Mein Leben im zweiten Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren - Dieter Schulz - E-Book

Mein Leben im zweiten Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren E-Book

Dieter Schulz

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Beschreibung

Beschrieben werden meine Kindheitserinnerungen an die Zeit von 1938 bis 1950. Zwar begann der Krieg erst im September 1939 und endete im Mai 1945, die sogenannte Reichskristallnacht vom 9. November 1938 war aber bereits der erste Schritt, der zum Krieg führte. Und mit dem Ende des Krieges im Mai 1945 kam auch noch lange nicht der Frieden, sondern in der Zeit danach befand Deutschland sich lediglich im Zustand eines Waffenstillstands und die Lebensbedingungen waren durch eine große Not gekennzeichnet. Was empfindet ein 3 ½ - jähriges Kind, das mit dem St. Martinszug geht und sich auf die Martinstüte freut, wenn direkt neben dem Zug eine NAZI - Bande eine jüdische Familie drangsaliert? Kann der Beginn eines Krieges Freude auslösen? Ja, ohne weiteres. Zunächst gab es nämlich viel Freude und Begeisterung und von der allgemeinen Hochstimmung wurden auch wir Kinder erfasst. Wir waren nämlich auf der Siegerspur und es gab Kinder, deren Väter ganz viele Feinde erschossen hatten. Die Freude erhielt aber einen Dämpfer, als die Feinde mit Flugzeugen kamen und Bomben herab warfen. Da sah man schon mal das ein oder andere zerstörte Haus und auch Menschen wurden getötet. Die Bombardierungen und damit die Zerstörungen nahmen zu, und es gab auch viele Tote und Verletzte. Zum Schutz vor den Bomben wurden zunächst nur Kinder, dann Mütter mit ihren Kindern in ländliche Gebiete und Städte verschickt, von denen man glaubte, dass diese Gebiete nicht zu den Zielen unserer Feinde gehören würden. In den meisten Fällen wurden die verschickten Familien bei Bauern untergebracht und nicht wenige blieben bis zum Ende des Krieges. Anders meine Mutter, die es nie länger als ein halbes Jahr in der Fremde aushielt. Das hatte zur Folge, dass ich sechs Mal den Wohnort und die Schule wechseln musste.

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Dieter Schulz

Mein Leben im zweiten Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren

Kindheitserinnerungen 1938 bis 1950

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Sankt Martin 1938

Der Kriegsausbruch

Schule

Die armen Russen

Die armen Juden

Ein spezielles Sparkonto

In Burscheid

Die Sicherheit in Düsseldorf war nicht sehr gut

Der Luftschutzkeller unter der Friedenskirche

Verschickung nach Thüringen

Zurück in Düsseldorf

Der 11. Juni 1943

Bad Kissingen

Der 22. September 1943 kurz vor Mitternacht

Eine feine Wohnung auf einem schönen Bauernhof

Seubrigshausen

Zurück nach Düsseldorf

Die Wohnung war ein Lagerraum

Die zweite Verschickung nach Thüringen

Unsere Feinde waren auf dem Vormarsch

Wieder eine Heimreise nach Düsseldorf

In Opladen

Mein Vater hatte eine Wohnung gefunden

Das Jahr 1945

Ein plötzlicher, verschwenderischer Wohlstand

Die Amerikaner hatten die linke Rheinseite besetzt

Der Befehl vom Gauleiter Florian

Mein Vater wurde zum Volkssturm eingezogen

Besondere Erlebnisse von Günter und mir

Der 17. April 1945, die Amerikaner in Düsseldorf

Herr Hemmbeck war kein Nazi mehr

Eine Doppelhaushälfte für uns

Der Hunger wurde unser ständiger Gast

Amis auf der Albert-Straße

Ich sollte eins auf die Fresse kriegen

Besser als bares Geld

Unsere neuen Nachbarn

Karl-Heinz Strathmann

Für die weißen Stängel konnte man alles bekommen

Der Pfarrer von Sankt Vinzenz

Die Amis gingen, die Tommis kamen

Mein persönlicher Löschteich

Russen in Düsseldorf

Walter

Wieder Schule

Adolf

Die bräunlichen Ablagerungen

Der Hunger und der allgemeine Mangel

Kartoffeln aus Grimmlinghausen

Eine Getreidemühle hinter Neuss

Ein Duden

Überfallkommando

Zuckersäcke

Franz Paschen

Die allgemeine Lage verbesserte sich

Die Währungsreform

Frau Kösters

Eisenschrott und Buntmetalle

Eine viel versprechende Entdeckung

Das Grundgesetz

Eine Lehrstelle

Nachwort

Impressum neobooks

Sankt Martin 1938

An den Sankt-Martins-Zug vom 9. November des Jahres 1938 erinnere ich mich genau. Obwohl ich damals erst knapp 3 1/2 Jahre alt war, sehe ich die Ereignisse, die ich mir damals allerdings überhaupt nicht erklären konnte, auch heute noch klar vor meinem geistigen Auge. Das genannte Datum ist mir natürlich später von meinen Eltern genannt worden. Ebenfalls klärten mich meine Eltern später über das schreckliche Geschehen auf.

Im Kindergarten hatte ich gelernt, dass der Heilige Martin ein sehr guter Mann war, der aus christlicher Nächstenliebe für einen armen Bettler seinen Mantel teilte. Im Gedenken daran sollten wir Kinder am Ende des Sankt-Martins-Zuges eine große Tüte mit vielen Leckereien bekommen. Wir sollten daraus lernen, dass auch wir für andere Menschen Gutes tun sollten.

Der Martins-Zug wurde auf dem Hof der Schule an der Jahn-Straße zusammengestellt und dann zog er zunächst über die Jahn-Straße. Mit großer Freude trug ich meine Martinslampe. Dass einige Kinder sehr viel größere und schönere Martinslampen hatten als ich, bemerkte ich zwar, Neidgefühle hatte ich aber deswegen nicht. Im Martins-Zug kreisten meine Gedanken aber ohnehin nur um die Martinstüte mit den Leckereien. Die sollten wir nämlich vom Martinsmann persönlich bekommen.

Der Zug bog nach rechts ab in die Kirchfeld-Straße und es ging in Richtung Friedrich-Straße, die überquert wurde. Rechts stand die Sankt-Petrus-Kirche und hier kam der Zug direkt hinter der Sakristei zum Stehen. Es wurde nicht mehr gesungen und auch die Blaskapelle legte eine Pause ein. Den Grund dafür erklärten meine Eltern mir: Vorne, was ich aber nicht sehen konnte, teilte der Heilige Martin gerade mit seinem Schwert seinen Mantel, um dem armen Bettler eine Hälfte davon zu geben. Was der Heilige Martin da machte, war ein großartiger Akt christlicher Nächstenliebe. Diese Erklärung reichte aus, um mich ohne Ungeduld auf die sehnsuchtsvoll erwünschte Martinstüte warten zu lassen. So verhielten sich auch all die anderen Kinder, die auf das Geschenk des Heiligen Martin warteten.

Da war aber noch etwas anderes. In der erwartungsvollen Stille lag eine fühlbare Spannung in der Luft, die jedoch mit dem, was der Heilige Martin da vorne machte, nichts zu tun haben konnte. Es geschah nämlich etwas, was so nicht sein konnte und auch nicht sein durfte. Sollte das etwas mit dem Martins-Zug zu tun haben? Nie und nimmer! Was da geschah, hat sich deshalb so fest in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich später jeden Martinszug mit diesem Ereignis in Verbindung brachte. Besonders, nachdem meine Eltern mich später, das heißt nach dem Kriege, über das Grauenhafte, das sich da in unmittelbarer Nachbarschaft der Sankt-Peter-Kirche abspielte, aufklärten.

Die Ruhe wurde plötzlich unterbrochen. Spitze, schrille Schreie ertönten, brüllende Männerstimmen dröhnten herüber, Glasscheiben zerbarsten klirrend und aus einem Fenster fielen Möbel heraus. Der gellende Schrei, der durch Mark und Bein ging, war der ein Hilfeschrei? Und was war mit dem weinenden Kind da drüben in der Haustür? Durfte es nicht mit dem Martinszug gehen?

Eigenartig war das, sehr eigenartig! Hier die vielen bunten Martinslampen, die erwartungsvolle Freude, da drüben aber auf der anderen Straßenseite die brüllende Wut und das schreiende Entsetzen. Gehörte das alles zum Martinszug? Wie lange dauerte dieser Lärm, diese Störung? 10 Sekunden, 20 Sekunden oder gar 30 Sekunden? Das konnten mir auch später meine Eltern nicht sagen. Gott sei Dank spielte die Blasmusik wieder und die dicke Pauke sorgte dafür, dass der rätselhafte, störende Lärm übertönt wurde. Die unangenehme Störung war aber fast vergessen, als der Martinszug sich wieder in Bewegung setzte und das Lied „Lustig, lustig trallerallala, nun ist Martins Abend da“, angestimmt wurde. Der Heilige Martin saß hoch zu Ross und lachte mich freundlich an. Einer seiner Helfer gab mir die Martinstüte und in diesem Moment war alles wunderschön. Alles, alles war wieder gut und das von vorhin, das war doch nur eine kleine Störung, oder? Jedenfalls hatten wir nichts damit zu tun, nicht wahr?

Der Martinszug löste sich auf und die Menschen, zumeist Eltern mit ihren Kindern, die aber nun außer den Laternen noch die Martinstüten trugen, eilten nach Hause. Die schrillen Schreie, die brüllenden Männerstimmen und das klirrende Geräusch zersplitternden Glases waren aber wieder zu hören. Diesmal spielte sich das für mich nach wie vor Rätselhafte auf der Elisabethstraße ab. Da ich aber im Besitz der Martinstüte war, berührte mich das doch alles nicht. Wenn ein Kind froh sein konnte, so war ich es.

