12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €
»Ich habe Frankreich beim Lesen gerochen und gefühlt. Anika Landsteiner lässt einen tief eintauchen – in komplizierte Beziehungsgeflechte und die ganz großen Fragen.« Ninia LaGrande Léa flieht vor ihrem Leben. Sie tauscht den deutschen Sommer gegen den südfranzösischen und fährt auf das alte Familienanwesen an der Côte d'Azur. Doch ihr Plan, dort zur Ruhe zu kommen, geht nicht auf: Am Abend ihrer Ankunft unterhält sie sich mit einer jungen Frau, die noch in derselben Nacht ums Leben kommt – und Léa ist die letzte, die sie gesehen hat. Plötzlich steht Émile, der Bruder der jungen Frau, vor Léas Tür. Ihn quälen viele Fragen, weil er erfahren hat, dass seine Schwester schwanger war. Nacht für Nacht erzählen sie sich von ihren längst nicht mehr heilen Familien, sie streiten mit Haut und Haar über Schuld, Angst und Schweigen. Während Léa versucht, zurück ins Leben zu finden, setzt Émile alles daran, zu ergründen, was zum Tod seiner Schwester geführt hat. Wie kann man Abschied von der Vergangenheit nehmen, ohne zu vergessen? Weitere Bücher der Autorin: »So wie du mich kennst«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 493
Veröffentlichungsjahr: 2023
Anika Landsteiner
Roman
Léa flieht aus ihrem Münchner Großstadtleben nach Südfrankreich. Frisch getrennt und emotional erschöpft, hofft sie darauf, im alten Ferienhaus der Familie wieder Kraft zu tanken, zu sich selbst zu finden. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Denn Léa hat kurz nach ihrer Ankunft als Letzte mit einer jungen Frau aus dem Dorf gesprochen, die in der Nacht darauf ums Leben gekommen ist und schwanger war. Am nächsten Tag steht deren erwachsener Bruder vor Léas Tür und stellt Fragen. Die beiden reden tage- und nächtelang über die Dinge, die wir teilen, wenn wir nicht online sind: Sie erzählen von ihren längst nicht mehr heilen Familien, sie streiten mit Haut und Haar über Schuld, Angst und Schweigen – und suchen nach einem Weg, wie man Abschied nehmen kann, ohne zu vergessen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Anika Landsteiner, Jahrgang 1987, arbeitet als Autorin und Journalistin. Ihr Fokus liegt dabei auf gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, Tabuthemen, Feminismus und Popkultur. Im Podcast »Hello, lovers!« spricht sie mit der Paartherapeutin Dr. Sharon Brehm darüber, wie gleichberechtigte Liebe funktionieren kann. In ihrem letzten Roman »So wie du mich kennst« ging es um Trauerbewältigung und häusliche Gewalt, in diesem neuen Roman widmet sie sich dem Thema weibliche Selbstbestimmung. Die Spiegel-Bestseller-Autorin lebt in München.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Widmung
Playlist
Motto
La fin
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Dank
Leseprobe
Für M.
Kate Bush – Running Up That Hill (A Deal with God)
S. Carey – Alpenglow
Lord Huron – The Night We Met
Melody Gardot – Morning Sun
Tropics – Nocturnal Souls
Stromae – L’enfer
Sarah Klang – Fever Dream
LUIHILL – How Many Moons
AaRON – SAUVAGES
Cleo Sol – Why Don’t You
Christine and the Queens – iT
The Staves – Good Woman
Ari Lennox – Whipped Cream
Crazy P – If Life Could Be This Way
Mos Def – The Panties
LCD Soundsystem – oh baby
Lorde – Solar Power
AaRON – We Cut the Night
L’aupaire – I Would Do It All Again
Danger Dan – Eine gute Nachricht
Bon Iver – 22 (OVER S∞∞N) [Bob Moose Extended Cab Version]
Mazzy Star – Into Dust
The War On Drugs – Strangest Thing
Spaceman Spiff – Zeit Zu Bleiben
Elton John, Ronan Keating – Your Song – Live
Diese Playlist ist auf Spotify unter dem Titel »Nachts erzähle ich dir alles« zu finden.
all the women.
in me.
are tired.
Nayyirah Waheed
And if I only could
I’d make a deal with God
And I’d get him to swap our places
I’d be running up that road
Be running up that hill
With no problems
Kate Bush
Woher nehmen wir den Mut zu wissen, was wir wollen?
Ich denke, wir werden erst dann sicher in unseren Überzeugungen, wenn wir herausgefunden haben, was wir nicht wollen. Und dieser Weg, so aufreibend er sein mag, der lohnt sich. Am Ende ist ja nichts zu Ende. Am Ende weiß man einfach, was es ist, das einen erfüllt. Woran man gescheitert ist und was man stattdessen geschafft hat. Ich sage es Ihnen, Léa: Dann geht’s noch mal richtig los. Denn niemals würde ich heute mit meinem jungen Ich tauschen wollen. Das da lag, eingehüllt in eine geblümte Bettwäsche, doch längst nicht mehr behütet. Nackt und ein bisschen schambehaftet. Intuitiv wissend, dass längst etwas an die Oberfläche wollte. Eine Knospe zwischen Beton. Denn die Zeit jetzt, diese fabelhaften Jahre, die ich gerade erlebe, würde ich niemals hergeben wollen.
Keine Sekunde davon.
Es war halb zehn, als ihr die Augen über dem Alpenglühen zufielen. Nach zweimaligem Umsteigen lag sie nun im Schlafwagen eines Intercity, eine dunkle Schweizer Bergkette mit lodernden Gipfeln zog am Fenster vorbei. Der Farbton wanderte in ihren Halbschlaf. Rote Schlieren über Gedankenfetzen. Bilder, die sie nur ein paar Augenblicke lang sortieren konnte, bevor sie aufgab und sich den nächsten zuwandte.
Da waren ihre Kindheitserinnerungen an den Ort, an den sie nun nach … wie vielen Jahren … achtzehn? … zurückkehrte: die Sandalen ihrer Mutter, deren Pfennigabsätze über den Marmorboden des Foyers klackern. Sie selbst, wie sie in ihrem Bett das Laken von sich stößt und sich im eigenen Schweiß wälzt. Die noch warmen Croissants, nie direkt aus der Tüte! Immer hübsch angerichtet auf einem Teller. Ihr erster Kuss mit einem einheimischen Jungen in einer Bucht. Wie war sein Name? Da vermischte sich sein Gesicht mit den Zügen ihres ersten Freundes. Keine guten Erinnerungen. Zurück zur Bucht, doch sie bekam den Jungen nicht mehr zu greifen. Stattdessen klopfte eine kaum auszuhaltende Trägheit an ihr Bewusstsein, ein Gefühl, ausgelöst von einem flirrenden Sommer, in dem absolut nichts passierte, in dem jeder Tag dem vorangegangenen so sehr ähnelte, dass sie einfach ineinanderflossen und somit ihre Bedeutung verloren.
Ihr Großvater schob sich ins Bild. Als junger Mann auf einem klapprigen Rad, eine Straße an der Steilküste, vielleicht ein paar Kilometer von Nizza entfernt, wo er aufgewachsen war. Etwas stimmte nicht. Das konnte keine eigene Erinnerung sein. Vielleicht ein Foto, das sie kannte?
Vor drei Jahren, als ihre Mutter das letzte Mal nach Saint Martingereist war, hatte sie wehmütig berichtet, dass sich alles verändert habe. Doch Léa war sich nicht sicher, wie ernst sie das nehmen konnte – was genau sollte schon passiert sein? Die Uhren schlugen in diesem Dorf schon immer langsamer als an den touristischen Küstenorten, sollten sie jetzt etwa schneller gehen? Tick tick tick. Die alte Wanduhr im Wohnzimmer ihrer Großeltern. Wurde das Dorf nun doch vom Tourismus überfallen, nachdem sich dieser immer schon im mittelalterlichen Èze entladen hatte? In dem halb wachen Zustand, in dem sie sich gerade befand, bereute sie für einen Moment, ihren Großvater nie gefragt zu haben, wie es gewesen war, lange vor ihrer Geburt. Er war der Ursprung von allem, was vor ihr lag.
Hier im Zug, zwischen den Welten, tauchten ihre Gespenster ohne Ankündigung auf. Die eine Hälfte ihres Bewusstseins lag auf der Lauer, die andere taumelte durch den Spuk hindurch. In den Nächten, in denen sie zu Hause wach gelegen hatte, hatte sie immer vor ihnen fliehen können, indem sie sich beschäftigte. Mit der Buchhaltung. Mit aktuellen Bestellungen. Mit der spontanen Kreation neuer Rezepte um ein Uhr nachts, und am Morgen stand dann ein frischer Kuchen auf der Anrichte. Überhaupt war ihre Arbeit die Antwort auf vieles gewesen.
