Mein Leben, Teil zwei - Marlene Faro - E-Book

Mein Leben, Teil zwei E-Book

Marlene Faro

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Beschreibung

Marlene Faro hat Geschichte und Politikwissenschaften studiert. Die promovierte Historikerin war als Journalistin u. a. für «Geo», «Stern», «Globo», «Gong» und «Cosmopolitan» tätig. Ihr Debütroman «Frauen, die Prosecco trinken» avancierte zum Bestseller und wurde verfilmt. Neben weiteren Romanen hat sie auch Sachbücher geschrieben. Die Autorin lebt und arbeitet in Wien.

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Seitenzahl: 283

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Marlene Faro

Mein Leben, Teil zwei

Roman

Für M.

Wo xiang yao yi fen suan lai ji!

«Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen.»

Rainer Maria Rilke

«Die im Dunkeln sieht man nicht.»

Bert Brecht

«Qué será, será…»

Doris Day

Hundert Euro.

Hundert Euro mehr im Monat, diesen Wunsch habe ich vor drei Wochen meinen Chef Maximilian Neuner unter vier Augen wissen lassen, nachdem ich mich nächtelang mit Skrupeln herumgeplagt habe. Ist die Forderung nach einer Gehaltserhöhung zu dreist? Bin ich hundert Euro mehr im Monat überhaupt wert?

Andererseits, bekommen nicht ukrainische Luxus-Callgirls hundert Euro für eine einzige Stunde sogenannten Liebesdienst? Aber davon müssen sie natürlich die Hälfte wieder abliefern, an ihre Schlepper und Zuhälter, das weiß ich aus den Fernsehreportagen, die spätabends über meinen Bildschirm flimmern, das ist also kein so guter Vergleich. Und außerdem: Wer will schon unsere Politiker und Wirtschaftsbosse nackt sehen, also ich ganz bestimmt nicht, besten Dank!

Hundert Euro.

Mit hundert Euro mehr im Monat lässt sich eine Menge anfangen. Gutes tun zum Beispiel. Für blinde Kinder in Indien die rettende Netzhautoperation bezahlen, damit aus ihnen glückliche Teppichweber werden können.

Der Wunsch nach hundert Euro mehr im Monat vermag aber auch Klarheit zu schaffen. Und genau das ist mir, Henriette Herbst, sechsunddreißig Jahre alt, widerfahren.

Also,ich kann in beinahe fehlerfreiem Chinesisch mein Hühnchen süßsauer bestellen, schließlich habe ich sieben Semester lang Sinologie studiert, ehe ich fatalerweise den Verlockungen der Werbebranche erlegen bin.

Ich kann einen erstaunlich köstlichen Schokoladenkuchen backen. Schneidet man diesen nach dem Auskühlen außerdem noch in quadratische Stücke, dann erhält man Brownies, das klingt auch gleich viel schicker, und sogar Fiona, die Besitzerin der weltweit größten Sammlung falscher Louis-Vuitton-Taschen, kommt dann vorbei, um ein Eckchen anzuknabbern.

Ich kann angeblich Männer glücklich machen. Wenigstens in den ersten sechs Monaten, spätestens im siebten Monat beginnen sie zu strampeln wie ein nach Freiheit dürstendes Baby im Mutterleib. Oder sie verkrümeln sich wie die Brownies in meiner Keksdose, ein übernatürliches Phänomen, das ich seit Jahren vergeblich zu ergründen versuche.

Und ich kann mit drei Bällen jonglieren.

Was ich NICHT kann: Männern im Allgemeinen und Chefs im Besonderen Honig um den Bart schmieren, wenn sie in Wirklichkeit Hohlköpfe sind. Deshalb bin ich

a) ledig

b) arbeitslos.

Ersteres übrigens seit meiner Geburt, Letzteres seit vorgestern, also Freitag, als dieses feige Schreiben in meinem Briefkasten lag. Dem Umschlag war gleich anzusehen, dass er irgendetwas Unangenehmes enthalten würde, eine Mahnung meiner Bank oder die Handyrechnung, so angenehm wie ein Häufchen Hundekot, das berühmte Filmstars doch angeblich immer wieder von Verrückten zugesandt bekommen. Aber der Inhalt des Schreibens hat jeden stinkenden Haufen bei weitem übertroffen:

Sehr geehrte Frau Herbst,

sosehr ich es im Namen unseres gesamten Teams bedauere, muss ich Sie doch leider über die Entscheidung der Unternehmensleitung in Amsterdam in Kenntnis setzen, dass Ihre Stelle aus Kostengründen ab sofort ersatzlos gestrichen wird. Dieser Entschluss hat nicht im Geringsten mit Ihren ausgezeichneten Fähigkeiten zu tun, sondern ist einzig und allein aus wirtschaftlichen Erwägungen erfolgt. Wir alle wünschen Ihnen nur das Beste für Ihre berufliche wie private Zukunft und hoffen sehr, dass Sie unserem Unternehmen gewogen bleiben.

Maximilian Neuner

Geschäftsführer,

Hendricks & Partners

Zum Glück habe ich diese Zeilen erst in meiner Wohnung gelesen und nicht, wie ich es normalerweise tue, gleich unten im Treppenhaus. Mir ist nämlich ein bisschen schlecht geworden, so wie damals Ostern 1983, als mein Meerschweinchen Benni sich unter einem Kissen versteckte, das von mir höchstpersönlich mit einem ponyähnlichen Wesen bestickt worden war. Ausgerechnet auf dieses Kissen hat sich dann Tante Roswitha gesetzt, die bei uns übers Wochenende zu Besuch gewesen ist. Irgendwie habe ich diesen Ostersonntag seither völlig verdrängt, nur an das Quieken von Benni kann ich mich noch erinnern, sein letztes übrigens.