Wie ich bereits erwähnte, haben meine Eltern mich nach dem Kriege über das, was damals geschah, aufgeklärt: Demnach war ich Zeuge der so genannten „Reichskristallnacht“. Dieses beschönigende Wort steht für ein Judenpogrom, wie es Deutschland zuvor noch nie erlebt hatte. Als 3 ½ jähriger konnte ich natürlich nicht begreifen, dass da Menschen in höchster Not waren, dass sie gedemütigt und gequält wurden, dass viele von ihnen zum Krüppel geschlagen und viele ermordet wurden. Darüber wurde bei uns zu Hause erst nach dem Kriege, das heißt, nach der Nazizeit gesprochen.

Da erfuhr ich, was die Nationalsozialisten, diese Schwerverbrecher, in dieser Pogromnacht im Deutschen Reich angerichtet hatten: 91 jüdische Menschen wurden bestialisch ermordet, tausende Juden wurden misshandelt, tausende Wohnungen wurden zerstört, 267 Synagogen wurden vernichtet, 30.000 jüdische Mitbürger verhaftet. Von meinem Vater erfuhr ich, dass der weit entfernte Feuerschein, an den ich mich auch noch schwach erinnere, von der in Brand gesetzten Synagoge auf der Kasernenstraße kam. Von uns aus betrachtet war die Kasernenstraße ja die Verlängerung der Elisabethstraße.

Wie dieses Verbrechen geschah, hatte mein Vater nach dem Kriege von einem Kollegen erfahren. Demnach ist in der Pogromnacht ein SA- Haufen zusammen mit anderen Nazis dort erschienen, einige waren sogar Ärzte (!) von den Städtischen Krankenanstalten und einige waren Landgerichtsräte (!). Sie hatten Benzin und Teer mitgebracht. Alles Holz und die anderen brennbaren Materialien wurden mit Benzin besprenkelt, mit Teer bestrichen und dann angezündet. Die herbei geeilte Feuerwehr kam aber nicht, um das bald auflodernde Feuer zu löschen, sondern um dessen Übergreifen auf die Nachbargebäude zu verhindern. Das tollste war aber der grenzenlose Zynismus der Nazis, mit dem die Juden gezwungen wurden, nicht nur selbst für den angerichteten Schaden aufzukommen, sondern darüber hinaus ein Strafgeld in Milliardenhöhe zu bezahlen.

Ohne zu begreifen, was sich da abspielte, wurde ich Zeuge einer Ungeheuerlichkeit, die aber nur ein Vorspiel für jenen Frevel sein sollte, mit dem das Deutsche Reich unter der Naziherrschaft eine Barbarei an den Tag legte, welche hinsichtlich ihrer Grausamkeit neue Maßstäbe setzte.

Während in den Nachkriegsjahren in meiner Familie oft über die Gräuel der Nazis gesprochen wurde, fand besonders das Pogrom vom November 1938 Erwähnung und meine Mutter wusste von dem jüdischen Kinderarzt zu berichten, der trotz seiner Beinprothese misshandelt und die Treppe hinunter geworfen wurde. Die Beinprothese war ein Andenken an den ersten Weltkrieg, als er für sein deutsches Vaterland gekämpft hatte. Einen besonderen Bekanntheitsgrad hatte er sich dadurch erworben, dass er die Kinder mittelloser Eltern ohne Honorar behandelte.

Wie die vielen anderen Kinder auch, wurde ich also Zeuge eines Verbrechens, welches ich als solches nicht erkennen konnte. Aber die Eltern der Kinder, die Erwachsenen, die haben doch ganz klar erkannt, dass hier ein Verbrechen begangen wurde! Oder? Wie schon gesagt, fand es direkt hinter der Sakristei der Sankt-Petrus-Kirche statt. Es ist nicht bekannt geworden, ob der Herr Pastor, einer der Kapläne oder ein Mitglied des Kirchenvorstandes laut protestiert hätten. Auch in den Predigten wurde das ungeheure Verbrechen nicht erwähnt. Vielleicht war aber doch jemand so mutig, zu protestieren. Meine Eltern hatten von niemandem gehört, der sich dadurch bekannt gemacht hätte.

Ich fragte einmal meinen Vater, ob er damals nicht daran dachte, laut zu protestieren. „Hm“, sagte er, „dann säße ich jetzt nicht hier, dann wäre ich noch am gleichen Tage ins KZ gewandert! Im Übrigen hatte kaum jemand Mitleid mit den Juden, da die antijüdische Propaganda der Nazis große Wirkung zeigte. Nicht zu vergessen die judenfeindlichen Hetzereien besonders der beiden großen christlichen Kirchen. Demzufolge hielten die meisten Christen das Massaker an den Juden für die gerechte Strafe Gottes, weil die Juden doch angeblich Jesus, den angeblichen Sohn Gottes, auf dem Gewissen hatten!“

Der Kriegsausbruch

Fast ein Jahr später, nämlich im September 1939 wurde Polen von der Großdeutschen Wehrmacht überfallen. Damit nahm der Polenfeldzug seinen Anfang. Bald ertönten aus den weit geöffneten Wohnungsfenstern die Siegesmeldungen, die der Großdeutsche Rundfunk bekannt gab. Fast jeder Volksgenosse hatte nämlich ein Radio und meistens war es ein sogenannter Volksempfänger. Auch laute Marschmusik war überall zu hören. Obwohl wir Kinder nicht verstanden, um was es da ging, wurden auch wir von dem allgemeinen Gefühl von Freude erfasst. Irgendetwas Schönes war da wohl im Gange. Die größeren Kinder erklärten uns kleineren, dass wir irgendwo einen bösen Feind besiegt hatten. Diejenigen aber, deren Väter als Soldaten im Krieg waren, wussten zu berichten, wie viele Feinde ihre Väter im Einzelnen erschossen hatten. Ich bedauerte, dass mein Vater nicht auch an der Front war, denn der hätte doch bestimmt auch viele Feinde erschossen! Oder?

Einige Wochen später war wieder Sankt Martin, aber der Zug war irgendwie eigenartig. Ja, der war sogar ganz anders, als ich erwartete. Der Martinszug musste nämlich ohne Lichter ziehen! Wir Kinder hatten zwar wieder unsere Martinslampen, aber die Kerzen durften nicht angezündet werden. Hauptsache war jedoch, dass es wieder eine Martinstüte gab. Unsere Eltern erklärten uns dann, warum wir ohne Lichter ziehen mussten. Das geschah, damit wir nicht von den englischen Fliegern gesehen werden konnten. Die hatten nämlich Bomben, die sie auf uns herunter werfen konnten. Englische Flieger? Bomben? Was war das?

Englische Flieger tauchten erst später, nämlich Ende November 1939 über Düsseldorf auf. Zu einem Angriff kam es aber nicht. Eines Abends, es war schon dunkel, hämmerte es laut an unserer Wohnungstür. Es war der für unsere Wohnung zuständige Blockwart von der NSDAP, der meine Mutter laut ausschimpfte, weil unsere Fenster nicht richtig abgedunkelt waren. Man konnte von draußen Licht sehen. Ich verstand Worte wie „Verantwortungslos, Bomben und Strafanzeige“.

Dass der Krieg eine ernste Sache ist, erkannte ich im Mai 1940, etwa einen Monat nach meinem fünften Geburtstag. Da ertönten zum ersten Mal in der Nacht die Sirenen und wir eilten zusammen mit den anderen Hausbewohnern in den Keller. Düsseldorf wurde zum ersten Mal bombardiert. Gemessen an den späteren Angriffen war diese Bombardierung aber noch nicht verheerend, obwohl einige Häuser getroffen wurden und es auch einige Tote und Verletzte gab.

Die Alarmsirenen hatten übrigens etwas Schauerliches an sich. Wenn vor einem bevorstehenden Angriff gewarnt wurde, verursachte das Auf und Ab des durch Mark und Bein gehenden Heultons der Sirene schon für sich alleine eine beklemmende Angst. Wie eine Erlösung kam mir dann nach dem Angriff der langgezogene Heulton der Entwarnung vor. Diese Sirenen gibt es immer noch und wie in Erwartung eines nächsten Krieges werden sie in bestimmten Zeitabschnitten zur Probe in Gang gesetzt und dann kommt es mir jedes Mal so vor, als wäre wieder Krieg.

Da weitere Luftangriffe zu erwarten waren, wurden auf dem Marktplatz vor der Sankt-Peter-Kirche Brandschutz- und Feuerlöschübungen veranstaltet. Mit großem Interesse hatte ich aufgepasst und gelernt, dass man Stabbrandbomben nicht mit Wasser löschen kann. Die haben nämlich eine Phosphorfüllung und Phosphor glüht unter Wasser weiter. Man musste Sand darauf schütten. Brennende Dachstühle aber mussten mit Wasser gelöscht werden. Deshalb mussten auf Dachböden sowohl Eimer mit Wasser als auch solche mit Sand bereitgestellt werden.

Obwohl ich glaubte, alles verstanden zu haben, hatte ich mit meinen fünf Jahren wohl doch nicht alles ganz verinnerlicht, denn einige Wochen später machte ich etwas, was bei den Erwachsenen, die sich in der Nähe aufhielten, das blanke Entsetzen erzeugte: Mit ein paar Freunden stromerte ich über die Jahnstraße und da fanden wir das Ding. Es war eine Stabbrandbombe, die da unbeachtet auf dem Boden lag. Wirklich, es handelte sich um eine Stabbrandbombe, soviel hatte ich auf dem Marktplatz gelernt, um das zu wissen.