Léas kleines Café hatte sich direkt nach der Eröffnung zu einem festen Nachbarschaftstreff etabliert. Was sie schon immer mochte, was sie schon immer konnte, war, Menschen um sich zu versammeln. Nicht bei einem Geburtstag, nicht indem sie sich in den Mittelpunkt rückte, sondern das Gegenteil war der Fall. Sie bevorzugte es, hinter einem Tresen zu verschwinden und von da aus alles mitzubekommen. Zu lauschen. Aber auch, um einen kleinen Zufluchtsort zu bieten, die Wärme der Anwesenheit anderer zu genießen, ohne selbst etwas geben zu müssen. Vielleicht lag es daran, dass sie Einzelkind war, aufgewachsen in einer überschaubaren Familie, und jetzt das aufsaugte, was sie nie kannte, nämlich diese ständige Geräuschkulisse. Immer unter Leuten zu sein. In deren Leben schauen zu dürfen, ohne sich selbst an den Gesprächen beteiligen zu müssen. Ohne gefragt zu werden: Und du, Léa?
Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass sie phantastisch buk – Kochen hingegen konnte sie nicht leiden –, und der Spaß daran ihr nie vergangen war. Als sie vor ein paar Jahren an einem lauen Frühlingsabend spontan beschlossen hatte, vom Büro nach Hause zu laufen, kam sie an einem Haus vorbei, dessen Erdgeschoss leer stand. Zur Straße hin gab ein bodentiefes Fenster mit einem massiven, dunkelgrün gestrichenen Rahmen den Blick nach drinnen auf einen kleinen Raum frei. Also tat sie, was sie am zweitbesten konnte: eine impulsive Entscheidung treffen, ohne jemanden um Rat zu fragen. Insgeheim erzählte sie sich eine Zeitlang, dass sie den leer stehenden Raum nur vorm nächsten Angriff einer Social Media-Agentur retten würde. Tatsächlich hörte sie die Siebträgermaschine rattern, als sie durch das verschmierte Fenster blickte.
Ihr Fuß trat ins Leere, und sie öffnete die Augen. Draußen war es stockdunkel, und sie erkannte ihre eigenen Umrisse im Scheinwerferlicht der kleinen Leselampe. Unverschämt, dass man nachts mit seinem Spiegelbild konfrontiert wurde, obwohl man sich nach etwas ganz anderem sehnte. Sie drehte sich auf den Rücken und schaltete das Licht aus. Dann schloss sie wieder die Augen, doch dahinter trommelte es in ihrem Kopf.
Fünfunddreißig und kein Halt. Nein, mach kein Drama, Léa, sonst wird’s peinlich. Gefühlt ohne Halt.
»Würdest du dich denn halten lassen?«, fragte ihre Mutter plötzlich in Gedanken. Und dann war sie hellwach.
Es war die Idee ihrer Mutter gewesen. Brigitte hatte nicht immer die besten Einfälle, aber meist die richtigen. Doch was richtig war, fühlte sich nicht immer gut an, im Gegenteil, was richtig für einen war, in diesem Fall für Léa, konnte schwierig oder zumindest anstrengend sein: öfternein sagen (oder war es ja?), ihre Freundinnenschaften pflegen, die sie vernachlässigt hatte, mehr alleine ausgehen, als beim Onlinedating an einen Catfisher zu geraten (das Wort hatte Brigitte kürzlich gelernt), die waagrechte Falte auf ihrer Stirn mit Hilfe von Gesichtsyoga zu glätten – die Tipps bezogen sich darauf, ihr Leben aus Sicht ihrer Mutter im Griff zu haben. Die schwor allerdings auch nach wie vor auf Selleriesuppe zum Abnehmen.
»Fahr in den Urlaub«, hatte Brigitte gesagt. Und dann, mit Nachdruck: »Trau dich«, was in dem Kontext absurd klang. Léa hatte die Arme verschränkt, weil ihr letzter Urlaub mehrere Jahre zurücklag: ein dreiwöchiger Roadtrip durch Dänemark, direkt nach ihrer Kündigung. Weil sie gewusst hatte, dass das Café ihr, zumindest am Anfang, alles abverlangen würde. Sie arbeitete sechs Tage die Woche, sie war immer anwesend, obwohl eine ihrer zwei Aushilfen mehr Stunden übernehmen wollte und Léa hätte entlasten können. Deshalb hatte sie vor ein paar Jahren angefangen, lediglich ein paar Kurztrips in europäische Städte dazwischenzuquetschen und als Urlaub zu verbuchen. Doch insgeheim ermüdete es sie, in 48 oder 72 Stunden durch Paris, Budapest oder Neapel zu hetzen, denn wenn Léa ehrlich zu sich selbst war, blieb sie lieber zu Hause. Weil ihre Füße am Ende des Tages sowieso immer schmerzten. Und außerdem wartete Antonia auf sie, wenn Léa spätestens um acht Uhr nach Hause kam und sich bereits beim Schuheabstreifen darauf freute, sich ein Glas Rotwein einzuschenken. Aber jetzt war Toni nicht mehr da, und weil Léa sich lieber mit den Gefühlen anderer als mit den eigenen beschäftigte, spülte sie den Verlust in großen Schlucken hinunter und döste vor Netflix ein, bis es irgendwann fragte: Schauen Sie noch?
Also stürzte sie sich in die Arbeit. Und beschloss – aus einer Kombination von Vermeidungstaktik und naiver Hoffnung, das würde zur Trauerbewältigung reichen –, die zitronengelben Wände des Cafés zu tapezieren. Mit einem tropischen Dschungelmuster, das vielleicht an einer Wand eine interessante Idee war, an vier Wänden nicht nur fragwürdig, sondern schlichtweg alarmierend. Vor drei Wochen war es dann so weit: Im Sekundenschlaf rammte sie mit ihrem Auto ein anderes – glücklicherweise nur im Stadtverkehr und nicht auf der Autobahn. Und weil ihr beim Durchchecken im Krankenhaus die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand, sagte der behandelnde Arzt: »Sie müssen dringend auf die Bremse treten«, und sie meinte gähnend: »… dafür ist’s wohl zu spät.«
Dann kam ihre Mutter mit dem Vorschlag. Vielmehr war es eine Aufforderung, und nach Léas anfänglicher Abneigung bohrte sich eine Frage in sie hinein, die sie innehalten ließ.
Fuck.
Fuuuuuck.
Habe ich wirklich allen Wänden meines französischen Cafés eine Dschungeltapete verpasst?
Gefolgt von: Fünfzig Stunden in der Woche arbeiten … und dann? Die Zeit, die übrig blieb, brauchte sie, um sich genau davon zu erholen. Doch sie liebte ihr Café, sie war ihre Arbeit, auch wenn sie wusste, dass es irgendwann immer bergab ging für diejenigen, die sich das einredeten.
Als Léas Mutter merkte, dass die Mauer ihrer Tochter aus skeptischer Abneigung zu bröckeln begann, legte sie nach und sagte: »Fahr nach Saint Martin. Du weißt, dass das Haus leer steht. Claire würde bestimmt ein Bett frisch beziehen und den Kühlschrank füllen. Du musst dich nur ins Flugzeug setzen.«
»Ich fliege nicht mehr«, sagte sie. »Also, ab jetzt.«
»Dann in den Zug. Ich buche ihn dir. Fahr über Nacht, dann bist du zum Sonnenaufgang da.«
Zum Sonnenaufgang an der Côte d’Azur. Die Küste, die ihre Kindheit jeden Sommer für sechs Wochen in Watte gepackt hatte, um sie später dann als Jugendliche zu Tode zu langweilen.
»Wir kriegen das hin. Du machst das Café für drei Wochen zu, das kannst du dir leisten. Für die restlichen Wochen stockst du Sandrines Stunden auf, und ich helfe zusätzlich aus.«
»Du spinnst ja.«
»Nein, du spinnst, wenn du das nicht annimmst. Ein Sommer in Frankreich? Sag mir eine Person, die dazu Nein sagen würde.«
»Ähm, du? Wann warst du denn das letzte Mal da?«
»Stimmt«, sagte Brigitte. »Also mach’s besser.«
Léa überlegte.
»Denk nicht mal dran«, sagte ihre Mutter.
»Hä?«
»Rund ums Haus ist noch immer nichts los. Genau, was du brauchst. Am besten holst du dir auch keinen Mietwagen«, sagte sie. Und dann: »Darf ich?«
»Die Villa der Männer«, murmelte Léa.
»Keiner mehr da«, antwortete Brigitte. Wenige Sekunden später nahm sie ihr iPad zur Hand. Und Léa dachte (sagte aber nicht): Das wird kein Urlaub. Das wird eine Zeitreise und zeitreisen war noch nie entspannend.
Sie hatte die Wirkung der Rückkehr unterschätzt. Die Rückkehr an einen Ort, von dem sie geglaubt hatte, ihn vergessen zu haben.
Ein Ex-Freund hatte einmal gesagt, sie sei eine Meisterin im Verdrängen ihrer Gefühle.
»Verstecken?«, hatte Léa versucht zu korrigieren.
»Du hast mich schon richtig verstanden.«
Als sie jetzt mit ihrem schweren Trekkingrucksack auf dem Rücken den Berg hinaufstapfte, musste sie lachen und verspürte den Wunsch, den Ex-Freund anzurufen. Sie wollte ihm erzählen, dass er recht hatte. Denn hier, zwischen ihren schnellen, flachen Atemzügen, stieß das Wissen hindurch, dass ein Ort wie Saint Martin zwar den Schutz einer längst vergangenen Nestwärme bereithielt, ihr jedoch als Kind und Jugendliche dabei geholfen hatte, ihren Alltag zu verdrängen: ein Sommer in Südfrankreich, der so sorgenfrei, so perfekt verwaschen war, dass er galant den Finger in die Wunde legen konnte. Die Wunde, das war das unperfekte Leben zu Hause.