Und eben solch ein grässlicher Laut ist auch meiner Kehle entschlüpft, beim Lesen der Zeilen von Maximilian Neuner, Geschäftsführer der hiesigen Filiale der weltweit agierenden Werbeagentur Hendricks & Partners – als ob ein riesengroßer, fetter Hintern sich auf mich draufsetzen würde. Aber es ist natürlich nicht mein letztes Quieken gewesen, ich habe vielmehr tief und entschlossen durchgeatmet, so wie Catwoman, bevor sie quer über die Schluchten Manhattans von einem Wolkenkratzerdach zum nächsten springt. Dann bin ich mit ziemlich weichen Knien zur Küchenzeile gestakst, die durch einen Tresen vom Wohnzimmer getrennt ist, und habe mir einen extrastarken Espresso durch die Maschine laufen lassen. Während der Kaffee gegurgelt und gezischt hat, habe ich versucht, ganz ruhig nachzudenken und eine sachliche Bilanz der jüngsten Ereignisse zu erstellen. Diese ergab Folgendes:

Max Neuner, dieser unfähige, hinterhältige, miese Schleimer, schickt also allen Ernstes seine rechte Hand und wichtigste Mitarbeiterin, nämlich mich, in die Wüste – «aus Kostengründen», wie charmant. Zu Weihnachten ist ja bereits Dorothée von der Controlling-Abteilung gekündigt worden, ebenfalls «aus Kostengründen», aber jeder hat natürlich gewusst, warum. Melanie Griffith ist eindeutig zu alt für Antonio Banderas, und mit vierundvierzig ist man zu alt für unser Team, sorry, Dorothée.

Ich hingegen, ich werde im Januar, also erst im nächsten Jahr, bitte schön, siebenunddreißig, dazu der Bonus der oberen Ränge, also habe ich mich irgendwie sicher gefühlt, wenigstens noch für die kommenden drei, vier Jahre.

Wie konnte mir das bloß passieren? Ich war doch immer bestens ins soziale Netz eingestrickt, zuerst der Kindergarten, dann die Schule und das Studium, und schließlich bin ich in mein schickes Dasein einfach so hineingerutscht, Ende der Neunzigerjahre, als es mit den Aktienmärkten immer nur bergauf zu gehen schien, der Sonne und dem Zweitwohnsitz in Kitzbühel entgegen. Kann der diskret unter vier Augen geäußerte Wunsch nach einer winzig kleinen Gehaltserhöhung wirklich so katastrophale Folgen haben? Bestimmt bin ich ein Opfer dieser globalen Wirtschaftskrisen, die uns neuerdings ständig beuteln. Hongkong schwankt, der DAX wackelt, die New Yorker Börse zittert, und Bill Gates ist auch nicht mehr der reichste Mann der Welt. Zack, jetzt hat es eben mich erwischt! Oder all das ist nur ein riesengroßes Missverständnis, eine Kurzschlussreaktion, die alle Beteiligten schon bald zutiefst bereuen werden!

Denn einen anderen Grund kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Die beiden letzten Kampagnen habe ich praktisch im Alleingang betreut, im Frühjahr habe ich mich sogar mit einem schmerzhaft verrutschten Lendenwirbel in dieses zugige Angeberloft geschleppt, und das soll nun der Dank sein? Jetzt soll ich plötzlich zu den Versagern gehören, zu den bedauernswerten Geschöpfen, die sich auf Arbeitsämtern herumdrücken und ihre Tage mit der Jagd nach Aldi-Schnäppchen verbringen? Nicht mit mir, ich werde…

Das Handy läutet in den Tiefen meiner Handtasche, aber ich bleibe einfach sitzen. Meine Cousine Kathi, wer sonst, die mich am Wochenende immer mit Vorschlägen zur Freizeitgestaltung aus meinem Dasein als vereinsamte Karrierefrau erlösen will, die gute Seele!

Hallo, Kathi, du, in Zukunft habe ich auch am Montag Zeit, und am Dienstag und am Mittwoch, stell dir vor, außerdem am Donnerstag, ulkigerweise auch am Freitag, na, wie wär’s, wir könnten schwimmen gehen oder joggen oder endlich mal ins Museum, was sagst du?

Genauso werde ich Kathi die Neuigkeit beibringen, ganz locker, aber erst beim nächsten Klingeln.

Wo bin ich stehengeblieben? Ach ja, bei diesem besagten Missverständnis, meiner Kündigung. Denn es kann sich einfach nur um ein solches handeln, was sonst? Oder… ich werde innerhalb der nächsten Minuten aufwachen und auf meinem wirbelsäulenfreundlichen Futon liegen und mir vornehmen, nie wieder Raclette zu essen, Käse am Abend bekommt mir einfach nicht. Oder aber, noch viel besser: Mein Gehalt ist endlich erhöht worden, doch der freudige Schreck hat eine Fehlzündung in meinem Hirn ausgelöst, nicht weiter tragisch, ein paar Tropfen Bachblüten, ein entspannendes Melissenbad, schon hat man so einen kleinen Nervenzusammenbruch wieder im Griff!

Nur, all diese Möglichkeiten drehe und wende ich bereits seit Freitagabend wie Puzzleteilchen, die sich einfach nicht ins Bild vom armen, verratenen, aber guten und schönen Schneewittchen pressen lassen. Parallel dazu habe ich meinen Vorrat an Bachblüten aufgebraucht, meinen Organismus mit Nerventee entgiftet und meine Schläfen mit Rosmarinöl besänftigend massiert. Jetzt ist Sonntagmorgen, und ich fühle mich fast ein bisschen high, so wie damals, als wir im Nachmittagsunterricht aus Langeweile Abführtabletten mit Cola Rum runtergespült haben.