Wahrscheinlich wollte ich mich vor meinen Freunden wichtig tun, denn ich glaubte, denen gegenüber einen Wissensvorsprung zu haben. Na klar, ich hatte doch gelernt, dass es Blindgänger gibt, die angeblich nicht explodieren konnten und was da auf dem Bürgersteig lag, musste so ein Blindgänger sein. Ich nahm die von mir als harmlosen Blindgänger erkannte Stabbrandbombe auf und warf sie gegen die Mauer des damaligen Dominikanerklosters. Wie von mir erwartet, geschah nichts. Das wiederholte ich einige Male und dass wir es mit einem Blindgänger zu tun hatten, der nicht mehr explodieren konnte, hatte sich damit ja wohl bestätigt.

Ich warf die als harmlos erkannte Stabbrandbombe dann achtlos auf einen Sandhaufen und da passierte es. Der Knall war nicht einmal besonders laut, etwa so, wie bei einer Spielzeugpistole mit Knallplättchen. Was aber Angst machte, war dieses weiß glühende, flüssige Zeug, welches nach allen Seiten zischend spritzte. Dann aber kam auch schon der Mann von der anderen Straßenseite angerannt. Er hatte eine Schaufel und damit bedeckte er die Phosphor sprühende Stabbrandbombe von der Rückseite her mit Sand. Wer meine Mutter gerufen hatte, weiß ich nicht, sie war plötzlich da. Der Mann, der die Stabbrandbombe mit Sand abgedeckt hatte, war wohl eine höhere Persönlichkeit, denn er schimpfte meine Mutter aus, weil sie mich unbeaufsichtigt herumstromern ließ. Er gebrauchte ein paar Mal das Wort „Kinderheim“ und ich verstand, was damit gemeint war. Ich war sehr erschrocken und fragte meine Mutter, ob der Mann mich beim Führer anzeigen würde. Vom Führer hatte ich nämlich inzwischen viel Gutes gehört und von einem meiner Freunde hatte ich erfahren, dass der Führer sowieso alles wusste und dass ich angezeigt würde, war doch wohl klar. Meine Mutter meinte, dass es schlimm ausgehen könnte, wenn ich nochmals so etwas machen würde.

Die Zahl der Luftangriffe nahm zu. Damit für die Feuerwehr nach einem Angriff genügend Löschwasser verfügbar war, wurde zwischen der Sankt-Peter-Kirche und der Elisabethstraße ein Löschwasserbecken gebaut. Das war etwa 20 Meter lang, etwa 10 Meter breit und hatte eine Tiefe von etwa 2 Metern. Im ganzen Stadtgebiet wurden 44 solcher Löschteiche gebaut. Später sollte ich mit einem von denen eine schlimme Bekanntschaft machen. Da war der Krieg aber zu Ende.

Der Vater eines meiner Freunde hatte als Soldat am siegreichen Frankreichfeldzug teilgenommen. Nun hatte er Heimaturlaub und hatte nicht nur französisches Geld mitgebracht, sondern auch einen französischen Stahlhelm als Beutestück. Komisch sah der aus. Ich durfte ihn einmal aufsetzen und dabei deckte er meinen oberen Kopf bis herunter zur Nasenspitze ab. Der Geruch war äußerst unangenehm. Für uns Kinder war klar, dass ein deutscher Stahlhelm viel besser war. Trotzdem beneidete ich meinen Freund um den französischen Stahlhelm und wieder bedauerte ich, dass mein Vater nicht auch Soldat war, denn dann hätte er mir doch bestimmt auch etwas aus dem Krieg mitbringen können. Vielleicht einen französischen Säbel? Es hatte sich bei uns Kindern herum gesprochen, dass andere Väter aus dem Krieg auch Säbel mitgebracht hatten. Es gab jedoch noch ganz andere Sachen, die unsere Soldaten aus Frankreich mitbrachten, z. B. Toilettenseife, Zigaretten und Wein. Später erfuhr ich, dass einer sogar eine große Rolle Seidentapeten mitbrachte, die er mit seinem Säbel von der Wand eines Herrenhauses entfernte. Solche Artikel interessierten uns Kinder aber nicht so sehr. Nein, nein, Stahlhelme und Säbel waren es, die unser volles Interesse fanden. Dann wurde mein Vater Gott sei Dank doch noch Soldat und ich freute mich darauf, dass er mir und meinem Bruder Günter entweder einen Stahlhelm oder einen Säbel mitbringen würde.

Dass unser Vater uns etwas mitbringen könnte, daraus wurde nichts, denn er war Jahrgang 1896 und demnach für Kampfeinsätze an der Front zu alt. Das wurde zumindest so im Jahre 1940 gesehen, vier Jahre später aber nicht mehr. Er war für einen Heimateinsatz vorgesehen und wurde Wachsoldat für französische Kriegsgefangene, die in Mettmann bei Düsseldorf in einem alten Tanzlokal untergebracht waren. Mein Vater hatte mich einmal mitgenommen und ich durfte eine Nacht in dem alten Tanzlokal bei den Gefangenen übernachten. Die Franzosen schliefen in Dreifachetagenbetten. Ich bekam ein oberes Bett zum Schlafen. Einige der Gefangenen winkten mir freundlich zu. Wie mein Vater mir erklärte, hatten die gefangenen Franzosen großes Glück, da der Krieg für sie ja nun beendet war und sie in deutscher Gefangenschaft gut behandelt wurden.

Später, nach dem Kriege, erfuhr ich allerdings auch von meinem Vater, dass die Gefangenen von manchen deutschen Wachsoldaten auch hin und wieder bestohlen wurden. Die Franzosen bekamen nämlich Pakete aus der Heimat und bei den deutschen Soldaten waren besonders Zigaretten und Toilettenseife hoch begehrt. Die deutschen Zigaretten waren von geringer Qualität und die deutsche Seife war eine Seife, die beim Baden auf dem Wasser schwamm. Sie wurde angeblich aus Leichenfett hergestellt. Später lernte ich noch andere französische Kriegsgefangene kennen, die als Arbeitskräfte eingesetzt wurden.

Schule

Im Frühjahr 1941 wurde ich mit sechs Jahren in die Volksschule an der Konkordia-Straße eingeschult. Für die Schreibübungen hatte jeder Schüler eine Schiefertafel, einen Griffel und eine Schwammdose mit einem Schwamm, der stets gut genässt sein musste, damit die Schiefertafel immer wieder blank geputzt werden konnte. Ein Lappen zum Trockenputzen der Schiefertafel gehörte ebenfalls zu den Utensilien.

Inzwischen nahmen die Luftangriffe der Engländer zwar zu, aber es waren noch nicht die verheerenden Großangriffe, die ab dem Jahre 1942 die deutschen Städte in Schutt und Asche legen sollten. Im Sommer 1941 war „meine“ Schule an der Konkordiastraße „dran“. Sie wurde von einer kleineren Bombe getroffen. Die Beschädigungen waren aber so groß, dass nicht mehr unterrichtet werden konnte. Wir Schüler fanden das zwar zunächst prima, mussten dann aber nach einigen Tagen zur Schule an der Jahnstraße. Alles ging drunter und drüber. Anstelle von Fräulein Piepenstock bekamen wir einen alten Lehrer, der sehr viel strenger war. Vor diesem Lehrer hatten wir großen Respekt. Später fragte ich mich allerdings, wem der Respekt denn eigentlich galt: Dem Lehrer oder seinem Stock. Der lag nämlich stets griffbereit auf dem Pult des Lehrers. An einen richtigen Schulunterricht kann ich mich aber nicht erinnern. Auch in dieser Schule blieb ich nicht lange. Irgendwann war ein erneuter Schulwechsel fällig und meine schulische Bildung fand in einer Schule hinter der Martinstraße statt.

Hatte ich da überhaupt einen Lehrer? Sicherlich, aber an den oder die erinnere ich mich überhaupt nicht mehr. Sollte ich in dieser Schule etwas gelernt haben? Ich weiß es nicht! Interessanterweise erinnere ich mich aber ganz genau an das Getränke-Büdchen direkt neben dem Eingangstor der Schule. Da kostete eine Flasche Dotzwasser 5 Rpf (Reichspfennige). Das waren Flaschen, die mit einem Dotz (einer Glaskugel) verschlossen waren. Wenn man die Glaskugel mit dem Daumen in die Flasche hinein drückte, spritzte ein Teil des Wassers heraus. Vor und nach dem Unterricht sowie in den Pausen wurde das Büdchen von uns Schülern regelrecht umlagert und es machte große Freude, wenn man beim Öffnen der Dotzflaschen die anderen Schüler mit Wasser bespritzte. Es gab sogar Schüler, die kauften das Dotzwasser nur deshalb, um andere damit nass zu machen.

Die armen Russen

Wurden die französischen Kriegsgefangenen auch gut behandelt, so wurden Russen nicht nur sehr schlecht behandelt, sie wurden sogar regelrecht misshandelt. Das fiel selbst uns Kindern auf. Die Russen mussten hart arbeiten, sie wurden geschlagen, getreten und sie bekamen sehr wenig zu essen. Wir Kinder konnten zusehen, wie der Wachmann vor seinem Baustellenwagen saß und dünne Brotscheiben mit Marmelade, die er aus einem Eimer nahm, dünn bestrich. Dann rief er die Russen zu sich, die sofort angerannt kamen und ihre knappe Mahlzeit entgegen nahmen, um sie hastig zu verzehren.

Da sie ständig hungrig waren, suchten sie nach zusätzlichen Essensresten in den Mülltonnen. Meine Mutter und andere Frauen steckten den Russen hin und wieder belegte Brote zu. Das musste aber heimlich geschehen, da es verboten war, den Russen etwas zu geben und man konnte dafür bestraft werden. Eines Tages wurde meine Mutter dabei erwischt, als sie den Russen etwas gab und sie bekam eine Verwarnung. Den Russen war es zu dieser Zeit aber noch erlaubt, essbare Abfälle aus den Mülltonnen zu nehmen. Diese „Toleranz“ wurde von meiner Mutter und anderen Frauen dazu genutzt, um die Schalen extra dick geschälter Pellkartoffeln in die Mülltonnen zu tun. Das wurde aber später auch untersagt.