Im Schatten einer Aleppokiefer blieb sie stehen und setzte den Rucksack ab. Sie lehnte sich an den Baum und blickte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Zwischen zwei Felsen glitzerte das hellblaue Meer sehr angeberisch, am Horizont schien es untrennbar von einem beinahe weißen Himmel. Léa atmete ein und roch den Wald, der zwar nicht kühl war, aber eine morgendliche Frische ausstrahlte. Darunter mischte sich die Würze der Nadelbäume. Ein seltsam tröstlicher Geruch. Allein dafür hatte es sich gelohnt, auf dem schmalen Pfad, der direkt am Bahnhof an der Küste seinen Ursprung hatte, den Berg hinaufzugehen. Natürlich hätte sie ein Taxi nehmen können, schließlich erreichte man das Haus nicht nur über diesen Pfad, sondern auch über eine breite Schotterpiste, die von der Küstenstraße abging. Oder sie hätte Claire ihre Ankunftszeit durchgeben können. Die alte Freundin ihrer Mutter, die nach dem Haus und Garten sah in der Zeit, in der niemand da war. Also praktisch immer. Deshalb war es ihr unangenehm, Claire mehr als nötig einzuspannen. Außerdem machte sie sich nicht gerne abhängig von anderen Menschen, weshalb sie sich lieber die Steilküste hinaufquälte, wobei sie feststellte, dass sie dringend mehr Sport machen musste. Sie schrieb Pilates auf einen imaginären Tagesplan und überlegte, dass sie diesen auch mit anderen Dingen dringend füllen musste, um sich vor dem Wahnsinn des Nichtstuns zu bewahren.
Glücklicherweise musste sie nicht bis ins Dorf laufen, denn das Haus ihrer Familie befand sich auf halber Strecke – etwas versetzt auf einer Klippe, mit Blick aufs unendliche Blau. Bleu infini. Léa streckte sich und ließ den Kopf kreisen, in ihrem Nacken knackte es. Dann setzte sie den Rucksack wieder auf und ging weiter, ihre Hand strich dabei durch den Salbei, der in großen Büscheln wuchs und so wild duftete, wie er aussah.
Zwischen ihrer flachen Atmung stieß sie Flüche aus, weil sie nicht mehr einschätzen konnte, wie lange sie noch brauchen würde –, doch dann ging der Weg zum Haus plötzlich links ab. Rechts von der Mauer des Grundstücks führte er weiter zur Küstenstraße, links befand sich direkt die Gartentür. Sie war verschlossen, aber so niedrig, dass sie problemlos drüberklettern konnte, nachdem sie den Rucksack auf die andere Seite gehievt hatte.
Sie ging die Steinstufen hinauf in den Garten und blieb dann stehen. Alles sah beinahe genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Am linken Rand des Gartens die zwei Korkeichen, auf denen sie als Kind herumgeklettert war und in deren Schatten sie sich Jahre später mit Buch und Walkman verzog – darauf hoffend, dass sie niemand entdeckte und sie ihre Stimmungsschwankungen mit sich selbst ausmachen konnte.
Der Rasen war an manchen Stellen ausgedünnt und verbrannt, insgesamt wirkte er jedoch gepflegt. Auf der rechten Seite des Gartens führten Lavendelbüsche, dazwischen ein großer Oleander mit weißen Blüten, bis zur Veranda des Hauses. Sie war sich nicht sicher, ob es sich noch um dieselben Pflanzen wie in ihrer Jugend handeln konnte, aber bei dem Anblick stieg ihr sofort das berauschende Summen der Bienen und Hummeln ins Ohr, das sie früher manchmal geweckt hatte.
Das Haus. Der ockerfarbene Anstrich war teils abgeblättert. Ihre Wangen begannen zu kribbeln. Das taten sie immer, wenn sie nervös war und nicht wusste, was sie erwartete. So vertraut ihr das Kribbeln war, musste sie sich eingestehen, dass sie es lange Zeit nicht gespürt hatte. Doch jetzt war es da.
Ihr Großvater hatte es gebaut – zu einer Zeit, in der die Küste wesentlich weniger zubetoniert war. Er hatte immer an der Geschichte festgehalten, dass sein Vater das Grundstück Anfang der 1930er bei einem Pokerspiel gewonnen hatte, aber vielleicht war das einfach Quatsch.
Sie ging an dem trockengelegten Pool vorbei und um das Haus herum. Claire hatte ihr den Schlüssel unter einem Blumenkübel an der Eingangstür hinterlegt. Léa schloss auf und setzte den Rucksack im Foyer ab. Da rief jemand ihren Namen, und sie zuckte zusammen.
»Allô? Sind Sie das, Léa?«
Das musste Claire sein. Siezen, siezen, immer siezen, ermahnte Léa sich. Schweißgebadet und erschöpft, wie sie war, stand ihr nicht der Sinn nach Smalltalk, aber da musste sie jetzt wohl durch. Sie wischte sich über die Stirn, da kam Claire aus der Küche. Ihr dunkelblondes Haar war durchzogen mit weißen Strähnen und lose zusammengesteckt, das Lächeln so herzlich wie damals.
»Léa, bienvenue! Sie haben mich total erschreckt. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie so früh kommen!«
Claire hauchte ihr zwei Küsse auf die kribbelnden Wangen, während Léa eine Entschuldigung herausstieß, wofür, wusste sie nicht genau. Sie kannte diesen Ort nicht als Erwachsene, weshalb sie instinktiv in eine kindliche Haltung rutschte. Vor allem gegenüber Claire, die so oft bei ihnen gewesen war, dass sich ihre Anwesenheit immer wie die einer Tante angefühlt hatte.
»Ja, Sie sind erwachsen geworden, Léa.«
Was sonst in achtzehn Jahren, dachte Léa, lächelte aber.
Claire schob Léa sanft in die Küche, wo sie sich auf einen Barhocker an der Kücheninsel fallen ließ.
»Ich bin vor einer Stunde am Bahnhof angekommen und wollte Sie nicht so früh, ähm, einnehmen«, sagte Léa und hoffte, dass Claire wusste, was sie meinte. Ihr Französisch war noch immer sehr gut, das lag vor allem daran, dass ihr Café aufgrund des Namens La Parisienne viele Exilfranzösinnen anzog, mit denen sie täglich sprach, zum anderen, weil ihre Mutter mindestens jeden zweiten Anruf von Léa auf Französisch annahm, woraufhin sie dann ebenfalls auf die Sprache umstieg. Trotzdem musste sie manchmal nach dem passenden Verb fischen.
Claire wischte ihre Worte mit ein paar Krümeln vom Tisch und schenkte ihr ein Glas Wasser ein. »Eigentlich kommen Sie genau richtig, weil ich gerade beim Bäcker war.« Sie nahm ein Croissant und eine Brioche aus einer Papiertüte und legte beides auf einen Teller. »Sind noch warm. Sie haben bestimmt Hunger nach der langen Fahrt. Und dann der Marsch den Berg rauf, Himmel! Wissen Sie, wann ich den zuletzt gegangen bin?«
»Keine Ahnung.«
»Ganz richtig. Kaffee?«
Léa nickte und riss ein Stück vom Croissant ab. Die Butter hinterließ einen Fettfilm auf ihren Fingerkuppen.
»Der Garten ist total gut in Schuss. Das muss viel Arbeit sein, oder?«
Claire drehte sich zu ihr und wirkte, als habe Léa sie bei etwas ertappt. »Er ist viel zu schön, um ihn zu vernachlässigen. Und wenn ich mal so richtig entspannen will, hole ich mir am Kiosk die Côté Sud und setze mich damit auf die Terrasse.«
»Aber weiß meine Mutter, dass Sie so regelmäßig nach dem Garten sehen?«
Claire murmelte, dass das in Ordnung sei, doch bevor Léa etwas erwidern konnte, zog sie verschiedene Schränke und Schubladen auf, deutete auf alles, was da war, und erklärte ihr, was fehlte, woraufhin Léa ihr immer wieder versicherte, dass sie nicht viel brauche.
»Im ersten Stock habe ich das große Bett für Sie frisch bezogen. Ich dachte mir, Sie wollen bestimmt nicht in dem schmalen Kinderbett am Ende des Flurs schlafen.« Claire zwinkerte, was Léa nicht ganz deuten konnte. »Der Nasenring steht Ihnen gut.«
»Danke«, sagte sie und berührte ihn kurz. »Auch für das Bett. Ich glaube, ich muss gleich 'ne Runde schlafen«.
Claire goss erst ihr und dann sich selbst einen Espresso ein. »Absolut. Kommen Sie erst mal an und melden Sie sich, wenn Sie etwas brauchen. Und dann …«, sagte Claire und nahm einen Schluck. Léa tat es ihr gleich.
»Oh. Der ist gut«, meinte sie.
»Seien Sie nicht so erstaunt. Ich mache den besten.«
Léa musste lachen. »Was wollten Sie sagen?«
»Ah ja. Ich würde mich freuen, wenn Sie irgendwann die Tage zum Essen vorbeikommen. Erzählen Sie mir von Ihrem aufregenden Leben.«
Léa verkniff sich zu sagen, dass nichts an ihrem Leben aufregend war. Zumindest nicht mehr. »Das mache ich«, antwortete sie.