Das Handy klingelt schon wieder, du lieber Himmel, hat man denn nicht einmal im Morgengrauen seine wohlverdiente Ruhe? Griesgrämig drücke ich die grüne Taste: «Hallo.»

«Henny, endlich! Wo steckst du denn? Es ist gleich elf! Wir hatten doch ausgemacht, dass wir…»

Kathi, wer sonst.

«…uns zum Brunch bei diesem neuen Italiener treffen, aber dafür ist es jetzt fast schon etwas spät, findest du nicht? Du weißt ja, ich brauche morgens einfach etwas im Magen, deshalb habe ich schon zwei Croissants verdrückt, blöd, ich weiß, aber dafür mache ich seit voriger Woche Dinnercancelling, na ja, ich versuch’s zumindest, soll ja sehr gesund sein, kein Bissen mehr nach vier Uhr – ist ganz schön hart, sag ich dir, aber es macht auch…»

Soll ich die gute Laune meiner herzallerliebsten Cousine wirklich durch mein Missgeschick trüben?

«…und du, Henny, wie geht’s dir denn so? War die Woche sehr anstrengend?»

«Oooch, geht so. Du weißt ja, wie immer, das Übliche. Neuner legt die Beine hoch und lässt uns schuften, ich war praktisch nie vor neun zu Hause…»

«Du klingst auch ganz schön fertig, Henny. Soll ich einfach vorbeikommen? Wir könnten…»

«Nein, nein, ganz bestimmt nicht, danke. Ich muss noch ein paar Unterlagen durchsehen und etwas aufräumen, und dann will ich einfach gemütlich herumhängen, das tut mir bestimmt gut, glaub mir. Wir können uns ja nächste Woche treffen, was meinst du?»

«Schon gut.» Kathi klingt ein bisschen enttäuscht.

«Tut mir leid, Kathi, aber ich brauche heute einfach meine Ruhe.»

«Macht nichts, Henny, ich weiß ja, was für einen Stress du hast! Pass auf dich auf, okay? Und bis bald, versprochen?»

«Versprochen! Grüß mir Rolf, ja?»

Ufff!

Henriette, du feige Socke!

Was mache ich bloß für einen Aufstand wegen dieser bisher einzigen und winzig kleinen Panne in meinem stromlinienförmigen Lebenslauf? Allmählich fühle ich mich ja, als ob ich mir mit einer einzigen unbedachten Liebesnacht Aids eingehandelt hätte! Nur– Aids gilt in meinen Kreisen als so unendlich viel schicker als Arbeitslosigkeit. Bei Modeshootings gehört das rote Schleifchen am Kragen so selbstverständlich dazu wie ein Kondom mit Mangogeschmack in der Handtasche. Und wenn es eine oder einen von uns doch mal erwischt, dann werden Spendengalas organisiert, und jeder will sich hervortun, sein Mitgefühl zu beweisen. Aber ohne Job dastehen?

Ich rapple mich hoch, gehe zum Schreibtisch und krame zwischen Zetteln und leeren Tassen. Dann habe ich das Gesuchte endlich gefunden, ich angle eine Ultralight aus dem Päckchen und zünde sie so ungeschickt mit einem Streichholz an, dass mir das Flämmchen prompt die Fingerkuppen versengt. Seit zwei Stunden rauche ich wieder, nach sieben Jahren Pause. Bis morgen früh darf ich dieser kleinen Schwäche aller kreativen Köpfe frönen, so lautet der Deal, den ich mit mir selbst ausgehandelt habe, bei einer Tasse schwarzem Kaffee und einem vertrockneten Hörnchen.

Nachdem ich also heute Morgen alle Argumente für und gegen das Rauchen sorgfältig abgewogen habe (zugegebenermaßen ist die Liste etwas contra-lastig ausgefallen, aber es gibt einfach Momente im Leben, da macht die Selbstdisziplin so schlapp wie ein versehentlich zu heiß gewaschener Wonderbra), bin ich runter zum Automaten an der Bushaltestelle gehetzt und habe bange Minuten damit verbracht, die Bedienungsanleitung zu verstehen. Zum Glück habe ich genügend Kleingeld gehabt, unglaublich, wie teuer das Rauchen in meinen nikotinfreien Jahren geworden ist! Wer soll sich dieses Laster eigentlich noch leisten können? Und jetzt sitze ich da und stelle fest, dass sich Zigaretten immer noch wegpusten lassen wie Löwenzahn auf einer Sommerwiese, einszweidrei, gleich ist die Packung leer.

Max, diese Karikatur von einem Chef, hat also mich, seine inoffizielle Stellvertreterin und wichtigste Mitarbeiterin, gefeuert. Hundertprozentig ist es einer der schlimmsten Fehler meines bisherigen Lebens gewesen, damals mit ihm ins Bett zu gehen, nach dieser tödlich langweiligen Konferenz mit einem Marmeladenhersteller und seinen Beratern. Als mir mein alter Kollege Max Neuner nach drei Mojitos an der Hotelbar plötzlich so einfühlsam und witzig vorgekommen ist, dass ich heute noch den Verdacht hege, im Mojito wären statt der üblichen Minze ein paar Coca-Blätter geschwommen.

Ins Bett zu gehen ist übrigens die absolut präzise Beschreibung dieses unglückseligen Abends in einer typisch trostlosen Junior-Suite der mittleren Preiskategorie, zu mehr ist es nämlich gar nicht gekommen. Max war so lahm wie der Flügel einer Stockente, nachdem sie von Hammerfest nach Mombasa geflogen ist (falls dies wirklich die Flugroute der Stockenten ist, leider erinnere ich mich an das Märchen von Nils Holgersson nur noch verschwommen). Irgendwann ist Max dann endlich eingeschlafen, und ich bin in mein Einzelzimmer mit Blick auf den Parkplatz zurückgeschlichen und habe mich den Rest der Nacht vor dem Frühstück gegruselt.