An der Ecke Kronenstraße Bilker Allee gab es ein Lebensmittelgeschäft und vor dem Schaufenster standen ein paar Gemüsekisten. Einer der Russen hatte wohl sehr großen Hunger und nahm aus einer der Kisten ein paar Möhren. Der „Dieb“ wurde von einem meiner Freunde bei dem Wachmann angezeigt. Der nahm seinen Ochsenziemer und schlug damit heftig auf den Russen ein. Der Lebensmittelhändler wollte besänftigen und erklärte, dass das doch nicht schlimm gewesen wäre, zumal es sich doch um halbverfaultes Gemüse und demnach um Abfall gehandelt hätte. Der Wachmann schlug aber weiter auf den armen Russen ein und beschimpfte ihn mit gemeinen Worten. Nach einiger Zeit machten Erwachsene uns Kindern Vorwürfe, weil einer von uns den Russen verraten hatte. Sie erklärten uns, dass die Russen ganz arme Menschen wären und wir sollten mit denen doch etwas Mitleid haben. Im Gegensatz zu den Franzosen waren die Russen aber keine Kriegsgefangenen, sondern Zwangsarbeiter.

Es gab aber unter den Russen auch weibliche Zwangsarbeiter, die in ihrer knappen Freizeit, meistens also in der Nacht, taubengroße Vögel aus Holz bastelten, um diese gegen Brot einzutauschen. Die Vögel konnten mit den Flügeln schlagen und mit den Köpfen nicken. Meine Mutter nahm mich einmal mit in die Altstadt zum Einkaufen und da sah ich die Russinnen, die ihre Vögel zum Tausch anboten. „Nurr eine Brott!“ bettelten sie und hielten den Leuten ihre Holzvögel entgegen. Andere sagten „Habben Hungerr, grosse Hungerr!“ Daran erinnere ich mich sehr genau und auch daran, dass es aus der Backstube der Bäckerei Kinkel herrlich nach frisch gebackenem Brot duftete. Dass aber irgendjemand ein Brot gegen einen der Holzvögel eintauschte, sah ich nicht. Später erklärten meine Eltern mir, dass es riskant war, einen derartigen Tausch zu tätigen, denn auch dafür konnte man bestraft werden. Ein hoher Nazifunktionär verkündete die These, dass es eine Verschwendung wertvoller Lebensmittel wäre, wenn man diesen Untermenschen, er meinte damit die Russen, auch nur ein Stück Brot geben würde.

Die armen Juden

Es war im Herbst des Jahres 1941, als mir öfters seltsame Menschen begegneten. Sie fielen mir in erster Linie deshalb auf, weil auf ihren Kleidern so eigenartige gelbe Sterne mit einer unleserlichen Schrift aufgenäht waren. Dass es besondere Menschen waren, erkannte man auch an den Ernst in ihren Gesichtern. Einige meiner Freunde riefen „Judd, Judd, Judd“ hinter ihnen her.

Mein Vater hatte wohl einen Urlaubstag und so gingen wir alle, meine Eltern, Günter, Karl-Heinz, letzterer im Kinderwagen und ich in den Hofgarten. Außer uns war kaum jemand zu sehen. Plötzlich kam uns aus einem Seitenweg eine Familie entgegen. Es waren die beiden Eltern und zwei Jungen, die etwa so alt wie Günter und ich waren. Alle vier trugen sie schwarze Kleidung und alle vier trugen sie den gelben Stern. Ich erkannte auch, dass sie sehr traurig waren. Sie alle blickten zu Boden. Ich fragte meine Eltern, was die gelben Sterne bedeuteten. Die Erklärung meines Vaters war knapp. Er sagte: „Das sind Juden!“ Meine Mutter ergänzte diese knappe Antwort, indem sie hinzufügte: „Das sind ganz arme Menschen!“ Meine Frage, warum die Leute arm waren, beantwortete mein Vater damit, dass er mir das später erklären würde. Meiner Mutter riet er aber, sich aus der Politik heraus zu halten, da wir sonst großen Ärger kriegen könnten.

Tage später, es war auf dem Schulweg, sah ich auf der Bilker Allee eine Frau, die auch so einen Stern trug. Sie hatte einen Buckel und sie guckte komisch. Später sah ich immer weniger Leute mit dem gelben Stern und irgendwann war niemand mehr zu sehen. Es gab aber wohl doch noch einige, denn wiederum später, während eines Luftangriffs, meine Mutter und wir Kinder waren bereits im Luftschutzkeller, waren vom Kellereingang laute Stimmen zu vernehmen und jemand schrie, dass Juden keinen Zugang hätten. Ein Mann meinte, dass man doch mal eine Ausnahme machen könnte. Ich kann mich nicht erinnern, ob der Jude nun in den Keller durfte oder nicht und auch meine Mutter konnte später nichts darüber sagen.

Ein spezielles Sparkonto

Übervolkswirtschaftliche Zusammenhänge hatte mein Vater keine besonderen Kenntnisse. Dass die Warenpreise sich in einer Marktwirtschaft aus den wechselseitigen Bedingungen von Angebot und Nachfrage ergeben, entzog sich seinem Wissen. Das kam nicht zuletzt daher, weil im Großdeutschen Reich fast alle Preise vom Staat vorgegeben wurden. Marktwirtschaft war für die damaligen Deutschen etwas Fremdes und nicht wenige hielten sie für unanständig.

Da aber immer mehr rationiert und dementsprechend alles knapper wurde, hatte mein Vater eine Idee, die im Nachhinein als wirklich gut bezeichnet werden muss und vermuten lässt, dass seine marktwirtschaftlichen Kenntnisse doch nicht so minimal waren. Auch Tabakwaren gehörten nämlich zu den rationierten Gütern, da die Nachfrage nach ihnen auf Grund der Knappheit nicht befriedigt werden konnte. Es gab also nicht nur Lebensmittelmarken, sondern auch Marken für Tabakwaren, also für Zigaretten, Zigarren oder Pfeifentabak und die bekam jeder, ob Raucher oder Nichtraucher. Zu den letzteren gehörte mein Vater. Wusste er, dass Zigaretten demnächst eine veritable Währung sein würden? Wenn ja, woher wusste er es? Jedenfalls ließ er eines Tages die Tabakmarken nicht mehr verfallen, sondern kaufte alle Zigaretten, die er dafür bekommen konnte. Dann legte er damit sein spezielles Sparkonto an. Natürlich nicht bei der Sparkasse, sondern auf dem Kleiderschrank. Jawohl, auf dem Kleiderschrank! Dort oben deponierte er seine Spareinlagen. Päckchen für Päckchen! Da kam so einiges zusammen. Das war gewissermaßen sein Sparstrumpf und oft genug stellte er einen Stuhl vor den Kleiderschrank, bestieg ihn und ergötzte sich beim Anblick seines Schatzes. Ja, das war ein echter Notgroschen, damit konnte man, wenn die Zeiten noch schlechter wurden, bestimmt etwas anfangen.

Die Katastrophe kam mit diesem Handwerker. Der Wasserhahn musste repariert werden und meine Mutter bekam dann einen ihrer Gutherzigkeitsschübe. Sie bat den Handwerker, doch bitte einen Moment zu warten, entnahm dem auf dem Kleiderschrank befindlichen Sparkonto ein Päckchen, schmälerte dessen Inhalt um drei einzelne Zigaretten und gab sie dem Handwerker, der sich darüber sehr freute.

Abends kam mein Vater von der Arbeit pünktlich nach Hause. Schmunzelnd nahm er einen Stuhl und ging damit ins Schlafzimmer. Den Blick meiner Mutter hatte er nicht zur Kenntnis genommen. Was ich dann hörte, war so ein seltsames Gejaule und das kam von meinem Vater. „Hans!“ rief meine Mutter, „ich hab´ dem doch nur drei Stück gegeben, mach´ doch nicht solch ein Theater!“ Die Plünderung seines Kontos musste für meinen Vater eine der schlimmsten Enttäuschungen seines Lebens gewesen sein. Er war wohl sehr erschüttert und rief mit weinerlicher Stimme: „Dann müssen wir eben Hunger leiden, ja Huunger leiden, Huunger leiden!“ Das Wort „Hunger“ sprach er mit so einem singenden Heulton, als ob „Hunger“ mit einem lang gezogenen „uu“ gesprochen würde. Da meine Mutter nichts sagte, steigerte sich seine Empörung so sehr, dass er die Zigaretten vom Kleiderschrank warf, darauf herum hüpfte und in einem fort dieses „Huunger leiden, huungerleiden!“ heulte. Ob das wohl eine kriegsbedingte Psychose war? Na ja, bei dem Tanz, wie meine Mutter sagte, sind nur wenige Zigaretten kaputt gegangen und mit der nächsten Zigarettenration konnte das Sparkonto nicht nur wieder ausgeglichen, sondern sogar noch aufgestockt werden. Später, nach dem Kriege, erwiesen sich Zigaretten als die Währung, für die man alles erwerben konnte, was für Geld nicht oder nur sehr begrenzt zu bekommen war.

In Burscheid

Im Jahre 1942 wurden die Bombardierungen immer schlimmer und ich kam in die Kinder-Landverschickung nach Burscheid zu einer Fabrikantenfamilie, die einen Sohn in meinem Alter hatte. Er hieß Leo. Sein Opa war vielseitig begabt. Besonders gut konnte er aus Haselnuss-Zweigen Flöten für verschiedene Tonlagen herstellen. Die Flöten waren überall im Haus zu finden. Der Opa musizierte abends gerne bei Kerzenlicht auf einer seiner Flöten und für mich war das jedes Mal ein tolles Erlebnis. Weniger gern hörte ich Leos Oma beim Singen zu, denn ihre Stimme gefiel mir nicht. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte sie einen sehr brüchigen Sopran, der oft genug kippte.

