Mein Jatagan - Miriam Margraf - E-Book

Mein Jatagan E-Book

Miriam Margraf

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Beschreibung

Nichts wünscht sich Lea sehnlicher als ein eigenes Pferd! Die Zwölfjährige sitzt schon fest im Sattel. Das Reiten hat sie bei ihrer Mutter Sophie gelernt. Jede freie Minute verbringen Mutter und Tochter im idyllischen Erlenbruch am Stadtrand. Dort besitzt Sophies Freundin Lilly ein kleines Häuschen mit einem Garten und einer Pferdekoppel. Auf der Suche nach einem geeigneten Pony für Lea stoßen Sophie und Lilly bei einem Pferdehändler auf Jatagan. Sie erfahren, dass der schöne Araberhengst mit dem aggressiven Gebaren offensichtlich unverkäuflich ist: ein Verbrecher, der seinen Besitzer angegriffen hat und deshalb abgeschafft wurde. Nun steht er beim Händler und sieht einer ungewissen Zukunft entgegen … Zu Leas Entsetzen steht wenige Tage später anstelle eines Kinderponys der unberechenbare Araber auf einer Koppel im Erlenbruch. Sophie hat sich – aus Mitleid und von der Schönheit des Pferdes hingerissen – verleiten lassen, ihr Geld für Jatagan auszugeben. Gespräche mit Lillys Vater Julius, einem alten Pferdemann, helfen Lea, ihre Enttäuschung zu überwinden und Jatagan mit anderen Augen zu sehen. Plötzlich wird ihr klar, dass nur sie, ein Kind, ihm helfen kann. Sie beschließt, sein Vertrauen zu gewinnen ...

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Miriam Margraf

Mein Jatagan

Eine Pferdegeschichte

Inhaltsverzeichnis

Miriam Margraf

Mein Jatagan

Eine Pferdegeschichte

Teil 1

April

Miranda

Ein Pony? Ein Pony!

Kein guter Ort

Das Geheimnis

Jatagan

Von Hengsten und Wallachen

Annäherung

Rivalen

Auf Leben und Tod

Quirin

Neues, nichts Gutes

Böses Erwachen

Teil 2

Juni

Lilly

Keine Hoffnung

Die Flucht

Unterwegs

Die Ankunft

Zu Hause

Miriam Margraf

Mein Jatagan

Eine Pferdegeschichte

für Rahel (und Ramadan)

ISBN 978-3-739412-80-1

2. überarbeitete Auflage

© Bradamante Verlag, Berlin 2021

Umschlag: Miriam Margraf

Teil 1

April

Miranda

Endlich ist es Frühling! – Die Sonnenstrahlen kitzeln in der Nase. Der sanfte Wind trägt die abenteuerlichsten Düfte herüber, die Singvögel jubeln und zwitschern. Zu dieser Jahreszeit möchte Lea nirgendwo anders sein als im Erlenbruch. Hier gibt es einen schmalen Bachlauf, der sich durch eine Wiesenlandschaft windet. An seinem Ufer stehen silbrig schimmernde Weiden. Er führt zum Rand eines Mischwaldes, dessen Baumkronen jetzt in allen Schattierungen, in hellen Pastellfarben bis hin zu dunklem Tannengrün leuchten. Und dort, zwischen Bach und Wald steht, geduckt unter knorrigen alten Obstbäumen, die längst nicht mehr tragen, ein kleines Haus. Es wirkt etwas verwahrlost, aber das Dach ist dicht. Der Putz blättert von den Wänden, doch die Fensterscheiben sind blank, gerade so, als ob sein Besitzer immer nur Geld für das Nötigste hätte, um es nicht ganz verfallen zu lassen. Am Haus befindet sich eine Art Unterstand. Früher diente er wahrscheinlich als Geräteschuppen. Er wurde umfunktioniert zu einem einfachen Stall, der nach einer Seite hin offen ist. Seine Bewohner können frei entscheiden, ob sie sich drinnen oder draußen aufhalten wollen. Stall, Haus und Obstgarten sind weiträumig umfriedet mit einem Elektrozaun: billige Plastikpfähle, die man einfach in den Boden rammt, und vielfach geflicktes, geknotetes Weideband. Am anderen Ende dieser sehr provisorisch wirkenden Koppel gibt es noch einen ausrangierten Bauwagen, den man im Schatten des Waldes, aber noch auf dem Grundstück abgestellt hat. Tür und Fenster stehen offen und lassen die Frühlingsluft ein. Auf der Birkenbank davor, am selbst gezimmert Tisch, sitzt ein grauhaariger Mann mittleren Alters. Er blickt gebannt zur großen Wiese hinüber und schüttelt den Kopf.