Als Claire gegangen war, schleppte Léa sich nach oben in den ersten Stock. Die Tür zum Schlafzimmer, das sonst ihre Mutter nutzte, stand offen. Die weißen Vorhänge vor den Fenstern bewegten sich in einem Lufthauch, der fast unbemerkt durch das Zimmer glitt. Sie ließ sich ins Bett fallen und vergrub ihr Gesicht in den Kissen; ein frischer Duft, den sie nicht kannte, aber mochte. Auch wenn sie in ihrem eigenen Bett am besten schlief, hatte sie eine Schwäche für fremde. Und nach dem unkomplizierten Empfang von Claire fühlte sich dieses Haus noch ein bisschen mehr nach Urlaub an. Nach einem fast vergessenen Hotel, ganz allein für sie.
Léa drehte sich auf den Rücken und ließ den Blick durch das Zimmer wandern. Ein massiver Holzschrank, von dem sie glaubte, dass er einmal im Flur gestanden hatte. Der alte Sekretär unter einem Fenster. Und ein Sessel mit einem abgewetzten, lilafarbenen Bezug, der sich so oder so ähnlich in fast jedem Schlafzimmer auf dieser Welt befand. Umfunktioniert von einer Sitzmöglichkeit zur Ablagefläche für Klamotten.
Eine Weile lag sie einfach nur da. Lauschte. Eine Tür irgendwo im Haus fiel immer wieder so sanft ins Schloss, dass sie gleich wieder aufsprang. Ansonsten war es still. Irgendwann fielen ihr die Augen zu, und sie schlief ein.
»Ich entspanne mich. Jetzt«, flüsterte sie in die Nacht hinein.
Der Metalltisch mit den geschwungenen Füßen wackelte gefährlich unter der eiskalten Flasche Rosé. Sie goss ihn in eine Champagnerschale aus Kristallglas, die aus den Siebzigern stammte. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken Schweiß von der Oberlippe. Léa nahm einen großen Schluck und spürte, wie die kalte Flüssigkeit ihre Speiseröhre hinabglitt und ihrem Körper das finale Zeichen zur Entspannung gab. Plötzlich sehnte sie sich nach einer Zigarette, was sie gleichzeitig irrsinnig peinlich fand, weil sie nie geraucht, nur hier und da mal ein paar Züge als Jugendliche genommen hatte. Würde sie etwa so schnell in ihr Teenie-Ich abrutschen? Oder lag es am Klischee des Südfrankreichurlaubs, das nach Rauchen verlangte? Ein fragwürdiges Verlangen. Ein fragwürdiges Verlangen. Guter Filmtitel.
Auf der anderen Seite des Gartens raschelte es im Gebüsch. Ein Vogel oder eine Maus vielleicht. Von ihrem Sitzplatz aus konnte sie direkt zwischen zwei Oleanderbüschen hindurchsehen, dort, wo der schmale Pfad begann, sich den Berg hinabzuschlängeln. Léa kniff die Augen zusammen, um die verschwommenen Lichter entlang der Küste auszumachen. In so klaren Nächten wie heute gab die Aussicht einen atemberaubenden Blick auf das Meer und die Küste bis ans Kap von Antibes frei.
Es raschelte wieder. Was sie als Nächstes hörte, waren Schritte. Sandalen oder Flipflops, die durch das Gras schlurften. Eine Silhouette schob sich vor die flimmernden Lichtflecken der Küste. Léa erschrak, zwang sich jedoch, nicht aufzuspringen.
»Wer ist da?« Ihre Stimme wackelte, was sie ärgerte.
Keine Antwort. Sie stand auf, da blieb die Person stehen. Léa erkannte, dass sie weiblich war, woraufhin ihre in Sekundenschnelle aufgebauten Abwehrmechanismen wieder abschwollen. Die Gestalt ging erst zögerlich, dann bestimmt, um den Pool herum auf sie zu, und als sie nah genug war, um ins schwache Licht der Terrasse zu treten, erkannte Léa sie als junges Mädchen. Sie trug Shorts und ein bauchfreies Top, auf ihrer Taille saß locker eine schwarze Bauchtasche mit Strass. An den Beinen ein paar rote Kratzer, die frisch wirkten, sicherlich vom nächtlichen Herumstreunen in fremden Gärten.
Welche Frage lag näher, welche Frage würde das Mädchen weniger verunsichern und Léa doch genügend Aufschluss geben: Wer bist du oder was machst du hier? Doch sie kam ihr zuvor.
»Ich kenne Sie nicht«, sagte das Mädchen. Ihre beinahe raue Stimme überraschte Léa. Sie verkniff sich ein Lächeln, weil es sie beeindruckte, dass sie so spät am Abend durch einen fremden Garten streifte und ihr zu verstehen gab, dass Léa sich auszuweisen hatte.
»Ich kenne dich auch nicht«, sagte sie und setzte sich wieder. Das Mädchen kam ein paar weitere Schritte auf sie zu. Sie lehnte sich an eine der beiden Säulen, die den Balkon über der Terrasse trugen, und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Haut war braun gebrannt, glatt, straff und makellos, wie Léa sich ihre seit Jahren zurückwünschte. Sie sah dem Mädchen an, was sie von ihrem jüngeren Ich selbst gut kannte: Sie tat reserviert, vielleicht wollte sie sogar ein bisschen arrogant wirken, doch im Kern war sie zu neugierig, um die Distanz aufrechtzuerhalten. Léa folgte ihrem Blick zum Tisch, und da vermutete sie, was das Mädchen sagen würde.
»Das ist das falsche Glas für Rosé.«
»Stimmt. Aber es ist das hübschere.«
Ihr Mundwinkel zuckte, ein Anflug von Zustimmung. Vielleicht mochte sie, dass sich eine erwachsene Person nicht an die Regeln hielt.
»Kann ich auch ein Glas haben?«.
Léa überlegte. Wenn sie das Mädchen nach ihrem Alter fragen würde, würde sie lügen. Sie schätzte sie auf fünfzehn, vielleicht sechzehn. Welchen Schaden sollte ein Glas Rosé anrichten, wenn sie danach wahrscheinlich weiterzog zu ihrer Clique, die mit einer Flasche Hochprozentigem unter irgendeinem Torbogen in der Altstadt oder auf einem versteckten Aussichtspunkt auf sie warteten. Léa hatte Lust auf Gesellschaft, und sie wollte wissen, wer sie war. Außerdem war ihr nicht wohl dabei, dass sie in stockdunkler Nacht alleine umherzog. Zu viele Abende, die schwerelos begannen, gingen gefährlich aus für Mädchen, für Frauen, für alle, die im Zweifelsfall wehrlos waren. Also ging sie nach drinnen, um eine zweite Champagnerschale aus der Vitrine zu holen. Dann schenkte sie ihr ein und setzte sich wieder. Ein Lufthauch zwischen ihnen. Vielleicht bildete Léa ihn sich nur ein, doch sie legte den Kopf in den Nacken und schloss für einen Moment die Augen. Da konnte sie hören, wie das Mädchen sich ihr gegenüber setzte. Elegant nahm sie die Schale in eine Hand, vermutlich nicht zum ersten Mal, und trank einen Schluck. Zwei Blicke trafen sich. Während ihre Zehen aus den Sandalen schlüpften, sagte sie: »Ich bin Alice.«
»Enchantée Alice. Ich bin Léa.«
»Machen Sie Urlaub?«
»Ich versuche es.«
Alice runzelte die Stirn.
»Keine überzeugende Antwort?« Léa wollte sie aus ihrer Reserve locken.
Das Mädchen musterte sie. »Weiß nicht«, sagte sie dann. »Sind Sie zu Besuch?«
»Ich besuche meine Vergangenheit. Sozusagen. Das Haus gehört meiner Familie, es war jedoch länger niemand hier. Aber das weißt du wahrscheinlich.« Sie hoffte, Alice würde ihre Aufforderung verstehen, ihr zu sagen, was sie hier suchte. Oder vorhatte.
Das Mädchen öffnete den Reißverschluss der Bauchtasche und zog eine Schachtel Zigaretten heraus. Na also. Alice hielt sie ihr hin, und sie nahm sich eine. Dann schob sie das Feuerzeug über den Tisch.
»Ich bin nie eingebrochen oder so. Also, mal abgesehen davon, dass man sehr einfach über das Gartentor klettern kann«, sagte Alice, während sie Rauch ausatmete. »Aber ich komme oft hierher. Manchmal tagsüber, meistens aber, wenn es dunkel ist.« Léa nahm einen Zug und stellte fest, dass sie noch immer den Geruch von frischem Rauch seinem Geschmack vorzog. Alice deutete mit dem Kopf in die Ecke des Gartens, wo eine in die Jahre gekommene Hollywoodschaukel stand. »Die funktioniert noch, aber sie quietscht krass. Manchmal sitze ich da nach der Schule und lese oder so.«
»Und am Abend? Was hat der Garten nachts zu bieten, wenn hier niemand sitzt und dir ein Glas Rosé anbietet?«
Sie grinste, eine kleine Zahnlücke kam zum Vorschein. Léa suchte nach einem Gefäß, das sie als Aschenbecher verwenden konnte. Auf der Stufe zum Garten stand eine Schale aus Terrakotta, die sie auf den Tisch stellte. Ein paar Spinnweben hingen noch dran.
