landsteiner

0,0
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was hat Scham mit Weiblichkeit zu tun? Scham zu empfinden ist vollkommen normal, ganz unabhängig vom Geschlecht. Doch Frauen schämen und entschuldigen sich besonders oft: für den eigenen Körper, weil sie als zu erfolgreich gelten, Single sind oder kinderlos bleiben. Anika Landsteiner hat ebendieses Phänomen auch bei sich festgestellt und geht der Frage nach, warum das so ist. In klugen, persönlichen Texten über alle Aspekte ihres Lebens − von Arbeit über Krankheit und Sexualität bis hin zur Auseinandersetzung mit ihrer Biografie − reflektiert sie über Selbstwert, Grenzüberschreitungen und darüber, dass sie sich nicht mehr kleinmachen lässt, weder von sich selbst, noch von anderen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anika Landsteiner

Sorry not sorry

Über weibliche Scham

 

 

 

Über dieses Buch

Was hat Scham mit Weiblichkeit zu tun?

Scham zu empfinden, ist vollkommen normal, ganz unabhängig vom Geschlecht. Doch Frauen schämen und entschuldigen sich besonders oft: für den eigenen Körper, weil sie als zu erfolgreich gelten, Single sind oder kinderlos bleiben. Anika Landsteiner hat ebendieses Phänomen auch bei sich festgestellt und geht der Frage nach, warum das so ist. In klugen, persönlichen Texten über alle Aspekte ihres Lebens − von Arbeit über Krankheit und Sexualität bis hin zur Auseinandersetzung mit ihrer Biografie − reflektiert sie über Selbstwert, Grenzüberschreitungen und darüber, dass sie sich nicht mehr kleinmachen lässt, weder von sich selbst, noch von anderen.

Vita

Anika Landsteiner wurde 1987 geboren und arbeitet als Autorin und Journalistin. Ihr Fokus liegt dabei auf gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, Tabuthemen, Feminismus und Popkultur. Im Podcast «Hello, lovers!» spricht sie mit der Paartherapeutin Dr. Sharon Brehm darüber, wie gleichberechtigte Liebe funktionieren kann. Sie ist Autorin von drei Romanen. In «So wie du mich kennst» ging es um Trauerbewältigung und häusliche Gewalt, der Roman stand mehrere Wochen auf der Spiegel-Bestseller-Liste. Ihr aktuelles Buch «Nachts erzähle ich dir alles» handelt von weiblicher Selbstbestimmung.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung und -abbildung Nurten Zeren, Berlin

ISBN 978-3-644-01759-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dieses E-Book entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Landmarks (Navigationspunkte) und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Sind im E-Book Abbildungen enthalten, sind diese über Bildbeschreibungen zugänglich.

 

 

www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

Inhalt

Widmung

Motto

Vorwort

Die Scham ist die Wächterin unserer Grenzen

Erbsünde meets Feigenblatt

Die Scham ist ein Werkzeug patriarchaler Unterdrückung

Dieses Buch dient der Selbstermächtigung

Hinweise zum Lesen dieses Buches

(No) strings attached

Sag mir dein Geschlecht, und ich sag dir, was du wert bist

Hungern als Lifestyle

Kleider machen Leute: Wer bin ich, wenn ich nackt bin?

Wer schön sein will, muss shoppen gehen

Radikale Körperliebe als Akt der Revolution

Bitch better have my money

Engagieren Sie mich bitte, ich bin billig!

Verbote, Herabwürdigung und Gewalt

Was kostet die Kunst im Kapitalismus?

Die Schublade der «Frauenliteratur»

Die Girlboss-Strategie der «feministischen» Finanzplanung

Die tiefen Wunden des Gender-Wealth-Gaps

Raus aus dem Nebel der Tabuzone

Warten Sie noch auf jemanden?

Mann, Frau, Kind – die heilige Dreifaltigkeit der Leistungsgesellschaft

Spiel mir das Lied vom einsamen Mann

Die Doppelmoral des Singlestatus zwischen den Geschlechtern

Single und fabelhaft – Fragezeichen?

Single und fabelhaft – Ausrufezeichen!

Die romantische Lüge des Patriarchats ist das Happy End

Botox to go und Sex on the beach

Wie Reality-TV mein Aufwachsen geprägt hat

Mein Reality-TV-Konsum heute: erst Scham, dann Verteidigung

Nahbarkeit und Identifikationsfläche

Werteverschiebung und Sensationalisierung

Herabwürdigung und Distanzierung

Ey, du kannst hier auch was lernen!

Die Kraft des Genres: Zwischen Empowerment und Ausbeutung

Warum Reality-TV ernst genommen werden muss …

… und die Scham keinen Platz hat

Frauen und Kinder zuerst

Verhütung ist Frauensache ist Frauensache Verhütung?

Verantwortungslose Penisse

Nach der Ohnmacht kommt der Wettlauf gegen die Zeit

Der kriminalisierte Abbruch zeigt zwei Dinge

Der Abbruch als medizinische Grundleistung

Mein Körper lässt los. Die Scham hält er fest

Aber du bist doch noch so jung!?