Wie sollte ich das Aufeinandertreffen über zerfließenden Eidottern und brutzelndem Speck bloß angehen? Unbeschwert fröhlich, hallihallo, na, ausgeschlafen, für mich Darjeeling mit Limone, bitte! Oder mit warmem Verständnis im Blick, das kann doch jedem von uns einmal passieren, halb so schlimm, du bist einfach ein Zuckerstück, Mäxchen, allein schon aus lauter Vorfreude auf dich kriegt jede Frau einen multiplen Orgasmus!

Als Max, die Stockente, dann endlich erschienen ist, hatte ich mir den Mund gerade so mit Toast und Würstchen vollgestopft, dass ich nur ein röchelndes «ummmpfff» hervorgebracht habe. Der Himmel weiß, wie Max dieses «ummmpfff» gedeutet hat, jedenfalls hat er nur ziemlich kalt und von oben herab zurückgenickt und mir von da an sein joviales Getue abrupt entzogen. Henrietteschätzchen, könntest du mal, Henrietteschätzchen, sei doch so nett!

So ist das vor dem unglückseligen Abend monatelang gegangen, ich habe natürlich nicht Maxschätzchen zurückgesäuselt, Chef bleibt Chef, aber der Ton in unserer Agentur war wenigstens nicht ganz so grässlich wie in dem Krankenhaus, in dem Kathi auf der Urologie arbeitet. Dort pflegt der Herr Oberarzt nämlich nur lässig mit den Fingern zu schnippen, wenn er eine Auskunft vom weiblichen Personal braucht.

Schon zwölf Uhr vorbei. Wann habe ich eigentlich zum letzten Mal etwas gegessen? Ich stehe am Fenster und starre in den Regen hinaus. Unten auf der Straße sammelt sich das Wasser an den Gehwegkanten, niemand ist zu sehen, nur ein Knirps in einer knallgelben Regenjacke und Gummistiefeln steht da und lässt seine Plastikente in einer Pfütze schwimmen. Jetzt dreht er sich um und schaut zu den Fenstern hoch, als ob ihn jemand gerufen hätte. Ich winke, einfach so, aber der Knirps winkt nicht zurück. Dann läuft er weg.

Für Kinder habe ich nun mal kein Händchen. Sarah aus der Agentur hat einmal ihren Moritz mitgebracht, frischgeschlüpft, in einem winzig kleinen Matrosenanzug. Alle waren ganz aus dem Häuschen, ach, wie niedlich, nein, wie süß! Dann habe auch ich ihn halten dürfen, aber Moritz hat sofort zu strampeln begonnen und ist im Gesicht puterrot angelaufen, Sarah hat ihn mir gleich wieder abgenommen.

Ich werde mir ein Knäckebrot mit Mayonnaise machen, mehr Leckereien habe ich nicht vorrätig. Und ein Gläschen von Tante Roswithas Kirschlikör genehmigen, zum Trost. Denn getröstet werden würde ich jetzt wirklich ganz gerne, bloß von wem?

Ob ich Ronnie anrufen soll? Ronnie ist Fondsmanager und außerdem mein Exliebhaber. In diesen gewissen Nächten, in denen man trotz aller Tricks wie Atemübungen oder Milch mit Honig keinen Schlaf findet, grüble ich gerne darüber nach, ob der eine Umstand wohl etwas mit dem anderen zu tun haben könnte. Ob sich Ronnie nur deshalb so beharrlich um mich bemüht hat, damit ich ihm meine Ersparnisse anvertraue?

Du lieber Himmel, was denke ich da bloß, bin ich nicht eine attraktive Brünette von taufrischen dreißig plus? Für Sex bezahlen müssen doch erst diese Millionärswitwen in Marbella, Brunilla und Baronin Tripps von Opel oder wie sie alle heißen. Ich habe eben eine Affäre mit einem smarten jungen Fondsmanager gehabt, der mir neben allerlei süßen Schweinereien auch immer wieder Verheißungsvolles über Renditen und Kapitalverdoppelung ins Ohr geflüstert hat, was schließlich dazu geführt hat, dass ich ihm nach diesem phänomenalen Wochenende – nur wir zwei in Ronnies sexy verlotterter Junggesellenhöhle, und sogar sein Handy war auf Mailbox geschaltet – mein gesamtes Erspartes anvertraut habe. Allerdings hat sich mein gesamtes Erspartes seither nicht verdoppelt, sondern halbiert, was vor allem den armen Ronnie sehr belastet, was wiederum unsere Liebesbeziehung so sehr belastet hat, dass sie ein baldiges Ende gefunden hat.

Ab und zu wage ich es, Ronnie bei seinen Konferenzen mit internationalen Finanzmagnaten zu stören, um mich nach meinem geschrumpften Vermögen zu erkundigen. Ronnie reagiert dann immer ziemlich peinlich berührt, wer kann es ihm verdenken, er besitzt eben eine sensibel-mitfühlende Seele: «Henriette, du schon wieder! Wie oft soll ich es dir noch erklären, der Weltmarkt ist unberechenbar, wer hat denn schon mit all diesen Katastrophen gerechnet, al-Qaida, Tsunamis, du lieber Himmel, jetzt bleib doch mal cool und warte ab, China und Indien boomen, die Konjunktur springt gerade wieder an. Bei Fonds braucht man eben starke Nerven, in zehn Jahren wirst du mir total dankbar sein, wart’s nur ab, bis dahin haben sich deine paar Peanuts verdoppelt, was heißt verdoppelt, verdreifacht, wenn nicht verzehnfacht. Aber du, ich muss jetzt aufhören, ich habe Kunden warten, die wollen ganz groß einsteigen, Klimatechnik und Umweltschutz, da hätte ich übrigens ein paar heiße Aktientipps für dich, ich melde mich wieder, ja? Tschüss, bis bald.»