»Sind Sie alleine hier?«
»Ja.«
»Das hat der Garten zu bieten.«
»Einsamkeit?«
Alice nickte kaum merklich, dann senkte sie den Blick und zog an ihrer Zigarette. Léa tat es ihr nach und nahm sich vor, das Ding spätestens nach dem dritten Zug auszudrücken.
»Du kommst hierher, um dich einsam zu fühlen? Oder du fühlst dich einsam und findest hier … was? Trost?«
Das Mädchen nahm einen tiefen Zug und sagte nichts.
»Früher war ich auch gerne alleine«, sagte Léa schließlich und wunderte sich darüber.
»Einzelkind?«
Léa musste lächeln.
»Das kenne ich. Also, so halb. Mein Bruder lebt in Paris, und deshalb fühlt es sich manchmal so an, als wäre ich Einzelkind. Und meine Eltern arbeiten beide. Dafür nerven mich meine Großeltern aber ständig.«
»Was machen deine Eltern?«
Alice’ Gesichtsausdruck veränderte sich. Als würde das, was Léa mit ihren Fragen geöffnet hatte, sich bereits wieder schließen. »Ihnen gehört ein Restaurant. In Èze.«
»Oh, wie heißt es?«
»Ich würd’s nicht empfehlen«, sagte Alice, und als Léa lachen musste, tat Alice es ihr nach. »Woher kommen Sie? Ich meine, leben Sie in Frankreich?«
»Hm, nein. Jetzt, wo ich hier sitze, frage ich mich, warum eigentlich nicht? Ich gefalle mir hier wesentlich besser.« Dann fügte sie hinzu: »Ich bin aus Deutschland. Deshalb ist mein Französisch so, wie sagt man? Etwas verstaubt.«
»Wie meinen Sie das? Dass Sie sich hier besser gefallen?«
Léa zuckte die Achseln. »Der Satz klang einfach gut in meinem Kopf. Ich weiß nicht genau, was ich damit meine.«
»Das glaube ich nicht.«
Sie begann, Alice zu mögen. »Was ich damit meine, ist …, dass ich hier in eine andere Rolle schlüpfen kann als zu Hause. In mehrere sogar. Für den Anfang bin ich erst mal stolze Hausbesitzerin.« Zurück zu dir, liebe Alice. »Und worüber denkst du so nach in diesem verlassenen Garten? Ich hab mich in deinem Alter immer mit meinem Tagebuch irgendwo verkrochen. Da hing sogar so ein albernes Schloss dran, und den Schlüssel trug ich an einem Band um den Hals.«
Das Mädchen sah sie direkt an. Im schummrigen Licht konnte Léa ihre Augenfarbe nicht erkennen. »Klingt bisschen lost«, sagte sie dann, ohne mit der Wimper zu zucken. »Aber ja, ich schreibe auch.«
Volltreffer. »Was denn?«
Sie zuckte die Achseln, eher nachlässig cool als abweisend. »Dies und das.«
»Von mir aus kannst du dafür in den Garten kommen, wann immer du willst. Aber nachts … ganz alleine … das beunruhigt mich ein bisschen.«
»Wie kann Sie das beunruhigen? Wir kennen uns doch gar nicht.«
»Wir kennen uns doch jetzt«, antwortete Léa. »Außerdem kann mich auch das Leben von Fremden beunruhigen, oder nicht?«
Alice überlegte. »Ja, ich denke schon. Aber was meinen Sie denn damit?«
Wie machte sie ihr das klar, ohne wie ihre Eltern zu klingen? Sie versuchte, den Ball zurückzuspielen. »Fühlst du dich denn sicher?«
»Sie meinen … als Frau? Denke schon. Hier passiert nichts.«
Das sagten alle überall.
»Bist du noch verabredet?«
Ein zögerliches Ja, doch Léa vermutete, dass sie ihre Nachfragen nur abschütteln wollte.
»Okay.« Léa drückte die Zigarette aus und trank ihr Glas leer. Es war seltsam: Sie war hergekommen, um Ruhe zu finden, die Stille des Gartens zu genießen, und dann schlich sich dieses Mädchen ein, und Léa hoffte, dass sie noch ein wenig blieb. Nach einer Weile nicht unangenehmer Stille fragte Alice: »Was arbeiten Sie?«
»Mir gehört ein Café. La Parisienne heißt es.«
»Warum?«
»Weil mein Großvater Franzose war und ich dadurch einen Hang zur Patisserie habe. Wie der kreative Name vermuten lässt, bin ich auf französisches Gebäck und Süßes spezialisiert.«
»Cool. Was können Sie am besten?«
Léa zog ein Bein zu sich heran auf den Stuhl. »Ich glaube, meine Pains au choc. Zumindest sagen das alle. Weil ich die Schokolade nicht hart werden lasse, sondern sie cremig bleibt.«
Alice lächelte. »Ich esse eigentlich keinen Zucker. Aber wenn ich in Paris bei meinem Bruder bin, gehe ich immer in die gleiche Patisserie im Marais. Da gibt’s die besten Mille-feuilles, weil die echte Vanilleschoten nehmen für die Creme.«
Sie schwiegen. Dann sagte Alice: »Die Gastro ist harte Arbeit. Ich hab das Gefühl, die meisten erfüllen sich einen Traum damit und verlieren sich dann total oder übernehmen sich.«
Sehr wahrscheinlich meinte sie damit ihre Eltern, dachte Léa. »Es kann gut funktionieren, wenn’s nicht dein Traum ist. Dann verklärst du es nicht romantisch, sondern weißt von Anfang an, dass es ein echt anstrengender Beruf ist.«
Alice zog eine Augenbraue hoch. »Das heißt ja, dass Ihr Café nur ein Job ist.«
»Na ja, ich liebe Backen, und ich mag die Atmosphäre, die Menschen. Den Rest bräuchte ich nicht … Buchhaltung, Abrechnungen, Logistik, das ganze Zeug.«
Auf Alice’ Gesicht machte sich ganz langsam ein Grinsen breit, als wenn sie einen Gedanken formte, der sie bereits amüsierte. »Was war Ihre seltsamste Begegnung? Sie haben bestimmt auch viele komische Gäste, oder?«
»Ist das für eine Geschichte, die du schreibst?«
»Vielleicht«, lachte Alice.
Léa überlegte. »Ich hatte mal einen Gast, der eine Weile jeden Morgen für einen doppelten Espresso kam. Um die Zeit ist noch wenig los – die meisten nehmen sich nur einen Kaffee für den Weg zur Arbeit mit – also hat er mir seine halbe Lebensgeschichte erzählt. Er war schon ein paarmal im Gefängnis, damals aber wieder draußen auf Bewährung.«
Alice zündete sich eine zweite Zigarette an. »Was hat er gemacht?«
»Kleinere Sachen«, sagte Léa. »Diebstahl vor allem. Bisschen Drogen. Und einmal hat er so einen richtigen Monolog gehalten, der ging ungefähr so.« Sie stellte ihr Bein auf den Boden ab und richtete sich auf: »›Also, mal ganz unabhängig davon, ob ich den Knast jedes Mal verdient habe, ja: Ist es nicht vollkommen irre, wie sich alles weiterdreht, also jeder Scheiß einfach weitergeht, aber mein Leben stehen bleibt?‹« Léa lachte, weil sie sich daran erinnerte, wie sie sich gefragt hatte, ob jetzt die große Lebenserkenntnis kommen würde. »›Ich sitze bald wieder, Léa, ich weiß es einfach. Und trotzdem schaltet die Ampel da auf Grün, und die Sonne scheint wie so ein kleines Arschloch, und Sie, Léa, Sie sind bestimmt heute Abend verabredet in irgendeiner kuscheligen Bar. Alles kleine, feine Leben mit hübschen Verabredungen. Aber der Welt bist du egal. Die dreht sich weiter, mit dir oder ohne dich. Und ich weiß einfach nicht, ob ich das gut finde. Wer zu lange still steht, ja? Der wird vergessen. Die Welt vergisst ihn einfach, und niemand schert sich. Zack, weg. Das ist brutal, aber wie’s überall so ist, liegt da ja auch was Schönes drin, ja? In dieser Brutalität. Oder, Léa?‹« Als sie fertig war, lehnte sie sich zurück. »So in etwa.«
Sie hatte ewig nicht mehr an ihn gedacht. Kurz danach war er das letzte Mal gekommen, weshalb sie vermutete, dass er wirklich wieder im Gefängnis war. Insgeheim jedoch hoffte sie, er war nur umgezogen.