Hallo, mein Angstalter ist derzeit 40, und deins?

Weibliche Repräsentation in den Medien: jung, schön und knackig

Der Anti-Aging-Boom: Lift me up, Scotty!

Jugendlicher Glow zum Anklicken

Die Pandemie hat in Angst und Schrecken versetzt – und das steht niemandem

Der Lolita-Komplex: Küss mich, du Luder!

Lass den Spieß mal umdrehen: Cougars und MILFs

Warum das Altern gar nicht so scheiße ist …

… und trotzdem einsam macht

Make Aging Great Again

Hit me, baby, one more time!

Opiate, die auf den Mond schießen

Warum der cis männliche Körper im Mittelpunkt der Wissenschaft steht

Schäm dich für deine Schande!

Zwei Zysten und eine Not-OP

Transparenz statt Tabu

Der Status quo

Atmen ins Sakralchakra

Die Braut, die sich (nicht) traut

Eine kurze Geschichte der Ehe

Okay, ich hab’s! Ja zur Hochzeit! Nein zur Ehe?

Patriarchale Hochzeitsrituale: Scham, Schutz und Schande

Ausgeträumt: Die Scham hat meine eigene Unzulänglichkeit offengelegt

Die einzige Person, zu der ich jeden Morgen Ja sagen muss, bin ich

«Früher hast du das doch auch gemocht»

A woman’s worth: Das Frauenbild in der Bibel und in der griechischen Mythologie

Die gewaltvolle Macht männlicher Politikgeschichte

Wie die Alltäglichkeit sexueller Belästigung uns alle abstumpfen lässt

#MeToo: Wo stehen wir nach der weltweiten Bewegung?

Der Hass auf Frauen wächst mit den Errungenschaften der Gleichberechtigung

Zwischen Angst und Selbstermächtigung

Epilog: Den Essay schreien

Die Wut gehört den Alpha-Dudes

Wie weibliche Wut systematisch stigmatisiert wurde

Wut ist eine Emotion und keine Charaktereigenschaft

Let there be rage

Dank

Inhalt

Für den Geist, Taylor Swift und Miss Womanizer

«Shame dies when stories are told in safe spaces.»

Ann Voskamp

Vorwort

Alles beginnt mit meiner Großmutter. Seit Jahren leidet sie an Demenz, und mittlerweile gibt es kaum etwas, was meine Oma im Hier und Jetzt halten kann. Sie hat keine Ahnung, wer ihre Kinder sind, oftmals behauptet sie sogar, gar keine zu haben. Im Umkehrschluss wandelt sie wie ein Geist durch längst vergangene Erlebnisse. Sie bleibt an alten Erfahrungen hängen und dreht sich gedanklich immer wieder im Kreis. Das ist von außen schwer auszuhalten, denn meine Großmutter ist in Armut während des Zweiten Weltkrieges aufgewachsen – und auch die Jahre danach waren nicht rosig. Alles, was sie demnach erzählt, ist keine leichte Kost und nur insofern verdaulich für uns Zuhörende, als wir die Geschichten schon so häufig gehört haben. Bis sie plötzlich vor einigen Monaten wie aus dem Nichts etwas erzählte, wovon niemand etwas gewusst hat.

 

Der Vater meiner Großmutter war Küster. Ihre Geschichte beginnt, als sie eines Abends die Kirchentür abschließt, sich umdreht und in die Gesichter einer Gruppe Männer blickt. Detailliert spricht sie nicht von dem, was passiert, aber ein Satz fällt jedes Mal, wenn sie in die Fänge des Traumas zurückgleitet: «Der Älteste hat danach so laut gelacht.»

 

Als sie nach Hause geht, erzählt sie ihren Eltern davon. Ihr Vater, ein angesehener Mann im Dorf, erlegt ihr auf, über den Vorfall zu schweigen. Zu groß ist die Scham, dass so etwas hier passiert. Zu groß ist die Scham, dass der eigenen Tochter so etwas passiert. Also schweigt das Mädchen. Meine Oma. Sie packt die Wut, den Ekel, die Machtlosigkeit weg. Sie packt die Scham weg. Als ihre Mutter, meine Urgroßmutter, auf dem Sterbebett liegt, sagt sie zu ihrer Tochter: «Es tut mir so leid, dass ich dich mit der Scham alleingelassen habe.»

 

Wofür hat sich meine Großmutter geschämt? Und warum hat meine Urgroßmutter davon gewusst, ohne jemals mit ihr darüber gesprochen zu haben? Diese Fragen treiben mich seither um, so sehr, dass ich ihnen auf den Grund gehen möchte. Denn ich dachte lange Zeit, dass Scham diejenigen empfinden, denen etwas Peinliches passiert ist. Die sich fehlverhalten haben und daraufhin entblößt werden. Dieser Denkweise nach müssten sich die Täter schämen, nicht jedoch das Opfer. Und tatsächlich: Wenn man an den Ursprung der Scham reist, stimmt das auch.

