Mein Leben in 13 Runden - Ulli Wegner - E-Book

Mein Leben in 13 Runden E-Book

Ulli Wegner

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Beschreibung

Ulli Wegner ist mittlerweile der älteste Trainer im deutschen Profi-Boxen - und ungebrochen ehrgeizig. Seine Schützlinge gewannen 150 internationale Medaillen; als Profitrainer machte er sechs Weltmeister und fünf Europameister. Dreizehnmal in Folge wurde Wegner zum Trainer des Jahres gewählt. Wer so unermüdlich ist, hat auch immer wieder Neues zu erzählen. Deswegen legt er nach: Die erfolgreiche Biografie von 2012 erscheint mit vielen neuen Geschichten über Prinzipien, Leidenschaft und die Menschen, die sich im härtesten Sport der Welt durchboxen. Wie geht es mit dem Sauerland-Boxstall weiter, wenn er aufhört? Wie sehr fehlt Fritz Sdunek? Wegner ist ein Unikum, spricht aus, was er denkt, hat Haltung und Humor - ein (Lese-)Erlebnis, ihn in den Boxring und an die Stationen seines Lebens zu begleiten.

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ISBN E-Book 978-3-355-50038-8ISBN Print 978-3-355-01855-5

Aktualisierte Neuausgabe© 2017 (2012) Verlag Neues Leben, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlinunter Verwendung eines Fotos von André Kowalski

Die Bücher des Verlags Neues Lebenerscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

»Mein ganzes Leben war ein endloser Kampf zwischen dem Idealischen und dem Wirklichen, dem Alltäglichen und der Vision.«

Mikis Theodorakis

INHALT

1. KAPITEL: PENKUN

Wie ich die Flucht meiner Familie aus Stettin erlebte, wir in Büssow und Penkun Fuß fassten und ich zwischen Entbehrung und Lausbubenstreichen aufwuchs

2. KAPITEL: WANDERJAHRE

Wie ich auszog, um erst Traktoren- und Maschinenschlosser, dann Fußballer, Boxer und schließlich Boxtrainer zu werden

3. KAPITEL: BERLIN

Wie ich zum TSC nach Berlin kam, meine ersten Erfolge hatte und meine größte Niederlage kassierte, warum ich für drei Jahre suspendiert wurde und wie ich meine Frau Margret traf

4. KAPITEL: DER GOLDENE WESTEN

Warum wir uns keinen Jacobs-Kaffee schenken ließen und ich heute noch zu meiner DDR-Vergangenheit stehe

5. KAPITEL: IN SVEN OTTKES WELT

Wie ich einen tollen Jungen namens Svennie kennenlernte, wir den EM-Triumph 1991 erkämpften und warum ich mir sicher bin, dass wir von den Amateurbox-Mächten betrogen wurden

6. KAPITEL: UNSERE SIEGE, SIEGE, SIEGE

Wie ich ins Profilager wechselte und mit Sven Ottke die Boxwelt aus den Angeln hob

6. KAPITEL – TEIL 2: WIR SIND IMMER NOCH EIN TEAM

Was mich bis heute mit Sven Ottke verbindet und warum mich nur drei meiner Ehemaligen duzen

7. KAPITEL: AUF DER VIP-PARTY

Wie ich auf meine ganz eigene Art Siege erlebe und welche Menschen mir helfen, erfolgreich zu sein

8. KAPITEL: IN DER NOTAUFNAHME

Wie ich den Blutkampf von Wetzlar in der Ecke von Arthur Abraham überstand und warum ich ihm kein Wort von der schweren Verletzung sagte

9. KAPITEL: IN KÖNIG ARTHURS WELT

Wie der K.o.-Matador zu mir kam, warum ich weiter an ihn glaube und wie er mich manchmal zum Wahnsinn treibt

9. KAPITEL – TEIL 2: DER BEINAHE BESTE BOXER IN EINER ANDEREN ZEIT

Warum zwischen Arthur Abraham und mir keine Ruhe einzieht und ich mich (fast) nie um den Finger wickeln lasse

10. KAPITEL: DAS HERZ EINES TRAINERS

Warum jeder Boxer ewig ein Teil von mir bleibt und wie ich mit Tempo 260 ins Trainingslager raste

10. KAPITEL – TEIL 2: GRAND OHNE VIER

Warum ich so manchen Schützling schmerzlich vermisse und welche Frage ich noch an Marco Huck habe

10. KAPITEL – TEIL 3: FRITZ SDUNEK

Was mich auf ewig mit meinem alten Weggefährten verbinden wird

11. KAPITEL: UNSER WOHNZIMMER

Wie meine Frau Margret und ich leben und warum sie das große Geheimnis meiner Erfolge ist. Und warum Sie mir immer Zettel auf die Klamotten klebt

12. KAPITEL: MEIN HOBBYKELLER

Was mir meine Fußballidole und Westernhelden bedeuten und warum ich in diesem Kapitel eine große Bitte an Sie äußere

13. KAPITEL: WAS BLEIBT UND WAS BLEIBEN SOLL

Warum ich nach Penkun heimkehren werde

ZU GUTER LETZT

ULLI, WIR GRÜSSEN DICH!

LIEBE FREUNDE, LIEBE BOXSPORT-FANS!

Was Sie vor sich liegen haben, ist mein Leben. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist das Buch, das ich seit über zehn Jahren schreiben wollte und nun endlich fertigbekommen habe. Es sind die Geschichten, die mich zu dem Menschen gemacht haben, den Sie kennen. Aus dem Fernsehen, wenn ich in der Ringecke auf meine Boxer einrede oder einbrülle oder sie anflehe, den Kampf anzunehmen, zu bestimmen, zu gewinnen.

»Du kannst das doch!« – »Du willst das doch!« – »Streng dich an, dann schaffst du das!«

Während ich an diesem Buch gearbeitet habe, zusammen mit meinem Freund und Co-Autor Andreas Lorenz, ist mir eines klar geworden: Sehr oft in den entscheidenden Situationen meines Lebens war ich selbst dieser Boxer in der Ringecke. Derjenige, der sich dem Kampf und der Herausforderung stellen musste. Der sich oft vor Angst und dem Gefühl der Unterlegenheit ganz klein fühlte. Und mutlos. Tränen in den Augen, ein dicker Kloß im Hals, Zittern am ganzen Körper. Der, der aufgeben wollte. Oder einfach wegrennen.

Doch dann kam immer diese Stimme. »Du kannst das doch!« – »Du willst das doch!« – »Streng dich an, dann schaffst du das!«

Wenn ich heute auf mein Leben zurückblicke, dann komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was ist aus diesem kleinen Stettiner Flüchtlingsjungen geworden, der im Zweiten Weltkrieg erleben musste, wie seine Familie alles verlor und vertrieben wurde? Wie verrückt ist der Weg vom Steppke, angespült im vorpommerschen Penkun, der als Schuljunge Kühe hüten musste und nicht mehr als die achte Klasse schaffen konnte, wie verrückt ist der Weg von dort bis unter die gleißenden Lichter einer Profibox-Weltmeisterschaft. Bis unter die Augen von Millionen Zuschauern.

»Du kannst das doch!« – »Du willst das doch!« – »Streng dich an, dann schaffst du das!«

Kommen Sie mit auf die Reise meines Lebens. Lernen Sie die Menschen kennen, denen ich – die Worte sind groß, aber nicht groß genug – mein Leben verdanke. Feiern Sie mit mir große Siege und durchleiden Sie bittere Niederlagen. In meinem Sport, dem Boxen.

Jenem Wettkampf, bei dem das ganze Schauspiel, das ganze Gehabe, das ganze Gerede mit einem einzigen Moment endet: Gong zur ersten Runde. Mann gegen Mann. Und ich in der blauen Ecke, die meine Heimat geworden ist in all diesen Jahren. Boxen, ach, ich könnte 15 Bücher darüber schreiben. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich Sie nicht mit zu vielen Details langweilen werde. Dafür müssen Sie den Schmerz und den Schweiß aushalten. Die Brutalität und die Schönheit dieser Sportart. Die Kraft und, ganz viel davon, die Psychologie der körperlichen Auseinandersetzung.