Auf der Wiese, die sich weit ins Bruch hinein erstreckt, trabt ein braunes Pferd. Mal entfernt es sich so weit, dass es nur noch als bewegte Silhouette wahrnehmbar ist, mal kommt es bis zum Weidezaun herangelaufen. Dann erkennt der Mann auf der Birkenbank sogar die spitzen Gesichtszüge der kleinen Reiterin auf dem Pferderücken. Und die sind alles andere als entspannt. Lea reitet die elegante Vollblutstute ihrer Mutter – und stirbt beinahe vor Angst.

Aber das erkennt offenbar nur Julius, der Mann auf der Birkenbank, doch er mischt sich nicht ein. Die beiden jungen Frauen dagegen, die im Gras sitzen, an einen Weidenstamm gelehnt, plaudern fröhlich miteinander und blicken nur ab und an zu dem reitenden Kind hinüber, so, als sei alles in bester Ordnung. Ist es aber nicht. Bei jedem einzelnen der schwungvollen Trabtritte Mirandas krampft sich Leas Magen vor Angst zusammen. Daran können auch die mehrfach wiederholten Beschwichtigungen ihrer Mutter nichts ändern. „Du kennst Miranda doch. Denk einfach daran, wie du auf ihr reiten gelernt hast. Sie hat immer auf dich aufgepasst. Du kannst Miranda reiten, glaub mir nur!“

Lea möchte es ja gern glauben. Und für ihre Mutter Sophie und deren Freundin Lilly, die da am Rand der Wiese kauern, mag es auch ganz danach aussehen. Von unten betrachtet. Aber die beiden stecken schließlich nicht in Leas Haut. Leas Füße in den kurz geschnallten Steigbügeln berühren gerade einmal den unteren Rand des Sattelblatts. Kein Gedanke daran, dass sie an die Flanken des Pferdes heranreichen könnten, wohin die Schenkel eigentlich gehören. – Für ihre zwölf Jahre ist Lea etwas klein geraten. Und hier, auf Mirandas Rücken, hat sie einfach das Gefühl, diesem Pferd nicht gewachsen zu sein.

„Prima machst du das, Lea, weiter so!“, ruft ihr Sophie ermutigend zu.

Lea lenkt die Stute zu den beiden Frauen hinüber und pariert sie zum Stehen durch. Sie braucht mehr Kraft dazu, als jemals an der Longe oder auf dem begrenzten Reitplatz. „Genügt das für heute, Mama?“ Sie hofft, absteigen zu dürfen.

„Aber du hast doch gerade erst angefangen!“

„Du machst das wirklich toll!“, pflichtet Lilly ihrer Freundin bei.

Sophie schnalzt mit der Zunge, ein Signal, das Miranda auffordert, erneut anzutraben. „Nur ein paar Runden noch, wir wollen doch alle sehen, wie gut du mit Miranda zurechtkommst!“

Lea verbeißt sich eine Erwiderung. Wenn sie ihre Angst zeigt, wird Mama nur pampig. Das kennt sie schon. „Angst ist da, um überwunden zu werden.“ Solche Sprüche. Es stimmt, dass sie auf Miranda reiten gelernt hat. Aber das war etwas ganz anderes. Anfangs hatte Sophie sie an einer langen Laufleine, der Longe gehalten. Und später, als Lea in Schritt, Trab und Galopp sicher sitzen konnte, war sie Miranda auf dem Platz geritten. Miranda, ein ebenso intelligentes wie temperamentvolles Englisches Vollblut, wusste ganz genau, dass sie weder im eingezäunten Viereck noch an der Longe wirklich losrennen konnte. Und deshalb unternahm sie auch gar nicht erst den Versuch. Doch hier, auf der großen Wiese, wo sie mit ihren riesigen Nüstern den Frühlingswind förmlich einsaugt, ist das etwas ganz anderes. Lea spürt bei jedem ihrer explosiven Tritte Mirandas Drang loszustürmen. Es ist das erste Mal, dass sie die Stute auf freiem Feld, außerhalb der Bahn reitet. So sehr sie sich auch bemüht, den Gedanken daran zu verdrängen, fallen ihr dabei die Geschichten über die junge Stute Miranda ein. Ihre Mutter erzählt immer wieder aufs Neue.