Die Scham ist die Wächterin unserer Grenzen

Als soziale Wesen streben wir danach, Teil einer Gruppe zu sein. Wir wollen anerkannt und mitgedacht werden, wir wollen uns gesehen und respektiert fühlen. Das Streben nach Zusammengehörigkeit ist zutiefst menschlich. Wer aus diesem etablierten Rahmen fällt, wird nicht selten von der Scham ergriffen. Die natürliche Scham ist die Wächterin der Grenze eines intimen Raums, des inneren Wesenskerns. «Die Scham wird spürbar, wenn dieser Raum geöffnet wird. Sie signalisiert: ‹Dein intimer Raum ist berührt. Achte auf ihn.›»[1] Als ich das lese, fällt mir sofort folgende popkulturelle Referenz ein. Im Film Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück erhält die gleichnamige Protagonistin die Einladung für ein Event, bei dem alle verkleidet erscheinen sollen. Das Motto wird kurzfristig revidiert, doch sie bekommt von der Änderung nichts mit und steht im freizügigen Häschen-Outfit zwischen Leinensakkos und Tweed-Kostümen. Die feine Gesellschaft ist not amused und lässt das Bridget deutlich spüren.

 

Scham zu empfinden zeigt sich körperlich durch Erröten der Wangen oder durch Stressreaktionen wie Herzrasen, Schwitzen, erhöhten Puls. Wer sich schon einmal geschämt hat, weiß, dass es sich anfühlt, als würde sich das Innere nach außen stülpen und man würde vollkommen nackt im Scheinwerferlicht stehen.

Doch diese sichtbaren Reaktionen, die mit der Scham einhergehen, sind eigentlich nützlich. Wer errötet, erzeugt beim Gegenüber meist Mitgefühl, denn Scham verbindet und kann soziales Verhalten fördern.[2] Sie zeigt, dass die sich schämende Person leidet und sich des Fehlverhaltens oder des Fauxpas bewusst ist. Das ist auch der Grund, weshalb die Scham meist ein Gegenüber braucht, denn erst durch den Austausch wird bewertet. Das Gefühl der Entblößung zeigt den eigenen Makel auf. Indem er sichtbar wird, kann er benannt werden und die betreffende Person sich zurück in die Gruppe fügen. Man könnte also sagen, dass die Scham grundsätzlich dienlich ist. Doch das Gefühl ist so komplex wie die Gesellschaften, die es prägen, denn: Scham zu empfinden ist Teil unserer Biologie. Aber wofür wir uns schämen, hängt von Kultur, Sozialisierung und privatem Umfeld ab. Faktoren, die uns schon immer prägten. Durchgehend, tief und un(ter)bewusst.

Die Scham ist ein Werkzeug patriarchaler Unterdrückung

Grundsätzlich können sich alle Geschlechter schämen. Die Wissenschaftlerin und Autorin Dr. Brené Brown erklärt, dass die Emotion uns anhand von zwei Aussagen in die Ecke drängt, die am Kern unseres Seins nagen.[6]

1. «Du bist nicht gut genug.»

2. «Was glaubst du eigentlich, wer du bist?»

Bei Männern zeigt sich die Scham, indem sie permanent darauf achten, bloß nicht schwach zu sein oder gar schwach zu wirken. Frauen zerbrechen an den persönlichen Ansprüchen, alles schaffen zu müssen, perfekt zu sein und diese Anstrengung niemals andere sehen zu lassen. Das konstant umzusetzen ist so anstrengend, wie den Deckel auf einen Topf mit brodelndem Wasser zu drücken.

 

Doch Frauen schämen sich in allen Bereichen deutlich mehr als Männer[7] – sei es aufgrund von Körpergeruch, weil sie kritisiert werden oder andere peinlich finden. Sich zu schämen wird ihnen bereits in die Wiege gelegt, denn das weibliche Geschlecht soll rein, unschuldig und makellos sein. Mädchen werden früh in das Rollenbild gedrängt, auf ein gepflegtes Äußeres Wert zu legen, zurückhaltend und anständig zu sein, sich leise zu verhalten. Junge Frauen haben längst verinnerlicht, sich als Objekt zu betrachten. Ann-Kristin Tlusty seziert das treffend in ihrem Buch Süß. Eine feministische Kritik: «Sie unterliegt einem permanenten Blick von außen, den sie übernimmt, auf sich selbst richtet, durch den sie sich prüft.» Sich schämen – der Default-Modus der Frau. Sie ist durchgehend mit der Komplexität ihrer Rollen beschäftigt und zum Scheitern verurteilt. Und sobald das passiert, wird sie bewertet, beschuldigt und beschämt.

 

Wie alle Systeme will sich auch das Patriarchat erhalten und muss demnach alles dafür tun, um seinen Einsturz nicht zu gefährden. Im Klartext bedeutet das: Die sich entwickelnde Gleichberechtigung der Geschlechter ist ein großer Einschnitt in das noch bestehende binäre Machtgefälle zwischen dem Bild von Mann und Frau und wird deshalb von allen, die an der alten Struktur festhalten, massiv bekämpft. Ein wirksames Tool dabei ist, Mädchen und Frauen kleinzuhalten. Und wenn das daraus resultierende Schamgefühl, nie gut genug zu sein, schließlich zur Identität wird, ist es der betreffenden Person kaum noch möglich, sich aus dem Empfinden zu befreien – und es von ihrer Person zu entkoppeln. Die Scham, die ursprünglich auf eigene und andere Grenzen hinweisen sollte, wird personifiziert und nimmt dadurch viel mehr Raum ein. Nun richtet sie erheblichen Schaden an.