Wer ist der Bessere? Wer ist der Stärkere? Wer ist der Sieger? Wer wird Weltmeister?

Begleiten Sie mich in die Trainingshalle, zu den Stars, mit denen ich arbeiten durfte und darf. Sven Ottke. Arthur Abraham. Markus Beyer. Marco Huck. Oktay Urkal. Oder Yoan Pablo Hernández, Robert Helenius, Dominik Britsch und Cecilia Braekhus. Aber schon vorher: Torsten Schlosser, Ronald Poyé, Eike Walther, René Ryl, Marco Rudolph. Fantastische Athleten. Es war und ist mir eine Ehre, diesen Kalibern etwas beigebracht zu haben und weiter etwas beibringen zu dürfen. In der Verantwortung zu stehen.

Aber glauben Sie mir bitte, dass mir in diesem Buch das Boxen gar nicht das Wichtigste ist. Sondern das Leben. Ich möchte, dass Sie den wahren Ulli Wegner kennenlernen. Nicht als Akteur auf der WM-Bühne. Nicht als Talkshow-Gast. Nicht als Objekt eines Zeitungsartikels oder eines noch so guten Porträts in der ARD.

Ich möchte, dass Sie am Ende dieses Buches wissen, wer ich wirklich bin. Wie ich ticke, was mich bewegt, was mich umtreibt und antreibt.

12 Runden dauern die größten Duelle im Boxen, die WM-Kämpfe. Ich habe diese Biografie »Mein Leben in 13 Runden« genannt, weil ich Ihnen verspreche, dass mehr darin steckt als Boxen. Eine ganze Menge mehr.

Jahrelang habe ich damit gekämpft. Jetzt liegt das Buch vor Ihnen.

»Du kannst das doch!« – »Du willst das doch!« – »Streng dich an, dann schaffst du das!«

Das war meine Motivation. Viel Spaß beim Lesen!

Ihr und euer

Ulli Wegner

FÜNF JAHRE SPÄTER, ABER LEISE IST ANDERS …VORWORT ZUR ERWEITERTEN NEUAUFLAGE

Liebe Freunde, liebe Boxsport-Fans,

fünf Jahre sind vergangen seit dem Erscheinen meiner Biografie »Mein Leben in 13 Runden«. Jetzt, da ich mit meinem Co-Autor und Freund Andreas Lorenz an einer aktualisierten Fassung arbeite, muss ich Ihnen allen erst einmal danke sagen!

Danke von ganzem, tiefem, aufgewühltem Herzen für die Reaktionen auf die Erstausgabe. Ich gebe es gerne zu: Ich hatte riesengroßen Bammel und viele offene Fragen vor dem Erscheinungstag. Damals im Frühjahr 2012.

Wen interessiert es denn wirklich, was ich erlebt habe? Was ich unbedingt aufschreiben wollte? Es gibt doch so viele Menschen, die viel Wichtigeres tun, als Boxer zu trainieren.

Der ganze Sektor der medizinischen Hilfe, von den großen Doktoren bis zu den hingebungsvollen Krankenschwestern und Pflegekräften, nötigt mir unglaublichen Respekt ab. Die Erzieher und Lehrer unserer Kinder. Diejenigen, die sich mit unermüdlicher Kraft und Liebe um Senioren kümmern. Ich bekomme Gänsehaut beim Gedanken an die Leistung, die diese Menschen täglich erbringen. Für andere Menschen!

Die Forschung für eine bessere Zukunft. Der Schutz unseres Lebens vor Terror und Gewalt. Die unglaubliche Verantwortung, die auf guten Politikern lastet. Ich sehe das alles und bewundere diejenigen, die es auf sich nehmen.

Ich hingegen lebe in einem Teil der Welt, der für wenige wichtig ist. Und ich bin fast k.o. gegangen, weil Sie alle, die mein Buch schon gelesen haben, mit so viel Anteilnahme, Sympathie und Zuspruch reagiert haben.

Wir haben viele Lesungen gemacht. Und jedes Mal war ich dankbar für jeden Besucher. Diese intimen Termine mit Menschen, die mich auf meiner Lebensreise begleiten; diese Veranstaltungen an vielen Orten, in verschiedenen Städten; dieses Beieinandersein, bei dem Sie mir Bedeutung beigemessen haben, und bei dem auch Tränen geflossen sind – was soll ich groß sagen außer noch einmal: Dankeschön für alles!

Dass ich mich jetzt entschlossen habe, »Mein Leben in 13 Runden« noch einmal zu aktualisieren, ist auch ein Ergebnis des ganzen Zuspruchs. Denn immer wieder kamen und kommen Menschen zu mir und sagen: »Herr Wegner, wir schalten beim Boxen vor allem deswegen ein, weil wir Sie als Trainer erleben wollen. Die Rundenpausen sind uns oft wichtiger als das Geschehen im Ring.«

Das schmeichelt mir natürlich. Aber ich muss Ihnen sagen, dass ich mit solchen Sätzen auch ein echtes Problem habe.

Ich, der Ulli mit den zwei »l«, bin nur deshalb dort oben nahe dem Scheinwerferlicht, weil es das Boxen, die Boxer und die ganzen Macher sowie Mitarbeiter gibt, die meinen Herzenssport am Leben halten.

Das Boxen ist mein Leben. Ein Trainer ohne Kämpfer ist nichts. Ein Trainer ohne Veranstalter wird nie aus seiner kleinen Boxhalle herauskommen. Ein Trainer, ganz egal wie gut er ist und wie viel Glück er in seiner Karriere hat, ist immer nur ein kleiner Teil des Erfolgs.

Lassen Sie mich deshalb hier ein bisschen über das Boxen an sich reden. Diese Sportart ist anscheinend wieder einmal in einer Krise in Deutschland. Doch jeder von uns, der den fairen Faustkampf liebt, kann seinen Teil dazu beitragen, dass der Boxsport sein x-tes Tief übersteht. Dass er mit tollen Athleten und spektakulären Kämpfen weiterlebt.

Wir alle müssen darauf achten, dass wir jungen Boxern und neuen Ideen rund um das Boxen eine Chance geben. Glauben Sie mir, denn das kann ich wirklich beurteilen: Sportler, die sich dem Boxsport hingeben, leisten Unfassbares schon im Training. An die europäische Spitze oder zu Weltmeister-Ehren zu kommen ist eine brutale Auslese. Ein Jugend-Nationalspieler im Fußball hat eine vielmals größere Chance, sein Talent zu einem Beruf zu machen, der ihn auch ernähren kann, als ein Deutscher Jugendmeister im Boxen.

Und ich stelle mich jeder Diskussion, dass die Boxhoffnung in diesem Vergleich mehr ackern, mehr entbehren und mehr riskieren muss.

Das Ergebnis bejubeln wir dann bei den großen Kämpfen, die im Fernsehen übertragen werden.

Meine große Bitte an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam für das Boxen kämpfen. Veranstaltungen gibt es zuhauf. Sicher auch in Ihrer Nähe. Ob es die Amateure oder Profis sind, diese Sportler haben sich meiner Meinung nach viel mehr Fans verdient, als die meisten von ihnen haben.

Gehen Sie doch einfach mal hin. Und dann noch mal. Und vielleicht immer wieder. Ich bin sicher, Sie werden es lieben. So wie ich es seit Jahrzehnten liebe.

Und noch ein kleiner Nachsatz an all jene, die mir – dem 75-Jährigen – einreden wollen, dass die Käfigkämpfe (Mixed Martial Arts heißt das wohl) dem Boxen den Rang ablaufen werden. Ich glaube es nicht; denn die besten dieser Kämpfer sind hervorragende Boxer. Die meisten dieser Kämpfe werden mit den Fäusten entschieden.

Das wollte ich einfach mal loswerden. Weil ich hoffe, dass mein Sport auch in weiteren 75 Jahren, also im Jahr 2092, immer noch glänzen und die Menschen faszinieren wird.