Miranda war, kaum dreijährig, auf der Galopprennbahn ausgemustert worden: psychisch gestört, verängstigt, mit dem unbezähmbaren Drang vor allem und jedem davonzulaufen, insbesondere vor dem eigenen Reiter. Solche Pferde nennt man Durchgänger. Sie fallen grundlos in Panik und können so lange rennen, bis sie buchstäblich zu Tode erschöpft sind – falls sie nicht vorher von einem Lastkraftwagen erfasst werden.

Sophie half damals gelegentlich bei der Morgenarbeit im Rennstall aus. Als die zierliche Braune mit dem ängstlich rollenden Blick knapp zweijährig mit vier Schicksalsgefährten aus dem Gestüt eintraf, schloss Sophie sie sofort ins Herz. Und sah in der sonst so hübschen und liebenswerten Stute eine persönliche Herausforderung. Doch Miranda ging nur dreimal an den Start: Beim ersten Mal erschrak sie auf der Ziellinie plötzlich vor ihrem eigenen Schatten, brach im rechten Winkel aus, ließ zwei nachfolgende Pferde, denen sie in den Weg rannte, übereinander stürzen und kam dann selbst in der Hecke zu Fall. Beim zweiten Mal stieg sie aus Platzangst in der Startbox und begrub ihren Jockey unter sich, der nur wie durch ein Wunder keine schweren Verletzungen erlitt. Beim dritten Mal gelang es den Helfern trotz aller Mühen nicht, sie noch einmal zum Betreten der Startmaschine zu bewegen. Sie blieb stehen. Damals entschied der Trainer über ihr Aus: Das bedeutete entweder den Verkauf als Reitpferd oder Schlachtung. Doch wer wollte schon solch ein Reitpferd haben? – Das war der Augenblick, in dem Sophie ihr bescheidenes Sparkonto abräumte und mit ihrer langjährigen Freundin Lilly telefonierte. Lilly war seit Kurzem aus der Stadt aufs Land gezogen und hielt sich dort zwei eigene Pferde. Sie kamen überein, dass Sophie die Stute gegen nicht mehr als das Futtergeld und Arbeitsteilung bei Lilly unterbringen konnte.

Das ist vor elf Jahren gewesen. Deshalb weiß Lea nur aus Erzählungen davon. Diese aber kommen ihr jetzt siedend heiß in Erinnerung, als sie die unbändige Kraft spürt, die sich unter ihr entfaltet. Sie weiß nicht, wie lange Miranda die Gratwanderung zwischen Disziplin und Übermut noch mitmachen wird. Jetzt nähern sie sich wieder jener Stelle, wo zwischen den Weidenstämmen ein großer rötlicher Granitstein leuchtet. Jedes Mal, wenn sie daran vorbeikommen, beäugt Miranda diesen Fremdkörper im Gebüsch, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Dabei liegt er dort, solange Lea denken kann. Und ebenso lange ist Miranda stets ohne zu zögern daran vorbeigelaufen. Es ist ganz klar, sie sucht einen Anlass. Kurz vor dem Stein versteift sich die Stute. Lea muss sie mit Schnalzen und Schenkelklopfen weitertreiben. Miranda weicht seitwärts in Richtung Wiese aus und glotzt mit hoch aufgerichtetem Kopf zu dem Gegenstand ihrer künstlichen Aufregung hinüber. Und kaum haben sie die Stelle recht und schlecht passiert, tritt Miranda so kräftig unter, dass Lea fast rückwärts aus dem Sattel geschleudert wird. Mit aller Kraft zerrt sie am Zügel und entsinnt sich gerade noch, dass sie dabei mit dem Po fest am Sattel bleiben und gleich wieder lockerlassen muss. Anderenfalls würde sich Miranda erst recht gegen das Gebiss im Maul stemmen. In solch einem Kampf wäre Lea rettungslos unterlegen. Diesmal lässt sich Miranda noch einfangen und besänftigt ihre Tritte wieder. Obwohl es nicht heiß ist, stehen Lea Schweißperlen auf der Stirn. Keine Angst! Sophie hat gut reden.