Dieses Buch dient der Selbstermächtigung

«Überall auf der Welt schreiben Frauen und Queere die Klauseln eines Gesellschaftsvertrags um, der nie dazu angetan war, uns einzuschließen. Schwarze Frauen, Women of Color, Indigene Frauen, trans Frauen und junge Frauen treiben diesen Wandel voran», schreibt die politische Journalistin Laurie Penny in Sexuelle Revolution. Deshalb habe ich beim Schreiben dieses Buches immer meine Großmutter im Hinterkopf. Weil sie wie viele andere FLINTA (Frauen, Lesben, intersexuelle, nichtbinäre, trans und agender Personen) vor ihr so viel Schuld, Scham und damit verbundenen Schmerz ausgehalten hat, dass nachkommende Generationen daraus Wut schöpfen können. Wut, die Kraft mobilisiert.

 

Ich schreibe dieses Buch, weil ich das Trauma meiner Großmutter in mir trage und das generationsübergreifende Schweigen[8] brechen will. Und ich schreibe aus cis weiblicher Perspektive. Die klassischen Vorstellungen über Scham und Weiblichkeit beziehen sich auf cis Frauen. Andere Identitäten erleben Ähnliches, unterscheiden sich aber in ihren Erfahrungen. Dabei gibt es drei große Arten des Empfindens: Körperscham, Identitätsscham und Statusscham. Ich kenne sie alle.

Als ich meine Periode bekam, schämte ich mich – Körper.

Als mein Mathelehrer vor versammelter Klasse sagte, dass ich dumm sei, schämte ich mich – Identität.

Als ich die finanziellen Probleme in meiner Familie mitbekam, schämte ich mich – Status.

Als ich das erste Mal in meinem Leben eine Ohrfeige bekam, schämte ich mich. Als ich betrogen wurde, schämte ich mich. Als ich mich mit dreißig plötzlich alt fühlte, schämte ich mich. Als der Mann, den ich liebte, meine Gefühle nicht erwiderte, schämte ich mich. Als ich aufdeckte, wie viele unbewusste Rassismen ich in mir trug, schämte ich mich. Als ich ungewollt schwanger war, schämte ich mich. Als ich kein Geld hatte, schämte ich mich. Als ich meinen ersten sexuellen Übergriff erlebte, schämte ich mich.

Ja, ich schäme mich viel und häufig, und das ist anstrengend. Doch je länger ich mich mit dem Gefühl beschäftige und es in einen historischen und gesellschaftlichen Kontext setze, desto erhellender finde ich das Empfinden. Das heißt nicht, dass ich jeden Anflug von Scham in die Verantwortung des Patriarchats lege. Vielmehr zeige ich auf, dass das Patriarchat und der Kapitalismus mitsamt aller durch sie etablierter Diskriminierungsformen der perfekte Nährboden sind, um Scham erblühen zu lassen – und sie für sich zu nutzen.

 

Brené Brown sagt, dass Scham drei Dinge benötigt, um zu wachsen: Geheimhaltung, Schweigen und Verurteilung. Doch wenn Empathie hinzugefügt wird, kann sie nicht überleben. Dieses Buch ist deshalb nicht nur eine persönliche und gesellschaftliche Spurensuche, sondern auch meine Hand, die ich ausstrecke, um zu signalisieren: Du bist nicht allein mit dem Gefühl, allein zu sein.

 

Wer sich von Scham befreien will, muss sich ihr stellen. Für mich persönlich pocht der Wunsch nach Selbstermächtigung viel stärker als mein nervöses Herz, wenn ich mir bewusst mache, dass ich dieses Buch nicht nur schreibe, sondern tatsächlich veröffentliche. Ich schäme mich für vieles, was auf den folgenden Seiten steht. Und ich schäme mich sogar für die Scham. Doch nichts empfinde ich als mutiger als Verletzlichkeit. Denn sie kann Türen öffnen, welche die Scham verschlossen hat.

Hinweise zum Lesen dieses Buches

Ich schreibe in den folgenden Texten vordergründig von Mann und Frau. Das liegt daran, dass alle Menschen westlicher Kulturen von einem binären System geprägt sind, ganz unabhängig davon, ob sie sich einem – und wenn ja, welchem – Geschlecht selbst zuordnen. Das System des Patriarchats baut auf der Überhöhung des Männlichen auf. Andere Geschlechter werden abgewertet. Christliche Binarität geht von einer eindeutig biologischen Unterscheidung zwischen männlich und weiblich aus, ebenso von einem binären Geschlechterbild. Auch die Studien, die ich heranziehe, gehen von einer klassischen Heteronormativität aus. Trotzdem gilt für mich: Wer Mann oder Frau ist, lässt sich nicht automatisch oder einzig auf das zugewiesene Geschlecht bei der Geburt zurückführen, sondern vielmehr auf politische und gesellschaftliche Kategorien. Individuelle Erfahrungen sind komplex, und aus Gründen der Vereinfachung bleibt es in diesem Buch bei binären Vorstellungen von «Frau» und «Mann».