In diesem Sinne: Ring frei für die aktualisierte Ausgabe meiner Lebensgeschichte. Danke, danke, danke, dass Sie dieses Buch jetzt gerade in den Händen halten!

Ihr und euer

Ulli Wegner

1. KAPITEL

Penkun

Wie ich die Flucht meiner Familie aus Stettin erlebte, wir in Büssow und Penkun Fuß fassten und ich zwischen Entbehrung und Lausbubenstreichen aufwuchs

Ich habe geweint, wie nur ein kleiner Junge weinen kann. Erst laut und völlig geschockt. Dann leiser, aber abgrundtief verzweifelt. Ich habe geweint, als dieser unvorstellbar vollgepackte Lastwagen – so meine Erinnerung – aus dem Hof des Hauses in Stettin fuhr. Als meine Familie im Zweiten Weltkrieg endgültig ihre Heimat verlor. Als Vater und Mutter keine andere Lösung mehr sahen als die Flucht. Weg vom Krieg. Fort, nur fort von den nachrückenden Polen, die der russischen Armee nach der Eroberung von Stettin folgten. Meine Eltern verloren in diesem Moment ihre Wohnung, ihr Hab und Gut, ihr Alles!

Alles, was sie aufgebaut hatten, was sie bis dahin geschafft hatten, was sie waren – es wurde ausgelöscht.

Und ich weinte um mein Dreirad!

Bitte lachen Sie nicht über mich. Glauben Sie mir, auch wenn Sie den Zweiten Weltkrieg nur aus Büchern und Dokumentarfilmen kennen, dass nichts daran zum Lachen war. Diejenigen, die wie ich in der Kriegszeit geboren sind – ich kam am 26. April 1942 in Stettin zur Welt –, lachen sowieso nicht. Sondern halten den Atem an, weil bei ihnen (und bei mir, der ich beim Aufschreiben dieses Kapitels immer wieder Tränen vergossen habe) Erinnerungen hochsteigen. Erinnerungen an den Krieg, der mit seiner eiskalten Brutalität alles verändert hat. Und so vieles zerstörte.

Ich habe dieses Bild vor Augen: Die Tür zum Kellerverschlag, die Tür, die mich von meinem Dreirad trennte, die verhinderte, dass ich es mitnehmen durfte – und meine Seele sagt mir bis heute, dass es ein ach so großer Verlust war. Was sollte ich als nicht mal Dreijähriger auch anderes denken?

Dieses Dreirad war mein Ein und Alles. Aber die Älteren und die Erwachsenen haben sich nicht eine Sekunde um meinen Verlust gekümmert. Es ging um viel mehr.

Es ging darum, mit dem bloßen Leben davonzukommen. Wir sind richtiggehend getürmt. Hals über Kopf. Mit dem Nötigsten, und das war nicht viel mehr als das eigene Leben.

Es ging darum, nach einem ersten Abschied aus Stettin endgültig die Heimatstadt zu verlassen. Nach einer vorhergegangenen, hektischen, hilflosen Flucht mit einem Pferdegespann, nach der wir noch einmal nach Stettin-Scheune zurückgekommen waren.

Jetzt, beim zweiten Versuch, einen sicheren Ort zu finden, war es Anfang 1945. Und in meinem Gehirn flackern heute noch diese Bilder. Überlagert von den Gefühlen des Verlustes, der Angst, der Unsicherheit – das Wort Horror ist nicht zu groß, um das zu beschreiben, was ich damals empfunden haben muss.

Die Geschichte mit dem Dreirad, die mich immer wieder packt, wenn mich jemand danach fragt und so die Geister der Erinnerung erneut aufsteigen lässt, ist aber nur meine zweitjüngste Kindheitserinnerung. Und die allererste ist keinen Deut besser.

Wir sind mit dem Pferdewagen und dem bisschen Hab und Gut unterwegs, im Flüchtlingstreck, und plötzlich steht ein russischer Soldat mit angelegtem Gewehr vor meinem Vater. Ich sehe nur diese kleine Szene: Vati steht da, der Soldat vor ihm. Er brüllte und streckte fordernd die Hand aus – und mein Vater muss ihm die Uhr samt goldener Uhrkette und den Ehering aushändigen.

Die Kriegsgeneration wird verstehen, dass ich nie Genaueres über diese Begegnung erfahren habe. Ich weiß nicht einmal, ob sie der Auslöser für die endgültige Flucht unserer Familie aus Stettin war. Mein Vater und ich haben nie, nie, nie über solche Dinge gesprochen. Das war undenkbar. Das ging nicht. Bis zu seinem Tode waren Stettin, Flucht, Krieg, Sorgen, Verlust und vieles andere ein Tabu, an dem nicht einmal ich, der immer Aufbegehrende, den Hebel ansetzen konnte. Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, warum mein Vater 1944/45 zu Hause bei uns war. Ich weiß, dass er in beiden Weltkriegen Soldat war. Im Ersten Weltkrieg muss er schreckliche Dinge erlebt haben, im Zweiten ganz genauso. Aber 1943 – so denke ich – kam er nach Hause. Aus Gründen, die ich nie erfahren habe.

Noch einmal, ganz deutlich: Mein Vater und ich haben niemals über solche Dinge gesprochen!

Und wenn ich ehrlich bin, wollte ich das auch gar nicht. Denn vieles, was in meiner Kindheit passiert ist, ruht am besten in meiner Erinnerung. Daran zu rühren ist nutzlos und sinnlos. Die Zeiten damals sind so weit entfernt von unseren Luxusproblemen heute, dass es mir manchmal vorkommt, als hätte ich zweimal gelebt. Mindestens zweimal.

Aber eines war schon kurios: Selbst in dieser gnadenlosen Zeit zum Ende des Zweiten Weltkrieges spielte sich in meiner kindlichen Welt eine Geschichte voller Moral ab. Denn trotz der Bedrohung meines Vaters durch einen russischen Soldaten und dem Raub seiner wertvollsten Besitztümer habe ich nie Hass auf die Russen verspürt. Der Grund ist ganz einfach: In der Zeitspanne zwischen den beiden Fluchten, als wir zurückgespült wurden nach Stettin, waren zwei russische Offiziere für etwa vier Wochen in unserer Wohnung einquartiert. Ich war noch nicht mal drei Jahre alt, und die beiden waren nicht nur korrekt, sondern richtig liebenswürdig. Sie spielten mit mir, als wären sie Freunde der Familie, nahmen mich auf den Schoß, versuchten mir ein paar russische Worte beizubringen.

Okay, sie haben mir auch mal eine angezündete Zigarette in den Mund gesteckt und kräftig gelacht, was meinen Eltern gar nicht gefallen hat. Aber als meine Familie dann wirklich türmen musste, organisierten sie sogar den Lastwagen, der uns aus Stettin wegbrachte.

Verrückt, oder? Mitten im Krieg eine gute Seite und eine böse Seite der Sieger zu erleben. Ich denke oft über diese Szenen nach.

Gehen Sie mit mir noch einmal einen Schritt zurück. Ich möchte, dass Sie mein Elternhaus und meine Geschwister kennenlernen. Neben meinem strengen, aber zielstrebigen und pflichtbewussten Vater Karl war das Mutter Hedwig, die ruhige, ausgleichende Seele, die alles hingenommen und abgefedert hat, oft unter schlimmsten Bedingungen und Entbehrungen. Dazu kam meine Schwester Martha, genau 20 Jahre älter als ich. Als ich geboren wurde, heiratete sie einen Soldaten der Kriegsmarine in Kiel. Ich hatte also schon West-Verwandtschaft, bevor es dieses Wort überhaupt gab …

Und schließlich war da mein Bruder Friedrich-Wilhelm, für mich Fritz. Zehn Jahre vor mir auf die Welt gekommen. Mein Bezugspunkt als Kind, Jugendlicher und auch viel später noch ein sehr guter Bruder und Freund!

Genau alle zehn Jahre kam also im Hause Wegner ein Kind. Und ich als absoluter Nachzügler. Noch dazu war Vater genau zehn Jahre älter als meine Mutti.