Im Übrigen kann sich Lea ganz genau denken, weshalb ihre Mutter darauf bestanden hat, dass sie Miranda hier auf der Wiese reitet. – Sie will Lea, sich selbst und allen anderen – also Lilly und Julius – beweisen, dass Miranda inzwischen ein anderes Pferd geworden ist, eines, mit dem sogar die kleine Lea zurande kommt. Nicht um zu sagen: He, schaut mal her, was ich aus der bekloppten Galopper-Stute gemacht habe! – Das ist nicht Sophies Art. Sie freut sich vielmehr ganz für sich oder bei einem gewonnenen Distanzritt über Mirandas neues Vertrauen. – Nein der eigentliche Hintergrund ist nämlich, zu beweisen, dass Lea kein Pony braucht! So ist das! Seitdem Lea vor zwei Jahren mit dem Reiten angefangen hat und auch bald ziemlich geschickt darin wurde, gibt es für sie nur einen Wunsch: ein Pony – zu Weihnachten, zu Ostern, zum Geburtstag und wieder von vorn.

Zwar besitzt Lilly als Gesellschaft für ihr eigenes Reitpferd – einen schicken und ebenfalls etwas nervösen Traberwallach – ein Shetlandpony. Aber das ist so klein, dass Lea beim Reiten fast mitlaufen kann und störrischer als ein Esel. Mit einem Reitpony hat es so viel zu tun wie ein Dreirad mit einem Mountainbike.

Anfangs argumentierte Sophie noch mit den Kosten gegen ein Pony. Aber Julius – Lillys Vater, der jetzt auf der Birkenbank vorm Bauwagen sitzt – nahm ihr den Wind aus den Segeln: „Dir selbst gönnst du also das Feinste vom Feinen, ein Englisches Vollblut, und deine Tochter bekommt nicht einmal einen Roller!“

Und Lilly hat auch gleich in die Kerbe gehauen, indem sie hinzufügte: „Was würde dich ein Pony schon kosten, hier bei mir im Offenstall! Du zahlst doch keine Vollpension, sondern nur fürs Futter – und die Arbeit, naja, ein Pferd mehr oder weniger!“

Seitdem ist Sophie in Bezug auf das Pony mehr aufs Abwiegeln bedacht. „Mal sehen … Wenn du noch ein bisschen besser reiten kannst … Warum eigentlich ein Pony? Bald kommst du mit Miranda klar, dann kannst du wie ich mit Lilly zusammen ausreiten!“

„Ich will aber mit euch beiden zusammen ausreiten!“, hat Lea entgegnet, was ihrer Mutter nur ein genervtes Augenrollen entlockte.

Immerhin ist das Pony seitdem im Gespräch.

Mama ist einfach zu geizig, sagt sich Lea grimmig, wobei sie Miranda angstvoll, aber allmählich auch ein wenig wütend im Maul herumzerrt. Wenn es nicht so gefährlich wäre, würde sie Miranda jetzt den Kopf freigeben und sie einfach laufen lassen. „Da siehst du’s, Mama, sie macht mit mir, was sie will!“ – Aber schon bei Mirandas immer zügiger werdendem Trab hat Lea das Gefühl, mit einem Rennrad ohne Bremse einen Berg hinunterzufahren. Und wenn sie zum Boden hinabschaut, über den Mirandas Hufe so leicht wie Tennisbälle wirbeln, dann erscheint ihr die sichere Erde entsetzlich weit entfernt und sie so hoch hier oben.

Auf einmal ist sie richtig sauer auf ihre Mutter und auch auf Lilly. Wie sie da so unbeschwert am Rand der Wiese sitzen und sich lachend unterhalten können, während sie sich vor Angst fast in die Hosen macht! Genauso ist es, und das gäbe sie auch gerne zu, wenn sie nur endlich anhalten oder wieder am dem Viereck reiten dürfte.