»Der Welt bist du egal«, wiederholte Alice. »Glauben Sie das?«
»Ich glaube, dass er’s geglaubt hat.«
»Ja«, sagte sie. »Ich auch.«
Nach einer Weile fragte Alice, ob sie sich das Haus einmal ansehen dürfe. »Ich kenne es schon so lange von außen, aber die Fensterläden waren immer geschlossen. Hab mich schon oft gefragt, ob es innen genauso schön ist.«
»Nur zu.«
Alice stand auf, Léa blieb sitzen, weil sie ihr nicht das Gefühl geben wollte, ihr wie eine Aufsichtsperson von Zimmer zu Zimmer zu folgen. Stattdessen schenkte sie sich nach und streckte sich. Als sie hörte, dass das Mädchen wieder zurück in der Küche war, rief sie: »Es ist in die Jahre gekommen, wie du siehst. Früher war es schöner. Aber Charme hat es noch.«
Alice trat zurück auf die Veranda und lehnte sich an die Steinfassade. »Ich liebe es.« Sie sagte es ohne Lächeln, ohne Sentimentalität, ohne Verlangen.
Léa zog mit einem Fuß ihren Stuhl heran und legte die Beine ab. »Ich bin heute erst angekommen und bleibe den Sommer über. Zumindest ist das der Plan. Du kannst vorbeikommen, wenn du deine Einsamkeit suchst. Oder einsame Zweisamkeit. Ich mache dir Mille-feuille.«
Sie lächelte. »Aber die beliebten Pains au chocolat wären mir fast lieber.«
»Abgemacht. Morgen Nachmittag?«
Alice nickte. »Ich mag Ihr Tattoo. Das mit dem Halbmond und dem Croissant. Clever.« Léa drehte ihren Unterarm nach oben und strich über die Stelle. »Wie viele haben Sie insgesamt?«
»Drei. Inklusive einer Jugendsünde, die ich gerade entfernen lasse.«
Das Mädchen griff nach der Schachtel Zigaretten und verstaute sie wieder in der Bauchtasche. »Man kann Ihren Mond und die Sterne heute gut sehen«, sagte sie. Und dann: »À demain.« Bis morgen. Sie lief in die Richtung, aus der sie gekommen war.
»Alice?«
Sie drehte sich um.
»Viel Spaß. Mit deiner Verabredung, meine ich.«
Das Mädchen sagte nichts. Dann ging sie weiter und verschwand aus Léas Sichtfeld. Kurz darauf hörte sie das ihr nun vertraute Rascheln. Und dann nichts mehr.
Alice hatte eine kleine Lücke hinterlassen. Das war nicht dramatisch, und doch spürte Léa die Abwesenheit einer Person, die noch greifbar schien, weil ihr Glas noch auf dem Tisch stand. Ein letzter Schluck darin, den auch sie immer zurückließ, einfach so.
Wenn Léa die Schablonen anderer Leben über ihres legte, die Ränder abfuhr, sich auf die Stellen fokussierte, die überstanden waren oder die, an denen etwas fehlte, kam sie ins Grübeln. Nur wer bestimmte, dass etwas fehlte? Oder jemand. Toni und sie hatten immer wieder darüber geredet, ein Kind zu bekommen. Léa wäre diejenige gewesen, die es ausgetragen hätte, denn Toni war vor wenigen Jahren aufgrund ihrer Endometriose die Gebärmutter entfernt worden. Und auch wenn Léa sich kein Leben ohne Toni hätte vorstellen können, konnte sie sich ein Leben ohne Kind vorstellen. Was für Léa eine Frage darstellte, deren Antwort sie immer tiefer in die Zukunft hineinschob, wurde für Toni eine Angelegenheit, die nicht verhandelbar war. Brigitte sagte immer zu ihrer Tochter: »Du bist das Beste, was mir je passiert ist, aber wärst du nicht einfach passiert, hätte ich wahrscheinlich kein Kind bekommen.« Das hatte Léa nie getroffen, stattdessen hatte sie es tief in sich drin verstanden und ihre Liebe, ihre Ehrfurcht vor dem Mut der Mutter nur noch verstärkt. Und doch ging natürlich auch an Léa der Fruchtbarkeitskelch der Gesellschaft nicht vorüber. Der mit der Aufschrift Jetzt oder nie: Du musst dich entscheiden.
Musste sie? Solche Fragen lösten also Gespräche mit melancholischen Teenagern aus, denn auch wenn Léa sich viel zu jung fühlte, um Alice’ Mutter sein zu können, könnte sie die Mutter von irgendwem sein. Stattdessen spürte sie sich jedoch viel zu oft eher zu einer gewissen Jugendlichkeit hingezogen als zu der Entscheidung, Verantwortung für ein anderes Leben zu übernehmen. Viel lieber wäre sie mit Alice auf eine Party gegangen, aber nicht als Aufsichtsperson, sondern um herauszufinden, welcher Tiktok-Trend morgen auf Instagram landen würde.
Aber natürlich war das nur die halbe Wahrheit. Denn irgendwann war sie schließlich erwachsen geworden. Das war auch einfach so passiert. Vielleicht wurden genau deshalb so viele Menschen in ihrem Alter vom eigenen Alter überrascht. Man wachte eines Morgens auf und war plötzlich erwachsen, anstatt dieses Lebensstadium erst mal ausprobieren und dann langsam hineinwachsen zu können. Das wurde einem zwar vorgegaukelt, doch in Wahrheit hatte sie ganz plötzlich eine eiskalte Hand im Nacken gespürt, die flüsterte: Du musst dich sofort (gestern!) um deine Altersvorsorge kümmern (gerade als Frau!?)!
Das Grübeln half nichts. Sie legte noch einmal den Kopf in den Nacken. Alice hatte recht. Ein Himmel voller Sterne, die Mondsichel hing schwerelos zwischen ihnen. Alles leuchtete, und nach einer Weile verglühten auch ihre Gedanken.
Barfuß lief sie über den kühlen Marmorboden des Foyers in die Küche. Für einen Moment sah sie ihre Mutter dort stehen, wie sie warmes Gebäck aus der Tüte nahm und in einer flachen Porzellanschale anrichtete, während Claire sich einen Espresso aus der Cafetiere eingoss.
Doch da war niemand. Die Küche leer, die weißen Spiegelfliesen blank geputzt, neben dem gekippten Fenster über der Spüle klimperte ein Windspiel aus blauen Mosaiken. Sie kochte sich Kaffee und ging mit der heißen Tasse nach draußen in den Garten. Das kurze Gras, stachelig und warm. Léa setzte sich auf den Rand des Pools und ließ die Füße hineinbaumeln. Ihr Magen knurrte laut. Seit ihrer Ankunft hatte sie nicht mehr gegessen als das Gebäck am Morgen und ein bisschen von dem Käse und den Oliven, die Claire in den Kühlschrank gelegt hatte. Jetzt war es kurz nach zehn und auch wenn sie am Abend noch lange wach gelegen hatte, fühlte sie sich ausgeschlafen. Beinahe erholt. Der Kaffee schmeckte stark und fremd, anders als der von Claire tags zuvor. Als sich der erste Schweißfilm auf ihrer Oberlippe zeigte, stand sie wieder auf und ging zurück in ihr Zimmer. Der offene Rucksack lag anklagend auf dem Boden. Sie griff zu ihrem Handy, entschied sich für eine Playlist mit französischen Klassikern auf Spotify, um sich so richtig im Frankreichgefühl zu baden. Dann begann sie auszupacken, doch als Charles Trenet von La Mer sang, gab sie einen Würgelaut von sich und wechselte zu ihrer eigenen Musikbibliothek. Sie klickte, wie schon immer, wenn sie sich alleine fühlte, auf Your Song und sang in Gedanken mit Elton John, ließ sich halten von den Zeilen, ohne es zu bemerken. Ihre Existenz war vollkommen mit diesem Stück verknotet: Als sie drei Monate alt war, hatte sie es hier in der Küche zum allerersten Mal gehört.
Léa zog sich ein zerknittertes Leinenkleid an und ging ins Bad. Sie durchwirbelte ihren beinahe herausgewachsenen Pony, trug Sonnencreme auf und machte sich frisch. Dann suchte sie in ihrem Gepäck nach einem Hut, um die zehn Minuten Fußweg zur nächsten Bushaltestelle auf sich zu nehmen.
Obwohl sie wusste, dass die Buslinie im Zwanzig-Minuten-Takt fuhr, weil sie den Bahnhof an der Küste mit Èze verband, war es angenehm, mitten im Nirgendwo so zuverlässig abgeholt zu werden. Léa stieg ein und setzte sich, die Klimaanlage war etwas zu kühl eingestellt. Außer dem Fahrer und ihr war sonst niemand im Bus, vermutlich weil die nächste Station auch die letzte war, nämlich Saint Martin. Das erste Dorf auf der Ebene, die sich nach der Klippe anschloss, es lag umgeben von Olivenhainen und Pinienwäldern. Dass es gänzlich vom Tourismus abgeschnitten war, stimmte schon lange nicht mehr, die Menschen verliefen sich hierher auf dem Weg ins Hinterland oder einfach, um etwas zu entdecken, das nicht in jedem Reiseführer gelistet war. Man konnte in Saint Martin, wie Léa es in Erinnerung hatte, einen Espresso unter einer Weinlaube trinken und sich entspannt mit dem Kellner unterhalten, anstatt sich mit den Massen durch Èze zu schieben und vergeblich französisches Leben suchen. Viel mehr als überbordender Genuss und eine ausschweifende Langsamkeit gab es hier nicht, doch was suchte man anderes, wenn man es bis hierhingeschafft hatte?
