Mein Name ist Faust - Citizen B - E-Book

Mein Name ist Faust E-Book

Citizen B.

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Beschreibung

Der diabolische Jack ist nicht nur hinter Fausts Seele her! Deshalb bietet er Faust den Deal seines Lebens an: Jugend, Luxus, ein superschnelles Cabrio und jede Menge infernalisch heißen Männersex! Schon stürzt Faust von einem haarsträubenden Abenteuer ins nächste: betrunkene Engel, herzensgute Menschenfresser, notgeile Zombies, lesbische Hexen, rachsüchtige Dämonen und ein Rudel tollwütiger rosa Pudel kreuzen seinen Weg. Faust entdeckt die übernatürliche Schwulenszene Frankfurts, erkundet eine satanische Schönheitsfarm und wird sogar in die Unterwelt verschleppt. Und dann ist da auch noch die Liebe. Der blutjunge hübsche Leon, Fausts einzig wahre Liebe... Wenn Faust schon seine Unschuld längst verloren hat, kann er dann wenigstens seine unsterbliche Seele retten? 'Mein Name ist Faust!' gilt nicht umsonst neben den Comics des frühen Ralf König als wahrer Klassiker deutscher Schwulenliteratur: Rasant geschrieben, voller Witz, trashy, erotisch, romantisch und spannend bis zur letzten Zeile. Vergiss Goethe, dieser 'Faust' gehört in Deine E-Book Sammlung! Beste Unterhaltung für den Strand, den Nah- und Fernverkehr und natürlich für den Abend auf der Couch mit einem Gläschen Veuve Clicquot in der Hand und einem hübschen Kerl im Arm! '... atemberaubendes Tempo!' - GAB 'Goethe würde im Grab rotieren!' - MÄNNER aktuell Und dann ist da auch noch die Fortsetzung: Faust: Mein teuflischer Liebhaber Noch turbulenter, noch packender, noch witziger und noch viel, viel erotischer! Faust muss gegen mörderische Hexenmeister, heimtückische Vampire und gleich zwei Antichristen antreten, um die bevorstehende Apokalypse zu verhindern. Dabei hat der zügellose Sexaholic eigentlich nur drei Dinge im Kopf: Sex, Sex, Sex! Außerdem sind da noch Fausts teuflischer Liebhaber Jack und der attraktive Zauberschüler Ray, der Faust den Kopf verdreht hat. 'Faust: Mein teuflischer Liebhaber' ist wie eine Überdosis Deiner Lieblingsdroge: ekstatisch, aufregend, prickelnd erotisch, zum laut los Lachen, bestens gelaunt und völlig 'over the top'! Zwei Meisterwerke von citizen_b ('Die Yumbo Center Boys', 'Der Fußballgott' u. a.), dem kolossalen Snob und Frontman der Postpunk-Legende 'Die Radierer'. Endlich kannst Du die beiden, längst vergriffenen Romane im günstigen Doppelpack haben. Hol sie Dir jetzt!

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citizen_b

Mein Name ist Faust

und

Faust – mein teuflischer Liebhaber

E-book Ausgabe

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected]

1. Ausgabe „Mein Name ist Faust!“ Mai 2000

1. Ausgabe Faust, mein teuflischer Liebhaber Oktober 2001

Sammelband als E-book Juni 2015

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

 

Umschlaggestaltung: Albert Morell, Hamburg

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN E-pub 978-3-86361-503-1

ISBN PDF 978-3-86361-504-8

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

Mein Name ist Faust

HAPPY BIRTHDAY, DOKTOR FAUST

Frankfurt/Main. Samstag, 28. August 1999.

Goethes 250. Geburtstag. Das weiß ich, auch ohne in die Zeitung zu schauen. Schließlich ist heute auch mein Geburtstag. Der Vierzigste!

Wenn ich mich kurz vorstellen darf: Mein Name ist Faust. Doktor Johann Wolfgang Faust.

Diesen enorm originellen Namen verdanke ich meinem Vater, der ein glühender Bewunderer des Dichterfürsten war. Mein Vater war von allem fasziniert, was mit Goethe zu tun hat. Vor allem aber von Faust, denn das ist ja schließlich unser Familienname.