Vielleicht haben Sie längst zu rechnen begonnen, ich helfe Ihnen ein wenig dabei. Das Geburtsjahr meines Vaters ist 1890, das der Mama 1900. Das heißt, dass ich eigentlich nicht in ein Elternhaus geboren wurde. Vater und Mutter waren mit 52 und 42 eher Großeltern. Opa und Oma.

Ob mich das belastet, geprägt oder beeinflusst hat? Sicher, aber erst Jahrzehnte später habe ich wirklich darüber nachgedacht. Meine Eltern haben meine Geburt ab und zu als »Unglücksfall« bezeichnet. Aber ich habe immer kapiert, dass das nicht gegen mich gerichtet war, sondern auf den Umstand, dass es viele Menschen in unserem Bekanntenkreis und Umfeld überrascht hat, dass ein Ehepaar mitten in den Kriegswirren in diesem Alter noch ein kleines Menschlein in die Welt setzte.

Es war eben ein Unglücksfall. Da hatten sie einfach recht.

Gespürt habe ich das vor allem an der Besorgtheit meiner Mutti. Sie hat sich immer viele Gedanken um mich gemacht. Aus der Verantwortung heraus, in einer verantwortungslosen Zeit mich geboren zu haben. Das war der Grund für ihre Angst um mein Wohl, das glaube ich ganz fest.

Aber gesprochen, Sie ahnen es, haben wir nie darüber.

Ach ja, eines gehört noch zu meiner frühesten Kindheit. Ein komischer Spruch. Der Postbote in dem kleinen Dörfchen, in dem wir nach der Flucht aus Stettin landeten, sagte immer: »Na, der Kleine ist aber einer aus dem letzten Wurf.« Ich musste 15 oder 16 werden, um zu verstehen, was er meinte. Gewundert hat es mich, aber nicht wirklich gestört. Wir hatten genug Probleme damals, Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre.

Das Dörfchen, unser Fluchtort, hieß und heißt Büssow und liegt 30 Kilometer westlich von Stettin, zehn Kilometer ins Landinnere von der deutsch-polnischen Grenze aus gesehen. Büssow ist ein Teil der Gemeinde Penkun, deren stolzer Ehrenbürger ich heute bin. Aber dazu kommen wir später.

Erst muss ich Ihnen noch ein bisschen mehr über unsere Familie und über meine Kindheit erzählen. Ich habe eine sehr gute Erinnerung, habe das auch später nutzen können – wenn ich meine Boxer mit Details überraschte, die sie selbst längst vergessen hatten. Oder vergessen wollten. Dennoch muss ich klarmachen, dass mir bei den meisten Geschichten, Anekdoten und hochsteigenden Emotionen die genauen zeitlichen Daten fehlen. Aber ich will und muss Ihnen trotzdem davon berichten. Weil es unerlässlich ist, wenn mein Leben ein stimmiges Bild ergeben soll.

Wir bekamen in Büssow eine kleine Landwirtschaft zugeteilt. Mein Vater kam aus einer Familie, die einen großen Bauernhof bewirtschaftet hatte. Er kannte sich also aus – obwohl er nie Landwirt hatte werden wollen. Sein Traum war es, als Jockey zu arbeiten. Doch seine Eltern, so erfuhr ich als Kind, waren strikt dagegen. Mein Vater hat wohl deshalb nie einen richtigen Beruf erlernt, hat aber immer gearbeitet, hat immer seinen Teil dazu beigetragen, dass seine Familie überleben konnte. Ganz egal, ob er eine Arbeit als Bürokraft hatte (später auch in einer LPG, einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft), ob er als Straßenarbeiter schuftete oder im Korn – so sagte man damals –, als Erntearbeiter.

Ich weiß auch noch, dass wir ganz am Anfang in Büssow ein Pferd ersteigerten. Ich habe noch die Bilder vor Augen, bestimmt, weil es ganz wichtig für unsere Familie war. Wie dann aber aus dem Pferd unsere Kuh wurde, von der noch die Rede sein wird, kriege ich nicht mehr zusammen.

Dafür spüre ich bis heute die bedrückende Stimmung, die in den Nachkriegsjahren über allem lag. Wir hatten immer zu essen. Nie im Überfluss, aber Vater und Mutti haben rund um die Uhr geschuftet, damit wir Kinder – damals ja nur noch Fritz und ich – nicht hungern mussten. Dennoch war der Hunger allgegenwärtig: Menschen kamen an unsere Tür, um zu betteln. Ein Stück Brot. Eine Tasse Mehl. Ein Ei. Und Mutti gab den Menschen, die oft nur noch Lumpen statt Kleidungsstücke am Leib trugen und meistens Städter aus Berlin waren, immer irgendetwas. Einen kleinen Teil von dem Nichts, das wir selbst hatten.

Die Städter kamen zum Stoppeln hinaus aufs Land. Stoppeln – dieses Wort kennen die Jüngeren garantiert nicht mehr. Es bedeutete eine fast menschenunwürdige Form der Nahrungssuche. Die Städter kamen und suchten auf den bereits abgeernteten Feldern nach verwertbaren Resten. Nach Mini-Kartoffeln, die liegen geblieben waren. Nach Maiskolben oder anderem – um wenigstens für ein paar Tage die kargen Rationen aufzubessern, mit denen sie sonst überleben mussten.

Heute geht es in den Supermarkt, wir laufen durch den Überfluss und haben die Angst, nichts zu haben, fast völlig verloren. Ich sehe natürlich mit wachen Augen, dass die Armut weiter Teil unserer Gesellschaft ist. Und in den letzten zehn, fünfzehn Jahren eher zu- als abgenommen hat. Aber Armut 2017 und Armut Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre sind nicht zu vergleichen. Basta.

Muttis Art, keinen Hungrigen oder Hilfsbedürftigen abzuweisen, hat mich tief beeindruckt. Hat mich geprägt. Mehr möchte ich dazu nicht ausführen. Außer dem Appell, dass ein jeder für sich überprüfen möge, wie sehr er armen, bedürftigen und in Not geratenen Menschen helfen kann.

Bis heute höre ich ein ganz bestimmtes Klopfen an unserer Wohnungstür in Büssow. Höre und sehe, wie Mutti dem Bettler erklärt, dass wir wirklich nichts mehr haben, was wir weggeben könnten. Und wie sie dann plötzlich mitbekommt, dass der arme Mensch auf unserer Schwelle nur noch einen Arm hat. Mutti ging zurück in die Küche und die Vorratskammer, die diese Bezeichnung nicht verdiente, und stellte für den Kriegsversehrten ein Päckchen zusammen, das bestimmt für eine Woche reichte.

Die Liebe meiner Mutter zu mir war grenzenlos. Und wichtig, weil Vater ein sehr strenger Mensch war. Fritz und ich haben unseren Vater verehrt. Weil er sehr zielstrebig war. Uns immer angetrieben hat, was zu werden. Zu lernen, um es mal besser zu haben. Das war der Grund für seine Strenge, das weiß ich. Aber er war auch ein verzweifelter Mann. Einer, der schwer daran zu tragen hatte, dass ihm das Schicksal immer wieder Knüppel zwischen die Beine geworfen hat.

Oft wurde in unserer Familie die Geschichte von dem großen Traum meines Vaters erzählt. Er wollte sich ein Auto kaufen und hatte endlich, endlich das Geld zusammen. Doch genau zu diesem Zeitpunkt brach der Zweite Weltkrieg aus. Und alles kam wieder einmal ganz anders.

Mein Vati hat nie in seinem Leben ein eigenes Auto besessen.

Dieser Satz mit seinen elf Worten löst auch 35 Jahre nach seinem Tod – er starb mit 90 Jahren – noch tiefe Traurigkeit in mir aus.

Mein Vater, bei all den schlimmen Dingen, die er mitgemacht hat, schuftete für seine Familie und lebte in sich zurückgezogen. Wenn wir nicht bestraft wurden, war es das größte Lob, zu dem er fähig war. Und wenn wir bestraft wurden … Darüber rede ich nicht. Aus Respekt vor meinem Vater, an dessen Grab ich mich bei der Beerdigung für sehr, sehr viel bedankt habe. Für fast alles. Aber nicht für die Momente der Bestrafung.