Mehrere steile Serpentinen später hielt der Bus am Marktplatz, und Léa stieg aus. Als die Sonne hinter einer großen Wolke verschwand, schob sie ihre Brille ins Haar und überquerte die Straße. Sie lief auf eine Patisserie zu, an die sie sich noch erinnern konnte, auch wenn sie in den letzten Jahren sicherlich renoviert worden war. Die Markise strahlte in einem frischen Gelb, und beim Betreten fiel ihr auf, dass die weißen Plastikstühle von damals durch welche aus schwarz lackiertem Holz ersetzt worden waren. Nicht unbedingt schöner, aber jemandem lag wohl etwas an der Umgestaltung. Vielleicht dem Mann mit den Geheimratsecken und der Schürze, der hinter dem Tresen stand und sie emotionslos begrüßte. Léa warf einen Blick in die Auslage und entschied sich für ein Baguette mit Brie und einen frisch gepressten Saft. Auf der kleinen Terrasse vor der Patisserie blickte man direkt auf den Marktplatz, der seinem Namen nicht gerecht wurde, weil absolut nichts los war. Auf den drei klobigen Bänken aus Beton, die so zusammenstanden, dass man sich gegenübersitzen konnte, saß niemand. Der dünne Strahl des Trinkwasserbrunnens daneben plätscherte in sein Auffangbecken. Bonjour Tristesse, dachte sie und erinnerte sich daran, wie sie das Buch als Jugendliche gelesen hatte, im Garten unter den Korkeichen, gelangweilt von allem, außer von diesem Roman.
Hinter dem Bus glaubte sie, einen Supermarkt auszumachen. Sie holte ihr Handy heraus und tippte eine Einkaufsliste, als ihr einfiel, dass sie für Alice Pain au chocolat backen wollte. Sie bezweifelte allerdings, dass sie dort eine hochwertige Schokolade bekam, an Bio oder Fair Trade wollte sie gar nicht denken. Als sie aufblickte, kam der Fahrer des Busses auf die Terrasse zu und setzte sich direkt an den kleinen Tisch neben sie. Im selben Moment trat der Mann mit der Schürze nach draußen. Auf einem Silbertablett brachte er das Baguette und den Saft, danach stellte er dem Busfahrer einen Espresso auf den Tisch und setzte sich zu ihm. Kurz saßen beide schweigend da, dann unterhielten sie sich mit gedämpften Stimmen. Sie machten den Eindruck, sich ganz gut zu kennen. Léa biss in das Baguette, und der Brie zerschmolz ihr auf der Zunge. Immer öfter flog ein Halbsatz der Männer zu ihr herüber. »… gibt’s doch gar nicht und wie geht’s denn jetzt weiter?«,konnte sie heraushören und dann ein: »Weißt du denn nicht mehr?«
Léa speicherte ihre Einkaufsliste ab, tat aber so, als sei sie weiterhin in ihr Handy vertieft. Doch jetzt hörte sie ganz genau hin. »Nein«, sagte der andere. »Julien und Simone haben einen Schock, die sind im Krankenhaus oder irgendwo … ach, keine Ahnung. Nicht zu Hause. Wir wissen ja nicht mal, ob es …« In dem Moment klingelte das Handy des Busfahrers. Er drückte den Anruf weg.
»Egal«, sagte der Mann mit der Schürze dann. »Spekulieren hilft nicht.« Er rieb sich mit der flachen Hand über die grauen Haarstoppel, dann stieß er einen tiefen Seufzer aus, der Léa unruhig werden ließ.
»Wie alt ist sie gleich noch mal? Siebzehn?«
Stille.
Mit einer leisen Wucht, als wäre es sein allerletzter Satz, sagte er: »Alice ist gerade erst sechzehn geworden.« Und dann: »Ein Kind.«
Léa sah auf. Erst als ihr Blick auf den des Busfahrers traf, merkte sie, dass ihr Mund voll war mit einer Masse, die sie plötzlich als ekelhaft empfand. Sie zwang sich, alles hinunterzuschlucken und griff nach dem Saft. Ihre Finger zitterten. Sie trank einen Schluck und traf ihre Entscheidung.
»Je suis désolée«, sagte sie und stand von ihrem Platz auf, »ich habe einen Teil Ihrer Konversation gehört. Es geht um ein Mädchen namens Alice?«
Die beiden Männer tauschten Blicke. »Kennen Sie sie?«, fragte der mit der Schürze.
Léa stopfte ihre Hände in die Taschen des Kleides. »Ich bin mir nicht sicher. Gestern Abend habe ich eine Alice getroffen. Teenager, hellbraunes Haar bis auf die Schultern. Kleine Zahnlücke. Trug eine Bauchtasche mit Strass. Rauchte.« Der Busfahrer fuhr sich über den Mund und blickte in die Ferne. Anscheinend wollte er die Antwort seinem Freund überlassen.
»Mein Großvater war Thierry Aury, seine Frau hieß Marianne. Meiner Familie gehört das Haus an der Steilküste. Richtung Èze.«
Er schien das Grundstück zu kennen. Das war gut, denn Léa befürchtete, dass er einer vollkommen Fremden nichts erzählen würde.
»Alice kam gestern Abend in den Garten. Sie stand plötzlich einfach vor mir. Wir unterhielten uns eine Weile, dann ist sie wieder gegangen, so gegen elf. Meinte, sie sei noch verabredet.«
Der Mann mit der Schürze schüttelte den Kopf. Es sah nicht danach aus, dass er Léa nicht glaubte, sondern dass er das, was ihn beschäftigte, nicht glauben konnte.
Dann fragte sie geradeheraus. »Ist ihr was passiert?«
Der Busfahrer stand auf, murmelte eine Verabschiedung und ging. Léa überlegte, sich zu setzen, tat es aber nicht.
Der andere lehnte sich zurück, fixierte etwas in der Ferne, und dann schimmerten seine Augen. »Alice ist meine Nichte. Sie liegt auf der Intensivstation.« Dann sah er sie an. »Ich weiß nicht, was passiert ist.«
Der Welt bist du egal. Immer wieder dachte sie diesen Satz. Sie dachte ihn so, wie Alice ihn ausgesprochen hatte – sanft, nachdenklich, ohne Fragezeichen –, und bog mit einem Rucksack voller Lebensmittel von der Küstenstraße auf die Schotterpiste in Richtung Villa.
Den Mann mit der Schürze hatte sie um ein Foto von Alice gebeten. Einen Moment später war sie beim Blick auf sein Handy von einem Mädchen im Schneidersitz angelächelt worden. Seine Nichte. Da war sie, die Unbekannte aus dem Garten.
Léa stellte den Rucksack auf der Kücheninsel ab und hielt inne. Wie in Trance war sie durch den kleinen Supermarkt gelaufen und hatte nach dunkler Schokolade gesucht, die sie gar nicht brauchte. Stattdessen waren dann Äpfel, Tapenade, Burrata, Trauben, Sardellen, Marmelade und ein frisches Sauerteigbrot in den Korb gewandert. Sie riss die Packung mit dem Buttergebäck auf, steckte sich einen Keks in den Mund und hoffte, dass er sie weg von Alice und hin zu den schönsten Sommermomenten ihrer Kindheit tragen würde. Auch wenn sich ihre Sinne sofort an den buttrig-staubigen Geschmack erinnerten, mochte sie das Gebäck nicht mehr so sehr wie früher, wenn sie es am Strand verschlungen hatte, ehe sie im Halbschatten eingeschlafen war. Sie stand nur da, kaute, und wünschte sich, dass Alice überlebte. Ein Wunsch, der sich so grundfalsch anfühlte, weil Alice doch lebendig sein musste, weil ihr junges Leben doch an so vielem hing, aber nicht am seidenen Faden.
Seit ihrer Ankunft hatte Léa ihrer Mutter nur eine kurze Nachricht geschrieben, dass alles geklappt und Claire sie herzlich empfangen hatte. Brigitte war immer noch die erste Person, der sie etwas erzählte, wenn sie überhaupt etwas teilte. Allerdings wollte sie Brigitte nicht unnötig verunsichern und im Umkehrschluss eine Motivationsrede kassieren, in der es darum ging, dass Léa einfach mal entspannen sollte. Schließlich wählte sie die Nummer, die am Kühlschrank auf einem Post-it notiert war. Nach wenigen Sekunden sagte sie: »Claire, wissen Sie, wie man den Pool in Schuss bringt?«
Eine Stunde später saßen beide auf der Veranda über Léas Handy gebeugt und sahen sich ein YouTube-Video mit dem vielversprechenden Titel »Pool warten in zehn einfachen Schritten« an. Léa wurde langsam hibbelig und wollte loslegen, doch Claire schrieb jeden Punkt sorgfältig in ein aufgeschlagenes Heft. Als das Video zu Ende war, wirkte sie peinlich berührt und sagte: »Wissen Sie, ich hatte nie einen Pool. Ich bin in der Altstadt von Saint Martin aufgewachsen, in bescheidenen Verhältnissen. Und dann habe ich einen Bauern geheiratet und mein halbes Leben auf seinem Hof gelebt, bei Tourrette.«
Léa nickte. »Und was ist mit dem hier eigentlich passiert?«
Claire drehte sich auf ihrem Stuhl und schaute auf das trocken gelegte Becken. »Ich weiß gar nicht, wann er zuletzt genutzt wurde. Sie wissen ja, was Ihre Mutter immer sagt.«
Léa richtete sich auf und verstellte ihre Stimme, auch wenn sie nicht im Ansatz so klang wie die ihrer Mutter, heller und wärmer als ihre eigene: »›Wer braucht einen Pool, wenn das Meer zu Füßen liegt?‹«
Claire lachte, und ihr Gesicht glättete sich für einen Moment, als würde eine ganz sanfte Erinnerung sich über ihre Züge legen. Dann spürte sie Léas Blick, stand auf und sagte: »Los geht’s!«
In Claires altem Peugeot hing der Geruch von kaltem Zigarettenrauch, wofür sie sich entschuldigte. Sie ließ die Fenster herunter, schob den Geruch auf ihren Mann, der, wie sie Léa im selben Atemzug erklärte, vor fünf Jahren gestorben war, und zündete sich eine Zigarette an. Ihr Ziel war ein Geschäft für Garten- und Poolzubehör in Nizza, Léa überflog noch einmal die Liste an Dingen, die sie benötigten, dann steckte sie sie in ihre Handtasche.