Die Familie wohnte in einer Villa, die von einem riesigen Garten umgeben war. Leo hatte sogar eine eigene Rutschbahn und eine Schaukel. Die Villa hatte einen für meine Begriffe sehr hohen, runden Turm mit einem roten Kuppeldach. Wenn Köln bombardiert wurde, stiegen alle nach oben in das Turmzimmer, um von dort aus das brennende Köln zu sehen. In einer Nacht sah die Feuersbrunst besonders schön aus. Leos Opa meinte, dass es der bisher schwerste Luftangriff auf Köln gewesen wäre.

Leo erkrankte an Scharlach und wegen der Ansteckungsgefahr konnte ich bei Leos Familie nicht mehr bleiben. Ich kam deshalb zu einer alten Bäuerin. Deren Bauernhof war im Vergleich zu den Bauernhöfen, die ich später kennen lernte, nicht nur ausgesprochen klein, er war sogar winzig. Es gab nur eine Kuh und eine kleine Hühnerschar. Die Scheune war mehr ein Schuppen. Niemand war da, mit dem ich hätte spielen können. Ich bekam öfters Heimweh und zum Weinen ging ich in die kleine Scheune. Eine Nachbarin der alten Bäuerin bemerkte das und sie fragte mich nach der Anschrift meiner Eltern. Diese Anschrift konnte ich ihr geben, denn dass ich in Düsseldorf auf der Kronen-Straße Nr. 29 wohnte, das hatte ich mir fest eingeprägt. Meine Eltern erhielten also einen Brief von dieser Nachbarin und ein paar Tage später kam meine Mutter zu Besuch. Sie bedankte sich vielmals bei der Bäuerin für all das Gute, das sie mir zu teil werden ließ und nahm mich mit zurück nach Düsseldorf.

Die Sicherheit in Düsseldorf war nicht sehr gut

Wenn man die Sicherheit zum Maßstab aller Dinge macht, so hatte ich mich mit der Heimkehr nach Düsseldorf nicht verbessert. Die Bombardierungen nahmen nämlich weiter zu und fast jede Nacht trieb uns der Fliegeralarm in den Keller. Der bot aber, wie ein Nachbar bemerkte, keinesfalls ausreichenden Schutz im Falle eines Volltreffers durch eine mittel- schwere Sprengbombe. Wie die meisten Keller der damaligen Häuser hatte auch unser Keller eine aus Ziegelsteinen gemauerte Gewölbedecke. Um deren Stabilität zu erhöhen, wurdenHolzstützen, dick wie Baumstämme, eingesetzt.

Wenn es in der Nähe zu Bombeneinschlägen kam, wackelten in unserem Keller die Wände und von dem Deckengewölbe fielen Putz- und Mörtelstückchen herunter. Eine Frau, die neben mir saß, rief dann mit schriller Stimme: „Ich halte das nicht mehr aus! Ich halte das nicht mehr aus!“ In solchen Nächten zeigte es sich, dass die meisten Hausbewohner sehr fromm waren, denn immer wenn es in der Nähe einschlug, beteten sie laut. Da sie sich aber zuvor nicht abgestimmt hatten, beteten sie nicht die gleichen Gebete. Während die eine Gruppe das „Vater unser“ betete, sprach die andere das „Gegrüßt seist Du Maria“. Eine andere, nicht so fromme Frau, wiederholte dann immer den einen Satz: „Wenn wir einen Treffer kriegen, dann sind wir alle futsch!“ Damit fiel sie aber einem älteren Mitbewohner, der neben ihr saß, auf die Nerven. Er schnauzte sie an, sie solle gefälligst ihr dummes Mundwerk halten oder sie könnte was erleben. Ihr dummes Geschwätz wäre nämlich Wehrkraftzersetzung und was darauf stünde, das wüsste sie ja wohl.

Der Hinweis von dieser Frau, wonach wir bei einem Treffer alle futsch wären, bewog meine Mutter, beim nächsten Fliegeralarm mit uns Kindern Schutz in einem öffentlichen Luftschutzkeller zu suchen. Es war der Keller einer Schule auf dem Fürstenwall, der durch verschiedene Maßnahmen zu einem Luftschutzkeller ausgebaut wurde. Auch hier wurde meine Mutter, und zwar durch einen älteren Herrn, darauf hingewiesen, dass dieser Keller keineswegs sicher war. „Ja meinen Sie denn, dass uns hier eine Bombe treffen kann?“ fragte meine Mutter den Herrn. „Aber ja sicher, dieEngländer, diese Verbrecher, wollen uns doch alle kaputt machen!“ lautete die überzeugende Antwort. Damit stand für meine Mutter fest, dass wir diesen Luftschutzkeller auch nicht mehr aufsuchen würden.

Mit diesem Entschluss rettete sie uns wahrscheinlich das Leben, denn schon beim nächsten Luftangriff, den wir im Luftschutzkeller der PROVINZIAL verbrachten, schlug eine schwere Bombe genau neben der Schule auf den Bürgersteig ein und riss ein großes Loch in die Hauswand und zerstörte dabei auch Teile des Luftschutzkellers. Es gab mehrere Tote und viele zum Teil schwer verletzte Menschen. Unter den Toten war auch jener Herr, der meine Mutter auf die unzureichende Sicherheit des Schulkellers aufmerksam machte. Später, wenn in meiner Familie über die Schrecken des vergangenen Krieges gesprochen wurde, stellte meine Mutter sich die Frage, warum dieser Mann denn trotz der ihm bekannten Sicherheitsmängel in diesen Luftschutzkeller ging. Mein Vater meinte dann, dass es aus der Sicht dieses Mannes wahrscheinlich egal war, da die meisten Luftschutzkeller nicht ausreichend sicher waren.

In der Folgezeit wechselte meine Mutter immer wieder den Luftschutzkeller und jedes Mal hatte sie richtig gewählt. Später, als mittlerweile Erwachsenem, ist mir klar geworden, dass meine Mutter in all den Fällen ihrem Instinkt folgte. Ihrem Instinkt hatten wir es zu verdanken, dass wir den Krieg überleben konnten. Und mein Vater? Der war erstens ein Phlegmatiker, zweitens aber ging er nur selten mit in den Luftschutzkeller, weil er der Wachbereitschaft zugeteilt wurde. Die Männer der Wachbereitschaft sorgten dafür, dass während eines Angriffs nicht geplündert wurde und sie sollten im Falle von Bränden versuchen, das Feuer zu löschen.

Eines Tages bzw. eines Nachts war wieder Fliegeralarm und wir eilten zur PROVINZIAL, um in deren Luftschutzkeller Schutz zu suchen. Während die meisten Menschen stumm und voller Angst auf den Bombenangriff warteten, sang eine junge Frau bzw. Fräulein, wie man damals sagte, plötzlich völlig unerwartet den Schlager „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, nach jedem Dezember folgt immer ein Mai!“ Das veranlasste eine andere Frau zu der Bemerkung: „Da hätten Sie aber mal die Toten vom letzten Angriff sehen sollen, dann würden Sie jetzt nicht so lustig singen!“

Dann kam auch schon der Angriff. Es krachte und rumste, die Wände wackelten. In der Nachbarschaft gab es einige Sprengbomben-Volltreffer. Viele Häuser brannten lichterloh. Die wurden aber nicht von Sprengbomben getroffen, sondern von solchen Stabbrandbomben, mit deren einer ich ja schon eine Erfahrung gemacht hatte. Das waren achteckige Stäbe mit einem Durchmesser von etwa 5 cm und einer Länge von etwa 70 cm. Diese mit Phosphor gefüllten Stabbrandbomben durchschlugen die Dachziegel der Häuser und setzten die Dachstühle in Brand, was von den Bewohnern, die sich ja während des Luftangriffs in den Schutzkellern aufhielten, zunächst nicht bemerkt wurde. Den Brand bemerkten sie erst nach der Entwarnung, als sie die Schutzkeller verlassen konnten und dann feststellen mussten, dass die Bemühungen der Männer von der Wachbereitschaft leider vergeblich waren. Dann standen meistens nicht nur die Dachstühle, sondern auch die darunter liegenden Obergeschosse in Flammen. Die Böden der meisten damaligen Häuser waren nämlich nicht aus Beton, sondern aus Holz. Die Feuerwehren konnten bei der Vielzahl der Brände nur wenige Brandstellen rechtzeitig erreichen, sodass fast immer die Hausbewohner zusammen mit den Wachbereitschaften die Feuer selbst löschen mussten. Das gelang aber nur in wenigen Fällen, sodass die Häuser vollständig ausbrannten, was die Menschen fast hilflos mit ansehen mussten. Nicht selten sind auch Menschen bei den Löschversuchen ums Leben gekommen oder sie erlitten schlimmste Verbrennungen.