 

Es ist sinnvoll, die Essays in der Reihenfolge zu lesen, in der sie vorliegen, denn in den ersten Texten werden historische Fakten ausführlich analysiert, die in den weiteren herangezogen, allerdings nicht noch mal erklärt werden.

(No) strings attached

Über meinen (nackten) Körper

Ich bin nicht dünn genug, meine Poren nicht fein genug, mein Haar nicht voluminös genug, meine Augenbrauen nicht glatt genug, meine Haut nicht straff genug, meine Nase nicht klein genug – außerdem ist sie krumm.

 

Körperscham ist eine universelle Empfindung. Sie kennt keine Geschlechtergrenzen, jedoch dringt sie wesentlich tiefer unter die Haut von Frauen als von Männern.[9] Dass Frauen mehr Körperscham empfinden, geht aus unterschiedlichen Studien hervor – der Ursprung liegt bereits in der frühkindlichen Erziehung. Der weibliche Körper wird im Korsett eines heteropatriarchalen Systems nicht nur beschämt und kategorisiert, er wird im Heranwachsen sexualisiert und schließlich von der Weltwirtschaft kapitalisiert.

«Wenn alle Frauen dieser Erde morgen früh aufwachten und sich in ihren Körpern wirklich wohl und kraftvoll fühlten, würde die Weltwirtschaft über Nacht zusammenbrechen», schreibt Laurie Penny. Seriously, die Weltwirtschaft? Ja, seriously. Damit das nicht passiert, geht die Sozialisierung im Sandkasten los. Denn bereits kleine Mädchen werden auf ihren Platz verwiesen, von dem aus sie sich intensiv mit sich selbst beschäftigen dürfen, sollen, oftmals sogar müssen: Was auch sonst, wenn sie von Anfang an auf ihr Aussehen reduziert werden, dieses jedoch im Laufe der Jahre zu einer niemals fertigen Baustelle deklariert wird.

Sag mir dein Geschlecht, und ich sag dir, was du wert bist

Junge Mädchen werden bis heute dahin erzogen, sich höflich, lieb und bestenfalls leise zu verhalten. Oft bekommen sie Ärger, wenn die Kleidung einen Fleck hat, wenn sie laut werden oder mal handgreiflich. Jungs hingegen dürfen brüllen, dreckig werden, raufen und eine Meinung haben. Wenn sie sich prügeln, wird das als männliches Verhalten abgetan – boys will be boys – oder als ein Attribut wahrgenommen, das später zu mehr Durchsetzungskraft führen wird. Wissen wir ja, Männer regieren die Welt.

Wenn ein cis Mädchen sich in den Schritt fasst, gilt die Geste als unsittlich, ihr wird ein Gefühl der Scham übergestülpt. Wenn cis Jungs sich in den Schritt fassen, wird die Handlung als ganz normal abgesegnet, beinahe als notwendig, schließlich gibt es nachvollziehbare Gründe wie Juckreiz, Schweiß, ein Verrutschen der Geschlechtsteile oder das unbewusste Signal nach außen, dass da was baumelt, dessen sich alle bewusst sein sollten. Die binären Geschlechterrollen werden bereits früh festgezurrt und dürfen sich bloß nicht verwaschen. Die starren Kategorien «weiblich» und «männlich» spielen demnach eine wichtige Rolle in der Analyse, welche Auswirkungen die Körperscham auf unsere heutige Gesellschaft hat. Wie praktisch, dass die Geschlechter farblich voneinander getrennt werden und somit keine Verwechslungsgefahr besteht.

 

Obwohl heute viel darüber diskutiert wird, wird die Farbe Pink automatisch dem Weiblichen und die Farbe Blau dem Männlichen zugeschrieben. Viele denken, dass diese Aufteilung auf eine generische Farbvorliebe der Geschlechter zurückgeht. Tatsache ist jedoch, dass der Grund nichts mit biologischer Veranlagung zu tun hat, sondern in der Sozialisierung zu finden ist. Bis in die 1940er galt die Farbe Rot nämlich als eine kraftvolle Signalfarbe und wurde deshalb, wen wundert’s, dem Männlichen zugeschrieben.[10] Männliche Babys und Jungs wurden demnach in die zarte Variante gepackt, nämlich Pink. Als die erste Barbie 1959 in einer pinken Verpackung auf den Markt kam, stieg die Farbe schnell zum Lieblingston vieler Mädchen auf – was sich aufgrund von bewusst eingesetztem Marketing über die Jahrzehnte regelrecht zementierte, sodass Pink schließlich dem Weiblichen zugeordnet wurde. So einfach war das, so wenig Sinnhaftigkeit steckt dahinter.