Es ist Mittag und ich bin mit der S-Bahn unterwegs. An der Konstabler Wache steige ich aus und fahre mit der Rolltreppe hoch auf die Zeil.

Bombenwetter.

Die Stadt Frankfurt hat sich für den Ehrentag ihres bedeutendsten Sohnes mächtig ins Zeug geworfen: Wohin man schaut: Goethe, Goethe, Goethe... Lieder-Chöre, Lesungen, Theateraufführungen. Des Dichters Konterfei ziert T-Shirts und Tüten der vorbeieilenden Passanten...

Im Schaufenster von Chic & Adrett gibt es eine ganz spezielle Goethe-Deko: Eine Figur des hochbetagten Dichters und Denkers, überlebensgroß und superniedlich, sitzt auf einem Plüsch-Pegasus, der sich dank Hydraulik wie ein Karussellpferdchen auf und nieder bewegt.

„So hoppelt er dahin, der unwürdige Greis“, denke ich während ich an dem Schaufenster vorbeieile. Über die Straße und auf den Erzeugermarkt.

Ein unrasierter Bursche mit fettigen Haaren und unvorteilhaften Klamotten aus der Altkleidersammlung wankt auf mich zu und ruft: „Tot! Tot! Ihr seid alle tot!“ Der arme Junge verteilt Zettel, auf denen in ungelenker Schrift „Jahr 2000: Armageddon!“ zu lesen ist. Ich lasse den selbsternannten Propheten links liegen und steuere direkt auf die Ecke mit den Äppelwoi-Ständen zu.

Zur Feier meines Vierzigsten leiste ich mir ein Gläschen Sekt. Es ist niemand da, den ich kenne, was mich wenig wundert: Die meisten Tucken aus meinem Bekanntenkreis liegen samstagmittags noch im Bett und schnarchen. Also stoße ich sozusagen mit mir selbst an und lasse mein verpfuschtes Leben vor meinem geistigen Auge Revue passieren. Vierzig und fertig: Doktor der Biologie, in der Forschung gescheitert, arbeitslos, Bauchansatz, Haarausfall, selbstmordgefährdet und schwul.

„Prost!“, sage ich zu mir selbst, nippe an dem Sektglas und knipse mir eine Kippe an.

Ah, dieser würzige Geschmack!

Ich trinke, rauche und schaue mich um: Ein rotgesichtiger Hypertoniker kurz vorm Infarkt mit vollgestopften Einkaufstüten kauft Karnickelfutter, ein frisch verliebtes Heten-Pärchen stolziert Hand in Hand einher, ein schwules Landei mit C-&-A-Fähnchen an der Jeansjacke sucht vergebens Anschluss, überforderte Eltern versuchen ihren unerzogenen, laut nörgelnden Stammhalter zu beruhigen...

Gerade beobachte ich besagtes quengelndes Kleinkind. Von links kommt ein rosagefärbter Zergpudel mit FCI-Schur ins Bild. „Ein rosa Pudel?!“, flüstere ich mir selbst zu und vergesse für einen Augenblick an meiner Zigarette zu ziehen. Der Köter nähert sich dem Kind, kläfft und beißt dann blitzschnell ins Bein des kleinen Rackers. Einen Augenblick später ist die Töle in der Menge verschwunden. Blut fließt. Tränen sowieso. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll!

Ich kippe den Sekt runter und trolle mich die Zeil entlang Richtung Hauptwache.

 

Am Bauzaun, hinter dem einst das legendäre Kaufhaus Schneider stand, haben Obdachlose ein lebendes Goethe-Denkmal geschaffen: Einer von ihnen, mit einem schmuddeligen, ehemals weißen Betttuch und albernen Hut ausgestattet, hat es sich auf einem Bretterhaufen in der Pose von „Goethe in der römischen Campagna“ des Malers Tischbein bequem gemacht. Zwei weitere sammeln mit Plastikbechern Geld. Gutgelaunt spendiere ich zwei Mark.

Ein paar Schritte weiter registriere ich dunkelviolette „Gay Justice“-Graffiti an der Fassade der ehemaligen Hauptpost. Sie sieht man im Augenblick überall in Frankfurt.