Ein Vogel fliegt auf und Miranda springt zur Seite. Lea bleibt im Sattel, fängt die Stute wieder ein. Von Ferne hört sie Sophie und Lea applaudieren: „Gut gemacht, na bitte, du hast sie doch im Griff! – Eine letzte Runde noch!“

Und dann passiert es. Dieser vertrackte Granitbrocken, den Miranda schon die ganze Zeit anstiert, als wollte er sie anfallen! Wieder nimmt sie ihn zum Anlass, um zu Zögern und zu Schnauben. „Komm schon!“, schreit Lea sie unter Tränen an und knallt die Hacken in die Sattelblätter. Da schnellt Miranda beiseite, sodass ihre Hufe plötzlich mit einem fürchterlichen Krachen unkoordiniert aneinanderschlagen, und setzt zum Galopp an. Schon der erste Sprung ist so gewaltig, dass Lea einen Steigbügel verliert. Der Zügel entgleitet ihren Händen. Reflexartig krallt sie sich in der Sattelkammer fest. Sie wird auf dem Pferderücken hin und her geworfen wie eine Boje im Orkan. Der scharfe Gegenwind presst ihr die Tränen aus den Augen und tost um ihre Ohren. Die Weiden fliegen vorüber, in rasender Geschwindigkeit kommt der Waldrand näher. „Mama!“, schreit sie. Irgendjemand ruft etwas, vielleicht Sophie, sie versteht nur unzusammenhängende Fetzen. Jetzt der Wald, gleich ist alles vorbei, abspringen, fallen lassen – bei dieser Geschwindigkeit unmöglich. Doch kurz bevor Lea meint, im nächsten Augenblick im Geäst zu hängen, verlangsamt Miranda das Tempo und legt sich – immer noch viel zu schnell – in die Kurve. Für einen kurzen, grauenhaften Augenblick verlieren die Hufe auf dem rutschigen Gras den Halt, fast stürzt das Pferd, fängt sich wieder und rennt weiter. Lea wird auf den Hals und zurückgeschleudert, klammert sich jedoch weiter fest. Kaum hat Miranda die Gegenrichtung eingeschlagen, geht ein Ruck durch das Pferd, der es flacher erscheinen lässt, näher am Boden. Es streckt sich im Renngalopp. Die Bewegung, die anfangs dem Stampfen eines Frachters auf bewegter See glich, wird nun monotoner, rollt gleichsam unter Lea dahin. Da stehen Sophie und Lilly mit ausgebreiteten Armen am Rand der Wiese. Lächerlich – die Wiese ist so groß! Miranda stürmt einfach an ihnen vorbei. Lea kann nicht einmal mehr schreien. Wenn ich runterfalle, bin ich tot, denkt sie. Sie angelt nach dem verlorenen Steigbügel. Dort drüben fliegt der Elektrozaun auf sie zu. Wenn Miranda springt, falle ich runter, denkt Lea. Doch sie spürt schon, dass die Stute das Tempo wieder etwas zurücknimmt und abdrehen will. Genau in dem Moment, als sie sich in die Kurve legt, erhascht Leas Fuß den Steigbügel wieder. Auf der langen Seite der Wiese legt Miranda erneut an Tempo zu, aber Lea bekommt den Zügel zu fassen. Das Blut pulsiert in ihren Schläfen. Sie wird nicht herunterfallen, sie wird dieses Pferd zum Stehen bringen. Entschlossen drückt sie die Absätze nach unten, um sicher zu sitzen. Ihre Knie liegen fest am Sattel. Sie fasst den Zügel nach. Sie kann schließlich reiten. Jetzt steht sie im Sattel, balanciert ihren Schwerpunkt genau über dem Pferd und verlagert ihn dann intervallweise, mit leichtem Zug am Zügel nach hinten. Noch galoppiert Miranda mit hohem Kopf und steifem, unnachgiebigen Nacken. Doch in der nächsten Wendung, am Wald, wo sie ein wenig langsamer werden muss, um nicht zu stürzen, gelingt es Lea, den Kopf des Pferdes ein wenig herunterzuziehen, sodass die Nase in die Senkrechte kommt. Sofort fixiert sie den Pferdekopf in dieser Position, indem sie den einen Zügel über den Pferdehals zieht und sich mit aller Kraft darauf stemmt. Die andere Hand zieht und gibt nach. Parade für Parade – Annehmen und Nachgeben – fängt Lea die gewaltigen Galoppsprünge ein. Sie sieht jetzt weder Lilly noch Sophie, die durcheinander brüllen, konzentriert sich ganz auf das Pferd.