 

Als Mädchen und heranwachsende Frau habe ich Pink gehasst, denn im Kindergarten und in der Schule bekam ich schnell mit, dass die Farbfamilie rund um Pink dem Weiblichen zugeordnet wird. Damit war sie in meinen Augen nur etwas für die Weicheier, für die Sensiblen, für die Mädchen eben. Sobald diese als Frauen wahrgenommen und ihre Körper sexualisiert werden, wird aus der Pink tragenden Heranwachsenden die Tussi. Glitzerspange im Haar oder Lidstrich mit vierzehn, fertig ist die Kategorisierung. Und wer am Schulhof mal als Tussi gilt, erholt sich von dem Image nicht so schnell, denn die Person ist oberflächlich, eher ungebildet, umso mehr eingebildet, weil oft attraktiv (die netteste Bezeichnung von allen). Auf Tussis wird herabgeschaut, gleichzeitig werden sie mit Blicken ausgezogen, man will was von ihnen haben, schließlich legen sie es darauf an mit der pinken Bluse und dem weißen Minirock. Und damit schließt sich der Kreis: Pink ist eine Farbe, die die Gemüter erregt. Man liebt sie oder man hasst sie. Wer sie trägt, gilt als niedlich, sensibel, harmlos (wenn Mädchen) und als eingebildet, ichbezogen und not so smart (wenn Frau). Letztere werden vor allem sexualisiert, denn wer sich modebewusst gibt und auf sein Äußeres achtet, wird von Männern schneller wahrgenommen als die Mauerblümchen. Je aufreizender, schicker oder auffallender sie sich kleidet, desto schneller hat die Umwelt ein Interesse daran herauszufinden, welcher Körper sich darunter verbirgt. Es geht beim Anziehen immer auch ums Ausziehen.

 

Heute liebe ich das Spektrum von Pink: Rosa, Flamingo, Fuchsia – herrlich, gib her! Allerdings tue ich das erst seit wenigen Jahren. Da habe ich ganz bewusst begonnen, immer öfter rosafarbene Kleidung zu kaufen. Erst langsam umarme ich diese Farbe und versuche, sie losgelöst von weiblichen Attributen zu sehen. Besonders freue ich mich, wenn ich männliche Freunde treffe, die plötzlich einen pinkfarbenen Sweater tragen. Kürzlich hat einer diesen Kauf kommentiert mit den Worten: «Vor ein paar Jahren hätte ich mich nicht getraut, den anzuziehen.» Ja, ich auch nicht.

 

Im Kindergarten und in der Grundschule wollte ich spielen und dreckig werden. Ein Tomboy sein, im Schatten der Jungs nicht als Mädchen wahrgenommen werden, oder zumindest nicht als so ein typisches. Ich wollte anders sein, den Jungs mehr zugehörig. Ich wollte ein Stück ihres Schutzes ergattern, der damit einhergeht, in ihrem Windschatten als eine aufgewertet zu werden, die anders ist als die anderen. Ich war durch und durch ein Pick-me-girl. Nie wieder leise und liebevoll sein. Also begann ich, gegen meinen Körper zu randalieren. Und ich zelebrierte alles, was sich gegen die Weiblichkeit stellte: weite Baggy Pants statt Röhrenjeans, Sport-BHs statt Spitze, Punkrock hören und auf die Spice Girls scheißen (obwohl ich die so toll fand). Das fühlte sich erst mal an wie ein Befreiungsschlag. Nur von was? Etwa von mir selbst?

Gut erinnern kann ich mich an eine Szene aus dem Film Now and Then – Damals und heute, in der die Protagonistin Roberta Martin, gespielt von Christina Ricci, ein Paketband über ihren BH wickelt, sodass ihre wachsende Oberweite so wenig wie möglich zu sehen ist – nicht nur cis Frauen, auch viele trans maskuline Personen kennen diesen Griff gut. Weil ich das rebellisch fand, habe ich es ebenfalls gemacht, allerdings nur ein paar Mal, denn dann fand ich Gefallen an der schönen Auswahl an Unterwäsche – meine Körperscham wurde von einer Konsumentscheidung abgelöst. Der Kapitalismus war stolz auf mich, sein Chor rief mir zu: Für jedes Problem gibt es eine Lösung, ka-ching.

Christina Ricci erzählte 2022 in einem Interview, dass sie während der Pubertät eine Essstörung entwickelte, weil in Hollywood alte Männer detailliert über ihre Brüste diskutierten. «Als ich mit zwölf oder dreizehn Jahren Brüste bekam, haben sie sich darüber ausgetauscht, wie ich weniger weiblich aussehen könnte. Das hat sich sehr unangenehm angefühlt», sagte sie gegenüber today.com.[11] Damit zeigt Christina Ricci die Widerwärtigkeit heteropatriarchaler Gesellschaften auf: Es gibt keinen Aufschrei, wenn alte Männer einen weiblichen Körper in einer Kinderrolle kapitalisieren, um ihn dann wenige Jahre später zu sexualisieren. Er dient als Werbefläche, er wird wahrgenommen als eine modellierbare Puppe, die sich auszahlen soll. Und das nicht nur in Hollywood.