Schon bin ich an der Hauptwache. Im Vorübergehen beobachte ich die jungen Skateboarder, die hier ihre kleinen Kunststücke vorführen. Lauter hübsche Jungs. Einer gefällt mir besonders gut. Seine blonde Mähne ist ein klein wenig zu lang. Und ein bisschen arg ungeschickt stellt er sich auf seinem Skateboard auch an. Aber das macht er durch sein umwerfendes Lächeln mehr als wett. Was für ein süßer Kerl! Ob ich bei ihm landen könnte? Hm...

Plötzlich bewegt sich etwas in meiner Hose. Spontan auftretendes Stangenfieber!

Ich laufe die Fressgass lang und singe still vor mich hin: „Wenn die Nudel drückt, werd ich verrückt. La la la la la...“ Leider hab ich den Rest des Textes vergessen.

Bevor ich es mir recht überlege, bin ich am Opernplatz angelangt. Direkt vor dem U-Bahn-Eingang. Ich fahre die Rolltreppe runter und stehe vor dem Eingang zum Männer-WC.

„Warum zur Hölle nicht!“, denke ich und öffne die Tür. Niemand da. Ich stelle mich an die Pissrinne und hole mein bestes Stück aus der Hose. Mit kleinen kreisenden Bewegungen bringe ich ihn schnell wieder auf Vordermann.

Ich höre, wie die Tür aufgeht und tue so, als würde ich hier nur so zufällig herumhängen und gelangweilt vor mich hin urinieren. Jemand stellt sich direkt neben mich und knöpft seine Hose auf.

Vorsichtig riskiere ich einen Blick: Ein verdammt gutaussehender, braungebrannter Bursche, vielleicht gerade mal 20, mittelgroß, muskulös, kurzes schwarzes gewelltes Haar, grüne Augen, volle geschwungene Lippen. Er trägt Nike-Turnschuhe, Texashosen, ein malvenfarbenes T-Shirt mit V-Ausschnitt und dem Aufdruckt: „ARF! ARF!“ sowie eine Millennium-Uhr von MacDonald's. Er lächelt mir frech zu. Mit dem Schwanz, den er mir jetzt keck präsentiert, könnte er glatt jemanden totschlagen.

Mein Herz rast. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn. Ich schau ihn wie hypnotisiert an und spüre, wie er nach meinem pulsierenden Glied greift. Das fühlt sich ganz fantastisch an! Innerhalb von Augenblicken bin ich jenseits von Gut und Böse. Bibbernd vor Lust lasse ich es ganz einfach kommen. Wie ein Vulkanausbruch! Die Ladung schleudert gegen die kalte, gekachelte Wand des Pissoirs. Er selbst bleibt ganz gelassen, packt ein und knöpft die Jeans wieder zu. Dann zwinkert er mir zu und flüstert: „Happy birthday, Doktor Faust!“ Bevor ich mich wieder fangen kann, ist er weg.

 

Später, in meiner bescheidenen Zwei-Zimmer-Wohnung in Frankfurt-Griesheim: Ich sitze auf meinem Stuhl an meinem Tisch, rauche und trinke eine Tasse Instant-Kaffee. Die Stereo-Anlage nudelt eine Kassette mit alten Elvis-Costello-Hits.

„Mann, war das gut!“, murmele ich vor mich hin.

Es klopft an der Tür. Hat sich doch noch jemand an meinen Geburtstag erinnert? Ich schlurfe zur Wohnungstür und öffne.

Vor mir steht der Typ von der Klappe am Opernplatz!

„Hallo-o!“, sagt er und grinst entwaffnend, „Doktor Faust? Wollen Sie mich nicht hineinbitten?“

„Bitte ...“, höre ich mich heiser brabbeln. Ich bin völlig verblüfft.

Das lässt er sich nicht zweimal sagen und schon ist er im Wohnzimmer.

„Mein Gott! Was für ein Loch!“ Er schaut sich um. „Schmutzige Socken sollte man niemals auf dem Fußboden liegen lassen. Man weiß nie, ob nicht vielleicht unverhofft Besuch auftaucht.“ Er setzt sich auf meinen Stuhl und duzt mich: „Du kannst mich übrigens Jack nennen.“

Jack deutet auf meinen zweiten Stuhl, auf dem sich Zeitschriften und Zeitungen stapeln: „Setz dich. Wir müssen reden.“

Ich räume das Altpapier weg und setze mich hin.