So pflegt mein ehemaliger Lover und derzeitiger Vermögensberater unsere Gespräche zu beenden, nur er meldet sich nie, weder um mir Schweinereien ins Ohr zu flüstern noch um mir endlich eine Verdoppelung meiner Ersparnisse anzukündigen. Dafür liege ich immer öfter wach in der Nacht und grüble, bis ich Kopfschmerzen bekomme. Bin ich wirklich zu wenig cool? Oder einfach blöd-naiv? Stehe ich jetzt super da mit meiner durchgestylten Lebensplanung, oder habe ich mich in eine Sackgasse manövriert? Soll ich weiterwursteln wie bisher oder zum großen Befreiungsschlag ausholen und nach Polynesien auswandern? Fragen über Fragen, auf die auch die Ratgeber, die sich mittlerweile rund um meinen Futon türmen, keine Antwort wissen. Ach was, genug Trübsal geblasen, ich rufe jetzt einfach an. Es läutet und läutet, dann meldet sich… die Mailbox. «Hallo, hier spricht Ronnie Zelinski. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, ich rufe zurück, danke. Hi, this is Ronnie Zelinski. Please leave a message after the peep. Thank you.» Na wunderbar, jetzt geht’s mir gleich viel besser!

Ich fege die Krümel vom Knäckebrot zusammen und genehmige mir ein zweites Gläschen Kirschlikör. Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben, als diese Situation allein zu meistern, wieder einmal. Kopf hoch und Schultern zurück, Henriette, du schaffst das schon!

Zum Glück lässt sich ja das Ohne-Arbeit-Sein (arbeitslos ist solch ein scheußliches Wort, das ist mir erst an diesem Wochenende so richtig bewusst geworden, kann man denn diese, nun ja, Phase nicht ein klein wenig eleganter umschreiben?), ganz gut kaschieren, wenigstens eine Zeit lang. Praktischerweise gehöre ich nämlich nicht zu den Bedauernswerten, die morgens um halb acht mit einem Aktenkoffer die Wohnung verlassen, um pünktlich um siebzehn Uhr wieder zurückzukehren.

Nein, in meiner Branche schwebt man frei wie ein Kolibri durch die Lüfte, gestern eine Cocktailparty der Vogue in Paris, heute eine Präsentation für den Flugzeugturbinenkonzern aus Florida, morgen ein Businesstrip nach St.Petersburg. Nun, das ist jetzt vielleicht ein bisschen dick aufgetragen, normalerweise betreue ich Katzenfutterhersteller und Windelfabrikanten und reise mit der Deutschen Bahn AG von Kassel nach Ulm, aber die ungefähre Beschreibung meiner Branche stimmt, wir Werber sind nun mal ein schickes Völkchen.

Bin ich denn überhaupt arbeitslos?

Ich spreche dieses hässliche Wort übrigens ganz bewusst aus, distanziert und gelassen, es betrifft mich nämlich nicht, ich gönne mir vielleicht eine Auszeit, ein Sabbatical, sozusagen. Jawohl, so werde ich diesen kurzen Abschnitt meines Lebens anlegen, als Abenteuer, aus dem ich gestärkt hervorzugehen gedenke. Endlich Freiheit, endlich ausschlafen! Sunshine, here I come!

Nur, wo bitte schön kriege ich jetzt Zigaretten her?

«Huuu-uuu,Henriette, Hennylein, Henriettchen, so warte doch mal, eine Frau in den besten Jahren ist kein Schnellzug!»

Fiona Meyenbrink-Carrera, seit ihrer letzten Scheidung stolze Besitzerin der Maisonette im obersten Stock unseres Wohnhauses, klingt wieder einmal, als ob sie versehentlich ihren Monatsvorrat an Johanniskrautdragées geschluckt hätte. Fiona ist entweder uuuunglaublich gut drauf oder waaaahnsinnig depressiv, mit diesen Gefühlsschwankungen hat sie bereits mehrere Gatten gewinnbringend vergrault.

Derzeit befindet sich Fiona «im Trockendock», so lautet ihre persönliche Beschreibung des Zustands zwischen zwei Ehen, was wiederum bedeutet, dass ich als Opfer der gefürchteten Meyenbrink’schen Heiterkeitsausbrüche herhalten muss. An diesem Morgen klappert sie auf hochhackigen bestickten Pantöffelchen hinter mir her, wie sie zum letzten Mal höchstwahrscheinlich Marie Antoinette auf dem Weg zum Schafott getragen hat, und ihre Locken kräuseln sich anmutig im Wind. Gottergeben bleibe ich stehen. Fiona würde mir sonst bis zum Äquator nachstöckeln, mindestens aber bis zur Garage, wo ihr schwarzlackiertes Cabrio parkt, das allen Ernstes auf den Namen «Baby» hört.

«Ufff.» Endlich hat mich Fiona eingeholt und klammert sich nun anmutig-erschöpft an meinem linken Oberarm fest, in der rechten Hand trage ich eine Mülltüte, in der sich unter anderem drei leere Ultralight-Packungen befinden. Zum Glück ist die Mülltüte mit Lavendelduft parfümiert, und auch ich habe mich ausgiebig mit «Rush» von Gucci eingenebelt, Fiona ist nämlich militante Nichtraucherin. Ich schwenke also vielsagend meine Mülltüte, aber so leicht lässt sich Fiona nicht abwimmeln.

«Du siehst etwas abgespannt aus», stellt sie nach einem prüfenden Blick in mein Gesicht fest, «irgendwie so blass und dünn. Arbeitest du zu viel, oder probierst du eine neue Diät?»