Nun war es aber so, dass nicht jeder Fliegeralarm auch einen Luftangriff im Gefolge hatte. Die englischen Bombergeschwader, die im Gegensatz zu den Amerikanern, die sich später an den Bombardierungen beteiligten, grundsätzlich nur in der Nacht kamen, veranstalteten immer ihre Täuschungsmanöver, sodass die deutsche Luftabwehr nie genau sagen konnte, welche Stadt nun „dran“ war. Es konnte zunächst immer nur die ungefähre Angriffsrichtung erkannt werden. Danach konnte also Aachen, Köln, Düsseldorf, Wuppertal, Duisburg oder irgendeine andere Stadt im Ruhrgebiet „dran“ sein. Die Alarmsirenen heulten dann über all den möglichen Angriffszielen und überall hasteten die Menschen in die Schutzräume, um voller Angst auf den Angriff zu warten. Die Angst ließ die Menschen erst los, wenn die Entwarnung kam. Einmal nach so einem „Gott sei Dank umsonst“ verbrachten Kelleraufenthalt, bekam eine Frau einen Lachanfall und rief laut mit singender Stimme: „Morgen gibt es neue Kartoffeln, neueKartoffeln, die schmecken besser!“ Jemand antwortete: „Nun gehen Sie schon nach oben, Sie mit den neuen Kartoffeln!“

Eines Nachts, es war wieder ein „Gott sei Dank umsonst“-Aufenthalt im Luftschutzkeller der PROVINZIAL, da wurde über die Sicherheit dieses Kellers gesprochen. Dieser Keller sollte angeblich ein Höchstmaß an Sicherheit bieten und eigentlich war die PROVINZIAL ein echter Geheimtipp für Schutzsuchende. Besonders der Luftschutzwart, er trug einen dunkelblauen Feuerwehrhelm, betonte immer wieder, dass dieser Keller absolut sicher wäre. Für die letzten Zweifler hatte er ein besonders überzeugendes Argument: „Da kann sogar eine 10-Zentner-Bombe kommen, hier kann uns nichts passieren. Im Übrigen kommen die Tommies, diese Lumpen, gar nicht mehr bis hier her, wir haben nämlich die beste Flak der Welt! Damit holen wir die alle runter, bevor die Düsseldorf überhaupt erreicht haben!“

Nun stellte jemand eine Frage, die bei meiner Mutter sämtliche Alarmsysteme aktivierte. Sie bekam dann einen Blick, den ich später als „Hühnerblick“ bezeichnete. Es war der Blick einer Glucke, die ihre Küken in Gefahr sah. Die Frage, von einem beinamputierten Herrn gestellt, lautete: „Wenn aber doch ein feindlicher Flieger durchkommt und seine Bombe genau in den Luftschacht hier herein fällt, dann sind wir doch alle tot, oder?“ Der Hühnerblick meiner Mutter ließ den Luftschutzwart nicht los. Sie hatte ihn damit gewissermaßen fest genagelt. Er schaffte es dann, zu Boden zu blicken und so konnte er eine Erklärung abgeben, die für die Meisten möglicherweise zufrieden stellend war, nicht aber für meine Mutter. Er meinte nämlich, dass es erstens für die Engländer unmöglich wäre, an unserer Flak vorbei zu kommen und zweitens genauso unmöglich, unseren Luftschacht zu treffen. Das wäre etwa so, wie wenn man aus einer Entfernung von 500 Metern mit einem Gewehr einen Stecknadelkopf treffen wollte. Das sollte ihm doch bitte sehr erst mal einer vormachen. Nein, nein, dieser Luftschutzkeller wäre absolut sicher und er würde deshalb auch seine Tochter mit den Enkelkindern immer in diesen Keller schicken. Während der beinamputierte Herr nur sagen konnte: „Ihr Wort in Gottes Ohr!“, behielt meine Mutter den Hühnerblick und das bedeutete, dass der nächste Luftschutzkeller ein anderer sein würde. Das war auch gut so, denn bei einem der nächsten Luftangriffe, den unsere Luftabwehr nicht verhindern konnte, wurde der Stecknadelkopf getroffen. Die Bombe, die in den Luftschacht sauste, war zwar nur von der kleineren Sorte, aber es gab einige Tote und Schwerverletzte. Das Gebäude der PROVINZIAL wurde dabei erheblich beschädigt. Auf Seite 42 des Buches „Hurra, wir leben noch! Düsseldorf nach 1945“ ist das zerstörte PROVINZIAL-Gebäude auf einem Foto zu sehen.

Meine Mutter brauchte aber nicht selbst Ausschau nach einem anderen Schutzraum zu halten, denn der für uns zuständige Blockwart teilte ihr mit, dass für uns in dem neuen Bunker unter dem Carl-Platz ein Raum für eine ganze Woche reserviert war. Wie ich mich erinnere, befand sich der Raum im zweiten Untergeschoss des Tiefbunkers und als wir ankamen, wurden wir von einer NSV-Schwester zu unserem Raum geführt. Es war ein sehr kleiner Raum mit zwei Etagenbetten. Der Geruch in dem ganzen Bunker hatte etwas aufdringlich Chemisches. NSV war übrigens die Abkürzung für „National-Sozialistische Volksfürsorge“.

Unsere Nachbarin in dem Bunker, meine Mutter kannte sie vom Sehen, äußerte den Verdacht, dass wir wohl alle „Hopps“ gehen würden, wenn die Frischluftzentrale von einer Bombe getroffen würde. Aber sonst wäre der Bunker absolut sicher. An den Hühnerblick meiner Mutter erinnere ich mich auch heute noch ganz genau.

Wieso aber sollten wir nur für eine Woche Schutz in dem Bunker finden? Der Krieg würde doch voraussichtlich viel länger dauern! Ja, die betreffenden Familien wurden per Los ausgewählt, um die Überlebenschancen möglichst gerecht zu verteilen und im Übrigen konnten die Menschen sich ja auch evakuieren lassen. Das Wort „evakuieren“ bedeutet im eigentlichen Sinne, dass ein Vakuum, also ein leerer Raum hergestellt werden soll. Es wurde aber auch im Sinne von „entleeren“ gebraucht. Im Krieg wurde dieses Wort dann gebraucht, wenn eine Stadt oder ein anderes bedrohtes Gebiet von seinen Bewohnern vorübergehend geräumt wurde. So wurden dann aus den Verschickten die Evakuierten.

Seit Anfang der 50er Jahre befindet sich auf dem Carl-Platz der Düsseldorfer Marktplatz und dass sich darunter einer der größten Bunker befindet, wissen nur wenige. An den Bunker habe ich aber noch andere Erinnerungen: Zunächst erinnere ich mich daran, als er gebaut wurde:

Meine Mutter hatte mich mal wieder zum Einkaufen mit in die Altstadt genommen. Vor einem Cafe standen etliche Leute, um den Arbeitern zuzusehen. Es waren besondere Arbeiter, die sich deutlich von allen Arbeitern unterschieden, denen ich bisher bei ihrer Arbeit zusehen konnte. Sie trugen alle die gleichen, blau-weiß gestreiften Anzüge und jeder hatte eine aufgenähte Nummer auf der Jacke.

Mir, dem 6-jährigen, fiel das enorme Arbeitstempo auf, das sie an den Tag legten. Ja wirklich, sie arbeiteten wie um die Wette. Uns Kindern blieb auch nicht der gehetzte Ausdruck in den Augen der Arbeiter verborgen. Es waren aber auch Männer in schwarzen Uniformen da und die trieben die Arbeiter an. Sie waren mit dicken Knüppeln bewaffnet und damit schlugen sie auf die Arbeiter ein. Auch mit Fußtritten geizten die Bewacher nicht. Ob ich den Mund aufsperrte oder irgendeine andere Gefühlsregung zeigte, weiß ich nicht mehr. Aber es war da so eine bebrillte, alte Frau mit einem Affengesicht, die sich genötigt fühlte, mir das, was ich da sah, zu erklären. Sie sagte: „Dat sind janz böse Männer, die de kleine Kindersches de Fingersches abjeschnitte habe. Die müsse bestraft werde, damit die dat nit mehr machen tun! Jut, dat wir de Führer habe, de tut nämlisch aufpasse!“ Wer der Führer war, wusste ich ganz genau, denn in der Schule wurde vor einiger Zeit sein Geburtstag gefeiert und der Herr Rektor hat uns Schülern erzählt, dass der Führer uns alle gerettet hatte. Die größeren Schüler sangen ein Lied, an dessen Text ich mich allerdings nicht mehr erinnern kann. Nun erfuhr ich von dieser alten Frau, dass der Führer auf uns aufpassen würde.

Meiner Mutter war die Frau wohl nicht ganz geheuer, denn sie ließ sich im Gegensatz zu ihrer sonstigen Gewohnheit nicht dazu verleiten, mit der alten Frau ein Gespräch anzufangen. Wir gingen also weiter und dass wir in diesem Bunker einmal Quartier beziehen würden, daran dachte meine Mutter wohl nicht. Später erfuhr ich, dass die blau-weiß gestreiften Arbeiter KZ-Häftlinge waren. Die schwarz uniformierten Männer aber waren Mitglieder der SS.

Nun zu der zweiten Erinnerung, die mich mit dem Carl-Platz-Bunker verbindet: Nach dem Kriege, Anfang der 50er Jahre, wurde im nördlichen Teil des Bunkers auf der ersten Tiefgeschoss-Ebene ein Lichtspieltheater, also ein Kino, eröffnet. Der Eingang war ziemlich genau an der Stelle, wo meine Mutter und ich den KZ-Leuten bei der Zwangsarbeit zusahen. Das Kino, es hatte den schönen Namen „Kurbelkiste“, befand sich im vorderen Haupteingang des ersten Tiefgeschosses und war mit keinem anderen Kino vergleichbar. Es war ein Non-Stopp-Kino, das heißt, Eintritt war zu jeder Zeit. Die Eintrittskarten kosteten auf allen Plätzen 50 Pfennige, was etwa 25 EURO-Cent entspricht. In den meisten anderen Kinos kostete die billigste Eintrittskarte so um die 1 DM und darin lag der besondere Charme der Kurbelkiste, denn bei meinem monatlichem Taschengeld von 5,00 DM im ersten Lehrjahr als Technischer Zeichner konnte ich monatlich zehnmal ins Kino. Dafür nahmen meine Freunde und ich auch einige Nachteile in Kauf: Der erste Nachteil bestand in dem eher geringwertigen Angebot an Filmen. Es waren meist amerikanische Streifen aus den frühen 30er Jahren, die wohl in Amerika keiner mehr sehen wollte. Da wurden Filme wie „El Zorro“, „Dr. Fu-Man-Schu“, „Rauchender Colt“, „Lasst ihn baumeln“ und ähnliche cineastische Kostbarkeiten gezeigt. Den Ansprüchen von uns 15-jährigen wurde damit aber voll Genüge getan. Als Hauptnachteil musste aber die Bestuhlung angesehen werden. Während alle anderen Lichtspieltheater mindestens Klappsessel hatten, bestand die Bestuhlung der Kurbelkiste nur aus alten Gartenstühlen und nicht immer erwischte man einen solchen mit intakter Rückenlehne. Ein weiterer, auch nicht ganz unwesentlicher Nachteil, wurde aber angesichts der billigen Eintrittskarten ebenfalls vom Publikum toleriert. Das war der Toilettengeruch. Der umwehte diejenigen, die im Mittelparkett Platz genommen hatten. Dafür war die Belüftungsanlage verantwortlich, die im Krieg möglicherweise doch einen Treffer abgekriegt hatte. Ab meinem zweiten Lehrjahr verbesserte sich meine finanzielle Situation so deutlich, dass ich die Kurbelkiste links liegen lassen konnte, da ich mir nun den Besuch des EUROPA-Palastes leisten konnte. Meine Eltern hatten mir nämlich das monatliche Taschengeld auf immerhin 8,00 DM erhöht.