Hungern als Lifestyle

Als mein kindlicher Körper Rundungen bekam und ich gleichzeitig wusste, dass die meisten Jungs an der Schule auf schlanke Mädchen standen, surfte ich auf einer Webseite, die ich für einen Schulaufsatz in Biologie gesucht hatte. Es handelte sich um eine Pro-Ana-Seite; bis heute existieren solche globalen Foren, in denen sich Menschen mit Anorexie (Magersucht) austauschen können und Informationen zur Krankheit erhalten. Allerdings handelt es sich dabei nicht um ein Hilfsangebot, um die Essstörung zu beenden, sondern um einen Lifestyle, den es zu verfolgen und immer weiter zu vertiefen gilt. Das absolute Ideal: so mager wie möglich.

Die Abkürzung «Ana» für Anorexie suggeriert dabei eine Frau, die das Vorbild der Mageren ist. Denn wer nicht isst, bleibt hübsch. Viele Betroffene, die diese Seite besuchen, sind sich ihres krankhaften Verhaltens bewusst und haben auch bereits Therapien hinter sich, doch rund 60 Prozent aller Menschen mit Anorexie werden von dieser nie ganz geheilt.[12] Wen das betrifft, der findet unter den Pro-Anas weniger Halt als vielmehr eine Glorifizierung der Essstörung hin zu einem Lifestyle. Anders ausgedrückt: einfach weiter abnehmen, wenn das Zunehmen sowieso nicht funktioniert.

 

Ich tauchte tief ein in die lebensgefährliche Welt der Pro-Anas, und natürlich hielt mein jugendliches Ich der Sogwirkung nicht stand. Dünn zu sein schien mir wichtig, um von coolen Jungs begehrt und von coolen Mädchen akzeptiert zu werden. Warum also den unumgänglichen Magerwahn nicht professionell angehen?

Ich begann, konstant meinen Bauch einzuziehen, vor allem im Schwimmbad, aber auch unter der Winterjacke, weil ich glaubte, dass das gut für die Haltung sei und gleichzeitig die Bauchmuskeln trainieren würde. Außerdem fing ich an, jeden Tag Sport in meinem Zimmer zu machen. Bis zu einer Stunde drillte ich mich Abend für Abend durch alle möglichen Übungen, die mir einfielen – aus heutiger Sicht würde ich es als klassisches High-Intensity Interval Training (HIIT) beschreiben. Danach lief ich mit hochrotem Kopf durch das Wohnzimmer, wo meine Eltern saßen und Fernsehen schauten, ging in die Küche und griff nach einem Apfel – meine Belohnung, nachdem ich rund 500 Kalorien verbrannt hatte. Mein Abendessen und sehr oft auch meine Tagesration in Kombination mit einem Müsliriegel oder einer Instant-Suppe. Ich tat das für mehrere Monate, weil der Druck, dünn sein zu wollen, kaum auszuhalten war. In der Schule war ich umgeben von allen möglichen Körpern, und doch fokussierte ich mich ausschließlich auf die drei, vier Mädchen, deren Erscheinungsbild in meinen Augen perfekt war. Denn auch wenn mir Brüste wuchsen und alle Jungs auf sie starrten, wollten die meisten von ihnen weibliche Formen nur an ganz bestimmten Stellen sehen – alle waren barbiegeprägt, sozusagen. Doch die Puppe könnte in der Realität nicht mal aufrecht stehen, geschweige denn überleben – ihre absurde Körperform bietet nicht genügend Platz für die Organe.

 

Irgendwann, und man kann es glücklicherweise nicht anders sagen, besiegte ich die Sucht, mager zu sein. Meine Lust aufs Leben, die in der Pubertät vor allem mit ausschweifenden Partys und Junkfood einherging, war zu groß, um mich weiterhin zu knechten. Also beschloss ich, mich auf die Körperteile zu konzentrieren, die ich optimieren konnte, ohne drastisch an Gewicht verlieren zu müssen: Ich färbte regelmäßig meine Haare blond, weil ich glaubte, Jungs fänden blonde Mädchen attraktiver – es stand mir nicht. Ich begann, mich zu schminken, ging bei den einschlägigen Fashionmarken shoppen und cremte bereits mit sechzehn meine Oberschenkel und den Po prophylaktisch gegen Cellulite ein. Ich zupfte meine extrem dichten Augenbrauen zu dünnen Streifen, die gerade das Comeback erleben, vor dem wir uns alle gefürchtet haben. Ich rasierte jedes Körperhaar penibel weg und trug dicke Foundation über meinen Pickeln auf. Wenn ich Männern erzähle, wie viel Stress ich meinen Körper aussetzte, wie viel Arbeit es ist, eine Frau zu sein, sind die durch die Bank geschockt (während so viele von ihnen es gleichzeitig ekelhaft finden, wenn weiblich gelesene Menschen aufhören, sich pedantisch die Beine zu rasieren). Frauen können meine pubertären Handlungen nachvollziehen, finden das rückblickend «total normal» – aber doch nur, weil wir diesen Wahn als normal verkauft bekommen. Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körperbild in so jungen Jahren wird in vielen Fällen zu einem regelrechten Körperhass, der die Kraft hat, zerstörerisch zu wüten. Er verlangt so viel Aufmerksamkeit, dass es für andere Dinge kaum noch Zeit gibt – etwas, das ich in meinem eigenen Leben immer wieder phasenweise feststellen musste. Während meiner Schauspielausbildung mit Anfang zwanzig diente mein Körper als Werkzeug für meinen Ausdruck, als Ventil für meine Emotionen. Bis ich mich für ein Seminar auszog und feststellte, dass er mir – so vollkommen entblößt – nichts einbrachte außer einem Schamgefühl, das mir beim Spielen im Weg stand.