«Nicht wirklich», antworte ich wahrheitsgetreu, eine schlanke Linie gehört derzeit – ausnahmsweise – zu meinen geringsten Problemen, das Gleiche gilt für zu viel Arbeit.

Fiona tätschelt fürsorglich meinen Arm. «Aber heute bist du spät dran, Hennylein, ist alles in Ordnung? Oder hast du endlich mal frei, du Arbeitsbiene! Etwas mehr Entspannung kann dir bestimmt nicht schaden, und außerdem könnten wir dann auch den Citybummel starten, zu dem ich dich schon so lange überreden will. In den Kolonnaden ist seit Freitag Ausverkauf, ich habe da ein ganz süßes Täschchen gesehen, du weißt schon, das Vuitton-Logo in Himmelblau auf geprägtem Straußenleder, ich muss es einfach…»

Also, ich muss hier weg, und zwar dringend, sonst verliere ich ausnahmsweise meine Engelsgeduld mit der überspannten Fiona, und man findet demnächst ihre zerstückelten Überreste in einem Louis-Vuitton-Schrankköfferchen im Stadtwald.

«Fiona, ich muss…», sage ich bestimmt und versuche, mich aus dem Klammergriff um meinen linken Oberarm zu lösen. Fiona gibt schmollend nach. «Jaja, ihr Superweiber, nie habt ihr Zeit! Hennylein, meinst du nicht, dass auch du das Recht auf ein bisschen Spaß im Leben hast? Wann hast du das letzte Mal gemütlich ein Glas Wein getrunken und nicht in irgendwelchen Statistiken geblättert? Ichweißichweiß, es geht mich nichts an, aber ich mache mir manchmal ganz schön Sorgen um dich! Wenn du weiter so schuftest, verpasst du noch die besten…»

Das hat mir gerade noch gefehlt. Eine hauptberuflich Geschiedene, die mir Ratschläge zum Thema Lebensplanung geben will. Vielen Dank, aber es reicht. Ich lasse Fiona einfach mit einem gehetzten «Ciao du, aber ich muss jetzt wirklich, bis später dann» stehen, entsorge meine parfümierte Mülltüte, biege ums Eck und… geschafft! Aber wohin jetzt?

Eigentlich wollte ich nur rasch einen Cappuccino in dem kleinen Bistro gegenüber trinken und mir dazu ein Tramezzino mit Mozzarella, Tomaten und Basilikum gönnen, denn mein Magen ist doch ziemlich leer. Nur, was ist, wenn Fiona mich dabei überrascht, wie ich in einem Korbsessel faulenze statt im Büro herumzuwirbeln? Nein, Cappuccino gleich gegenüber ist heute Morgen einfach nicht ratsam, zu viele Leute könnten mich beim Nichtstun ertappen, all die Fragen, die dann auf mich niederprasseln würden… Henriette, nanu, machst du blau? Sind Sie etwa krank, Frau Herbst? Jaja, der Föhn macht uns allen zu schaffen!

Ob ich in die Stadt fahren und mir ein richtig tolles Frühstück spendieren soll, vielleicht sogar auf der Terrasse vom Parkhotel, mit frischen Erdbeeren und einem Glas Sekt? Aber eigentlich habe ich gar keinen Appetit, und das, obwohl sich mein Magen mittlerweile so hohl anfühlt wie eine leere Cola-Dose, und die Ultralights sind auch nicht mehr ganz so leicht, wie die Packung verspricht. Irgendwie möchte ich bloß wieder in mein Bett kriechen und mir die Decke über den Kopf ziehen.

So stehe ich da und fühle mich von den vielen Möglichkeiten überfordert, durch die ich meinem Dasein genau in diesem Moment eine völlig unerwartete, überraschende Wendung geben könnte. Endlich ringe ich mich zu einem Kompromiss durch: Ich werde nach Hause zurückgehen, mich allerdings nicht wieder ins Bett legen, sondern vernünftig frühstücken und anschließend meine Karriere von Grund auf neu planen. That’s it, wozu sind wir von der Zentrale in Amsterdam sonst immer auf diese Management-Seminare geschickt worden? Bei denen man völlig fremde, verschwitzte Menschen umarmen und Listen über seine geheimsten Wünsche erstellen musste!

In einer Hütte am Strand wohnen und von gegrillten Sardinen leben, habe ich bei meinem allerersten Seminar aufgeschrieben und unserem Sesselkreis anvertraut. Der Trainer hat mich daraufhin vor der versammelten Runde zu Fischfutter verarbeitet und mir die typischen Träume einer pensionierten Studienrätin unterstellt. Zwei Wochen später ist er dann in einem altersschwachen Volkshochschulaufzug stecken geblieben und hat sich vor lauter Klaustrophobie in die Hose gepinkelt. Diese Geschichte weiß ich aus absolut vertrauenswürdiger Quelle, von Kathi nämlich, die an ebendieser Volkshochschule den Kurs «Trommeln für Fortgeschrittene» besucht und höchstpersönlich dabei war, als der arme Tropf vom Pförtner befreit wurde.

Seither absolviere ich gruppendynamische Seminare mit großer Gelassenheit, betatsche mit verbundenen Augen schamlos fremde Männerhintern und erzähle prinzipiell nur frei erfundene Träume und Kindheitserlebnisse. Beim letzten Termin, zu dem wir verdonnert wurden, «Zeitmanagement und Strategien der Konfliktlösung», ist das so gut angekommen, dass mich die Trainerin, eine gewisse Gabriele Strathmann, sogar gefragt hat, ob ich mir nicht eine Coaching-Ausbildung vorstellen könnte, ihr Team sei immer auf der Suche nach neuen Mitarbeiterinnen. Ich habe geschmeichelt, aber dankend abgelehnt, für meine besten Jahre konnte ich mir damals Aufregenderes vorstellen als frustrierte Ich-AGs auf Vordermann zu bringen. Aber jetzt… wenn ich es mir recht überlege, ist es vielleicht gar nicht so unspannend, das junge Gemüse mit dem Schatz meiner Lebenserfahrungen zu bereichern, ich sollte mir dieses Angebot doch noch einmal durch den Kopf gehen lassen.