Zum Glück war da noch Mutti, die immer wieder versöhnend, abmildernd wirkte, und mir, ihrem Nachzügler, kaum einen Wunsch abschlagen konnte. Manchmal half sie mir sogar bei meinen Tricksereien. Denn unser Vater wusste ganz genau, was die größte Strafe für mich war, wenn ich wieder mal in der Schule nicht genug aufgepasst und eine 4 nach Hause gebracht hatte. Fußballverbot! Das Schlimmste für mich, den schulischen Saisonarbeiter, der während der Unterrichtsstunden lieber die Mannschafts-Aufstellungen für unsere Bolz­runde notierte.

Genau so war das: Fußball war und ist und bleibt meine große Liebe. Boxen kommt knapp dahinter, aber dahinter. Auch wenn Sie mir das nicht glauben! Aber das Kicken, Bolzen, Knödeln war schon als Kind meine Lieblingsbeschäftigung. Der Fußballplatz mein Paradies. Ich ­wollte immer Fußballprofi werden. Habe mein Leben lang die Mannschaften bei großen Turnieren bewundert – und die WM- und EM-Kader auswendig gelernt. Meine Liebe zum runden Leder ist riesengroß.

Fragen Sie mich nie, ob ich meine ganzen Erfolge im Boxsport für ein Länderspiel im Fußball hergeben würde. Bitte fragen Sie mich nicht!

Aber wenn Vater mich dann bestrafte, wenn er mir das Tollste nahm, das ich in meiner Kindheit hatte – Fußballspielen mit den Kumpels auf dem Bolzplatz –, dann hatte ich eine Verbündete in meiner Mutti. Unter der grauen Last des Fußballverbots schlich ich mich aus dem Haus – und am Fenster wartete Mutti mit meinen Töppen, den Fußballschuhen. Sie sagte kein Wort, weil sie aufpassen musste, dass mein Vater nichts mitbekam. Aber die Geste war unvorstellbar wichtig. Strenge und Liebe. Pflicht und Kindsein. Irgendwie machte das alle Entbehrung meiner jungen Jahre erträglich.

Auf der anderen Seite packt mich heute noch der Horror vor dem Kinder-Job, den ich schon mit sechs Jahren leisten musste. Kühe hüten, für meinen Vater und einen befreundeten Landwirt. Ich weiß heute, dass es gar nicht anders ging. Dass es viel zu viel Arbeit, Stress und Verantwortung war, die auf den Schultern von viel zu wenigen Männern (und Frauen) lastete. Aber das hilft nicht gegen die schlimmen Erinnerungen.

Können Sie sich vorstellen, wie sich ein Sechsjähriger fühlt, wenn er mit zehn Kühen weggeschickt wird? Zum Hüten. Zum Aufpassen. Zum nicht in der nächsten Sekunde aus Angst vor den riesengroßen, schnaubenden Tieren Davonlaufen.

Ich weiß bis heute nicht, wie ich das geschafft habe, damals, 1948 oder 49. Die Kühe folgten nie. Sie gingen dem benachbarten Bauern an den Klee, und der schrie mich an, ich solle besser aufpassen. Sie hauten einfach ab, fraßen Blumenbeete leer – sie machten nur nie das, was ich von ihnen wollte. Was ich erhoffte. Was ich mit gerade noch unterdrückten Tränen erflehte.

Kühe hüten mit sechs Jahren ist keine Idylle aus irgendeinem Heimatfilm! Es ist pure, nackte Angst – davor, etwas falsch zu machen. Angebrüllt, bestraft, geschlagen zu werden.

Und das alles für zwei Mark die Woche, die der andere Bauer meinem Vater dafür zahlte, dass ich seine Viecher mit betreute. Zwei Mark, die für die Familienkasse soooo wichtig waren.

Schwerer habe ich nie wieder in meinem ganzen Leben Geld verdient!

Zwei oder drei Jahre später, immerhin war ich schon große acht oder neun Jahre alt, war das Kühehüten fast schon Routine. Jedenfalls konnte es mich nicht mehr vom Fußballspielen abhalten.

Wir waren inzwischen von Büssow nach Penkun umgezogen. Damit musste ich nicht mehr vier Kilometer jeden Tag zur Schule und vier Kilometer zurück nach Hause laufen. Und wir hatten nur noch unsere eigene Kuh. Um die musste ich mich kümmern, aber wenn der Fußball rief, band ich das Tier einfach irgendwo fest. Dann ging es zu meinen Kumpels. Die Mannschaften wurden gewählt. Und stundenlang gab es keinen anderen Gedanken mehr in meinem Kopf als Fußball. Die Kugel erobern, nach vorne treiben und irgendwie einen Teamkollegen finden, der ein Tor machen konnte!

Ich behaupte einfach mal, dass meine Mannschaft die meisten Spiele gewonnen hat. Nach Hause lief ich dann stolz wie Fritzchen. Oder besser wie Fritz. Sie wissen schon, Fritz Walter. Der geniale Fritz Walter, der mit seinem Bruder Ottmar in der Nationalelf spielte und die 54er Weltmeisterschaft gewann.

Erinnerungen, die mich geprägt haben und bis heute eine Gänsehaut auslösen.

Ich wollte, wie gesagt, Fußballer werden, das war mein großer Traum. Und für den Traum vergaß ich alles. Vor allem die Kuh, diese dumme Fessel für meinen kindlichen Spieltrieb.

Manchmal hatte ich sogar Glück. Dann kam ich viel zu spät nach Hause, aber das Vieh war brav geblieben, hatte sich sattgefressen, und mein Vater lobte mich sogar, dass ich mir so viel Mühe gegeben hatte.

Aber regelmäßig ging es auch schief. In Penkun erzählt man sich die Geschichten heute noch. Wenn ich nach stundenlangem Gekicke zu der Laterne oder dem Pfosten kam, an dem ich die blöde Kuh festgebunden hatte, war sie nicht mehr da. Sie hatte sich losgerissen, irgendeinen Garten verwüstet – also wurde sie von einem erbosten Nachbarn nach Hause zu meinem Vater gebracht. Da stand er dann vor der Haustür und wartete schon auf mich. Puff, machte der Traum vom glorreichen Fußballerdasein, den ich mir mit jedem Schritt bunter ausgemalt hatte. Der Anblick meines Vaters ließ mein Blut gefrieren. Die Bestrafung war heftig, aber immer nur ein erster Teil. Denn sein Zorn verfolgte mich manchmal tagelang. Er fühlte sich im Stich gelassen von seinem verantwortungslosen Sohn und erhöhte deshalb noch den Druck auf mich.

Wenn er richtig sauer war, ging er früh einfach arbeiten, ohne noch zu mähen. Dann hatte die Kuh erst mal gar nichts zu fressen und ich alle Hände voll zu tun, um sie satt zu bekommen. Ich erinnere mich an Tage, viele Tage, die ein einziger Kampf waren, meine Pflichten zu erfüllen. Nichts anderes. Höchstens ein gutes Wort mütterlicherseits, ein kleiner Trost. Und sonst nur schwere, drückende Zeit.

Ich muss ihnen noch eine Geschichte erzählen, die wie ein Schatten über meiner Kindheit lag. Mein Bruder Fritz, der Müller gelernt hatte, war noch nicht mal 20, als er plötzlich verschwand. Er wollte zusammen mit ein paar Freunden im Westen sein Glück suchen, war abgehauen. Wie eine Glocke legte sich der Schmerz meiner Mutti über unsere Familie. Sie weinte den ganzen Tag, machte sich Vorwürfe und seufzte immer wieder: »Was wird nur aus Fritz? Was wird nur aus ihm?«

Fritz fand nichts Richtiges im Westen, zog mehr oder weniger ziellos umher, aber nach Hause kommen konnte er irgendwie auch nicht. Es dauerte über zwei Jahre, bis unser Vater ihn zurückholte. Aber Fritz, der eigentlich ein richtig schlauer Bursche war, bekam in der DDR keine echte Chance mehr. Er arbeitete als Traktorist, wurde aber in der LPG, die ihn beschäftigte, bewusst kurzgehalten. Mähen und pflügen, mehr ließ man Fritz nicht machen. Irgendwann war ihm das zu wenig und er suchte sich Arbeit bei der KIM.