„Du kennst doch Goethes Faust. Der Teufel wettet mit dem lieben Gott, dass er die Seele des Gelehrten Faust korrumpieren könnte. Also bietet der Teufel Faust die Achterbahnfahrt seines Lebens an: Jugend! Abenteuer! Erkenntnis! Sex! Sex! Sex! Solange Faust immer noch mehr will, ist alles Bingo. Aber wenn er sich selbstzufrieden in die Ecke setzt und meint, es wäre jetzt gut, dann ist seine Seele verloren.“ Jack schenkt mir einen Blick wie ein Versicherungsvertreter kurz vor dem Abschluss. „Und, mein lieber Wolfi, genau diesen Deal möchte ich dir heute anbieten!“

Ich bin sprachlos.

„Ich sehe schon, du glaubst mir nicht“, stellt Jack fest. „Aber das ist okay. Komm mit, ich will dir jemanden vorstellen.“

 

Wir verlassen meine Wohnung. Vor dem Haus steht mit laufendem Motor Jacks Auto quer über den Bürgersteig. Ein feuerroter Ferrari F-50. Ich registriere das Kennzeichen: JA-CK 666. Wir steigen ein und schon gibt Jack Gas. Der Wagen schießt mit quietschenden Reifen über die rote Ampel auf die Mainzer Landstraße. Jack setzt sich eine verspiegelte Sonnenbrille auf die Nase und macht das Radio an: Gerade können wir noch die letzten Takte von Rudi Carells „Goethe war gut“ hören, schon folgt France Gall mit „Ein bisschen Goethe, ein bisschen Bonaparte“, während wir mit atemberaubendem Tempo stadteinwärts, am Main entlang und schließlich über den Fluß nach Sachsenhausen rasen.

Wir halten vor der Alt-Sachsenhausener Traditions-Äppelwoi-Wirtschaft „Zum Blauen Bembel“ und gehen rein. Brechend voll, aber es ist ja auch Samstagabend. Jack steuert direkt auf das Hinterzimmer zu. Von einem Tisch ganz hinten, neben dem Gang zu den Toiletten, winkt ihm eine Gestalt zu. Weiblich, irgendwo jenseits der Dreißig. Auf einem hochgewachsenen spindeldürren Körper thront ein überproportional großer Kopf. Krause blonde ungepflegte Locken. Sie mustert mich durch die tropfenförmigen Gläser einer alten Ray-Ban-Sonnenbrille. Ihr kleiner hässlicher Mund - mit anscheinend chronisch herunterhängenden Mundwinkeln - bewegt sich. Wort schlüpfen heraus.

„Das soll er sein?“ Sie scheint enttäuscht.

„Wart‘s mal ab, Schätzchen“, erwidert Jack guten Mutes.

Wir setzen uns. Überraschend schnell kommt ein Kellner mit der Karte. Voll die Schwester, wie mir mein untrüglicher Kennerblick sofort verrät.

„Bring mir noch einen Long Island Ice Tea“, Jacks Bekannte reicht ihm ihr leeres großes Äppelwoi-Glas. Ich registriere ihre abgekauten Fingernägel. „Und“, fährt sie fort, „Grüne Soße mit Eiern.“

Ich wähle Handkäs mit Musik und einen Sauergespritzten. Jack blättert in der Karte.

„Ich nehme ebenfalls einen Sauergespritzten“, entscheidet Jack schließlich, „und einmal Haspel mit Kraut.“

Haspel ist eine schwabbelige, weichgekochte Schweinshaxe. Eine Frankfurter Spezialität.

Während die Saaltochter von dannen wackelt, wendet sich Jack an die geheimnisvolle Sonnenbrillenträgerin: „Da fällt mir ein: Wie repariert man eine ausgeleierte Muschi?“

„Keine Ahnung.“

„Man steckt eine Haspel rein und zieht den Knochen raus.“

Eisiges Schweigen.