Nun aber zurück zu dem Bunkeraufenthalt: Während der ganzen Woche, die wir in dem Bunker verbrachten, gab es keinen einzigen Fliegeralarm für Düsseldorf. Hätten wir also in unserer Wohnung bleiben können? Theoretisch ja, aber praktisch musste man jeden Tag mit einem Luftangriff rechnen.

Der Luftschutzkeller unter der Friedenskirche

Wie gesagt, musste man jeden Tag mit einem Angriff rechnen und der kam dann auch wenige Tage, nachdem wir den Bunker verlassen hatten. Meine Mutter wusste aber ganz genau, wo wir uns in Sicherheit begeben würden. Das war der Keller unter der evangelischen Friedenskirche an der Flora-Straße. Dieser Keller war angeblich ganz sicher und es gab niemanden, der irgendwelche Bedenken gehabt hätte. Der Einwand einer Nachbarin, wonach nur die Evangelischen Zutritt zu diesem Luftschutzkeller hätten, erwies sich als Blödsinn. Auch Katholiken, wie wir, durften da rein. Ich erinnere mich, dass dieser Luftschutzkeller besonders groß war. Anerkennend zeigte mein Vater auf die vielen Betonstützen, die dem Keller eine große Stabilität gaben. In einer Ecke stand die Frischluftmaschine, ein großer, fassähnlicher Rundkörper, der auf einem Stahlgestell ruhte. Ein dickes Rohr führte von dem Rundkörper zur Wand. Der Frischluftstutzen war oben auf dem Rundkörper angeordnet. Links und rechts war je eine Kurbel, ähnlich wie bei einer Heißmangel. Ich hatte versucht, mittels einer der beiden Kurbeln die Frischluftversorgung in Gang zu setzen, was mir aber nicht gelang, da mir die Kraft dazu fehlte. Als die Luft aber besonders miefig wurde, betätigten zwei Luftschutzwarte den Frischluftfilter, indem sie kräftig kurbelten. Die Frischluft, die sie dabei in den Luftschutzkeller pumpten, roch stark säuerlich.

Diesmal galt der Angriff zwar Düsseldorf, aber wir in Bilk bekamen nicht allzu viel mit und nach dem lang gezogenen Heulton der Entwarnung verließen alle den Luftschutzkeller. Dabei waren Ausrufe der Erleichterung wie „Gott sei Dank“,„noch mal Schwein gehabt“ und so ähnliches zu hören. Auf dem Heimweg in stockdunkler Nacht wurden die Menschen auch ein Bisschen übermütig und es kam vor, dass jemand laut lachte. Das kam übrigens öfters vor, dass zwar wir in Düsseldorf-Bilk verschont blieben, dafür kam aber in anderen Stadtteilen einiges herunter und wenn die Erwachsenen davon sprachen, dass diesmal Rath, Gerresheim oder Derendorf getroffen wurden, kam es mir vor, als würde über andere Länder gesprochen.

Was geschah eigentlich mit den vielen Toten, die aus den Trümmern geborgen wurden? Wenn die nicht unmittelbar nach ihrer Bergung von Angehörigen identifiziert werden konnten, wurden sie zum Zwecke der Identifikation in den Kirchen der einzelnen Pfarreien aufgebahrt. Wer also einen Angehörigen vermisste, konnte in die für den Vermissten zuständige Kirche gehen und dort nachsehen. Für uns war das die Sankt-Peter-Kirche. Es muss grauenhaft gewesen sein, wie ich einmal einem Gespräch meiner Mutter mit einer Nachbarin entnehmen konnte. Danach waren die Toten kaum zu identifizieren. Manchmal konnten von den Toten nur einzelne Gliedmaßen geborgen werden. Manche Leichen hatten große, aufgeblähte Köpfe, was von dem Luftdruck der Luftminen kam. Von abgerissenen Köpfen und zerfetzten Gedärmen war auch die Rede. Furchtbar muss aber auch der Geruch gewesen sein, der von diesen körperlichen Überresten ausging.

Andere Kinder hatten von ihren Eltern ähnliche Schreckensnachrichten gehört und darum gingen wir zur Sankt-Peter-Kirche, um uns selbst ein Bild zu machen. Den Weg hätten wir uns aber sparen können, denn Kinder durften da nicht rein. Das war nämlich nichts für Kinder, auch nichts für die größeren von uns. Wir sollten alle schnell nach Hause gehen. Wir blieben aber vor der Kirche und beobachteten die Leute, die hinein gingen. Sie gingen irgendwie anders, als Menschen normalerweise gehen. Selbst uns Kindern fiel auf, dass sie das Allerschlimmste befürchteten. Zögernd und voller Angst betraten sie die Kirche. Wie aber verließen sie die Kirche? Die eine Frau, die da heraus kam, schnitt Grimassen, die uns normalerweise zum Lachen verleitet hätten. Niemand von uns lachte aber. Andere Frauen mussten von NSV-Helferinnen gestützt werden. Zum Weinen fehlte denen wohl die Kraft. Dann kam ein Mann aus der Kirche und dem fehlte nicht die Kraft zum Weinen. Er weinte und schüttelte sich dabei. Das ein Mann weinte, verwunderte uns sehr, denn das ein Mann weinen konnte, hätten wir nicht für möglich gehalten. Vielleicht war es nur ein Gerücht, aber es wurde erzählt, dass einige Menschen nach dem Besuch der Kirche nach Grafenberg, das heißt, in die Psychiatrie mussten. Das hässliche Wort von der „Klapsmühle“ war damals noch nicht gebräuchlich.

Verschickung nach Thüringen

Dann kam von der NSV, also von der National-Sozialistischen-Volksfürsorge, die Mitteilung, dass meine Mutter mit meinen beiden Brüdern und mir nach Thüringen verschickt würden. Wie unsere Mutter uns erklärte, war Thüringen ganz, ganz weit weg von Düsseldorf. Die Eisenbahnfahrt, auf der mein Vater uns begleitete, fand in der Nacht statt. Das empfand ich zwar als sehr schade, weil ich ja nichts von der Landschaft sehen konnte und besonders gerne hätte ich doch Berge gesehen, aber es musste sein, weil es wegen der Engländer zu gefährlich war, tagsüber zu reisen. Deren Flieger hätten nämlich unseren Zug beschießen können. Das jedenfalls hatte mein Vater mir so erklärt. Aber auch nachts waren die Züge nicht immer vor Fliegerangriffen sicher. Bei sternklarem Himmel und bei mondhellen Nächten waren die Züge von oben gut zu erkennen und boten den Fliegern ein deutliches Ziel. Dagegen hatten die Zugführer aber ein Mittel: Sie konnten den Zug einnebeln, der dann nicht mehr zu erkennen war. Also nachts war es am sichersten, zu reisen.

Morgens kamen wir in Weimar an, wo wir umsteigen mussten, denn unser Ziel war Olbersleben, ein Dorf in der Nähe von Weimar. Meine Enttäuschung war riesengroß, denn entgegen den Versprechungen meines Vaters gab es in Olbersleben weder Berge noch Wald. Wir wurden bei einem Großbauern untergebracht. Der hatte 24 Kühe, zwei Ochsen, 8 dicke, fette Schweine und jede Menge Hühner, Enten, Gänse und Puten sowie Angst einflößende Truthähne mit ihren rotfleischigen Bärten. Die Zahlenangaben weiß ich von meiner Mutter, die sich aber auch nicht hundertprozentig sicher war, ob sie denn alle stimmten. Unser Bauer war aber wohl der größte in Olbersleben und die anderen Evakuierten hatten nicht so viel Glück wie wir, denn deren Bauern hatten bedeutend weniger Kühe. Für uns Kinder, die aus dem Rheinland hierher verschickt wurden, war es nämlich eine Prestigefrage, wie viele Kühe der jeweilige Bauer hatte. Ich war da also recht gut gestellt und trug ein entsprechendes Selbstbewusstsein zur Schau. In der Schule, ich besuchte mittlerweile die zweite Klasse, wurden wir Kinder aus dem Rheinland von der Lehrerin freundlich begrüßt und sie erklärte den einheimischen Schülern, dass wir ein schöneres Deutsch sprächen als diese. Das nahmen sie neidlos zur Kenntnis und es wurde uns von ihnen auch nicht übel genommen. Vielleicht bewunderten sie uns ja auch wegen unserer schöneren Aussprache.