Ich weiß ganz genau, dass 90 Prozent der Leser mit dieser Abkürzung nichts mehr anfangen können. Für uns in der DDR war das einer von Hunderten Buchstabenbegriffen, die unser Leben definierten. Von A wie ASK (Armeesportklub) bis Z wie ZK (Zentralkomitee) reichte der Bogen. Die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) war genauso wie zum Beispiel VEB (Volkseigener Betrieb) durch den häufigen Gebrauch auch im Westen bekannt. Der Begriff Kombinat Industrielle Mast (KIM) eher weniger. Hühnerfarm ist die korrekte Übersetzung, aber in der DDR sagte man oft nur Hühner-KZ.

Mein Bruder leitete in Mehro, nahe Bernau, vier Ställe. Und erzählte mir nach ein paar Wochen Arbeit bei der KIM eine Geschichte, die ich erst unglaublich fand, die mir aber, je älter ich wurde, immer wieder die Welt erklärte. »Du weiß schon«, sagte er zu mir, »dass die Eier der höchsten Qualitätsstufe nach Westberlin verkauft werden. Das ist von oben so festgelegt. Und wenn die in Westberlin nicht zufrieden sind, schicken sie uns 1000 oder 2000 einfach zurück. So läuft das.« Diese Eier wurden dann bei uns verkauft. Unter dem KIM-Werbespruch: »Köstlich, immer marktfrisch.« Propaganda eben.

Fritz war nicht der Einzige, der im sozialistischen Auftrag für den »Klassenfeind« arbeitete. Es gab viele derartige Beispiele – aber man musste nur eines hören, um die sozialistische Welt mit anderen Augen zu sehen. Fritz, der gerne mehr Verantwortung übernommen hätte, sich aber wegen seiner Flucht und Rückkehr arrangieren musste, hatte schon damals, in den 50er Jahren, ein feste Meinung, wie es mit der DDR enden würde. »So wie wir das anpacken, so komisch wie das alles läuft, wird unser Staat irgendwann bankrott gehen. Das ist nur eine Frage der Zeit.«

Natürlich machte nicht nur unser Staat Geschäfte mit dem Westen. Für eine Familie wie die unsere war es überlebenswichtig, die Möglichkeit dazu zu nutzen. Und weil das Leben manchmal kurios einfach ist, ging es auch um Eier.

Meine Mutter kaufte sie auf einem Hof in der Nähe, fuhr dann – als die Mauer noch nicht stand – mit der Bahn nach Berlin-Gesundbrunnen und konnte dort beim Weiterverkauf einen höheren Preis erzielen. Das ging so lange gut, bis sie einmal bei einer Kon­trolle erwischt wurde. 400 Eier wurden ihr abgenommen, und eine Geldstrafe kam obendrauf. Aufhören ging aber nicht, wir brauchten die paar Mark, die nach der aufwendigen Eierei in Muttis Geldbeutel blieben. Also machte sie weiter, kaufte Eier in Angermünde und fuhr von dort mit dem Fahrrad bis zum Gesundbrunnen. Über 80 Kilometer Strecke und dasselbe wieder zurück. Sie war schon deutlich über 50, hatte fast immer gesundheitliche Probleme.

Sie litt jahrelang an einem offenen Fuß. Die Ärzte, die für sie ansprechbar waren, konnten ihr nicht helfen. Jede Nacht lag meine Mutti stundenlang wach und schrie vor Schmerzen. Und ich zitterte mit ihr, war ein kleiner, verängstigter Junge, der nicht wusste, was geschah.

Am nächsten Morgen verband sie sich die offene Stelle und erledigte das, was der Tag von ihr verlangte. Garantiert auch unter schlimmen Schmerzen. Doch danach fragte niemand. Es wurde getan, was getan werden musste.

Wirklich außer Gefecht war sie nur einmal, als sie von einem Strohwagen gefallen war und sich den 12. und 13. Rückenwirbel angebrochen hatte. Damals gab es keine Spezialbetten, es wurde nicht operiert, es gab keine Spezialisten in unserer Gegend. Mutti war ein Vierteljahr im Krankenhaus, und die Therapie war: acht Wochen auf einem Brett liegen, damit die Wirbel wieder zusammenwachsen.

Ich selbst habe erst viel später realisiert, was Mutti in diesen ganzen Jahren für Strapazen auf sich nahm, um für mich zu sorgen. Als es geschah, sah ich nicht die 160 Kilometer auf dem Fahrrad, dachte nicht an ihre Pein, sondern freute mich nur über die Schokolade und die Drops, die sie mir aus Westberlin mitbrachte. Wenn ich mit einer Rolle Lutschbonbons auf dem Bolzplatz stand und die Kostbarkeiten an meine Kumpels verteilte, war ich der absolute King. Es greift mir heute noch ans Herz, wenn ich darüber nachdenke, wie viel Entbehrung und Liebe gleichzeitig in diesem einfachen Muttergeschenk steckte.

Wie unfassbar anders das heute ist. Wenn wir Besuch mit Kindern empfangen, dann haben wir Berge von Süßigkeiten zu Hause. Wenn ich irgendwo eingeladen bin, wo auch Kinder sind, bringe ich Schokolade und Gummibärchen mit. Auf meinen Hotelzimmern steht immer ein Korb mit Bonbons und Pralinen. Das ist alles gut und alles wunderschön. Aber der Geschmack der Drops, die meine Mutter aus Westberlin mitbrachte, war ein anderer. Und der Wert tausendfach höher. Eine Rolle hielt notfalls wochenlang. Wurde versteckt, wieder herausgeholt, nur angeschaut, die einzelnen Juwelen durchgezählt, wieder weggepackt. Und alles von vorn.

Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage: Die Nachkriegszeit mit all ihren Schrecken, Strapazen und Wirrnissen war auch eine unheimlich erfüllte Zeit. Jeder Tag, jedes Ding, jeder kleine Schritt nach vorne brachte ein intensives Glücksgefühl. Heutzutage, in unserer Luxusgesellschaft, haben wir verlernt, das kleine Glück zu sehen. Ich nehme mich da gar nicht aus. Wir haben viel mehr, aber das meiste davon ist uns weniger wert. Ich will auf keinen Fall den moralischen Zeigefinger herausholen, aber ich appelliere an Sie, doch einmal darüber nachzudenken.

Der Wert des Lebens, so wie ich es sehe, steckt nicht im Überfluss. Und, das darf ich ebenfalls aus eigener Erfahrung sagen, er steckt auch nicht in Armut und Entbehrung. Der Wert des Lebens steckt in den Menschen, die unser Dasein lebenswert machen. Die uns helfen, berühren, unterstützen, trösten, fördern und – die uns lieben.

Eine Rolle Drops kann pure Liebe sein. So denke ich darüber.

Wenn Sie gerade im Moment Ihr Herz klopfen hören, dann gibt es sicher auch in Ihrem Leben, in Ihrem geliebten Umfeld einen Menschen, der sich sehr über eine Rolle Drops freuen würde.

Lassen Sie uns zurückgehen, nach Penkun. Zurück in mein Leben als Schuljunge ohne jegliche Ambitionen. Ich war bestimmt kein Dummer, das habe ich später im Studium gezeigt – und im Leben auch ein bisschen. Aber ich hatte kein Interesse an dem, was die Lehrer da vorne erzählten.

Versuchen Sie mich zu verstehen. Das harte Leben, das ich Ihnen an einigen Beispielen erzählt habe – und von dem ich aus Vaterliebe trotzdem nicht jedes brutale Detail erwähne –, brauchte einen Ausgleich. Einen Gegenpart. Der hieß auch Ulli Wegner, hatte aber keine Angst vor Kühen oder vor einem in der Türe drohend wartenden Vater. Dieser Ulli war ein Lausbub, wie es keinen schlimmeren geben konnte.