Kleider machen Leute: Wer bin ich, wenn ich nackt bin?

Mit Anfang zwanzig nahm ich im Rahmen meiner Schauspielausbildung an einem Seminar an einer Filmhochschule teil. Die Studierenden der Abteilung Kamera suchten Darsteller*innen für den Kurs «Erotik im Film», geleitet von einem berühmten Kameramann aus Hollywood sowie einer deutschen Regisseurin.

Es ging darum, den Student*innen beizubringen, Nackt- und Sexszenen ästhetisch und ansprechend umzusetzen. Das war etwas, was mich als Schauspielerin sehr interessierte: Kaum ein Film kommt ohne erotisches Zwischenspiel aus. Das Letzte, was ich demnach wollte, war, als unerfahrene Künstlerin und junge Frau mich zu etwas überreden zu lassen, das ich im Nachhinein bereuen würde (und das für die Welt dank des Internets jedoch für immer verfügbar bliebe, großartig!). Es war also eine gute Gelegenheit, herauszufinden, wie solche Szenen anspruchsvoll umgesetzt wurden und worauf zu achten war, um für alle Beteiligten einen Safe Space zu kreieren. Dass ich dabei Neues über mich erfahren würde, war mir bewusst. Aber nicht, in welcher Größenordnung.

Nachdem ich den Castingaufruf gelesen hatte, überlegte ich eine Weile hin und her. Natürlich hämmerte da eine große Nervosität, denn mit Anfang zwanzig war ich ungefähr so im Reinen mit meinem Körper wie Luisa Neubauer mit den Ergebnissen des letzten Klimagipfels. Als junge, weiße und schlanke Frau gehörte ich damals zwar dem Spektrum der Normschönheit an, doch das war mir nicht so bewusst, wie es das heute ist. Ich verglich mich vor allem mit den Frauen, die mir ähnlich sahen, was am Konkurrenzkampf lag, der in dieser Branche herrscht. Es gab immer eine Person, die dünner war. Oder blonder. Oder einfach hübscher. Doch meine Neugier und mein Wunsch, als Schauspielerin ernsthaft Fuß zu fassen, waren größer als meine Scham darüber, wie nachvollziehbar es für Außenstehende sei, an einem Seminar mit dem Titel «Erotik im Film» teilzunehmen. Also entschied ich mich dafür, wogegen einige Schauspieler*innen sogar Klauseln in ihre Verträge setzen lassen: eine Nacktszene.

Meine Aufgabe schien einfach: Halb zugedeckt liege ich im Bett und schaue abwesend einen Film, während mein Partner nackt aus der Dusche kommt und sich zu mir legt. Dann geht das intime Spiel los, wobei ich sehr schnell deutlich mache, dass ich nicht kann oder will oder beides, sodass er mich daraufhin im Arm hält und ich tieftraurig dasitze. Wünschenswerte Emotion: Weinen. Für die Zuschauenden soll rüberkommen, dass wir uns bereits in einem Trennungsprozess befinden. So weit die Theorie.

 

Am Tag des Drehs kam ich aufgeregt am Set an. Was mir sofort Halt gab, war das bewusst kleine Team, das alles dafür tat, die Atmosphäre so vertrauensvoll wie möglich zu gestalten. Niemand, der nicht in direktem Zusammenhang mit dem Dreh stand, hatte Zutritt – geschlossenes Set nennt man das. Ich zeigte einer Assistentin meine Auswahl an Unterwäsche, die ich dabeihatte, und die Wahl fiel schnell auf einen sehr dünnen G-String und nichts für oben. Damit man das versteht und sich auch gleich visuell vorstellen kann, wird es jetzt etwas technisch: Eines der beiden Bändchen, die auf jeder Seite den Stoff zusammenhielten, wurde durchgeschnitten. So konnte von dieser Perspektive aus suggeriert werden, dass ich vollkommen nackt sei, weil das Laken den restlichen Stoff bedecken würde. Dieser wiederum wurde auf meine Haut geklebt, damit nichts verrutschte. Auch wenn das bisschen Stoff nun am seidenen Faden hing und ich obenrum frei war, war ich trotzdem erleichtert, dass ich mich nicht komplett ausziehen musste, sondern mit der Illusion von Nacktheit arbeiten konnte. After all, it’s not porn. Mein mich selbst versicherndes Mantra für die kommenden Stunden, um die Scham im Zaum zu halten.