Wieder optimistischer gestimmt, stehe ich vor der chromglänzenden Aufzugstür, da beginnt das Lämpchen ganz oben zu blinken, fünfter Stock, Maisonette, Fiona, du lieber Himmel, kann diese Frau nicht einen Vormittag lang still in ihren vier Wänden verharren und den Ausblick genießen? Jetzt sinkt sie also schon wieder abwärts, mit fataler Geschwindigkeit, gleich wird sie aus dem Aufzug kommen, mich erspähen und dann ist der Schlamassel perfekt.

Hennylein, duuuu? Was machst du denn schon wieder hier, bist du denn heute gar nicht im Büro, wieso, warum, nun sag schon, ist etwas passiert…

Im allerletzten Moment gelingt es mir, die Treppe zum Keller hinunterzuhechten, dann klappern auch schon Fionas Stöckelschuhe auf den Terrakottafliesen in der Eingangshalle. Also, wenn sie jetzt auch noch nach ihrem Trimmrad im Keller sehen will, dann sterbe ich auf der Stelle. Aber zum Glück wird mir ein früher Tod erspart, und Fiona stöckelt zur Tür heraus. Ich bleibe auf der Kellertreppe zurück, mit durchgeschwitzter Bluse und feuchten Haaren im Nacken. So schleppe ich mich zum Aufzug, drücke auf das dritte Stockwerk und erreiche endlich meine Wohnung, wie ein Kreuzritter, der aus dem Morgenland heimkehrt. Sein treues Ross hat schon in Gibraltar schlappgemacht, und seitdem ist er gewandert, in voller Rüstung.

Ichhabe gar nicht gewusst, wie hellhörig diese Wohnung ist. Spülungen rauschen, ein Radio beschallt den dritten Stock mit Jazz und Verkehrsnachrichten, der Aufzug rumpelt rauf und runter.

Und ich habe auch nicht gewusst, wie unendlich langsam die Minuten vergehen, wenn man nicht mit Grippe im Bett liegt, aber trotzdem am Dienstag zu Hause herumsitzt beziehungsweise -lümmelt. Natürlich sollte ich längst rumwirbeln, telefonieren, Kontakte knüpfen, mich schlau machen. Aber ich fühle mich einfach nur wie ein Luftballon, den man mit einer Nadel angepikst hat, schlaff und schlapp.

Immerhin habe ich heute bereits ein Melissenblütenbad genommen, mir einen Fernsehbericht über die Erwärmung der Polarkappen und die daraus resultierenden Naturkatastrophen angesehen sowie die Stellenangebote in den wichtigsten Wochenzeitungen durchgeackert. Aber wohin der Blick auch fällt – nur deprimierende Erkenntnisse. Die Vorstandsvorsitzenden der Großkonzerne bejubeln fröhlich den Zuwachs ihrer Gehälter, aber unsereins ist mit sechsunddreißig praktisch zu alt für alles, vielleicht ja sogar irgendwann fürs Sterben.

Und meinen Vertrag habe ich endlich hervorgekramt und mich in die vier Seiten voll kleingedruckter Paragraphen vertieft. Irgendwie scheinen die nicht unbedingt zu meinen Gunsten formuliert worden zu sein, eine Tatsache, die ich bisher anscheinend erfolgreich verdrängt habe. Als ich damals direkt von der Uni in mein schickes Leben, also die weltumspannende Werbeagentur Hendricks & Partners, hineingerutscht bin, war ich von der Güte des Schicksals so überwältigt, dass ich mich auch zum Robben im Schlamm verpflichtet hätte wie ein Söldner im lateinamerikanischen Dschungel. Aber so eine Bedingung hätte die Unternehmensleitung in Amsterdam sowieso nicht gestellt.

Später dann hat es das gute Klima im Team einfach verboten, kleinkarierte Zusatzklauseln einzufordern. Einmal habe ich im Namen aller heldenhaft unseren Herrn Geschäftsführer auf das Kapitel Kündigungsfristen angesprochen, aber unser Herr Geschäftsführer, ein gewisser Stockentenflügel Neuner, hat mich davongewedelt wie eine Fliege vom Büfett.

«Henrietteschätzchen, ich bitte dich, benimm dich doch nicht wie das Fräulein vom Amt, das sich um seine Rente sorgt! Mobilität, Flexibilität, das sind die Eigenschaften, die von uns erwartet werden, hast du dich eigentlich schon um die Präsentation von diesem Raumspray gekümmert? Sind alle Daten eingescannt? Ich kann mich beim besten Willen nicht um jede Kleinigkeit kümmern!»

Geknickt bin ich zu den lieben Kollegen zurückgeschlichen und habe meine Niederlage eingestehen müssen. Aber gegen Max Neuner ist jeder machtlos, der hat einem neben seinem Riesen-Ego immer auch ein halbes Dutzend Selbstbehauptungsseminare voraus.

Gleich zwei Uhr nachmittags, immerhin, an diesem trüben Dienstag. Um diese Zeit lade ich normalerweise meine Batterien mit einem Caffè Latte wieder auf. Bis zum Mittag trinke ich stündlich einen Espresso, dann nur noch Milchkaffee, man lebt ja schließlich gesundheitsbewusst. Habe ich übrigens schon erwähnt, dass ich meinen Deal mit mir selbst, das Rauchen betreffend, um vierundzwanzig Stunden verlängert habe?