Auch Galopper werden auf Stimmkommandos geritten, fällt ihr ein. „Hoo-hopp, Miranda!“, ruft sie das Kommando. „Hoo-hopp!“ Aus dem Renngalopp ist ein schneller, doch allmählich kontrollierbarer Kanter geworden.

Als sie an den beiden aufgeregten Zuschauerinnen vorüberfliegt, schnappt sie diesmal den Fetzen eines Zurufs auf. „Kreis, Lea ... Zirkel bringen!“

Das ist es! Miranda ist jetzt langsam genug, um in immer enger werdenden Biegungen zu galoppieren. Runde für Runde verkleinert Lea die Volten, bis sie schließlich im Galopp wieder sitzen kann. Sie gibt den fest gestellten Zügel nach, spürt, wie das Pferd im Genick weich bleibt und die Hilfen wieder annimmt, die Lea ihm gibt. Sie schiebt ihr eigenes Gewicht im Sattel gegen den Zügel und gibt wieder nach. Schließlich fällt Miranda in einen raumgreifenden Trab. Nach zwei weiteren Runden, bringt Lea sie zum Stehen.

Leas Atem geht mindestens genau so schwer wie der Mirandas, als sie aus dem Sattel springt. Lilly nimmt das Pferd beim Zügel, während Sophie ihr Kind so fest an sich drückt, als wollte sie es zerquetschen. Für eine ganze Weile sagt keiner ein Wort. Als Lea ihren Kopf endlich aus der Schraubstockumarmung ihrer Mutter befreien kann, bemerkt sie auch Julius auf der Wiese. Sein Blick ist ernst. Lilly ist ganz blass unter ihrem roten Haarschopf, und plötzlich beginnt Sophie hemmungslos zu schluchzen. Sie will Lea wieder an sich ziehen, doch Lea macht sich frei. „Ich bring Miranda in den Stall und reibe sie trocken“, sagt sie leise.

„Das mach ich schon“, entscheidet Lilly rasch und führt die dampfende Miranda fort.

Sophie setzt sich ins Gras, schlingt die Arme um die Knie, legt den Kopf darauf und heult weiter. Lea möchte ihr über das kurze blonde Haar streichen, aber sie bringt es irgendwie nicht fertig.

Sie spürt Julius‘ Hand leicht auf ihrer Schulter. „Das hast du großartig gemacht, Lea.“

Lea schluckt, sie will nicht auch noch heulen.

„Ich glaube, das mit dem Pony hat deine Mutter jetzt eingesehen.“

Sophie hebt den Kopf und sieht sie mit rot umrandeten Augen an. Julius erwidert ihren Blick fest. „Dass es bodenloser Leichtsinn war, Lea mit dem Vollblut aufs freie Feld zu lassen, muss ich dir wohl nicht sagen.“

Stumm schüttelt Sophie den Kopf.

Plötzlich sieht er Lilly nach, die mit Miranda zum Stall geht, und seine Miene wird sanfter. „Ich hab früher den gleichen Fehler gemacht, hab immer zu viel verlangt von meiner Tochter.“

Dann lächelt er, sieht Lea an und zwinkert ihr beinahe verschwörerisch zu. „Gut gemacht!“

Jetzt kann Lea wieder Lachen. Der Schreck ist vorüber. Endlich fühlt sie Stolz in sich aufsteigen. Es ist Ihr gelungen, ein durchgehendes Rennpferd zu stoppen! Sie umfasst die Hände ihrer Mutter und zieht sie kräftig empor. „Los, Mama, ich bin ja noch am Leben!“

Sophie wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln, streicht ihrer Tochter bewundernd übers Haar und sagt: „Mann, o Mann!“

Ein Pony? Ein Pony!

In der warmen Jahreszeit verbringen Lea und Sophie die Wochenenden für gewöhnlich im Erlenbruch. Zum Schlafen dient ihnen der Bauwagen, da Lillys bescheidenes Häuschen zu wenig Platz für alle bieten würde. Unter der Woche kommen sie – sofern nicht gerade Ferien sind – gelegentlich am Nachmittag. Denn sie wohnen in der Stadt, wo Lea zur Schule und ihre Mutter ins Büro geht. Sophie ist Stadtplanerin. Ganz nach Auftragslage, hat sie mal mehr, mal weniger Zeit, gehen sie jeden Tag essen oder ernähren sich wochenlang von Spaghetti und Kartoffeln mit Quark.