Claire bremste vor keiner Kurve ab, und mit jeder Serpentine beeindruckte ihre Fahrkunst Léa noch mehr. Sie glitten den Berg hinab wie flüssiges Karamell, das Auto wurde kaum schneller oder langsamer, wahrscheinlich hätte sie die Strecke mit geschlossenen Augen fahren können. Léa streckte den Kopf aus dem Fenster, der warme Wind strich über ihr Gesicht hinweg, und die Meeresoberfläche glitzerte in der Mittagssonne, als müsste sie sich selbst ihre Schönheit beweisen. Sie seufzte laut, merkte es allerdings erst, als Claire es kommentierte: »Endlich durchatmen, was? Sie arbeiten zu viel, das hat mir Ihre Mutter schon mal erzählt.«
»Das Problem mit der Gastro. Aber jetzt steht erst mal Schwimmen und Sonnen auf dem Programm.«
Claire schaltete einen Gang hoch und zog an ihrer Zigarette. Léa beobachtete sie einen Moment. Sie hatte etwas an sich, das ihre Aufmerksamkeit verlangte. So viel Jugendlichkeit steckte in dieser Mittfünfzigerin: Wie ihr linker Arm auf dem Rand des Fensters ruhte, der Wind ihr offenes Haar zerzauste. Léa dachte an ihre Mutter, die immer einen Kamm in der Handtasche mit sich trug und ein Haarband, mit dem sie ihr riesiges Volumen zu bändigen versuchte. Dann richtete Léa den Blick auf die schmale Straße vor sich und kramte in ihrem Gedächtnis nach späteren Erinnerungen an Claire als die aus Kindheitstagen – doch sie musste feststellen, dass sie diese fröhliche, hilfsbereite Frau in Frankreich zurückgelassen hatte. Wie alles andere, als sie das letzte Mal abgereist war.
Selten hatte sie bei ihrer Mutter nachgefragt, wie es ihrer alten Freundin ging, was sie so machte. Léa wusste, dass sie keine Kinder hatte und dass ihr Mann recht überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war. Als Brigitte die Nachricht erhalten hatte, war sie wenige Tage später ins Flugzeug gestiegen, Léa jedoch hatte nur ihr Beileid ausrichten lassen. Jetzt, mit dieser neu aufkeimenden Vertrautheit zwischen ihnen, kroch ihr die Scham in die Wangen. »Noch mal danke für alles«, sagte sie. »Für das Essen im Kühlschrank und dass Sie jetzt mit mir nach Nizza fahren.«
»Ach was. Ich hab Ihre Windeln gewechselt und nicht nur einmal! Außerdem habe ich viel Zeit. Und bevor Sie sich weiter bedanken, sind Sie heute Abend zum Essen eingeladen.«
Léa überlegte einen Moment. »Wie wäre es, wenn wir uns das gegenseitige Einladen sparen und wir einfach bei mir zusammen essen? Um den Pool können wir uns sowieso erst kümmern, wenn die Sonne tief steht.«
Claire sagte: »Einverstanden. Dann machen wir das auf die deutsche Art.« Sie schlug vor, auf dem Markt Zucchiniblüten zu kaufen, als Nizza sich plötzlich vor ihnen ausstreckte, eine endlose Anzahl an braunen Häuserdächern, wesentlich unspektakulärer und langweiliger als die Stadt selbst, wenn man sich mittendrin befand.
Der Verkäufer in dem Laden für Gartenzubehör erklärte Léa stoisch jeden einzelnen Punkt für die Inbetriebnahme des Pools, was sie anfangs abkürzen wollte, sich dann jedoch anhörte. Als er fertig war, drückte er ihr alles in die Hand, was sie im Schuppen neben der Villa gar nicht oder kaputt gefunden hatte: eine Poolbürste, vier Säcke Salz für die Anlage, Teststreifen, um den pH-Wert zu nehmen, und Chlortabletten. Am Ende bot er an, die Inbetriebnahme selbst durchzuführen –, Claire und Léa lehnten wie aus einem Mund ab, was der Verkäufer unkommentiert hinnahm.
Dann fuhren sie ein paar Straßen weiter und parkten in der Nähe des Marché de la Libération, über den sie als Jugendliche immer recht gelangweilt geschlendert war, einzig, um eine Melone für den Strandtag zu kaufen. Zwei Honigmelonen packte sie auch diesmal in ihre Tasche, doch die unterschiedlichen Gerüche zogen sie an die Stände und ließen sie endlich Alice und das Gespräch am Vormittag vollkommen vergessen. Claire suchte Gariguettes und frischen Basilikum für einen Nachtisch, den sie unbedingt machen wollte, Léa einen Pélardon – ein würziger Weichkäse, den es in den beiden Supermärkten nahe ihrer Wohnung in München nicht gab. In einer Weinhandlung zwei Straßen weiter wurde ihnen zu dem Ziegenkäse der passende Weißwein angeboten, ein Côtes du Roussillon, und mit diesen Einkäufen fuhren sie direkt nach Hause, eine sich über der Küste absenkende Sonne im Rücken.
Léa zog sich um, stieg in das leere Becken und schrubbte die Fliesen mit einem Kalkreiniger. Nach fünf Minuten war sie schweißgebadet, aber die Arbeit fühlte sich gut an. Und spätestens morgen oder übermorgen würde sie dafür entschädigt werden, vor sich hin treibend im kühlen Wasser, gleißende Helligkeit hinter geschlossenen Augen, ein eiskalter Drink am Beckenrand und die Frage im Kopf, was sie wohl als Nächstes essen würde.
Claire kam nach draußen mit einer Karaffe Wasser und zwei Gläsern. Sie rollte ihre Hosenbeine bis übers Knie und zog ihr T-Shirt aus, unter dem sie ein Top mit dünnen Trägern trug. Ihre Schultern und das Dekolleté waren gesprenkelt mit rostfarbenen Sommersprossen.
»Was kann ich tun?«, fragte sie, und Léa reichte ihr die zweite Bürste, die sie im Schuppen gefunden hatte. Während sie die Fliesen und den Beckenrand säuberten, unterhielten sie sich über den selbst für Südfrankreich unverhältnismäßig heißen Sommer. Léa teilte ein paar ihrer Erinnerungen an längst vergangene Tage auf diesem Grundstück und fischte nach möglichen gemeinsamen – sie hoffte, dass Claire vielleicht die Lücken füllen konnte, denen Léas Teenager-Ich aus Nachlässigkeit keine Bedeutung geschenkt hatte.
»Ich mochte schon immer den Gedanken, Tante zu sein oder Kinder gemeinsam großzuziehen. Nicht dass ich das bei Ihnen gemacht hätte, aber wenn Sie den Sommer über hier waren, dann hat mir das immer sehr gefallen. Vor allem als Sie ganz klein waren und Brigitte auch mal einen Moment für sich gebraucht hat.« Es gefiel Léa, dass Claire den Namen ihrer Mutter französisch aussprach, allerdings musste sie dann immer an Brigitte Bardot denken, die sie nicht mochte.
»Sie haben also manchmal auf mich aufgepasst, als ich ein Baby war?«
»Ja«, sagte Claire, »sehr oft sogar. Es braucht ja, wie man so schön sagt, ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. In Deutschland machte das, glaube ich, Ihre Großmutter. In den Sommermonaten hier habe ich dann zusätzlich ausgeholfen.«
Léa strich sich mit dem Unterarm über die heiße Stirn. Es fühlte sich schön an, jetzt mit fünfunddreißig noch mal daran erinnert zu werden, dass ihre Mutter hier aufgefangen worden war.
Als sie mit der Reinigung fertig waren, war auch die Sonne hinter dem Berg verschwunden. Das grelle Licht des Tages verwusch sich nun in weiche Goldtöne. Claire hievte sich aus dem Becken und seufzte.
»Machen Sie ruhig eine Pause, ich schaffe den Rest für heute alleine«, meinte Léa, und Claire widersprach nicht. Sie sagte, dass sie duschen und sich danach um das Abendessen kümmern würde, was Léa recht war, weil sie sich lieber des Pools annahm, als Claire zu gestehen, dass sie weder gerne kochte, noch besonders gut darin war.