„Und?“, fragt die Unbekannte eine halbe Ewigkeit später und deutet mit dem Daumen auf mich.

Jack legt seine Hand auf meine Schulter: „Ein waschechter Faust. Heute vierzig geworden. Ein Studierter. Mit Doktorhut. Forscher. Eine richtige Labor-Ratte. Er hat an einem Impfstoff gegen das Ebola-Virus gearbeitet, aber das Projekt wurde gestoppt. Kein kommerzielles Potential. Dann hat er heimlich menschliche Zellen geklont. So nebenbei. Zu seiner eigenen Erbauung. Das kam dummerweise raus und hat ihn seinen Job gekostet. Die ganze Geschichte wurde natürlich vertuscht. Das ist schon ein paar Jährchen her. Seither hadert er mit dem Schicksal und spielt mit dem Gedanken, sich umzubringen. Kann man das so sagen?“

Die Frage ist an mich gerichtet. Ich sage „Hmpf“.

„Menschliche Zellen geklont? In der Mittagspause ein bisschen Gott gespielt, was?“ Sie scheint amüsiert, schenkt mir ein missglücktes Lächeln und schüttelt kraftlos meine Hand. „Du kannst mich übrigens Angela nennen.“ Angela hat eine wirklich unangenehme säuerliche Fahne. Zu Jack gewandt, meint sie: „Ich denke, er ist in Ordnung.“

Die Getränke werden gebracht. Sie nimmt erst einmal einen guten Schluck von ihrem Longdrink. Und dann noch einen.

„Also, Faust. Du bist informiert, oder? Zur Ehre des Tages, Goethes Geburtstag, wie du sicher weißt, rekonstruieren wir die Wette aus dem ersten Teil von Faust. Der Herr und Mephisto wetten, ob es Mephisto gelingt, Faust vom rechten Wege abzubringen. Der rechte Weg ist: Das Streben nach Erkenntnis, gute Werke und pada-bim, pada-bam, pada-bum. Ich hoffe, du hast zu Hause eine Faust-Ausgabe und liest dir das mal genauer durch. Jack wird dir also die Ecken und Enden der Welt zeigen. Und natürlich wird er versuchen dich aufs Glatteis zu führen. Er ist ein gottverdammter Lügner und Schuft. Wenn du dich auf diese Geschichte hier einlässt, dann darfst du eins nie vergessen: Er ist das Böse selbst!“

Angela nimmt einen weiteren guten Schluck und winkt mit dem leeren Glas nach der Bedienung.

„Woher weiß ich eigentlich, ob ihr mich nicht total verarscht? Ich meine, ist das hier die versteckte Kamera oder so was?“, frage ich trotzig, nur um überhaupt mal etwas zur Konversation beizusteuern. Im Grunde habe ich die schwindelerregende Ahnung, dass alles wirklich so ist, wie Jack und Angela es mir schildern.

„Okay, Faust, was sagst du dazu?“, Angela setzt ihre Sonnenbrille ab und schaut mich an.

Ich blicke in ihre wässerigen blauen Augen und sehe, was dahinter liegt. Heaven inside. Unendliche Weiten. Ein zeitloses, eisblaues Vakuum, das mich mit Haut und Haaren aufsaugen möchte. Sie setzt die Brille wieder auf und seufzt.

„Noch Fragen?“

Ihr nächster Drink wird gebracht. Ich bin platt und zünde eine Zigarette an.

„Und um was habt ihr gewettet?“

Jack schenkt mir ein gewinnendes Lächeln: „Der Verlierer schuldet dem Gewinner eine Kiste Veuve Monsigny. Der gute Aldi-Schampus, weißt du?“

„Also, was ist jetzt?“, will Angela wissen. „Machst du mit?“

„Na klar mach ich mit!“, platzt es aus mir heraus.

„Ausgezeichnet! Dann musst du jetzt hier unterschreiben!“ Sie zieht einen verknitterten Zettel mit geheimnisvollen Zeichen aus ihrer Handtasche sowie ein Schweizer Taschenmesser, das sie sogleich aufklappt. „Mit Blut!“

Bevor ich reagieren kann, schneidet sie blitzschnell in die Fingerkuppe meines rechten Zeigefingers.