Lea liebt die Ausflüge ins Erlenbruch, auch wenn ihr die eine Stunde Autofahrt manchmal auf die Nerven geht. In der Stadt, in der Schule hat sie nie richtige Freundinnen gefunden. Sie weiß selbst nicht, warum. Es interessiert sie einfach nicht, mit den Mädchen zu tuscheln und auf dem Handy herumzuspielen. Manchmal überlegt sie, ob sie wirklich so arrogant ist, wie manche es ihr vorwerfen. Aber ist man denn zwangsläufig hochnäsig, wenn man sich nicht für die albernen Fernsehserien und Facebookseiten interessiert? – Zuweilen fragt sie sich, wie viel der Erlenbruch und die Pferde ihrer Mutter bedeuten, ob es da nicht noch etwas anderes geben müsste, so etwas wie einen Vater zum Beispiel. Neuerdings genügt oft der kleinste Anlass, um Sophie aus der Fassung zu bringen. Das ist so, seitdem sie sich von Fabian getrennt hat. Nein, Leas Vater ist er nicht – den kennt Lea nicht einmal. Fabian war Sophies Freund, Lebensgefährte, wie auch immer die Leute dazu sagen. Anfangs waren Lea und er wie und Hund und Katze. Aber nach ein paar Monaten haben sie sich zusammengerauft, haben aneinander ihre Krallen abgeschliffen und sich gegenseitig respektieren gelernt. Und jetzt ist er weg. Aus Gründen, die Lea nicht durchschaut, hat Sophie ihn rausgeworfen. Und er fehlt Lea. Mehr noch, glaubt sie, fehlt er aber Sophie.

Für ihre fünfunddreißig Jahre hat Sophie sich ganz gut gehalten, meint Lea: zierlich, blond und helläugig. Das Aussehen hat sie an ihre Tochter vererbt. Manchmal fragt Lea sich, ob und wann ein neuer Fabian auftauchen wird. Sie fürchtet den Tag und sehnt ihn gleichzeitig herbei. Alles ist möglich: Es könnte ein Fabian sein, der mit ihr Drachen steigen lässt und Motorrad fährt, oder einer, der über die Fernbedienung herrscht und ihr vorschreibt, wie sie ihre Schuhe paarweise zu ordnen hat. Mütter sind in ihrem Geschmack da schwer zu durchschauen.

Manchmal beneidet Lea Lilly, weil sie so völlig ungebunden ist und jeden Tag draußen mit den Pferden verbringen kann. Diese Freiheit dokumentiert sie auch in ihrem Äußeren: mit den flammend rot gefärbten Haaren, den gepiercten Augenbrauen und Ohrläppchen, ihren verrückten Patchwork-Klamotten. Auf Lea wirkt die zehn Jahre jüngere Lilly oft viel selbstsicherer als ihre Mutter. Doch Sophie sagt: „Ich möchte nicht mit Lilly tauschen. Schließlich hat sie nur deshalb so viel Zeit, weil sie arbeitslos ist. Mit zwei Pferden und einem Häuschen am Hals, wär mir das eine Horrorvorstellung.“

Worauf Lea zu erwidern pflegt: „Na, wenigstens hat sie kein Kind, das ihr die Haare vom Kopf frisst!“

Dann müssen beide lachen.

Lilly hat das abenteuerliche Projekt „Haus im Grünen“ damals mit einem gleichgesinnten Lebenspartner angefangen. Aber der ist längst über alle Berge und hat Lilly mit der baufälligen Hütte und dem Schuldenberg sitzen lassen. Ohne die tatkräftige und finanzielle Hilfe ihres Vaters würde sie das alles gar nicht bewältigen können, auch wenn sie das ungern zugibt. Sie streitet häufig mit Julius, obwohl er immer zu ihr hält, wenn es hart auf hart kommt. Beide haben nun einmal ziemlich unterschiedliche Lebensauffassungen. Deshalb ist es ganz gut, dass Julius im Erlenbruch nur eine Gastrolle spielt. Er betreibt mit seinem Sohn – Lillys Bruder – einen professionell geführten Reiterhof in Mecklenburg, den Lilly achtzehnjährig verließ, weil sie damals andere Pläne hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---