Nun, ich will nicht kleinlich sein, in so einer plötzlichen Ausnahmesituation, wie ich sie derzeit erlebe, darf man wohl auch etwas über die Stränge schlagen. Deshalb: Rauchen gestattet bis zum kommenden Wochenende. Außerdem: ein bis zwei Päckchen pro Tag bis Sonntag, hochgerechnet aufs ganze Jahr, das macht… Moment, also praktisch bin ich Nichtraucherin, auch wenn ich soeben ein Streichholz anzünde, um mich in diesem klammen Zimmer mit ein wenig Wärme zu trösten.

Doch halt! Das Display meines Hightech-Phone-Centers auf dem Schreibtisch blinkt! Ein Anruf in Abwesenheit, offenbar lag ich da gerade im Melissenbad.

Endlich!

Ganz bestimmt der Herr Geschäftsführer höchstpersönlich, der zur Besinnung gekommen ist und mich für seine geistesumnachtete Aktion um Vergebung anflehen will. Ich drücke auf die Wiedergabetaste, es rauscht und knistert, dann ist Amélie zu hören, Maximilians treuergebene Assistentin und die Styling-Ikone der Agentur. Derzeit orientiert sich Amélie an den Fünfzigerjahren, selbst bei Schmuddelwetter trägt sie beharrlich eine Sonnenbrille im toupierten Haar und wickelt sich meterlange falsche Perlenketten um ihren plumpen Körper; offenbar versucht sie auszusehen wie Audrey Hepburn in «Frühstück bei Tiffany», aber ich finde, sie wirkt eher wie Dame Edna bei Tchibo.

«Hallo, Henriette», flötet Amélies Stimme vom Band, «ich hoffe, es geht dir gut. Du, ich weiß, das klingt jetzt ein bisschen unfreundlich, aber könntest du vielleicht so nett sein und möglichst bald deine Sachen abholen, du weißt schon, dein Schreibtisch ist ja immer ziemlich voll, und dann stehen auch noch diese Kartons im Zimmer rum, also sei so lieb, ja? Wir trinken dann auch einen Kaffee zusammen, versprochen, und du musst mir unbedingt erzählen, was du jetzt so vorhast, weil ich, nein, wir alle finden das total spannend, wie du ins kalte Wasser springst, ehrlich. Du, es klingelt gerade bei Maximilian, ich muss jetzt aufhören, ja, und vergiss bitte nicht die Kartons, ciao, ciao!»

Dann knackt es in der Leitung, das war der einzige Anruf für mich von heute Morgen. Ich starre auf das Durcheinander aus schmutzigen Gläsern und vollen Aschenbechern rund um mein kiwigrünes Sofa.

WIE BITTE?

Ich soll kommen und meine Sachen abholen? Einfach so? Keine einzige Silbe des Bedauerns, kein Gruß vom restlichen Team, das kann nur ein schlechter Scherz sein! So, wie wenn alle tun, als ob sie deinen Geburtstag vergessen hätten, aber dann kommst du nach Hause und die Lichter flammen auf, und: Überraschung! Die Freunde sind alle versammelt und prosten dir zu und werfen Konfetti über dich. Jawohl, so wird es sein, die Solidarität der Kollegen wird…

«Hey Maja!»

Ein Summen wie von Bienenflügeln kitzelt mein Ohr, dazu meckert in der Nachbarwohnung ein Stimmchen, das verdächtig nach dem faulen Willi klingt: «Maaajaa, so warte doch!»

Vor einer Ewigkeit habe ich mir am Vormittag auch immer die Abenteuer von Maja und Willi, der Heuschrecke Flip und Iffi, dem Borkenkäfer, im Fernsehen angeschaut, wenn ich erkältet war und bei meiner Großmutter bleiben durfte, statt im Kindergarten pädagogisch wertvolle Holzklötzchen zu stapeln. Das Summen ertönt schon wieder, Wassertropfen platschen, dann lacht ein Kind hinter der Wand. Wohnt da eine Familie? Oder eine alleinerziehende Mutter? In den vergangenen Monaten bin ich im Aufzug manchmal einer jungen Frau begegnet, die genauso gehetzt wirkte wie ich und meist nur flüchtig genickt hat.

Ich habe mir natürlich nicht weiter Gedanken über sie gemacht, diese zwei Zimmer mit Küchenzeile und pflegeleichten Grünpflanzen, die ich alle paar Monate erneuere, werden von mir seit Jahren hauptsächlich zum Schlafen und zum Aufbewahren von Krimskrams, Wäsche und Schuhen genützt, meine eigentliche… nun ja, Heimat, ist mein Büro. Das wird mir in diesem Moment zum ersten Mal so richtig bewusst, während ich einem Kind lausche, von dessen Existenz ich bisher nicht einmal eine Ahnung hatte.

Es gibt also auch Leben in diesem Schlafsilo, dabei habe ich mich manchmal gefragt, ob Fiona es nicht gruselig findet, tagsüber so ganz allein hier, wenn alle anderen Menschen ihre Brötchen und den Schinken darauf verdienen. Aber da scheine ich mich gründlich…

Das Handy klingelt schon wieder, ich stolpere fast über meine eigenen Füße, das Schminktäschchen kippt vom Sofa, und Mascara, Lipgloss und meine Geheimwaffe gegen Augenringe kullern über den Fußboden. Endlich halte ich mein silbermattes Handy in der Hand, das Klingeln hat aufgehört, aber das Display zeigt die Nummer an. Amélie hat offenbar aus der Agentur angerufen, nicht schon wieder! Worüber will sie mich jetzt informieren, werden gerade meine persönlichen Sachen aus dem Fenster gekippt, oder was?