Während der Unterricht lief, konnte ich nicht zuhören – ich musste den Nachmittag organisieren. Fußballmannschaften aufstellen. Spiele ausdenken. Ganz scharf nachdenken, bei wem eventuell die Eltern nicht da waren – das hieß dann sturmfreie Bude.

Schule war was für Streber. Für Leseratten. Für Muttersöhnchen!

Keiner von denen hatte wie ich die Gewissheit, mal durch seine Fußballkunst Spieler in der DDR-Oberliga zu werden. Für mich stand das fest. Ich würde Fußballer werden, damit mein Geld verdienen. Das waren keine Flausen, das war Tag für Tag für Tag der absolute Ernst für mich. Bis heute spüre ich den Stich, dass es nicht gereicht hat. Aber damals war es sonnenklar. Wer braucht da schon Schule?

Ich schrieb also Dreien und Vieren, musste sogar die vierte Klasse wiederholen. Allerdings nach einem langwierigen Kampf mit den Masern. Ich fiel mehrere Monate aus – und mit meinem Grundstock und meiner Unwilligkeit zu lernen konnte ich das nie und nimmer aufholen. Es gab doch so viel anderes zu tun. Ja, hätte ich denn auf die legendären Eishockey-Duelle Sowjetunion gegen Kanada verzichten sollen?

Dazu muss ich Ihnen erst einmal meinen besten Freund aus Kindertagen vorstellen. Roderich Packhäuser, genannt Packi. Naturtalent in allem, was Spaß und Laune macht – wir kommen noch dazu. Eigentlich ein ganz anderer Typ als ich, mehr verträumt und ruhig. Wir beide passten zusammen wie Pech und Schwefel oder wie Nitro und Glyzerin.

Packis Mutter war Direktorin unserer Schule. Sie wohnte im ersten Stock über einem Spielwarenladen. Teppiche oder Läufer waren echter Luxus, der Boden wurde gebohnert, bis man sich drin spiegeln konnte – das perfekte Eis für unsere Prestige-Duelle. Wir sind mit einem Ball und Stöcken immer um die Betten rum, mit vollem Karacho. Packi war die UdSSR und ich war Kanada, er der Techniker, ich der Kämpfer – und jedes einzelne Mal gab es eine Prügelei.

Packi war nicht nur talentierter als ich, er hatte auch mehr Kraft. Ich hatte nur meinen unbändigen Ehrgeiz entgegenzusetzen. Egal, wie oft er mich auf den Boden drückte oder in den Schwitzkasten nahm, ich ging keiner Auseinandersetzung aus dem Weg. Sowjets gegen Kanadier – hundertmal und noch viel öfter.

Für den Fall, dass seine Mutter nach Hause kommen würde, hatten wir auf dem Tisch, der irgendeinen anonymen Gegenspieler darstellte, fein säuberlich Ausschneidebögen für Flugzeuge gelegt. Und eine Schere daneben. Wenn wir sie kommen hörten, flog unsere Eishockey-Ausrüstung in die Ecke, und wir saßen in null Komma nix als brave Freunde nebeneinander und taten so, als würden wir basteln. Wir, mit unseren verschwitzten und zerzausten Haaren.

Die Ladenbesitzerin hatte sich garantiert schon wieder beschwert über den Lärm da oben. Der Boden trug die Spuren unserer wilden Eishockey-Schlachten. Mir brannte vor Peinlichkeit das Gesicht feuerrot. Aber nie im Leben hätten wir etwas zugegeben.

»Trickse doch nicht schon wieder herum«, pflaumte Packis Mutter ihren Sohn an. »Ihr habt doch wieder bloß rumgetobt.« Wir versuchten, ein verletztes Lächeln auf unsere Gesichter zu zaubern, und studierten die Bastelbogen, als gäbe es für den am tollsten ausgeschnittenen einen WM-Pokal.

Roderich Packäuser war mein erstes Vorbild. Mein erster Maßstab. Meine erste Herausforderung. Er war (und ist, wir kennen uns heute noch sehr gut) schon einen echte Nummer. Alles fliegt ihm zu. Gitarre spielen? Kein Problem, schau her, es geht doch schon! Leichtathletik? Kinderspiel, das gibt Platz 1 bei den Bezirksmeisterschaften! Fußball? Packi war einfach eine Augenweide, der Ball war sein Freund und kam an seinen Fuß, um zu kuscheln. Ich ackerte wie wahnsinnig, trainierte Stunde um Stunde, um sein Talent auszugleichen. Und zumindest im Sport ist es mir gelungen.

Er war das Naturtalent im Tischtennis; ich brauchte Wochen, um das Spiel richtig zu kapieren. Aber ich weiß es noch wie heute, als ich Packi dann zum ersten Mal besiegen konnte. Ihm waren der Sport und das Gewinnen viel weniger wichtig als mir. Er hatte gleich wieder etwas anderes im Sinn, für mich war es der Mittelpunkt der Existenz.

So bin ich gewachsen, gewachsen am Sport. Habe es durch Fußball, Tischtennis, Zimmerhockey und vieles andere geschafft, mein Leben zu definieren, ihm einen Inhalt zu geben – und daran zu wachsen.

Ja, ich sage ganz bewusst: Der Sport hat alles andere relativiert. Die Härte meines Vaters. Die gesundheitlichen Probleme meiner Mutter. Die Tatsache, dass ich mit Bezugspersonen zusammenlebte, die eher Oma und Opa waren als Mutter und Vater. Der Sport und meine absolute Verrücktheit danach gab mir einen Halt. Und Selbstvertrauen.

Ich war nicht mehr der Kuhjunge voller Angst. Ich war ein Kerl. Ulli Wegner. Ulli mit zwei L. Der kann was. Das sieht doch jeder.

Ich habe solche Entwicklungen später als Trainer tausendmal gesehen. Sport macht Menschen. Sport fördert zutage, was in einem steckt. Bei mir war es der Ehrgeiz, der in der Schule oder beim Kühe­hüten nie aufblitzte. In jedem anderen Bereich des Lebens habe ich erst mal geschaut, was so geht. Nur kein Übereifer. Wer als Erster fertig ist, kriegt garantiert noch mehr zu tun. Warum anstrengen, wenn man ganz locker auch über die Runden kommen kann? Im Sport habe ich immer Vollgas gegeben. Und der Sport hat mich dafür beschenkt mit allem, was sich ein Mensch nur erträumen kann.

Schon lange vor dem Ende der Schulzeit – ich habe nur acht Klassen absolviert, meine Noten waren nicht gut genug, um zehn Schuljahre voll zu machen – war mir klar, dass ich eine Lehre aufnehmen würde. Ich war 15 und konnte aufgrund der Altersverhältnisse nicht auf meine Eltern zählen. Als ich noch die Schule besuchte, ging mein Vater mit 65 in Rente. Mutti schickte ihn jedoch nach kurzer Zeit wieder arbeiten, weil er ihr zu Hause nur im Weg war. So blieb es, bis er 70 war.

Wer in der DDR keine Lehre machte, galt als Asozialer. Mal einfach so in den Tag hinein leben, das gab es nicht. Aber ich wollte das auch gar nicht. Ich wollte mich weiter abnabeln – und verließ als Lehrling das Elternhaus.

Und verließ Penkun. Das Städtchen, das in den Kriegswirren der Fluchtpunkt meiner Familie war. Aber im Laufe der Jahre zu dem wurde, was ich »mein Fleckchen Erde« nenne. Der Ort, zu dem ich eine ganz besondere, tiefgehende Beziehung habe. Ich fahre gerne dorthin, mag die Menschen, die Mentalität in Vorpommern, mag die Landschaft und das Essen. Und bin über alle Maßen stolz, in dieser Stadt meiner Kindheit und Jugend die Ehrenbürgerwürde verliehen bekommen zu haben.