Es gab aber eine Gruppe von Dorfbewohnern, die sehr wohl etwas gegen uns Rheinländer hatten und besonders auf mich hatten sie es abgesehen. Aus dem Weg gehen ging nicht, denn der Schulweg führte an denen vorbei. Das waren die Gänse der Bauern, die in der Mitte des Dorfes einen gemeinsamen Teich hatten und die Gänse waren sich darin einig, dass ich unerwünscht war. Ich hatte wohl so etwas an mir. Sie griffen an und ich musste laufen, so schnell ich konnte. Wer so etwas schon mal erlebt hat, wird zugeben, dass Gänseriche sehr bedrohlich sein können. Immer, wenn ich in der Folgezeit davon hörte, dass irgendein Bauer eine Gans schlachtete, fragte ich, ob diese Gans eventuell ein Gänserich war und falls ja, gab es bei mir kein Mitleid.

In Olbersleben wurde sehr viel gebacken. Das Gemeindebackhaus war in der Nähe der Schule und die Bäuerinnen und Mägde des Dorfes brachten auf großen, runden Backblechen, die sie auf dem Kopf trugen und mit einer Hand festhielten, den Kuchenteig zum Backen dahin. Meistens wurde Streuselkuchen gebacken. Aber auch Brote wurden von den Bäuerinnen selbst gebacken und die Brotformen waren große, flache Körbe. Entsprechend groß waren die herrlich duftenden Brotlaibe, die, wenn sie fertig gebacken waren, aus dem Ofen gezogen wurden. Ich dachte dann immer an Frau Holle und an die Gold-Marie, wenn die die fertigen Brotlaibe aus dem Ofen zog.

Wie alle Bauern im Großdeutschen Reich, war auch unser Bauer ein sogenannter Selbstversorger und dazu gehörte, dass er selbst schlachten durfte. Eines Tages wurde eine seiner dicken, fetten Sauen geschlachtet. Das machte der Bauer aber nicht selbst, sondern ein Schlachter, der für das ganze Dorf zuständig war. Die Schlachtung geschah vormittags, als ich in der Schule war. Als ich zurückkam, war die bereits geschlachtete Sau auf ein Gerüst gespannt und der Schlachter war dabei, die Innereien aus der Sau heraus zu holen. Für mich war das zwar kein schöner Anblick, aber ich machte eine Beobachtung, die mich faszinierte. Der Schlachter trug eine Gummischürze, die vom Hals bis zum Boden reichte und in Brusthöhe war eine Art Klappe, die er aufschlagen konnte. Als er die Klappe aufschlug, sah ich mehrere Fächer mit kleinen Gewürzbehältern. Mit seinem Messer schnitt er ein kleines Stück von den noch lebendwarmen Innereien heraus, bestreute es mit zwei oder drei Gewürzen und führte es zum Mund. Es schien ihm gut zu schmecken, denn er kaute mit Behagen. Als er merkte, dass ich ihn beobachtete, schnitt er ein anderes Stück aus dem Schweinekörper, bestreute es ebenfalls mit Gewürzen und bot es mir an. Erschrocken lief ich zu meiner Mutter und berichtete ihr von dem Angebot, das der Schlachter mir da gemacht hatte. „Ja, ja“, kommentierte sie, „die Metzger machen das immer so!“

Der Bauer hatte auch eine besondere Wurstküche, da wurden das aufgefangene Blut, die meisten Innereien und andere Teile der Sau zu Wurst verarbeitet. Dabei durfte auch meine Mutter helfen und abends gab es eine Wurstsuppe, die mir nach anfänglichen Vorbehalten gut schmeckte. Sie schmeckte sogar sehr gut.

Sehr deutlich erinnere ich mich auch an eine große Festveranstaltung, an der auch die Evakuierten, wir Rheinländer also, teilnehmen durften. Der Festsaal war mit Blumen und vielen, vielen Fahnen mit dem schwarzen Hakenkreuz im weißen Kreis auf rotem Grund herrlich geschmückt. Es gab Unmengen an Streuselkuchen, den die Bäuerinnen selbst gebacken hatten. Wir Kinder bekamen sogar Kakao, von dem wir so viel trinken konnten, wie wir wollten. Eine Musikkapelle spielte zackige Marschmusik, die mir sehr gut gefiel. Alle waren sehr lustig und viele der jungen Männer und Frauen tanzten. Dass auch viel geküsst wurde, fiel mir zwar auf, aber ich dachte mir natürlich nichts dabei. Auch merkte ich mit meinen sieben Jahren nicht, dass die große Lustigkeit nur eine scheinbare war. Später erfuhr ich von meiner Mutter, was da wirklich los war, dass sich hinter der lauten Heiterkeit auch viel Traurigkeit verbarg. Es war nämlich die Abschiedsfeier für die jungen Männer des Dorfes, die zum Militär eingezogen wurden. Dazu gehörte auch der Sohn unseres Bauern. Über der Musikkapelle hing ein riesiges Bild mit dem Porträt eines Mannes, der mit strengem Blick auf die Feiernden herab sah. Ich kannte und bewunderte diesen Mann. Es war der Führer des Großdeutschen Reiches Adolf Hitler, der so gut zu uns war und so viel für uns getan hatte.

Nach dieser großen Feier ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Der Bauer, der immer sehr freundlich war, obwohl wir ihm ja von der NSDAP als nicht unbedingt willkommene Gäste aufgezwungen wurden, änderte irgendwann sein Verhalten uns gegenüber. Er beachtete uns nicht mehr. Schuld daran war dieser Brief, mit dem ihm mitgeteilt wurde, dass sein Sohn für Führer, Volk und Vaterland gefallen war. Wir durften deshalb nicht mehr in die gute Stube.

Übrigens NSDAP: Das war die Abkürzung für „National Sozialistische Deutsche Arbeiter Partei“. Das hatte ich in der Schule gelernt. Wir Schüler mussten dem Lehrer dieses Wort so lange nachsprechen, bis es auch der letzte ohne zu stottern nachsagen konnte. Ja, damals waren die Schulen viel besser als heute, was auch durch die großen Lehrerfolge bewiesen werden kann.

Was die Gänse betrifft, so hatte ich doch bald einen Weg gefunden, der einen großen Bogen um den Enten- und Gänseteich machte. Dieser Weg war aber etwas weiter und führte am Friedhof vorbei. Wer oft an einem Friedhof vorbei geht, wird irgendwann Zeuge einer Beerdigung. Die Beerdigung, der ich als Zaungast beiwohnte, beeindruckte mich wegen der vielen Fahnen. Wie ein Meer wogten die Hakenkreuzfahnen im leichten Wind. Die Männer, die die Fahnenstangen hielten, trugen ausnahmslos braune Uniformen. Jemand hielt eine Rede, deren Worte ich nicht verstand. Sehr gut verstand ich aber dieses kurze, knappe „Sieg“, welches ein Mann laut bellend heraus schrie, sodass es sich wie „Sick“ anhörte. Dieses „Sick“ wurde von den anderen Trauergästen wie im Chor mit einem lang gezogenen „Heiiil“ beantwortet. Dieses „Sick Heiiil“ erscholl dreimal. Dann spielte eine Blaskapelle die ergreifende Melodie des Liedes „Ich hatte einen Kameraden.“ Das Lied kannte ich, mein Vater hatte es öfters zusammen mit anderen Männern in einer Wirtschaft gesungen. Da hatten sie aber schon einige Gläser Bier getrunken.

Ja, Heimweh bekam ich auch. Seltsamerweise hatte ich keine Freunde, und meine Brüder waren mir als Spielkameraden zu klein. Hinter dem Dorf gab es eine kleine Anhöhe und an späten Nachmittagen ging ich oft dahin. In weiter Ferne konnte ich die Konturen eines Gebirges erkennen. Die Berge sahen bläulich, gläsern aus. Ob dahinter wohl meine Heimatstadt Düsseldorf lag? Vor Heimweh weinte ich. Bis heute weiß mich nicht, ob es der Thüringer Wald oder ein anderer Gebirgszug war, den ich da sehen konnte. Ich muss da unbedingt einmal hinfahren.

Einmal fuhr meine Mutter mit uns Kindern, nach Weimar. Sie musste da etwas bei der NSV erledigen. Weimar fand ich langweilig, und dass in dieser berühmten Stadt Goethe und Schiller gewirkt hatten, wusste ich genau so wenig wie meine Mutter. Auch hätten die Namen dieser beiden Herren weder mir noch meiner Mutter etwas gesagt. Auch etwas anderes wusste meine Mutter nicht, nämlich, dass ganz in der Nähe von Weimar das berüchtigte KZ von Buchenwald war. Dass es allerdings so etwas wie KZ´s gab, wussten die meisten Menschen in Deutschland. Nur die wenigsten wussten aber, was da geschah. Man stellte sich da Arbeitslager vor, in denen Arbeitsunwillige zur Arbeit erzogen werden sollten. Andererseits sprach man aber auch davon, dass man aus einem KZ nicht lebend heraus kommen würde. War die vorgegebene Vermutung, es handelte sich um Arbeitslager, doch nur ein vorgetäuschtes Unwissen?

Obwohl es uns bei unserem Bauern recht gut ging, er hatte sich mittlerweile von dem Schock erholt, dass sein Sohn im Krieg gefallen war und wir durften auch wieder in die gute Stube, bekam auch meine Mutter Heimweh. Sie nannte diesen Gefühlszustand „Das arme Dier“. Unseren Vater, der zu der Zeit nicht mehr beim Militär war, sondern bei der Druckerei Granderath auf der Flora-Straße einen kriegswichtigen Posten (damals sagte man noch nicht „Job“ dazu) hatte, informierte meine Mutter mit einem Blitztelegramm darüber, dass wir in zwei Tagen zurück kommen würden. Blitztelegramme wurden für meine Mutter zum beliebtesten Kommunikationsmittel; es war aber auch das teuerste.

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