Aber dennoch war es mir wichtig, Ihnen auch von den harten Zeiten in Penkun zu erzählen. Denn das kann sich doch heute niemand mehr vorstellen, wie wir damals nach dem Krieg gelebt haben. Wir hatten nichts. Überhaupt nichts. Und halfen immer noch Menschen, die noch weniger hatten.

2. KAPITEL

Wanderjahre

Wie ich auszog, um erst Traktoren- und Maschinenschlosser, dann Fußballer, Boxer und schließlich Boxtrainer zu werden

Das Elternhaus in Penkun verließ ich, als ich immer noch 14 Jahre alt war, um eine Lehre zu machen. Gelernt habe ich, volle drei Jahre lang, Traktoren- und Landmaschinenschlosser. Für mich eine logische Sache, weil rund um Penkun die Menschen in der Landwirtschaft arbeiteten und immer wieder Reparaturen an den Treckern, Mähdreschern und Zugmaschinen zu erledigen waren. Als Traktoren- und Landmaschinenschlosser arbeitete man in einer MTS, einer Maschinen-Traktoren-Station. Das war mein Ziel.

Aber erst einmal hieß das, auf eigenen Beinen zu stehen. 80 Kilometer von Penkun, meiner Heimatstadt, entfernt, kam ich in Anklam ins Internat. Das ungefähr war die Zeit, diese Jahre zwischen 1957 und 1960, in denen ich so langsam, aber ganz langsam, einen Blick fürs Leben bekam.

Da war die DDR, in der ich was erreichen wollte, noch ohne Mauer. Also war ich überall dabei, machte überall mit. FDJ (Freie Deutsche Jugend), Junge Pioniere, GST. Letzteres heißt Gesellschaft für Sport und Technik, eine Jugendorganisation, bei der man unter anderem den Führerschein machen konnte. Das alles braucht schon wieder eine Erklärung, und dazu muss ich ein bisschen ausholen.

Ich habe die DDR immer ernst genommen, war garantiert keiner, der aktiv am Ende des Sozialismus mitgearbeitet hat. Nein, ich habe mich arrangiert und war zufrieden, wenn ich das tun konnte, was ich tun wollte. Dass ich dennoch etliche Male angeeckt bin – ich werde Ihnen noch davon erzählen –, hat eher mit meinem Charakter, denn mit meiner politischen Einstellung zu tun.

Ich habe aber auch immer die Stimmen aus meinem Umfeld im Ohr gehabt, die sich kritisch mit unserem Staatssystem auseinandergesetzt haben. Nicht nur mein Bruder Fritz prophezeite den Untergang der DDR bei jeder Gelegenheit, auch mein Vater fand vieles, was nicht in Ordnung war. »Bei uns kann sich doch keiner entwickeln«, sagte er immer. »Das, was die Leute können, wird nicht gefördert. Es wird nur angeordnet, was zu tun ist.«

Er las jeden Tag die Zeitung. Und schimpfte jeden Tag darüber. »Das sind doch nur Lügen im staatlichen Auftrag. Das ist doch nur Propaganda. So sieht die Wirklichkeit in unserem Lande doch gar nicht aus.« Wenn ich ihn dann fragte, warum er jeden Tag eine Zeitung kaufte, die für ihn voller Lügen war, kam der entwaffnende Satz: »Ich muss mich doch informieren.«

In dieselbe Kerbe schlägt die Geschichte mit dem Fernseher. Ich habe meiner Mutti irgendwann einen gekauft – und Vater regte sich unglaublich darüber auf. »Was für eine sinnlose Geldverschwendung.« Dann aber war er es, der die ganze Zeit vor dem Bildschirm hockte. Und immer, wenn im DDR-Fernsehen Nachrichten oder ein politischer Beitrag gesendet wurden, aus dem Schimpfen nicht herauskam.

Viel wirkungsvoller als diese Systemkritik waren für mich als Teenager aber die Besuche in Westberlin. Ich hatte eine Tante und einen Onkel, die in der Prinzenstraße wohnten. In Kreuzberg. Nur ein paar hundert Meter im Westen – aber für mich eine ganz andere Welt.

Der Westen leuchtete, so albern das jetzt klingen mag. Im Westen brannten schon am frühen Abend die Straßenlaternen und die Lichter in den Läden und Häusern. Es gab Reklame und schon richtige Autos. Manchmal blieb ich ein paar Tage zu Besuch, dort drüben, in dieser anderen Welt. Wenn ich zurückkam, war ich immer noch kein Rebell. Ich habe die Unterschiede irgendwie akzeptiert. Aber die deutlich sichtbare Kluft zwischen Ost und West wurde praktisch jeden Tag größer.

Trotzdem: Ich wäre nie abgehauen. Ich hatte nie das Verlangen, meine Heimat, meine Freunde, meine Familie zu verlassen. Weder als junger Mensch noch später als Trainer, als ich auch Reisen ins westliche Ausland machen konnte. Ich war DDR-Bürger, ohne große Fragen oder Ansprüche zu stellen. Und habe die schlimmen Dinge, die passiert sind, einfach ignoriert.

Nennen Sie mich naiv oder feige. Für mich war der Marxismus-Leninismus, den wir in der Schule, der Lehre und auch später noch pauken mussten, eine Theorie, der ich durchaus zustimmen konnte. Als Theorie wohlgemerkt. Dass sie nicht funktioniert hat in der Realität, war jedem klar. Andererseits kamen wir auch alle irgendwie über die Runden. Und ich sage es gerne noch einmal: Ich war und bin kein Freiheitskämpfer. Ich habe die DDR und das Leben in diesem Staat einfach hingenommen. Mein Parteibuch habe ich auch erst nach der Wende abgegeben.

Ich wäre mir völlig bescheuert vorgekommen, wenn ich nach dem Mauerfall plötzlich alles verleugnet hätte, was 47 Jahre meines Lebens geprägt hat. Ich weiß, dass das ein hochsensibles Thema ist. Aber glauben Sie mir, die meisten Menschen in der DDR waren so ähnlich wie ich. Wir versuchten, das Beste aus der Situation zu machen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Vielleicht bin ich sogar ein gutes Beispiel für dieses Klarkommen mit einem Unrechtsstaat, weil ich mir meine Welt schon ziemlich zurechtgebastelt habe. Die Russen und andere sozialistische Bruderländer waren für mich schlimmer als die eigene Regierung. Um wie viel könnte es uns bessergehen, habe ich mir immer eingeredet, wenn wir keine Befehle aus Moskau entgegennehmen müssten.

Als ich später in Gera gelebt habe, als Boxer und als Trainer, habe ich gesehen, wie die Arbeiter in den Uran-Bergwerken schuften mussten. Schwerste körperliche Arbeit unter miesen Umständen. Weil jeder wusste, dass das ganze geförderte Uranerz nach Moskau ging, war für uns doch klar, wer die Bösen waren.

Ich wäre froh, wenn ich dieses Thema jetzt erst mal beenden könnte. Ein Ruhmesblatt für mich wird garantiert nicht draus. Aber genauso sage ich: Bei dem, was ich nach der Wiedervereinigung erreicht habe, dort, im goldenen Westen, war ich immer stolz auf meine fachliche Ausbildung in der DDR. Auf die Menschen, die mich gefördert haben, die etwas in mir gesehen und ihre Kompetenz an mich weitergegeben haben. Stolz und dankbar.

Wir müssen zurück nach Anklam, zum Traktoren- und Landmaschi­nenschlosserlehrling Ulli Wegner, der in der Berufsschule durchaus mithalten konnte und weiter in jeder freien Minute Fußball spielte. Wir hatten einen Mannschaftsbetreuer namens Berger. Herr Berger also. Was uns dazu brachte, ihn nach der 54er Trainerlegende nur »Herberger« zu nennen. Und mein erstes Lehrjahr brachte für mich, den Fußballverrückten, auch einen der größten Feiertage, den ich als Fan je erlebt habe. Am 14. August 1957 spielte Manchester United, damals eine genauso große Legende wie heute, im Berliner Olympiastadion gegen eine Westberliner Stadtauswahl. Ich war dabei!