„Aua!“

„Stell dich nicht wie ein kleines Mädchen an!“, weist sie mich scharf zurecht.

Blut tropft auf das Papier.

„Das war es auch schon. Blut ist ein ganz besond´rer Saft!“ Sie packt das blutverschmierte Schriftstück in ihre Handtasche, leert ihr Glas in einem Zug, erhebt sich und sagt im Gehen: „Ich muss jetzt los. Wir sehen uns.“

Schon ist sie fort.

„Ich mach mich dann auch auf die Socken. Wir telefonieren. Ciao, Wolfi.“ Jack drückt mir einen kleinen Kuss auf die Stirn und ist genau so schnell verschwunden wie seine Wettpartnerin.

Ich sitze da, den blutenden Finger im Mund. Und jetzt kommt der Kellner mit dem Essen.

DAS KLEINGEDRUCKTE

Sonntag, 29. 8.:

Es ist schon Abend, als ich aus einem Alptraum hochschrecke.

Irgendetwas mit Engeln und Teufeln. Bleiche, blonde Engel mit Flügeln aus weißen Daunenfedern. Nackt, aber auf eine eher unerotische Weise.

Ihre satanischen Widersacher dagegen sind ziemlich sexy: Muskulöse, glutäugige Latin Lover. Blutjung, mit knackigen Hintern und rötlich schimmernder Haut. Hörner wachsen zwischen den dunklen Locken aus ihren Häuptern. Und zwischen den Beinen: Oh la la!

Jedenfalls kämpfen die himmlischen Heerscharen mit der Armee der Finsternis um meine arme verlorene Seele...

„Au weia!“, stöhne ich und starre auf meinen rechten Zeigefinger, den ein Pflaster ziert. Ich spüre, wie die Wunde darunter pocht. Schon sind die klischeehaften Gestalten aus meinem Traum wie weggewischt. Stattdessen erscheinen der diabolische Jack und die engelhafte Angela vor meinem geistigen Auge.

Jetzt fällt mir alles wieder ein: Die himmlische Schnapsdrossel und der hübsche Satansbraten haben gewettet, ob es ihm gelingen wird, mich vom rechten Weg abzubringen. Um eine Kiste Aldi-Schampus! Und ich selbst bin - einfach so und ohne Not - einen Pakt mit dem Leibhaftigen eingegangen.

Das alles ist wirklich passiert!

Ich spüre, wie aus der Tiefe meines Inneren eine Panikattacke von der Größe eines ausgewachsenen Blauwals in mir aufsteigt.

„Jesus Christus!“ Schon bin ich aus dem Bett gesprungen und in der Küche. Erst mal Kaffee. Und eine Zigarette.

Jetzt bloß nicht durchdrehen. Nachdenken.

Angela gab mir den Tipp, Einzelheiten über die Wette zwischen Gottvater und Mephisto und Fausts Pakt mit dem Teufel bei Goethe nachzuschlagen.

Den halben Meter Goethe, den mir meine Eltern hinterließen, hab ich allerdings längst schon ins Antiquariat geschafft. Zusammen mit den Schriften von Schiller und Dingsda und Sowieso und der in Leder gebundenen „Mein Kampf“-Ausgabe meiner Großeltern mütterlicherseits, mit Widmung „Dem glücklichen Brautpaar“.

Aber das macht nichts!

Ich angle einen schäbigen alten Schuhkarton mit alten zerfledderten Comicheften vom Küchenschrank. Darin sind ein paar Ausgaben von „Die Spinne“, „Wastl“, „Superman und Batman“ usw. Zielsicher ziehe ich die Ausgabe Nr. 129 aus der Reihe „Illustrierte Meisterwerke“ heraus: „Johann Wolfgang v. Goethe - FAUST“.

Einer der Höhepunkte meiner Kindheit war es, ein Comic zu besitzen, auf dem in großen Lettern mein Name stand.

Ich mach es mir mit einem Becher Kaffee und einer Zigarette bequem und nehme das Heftchen unter die Lupe.

Auf Seite dreizehn finde ich, was ich suche:

 

 

Und so weiter, und so weiter.

 

Ich lese mir das mehrmals durch und überlege scharf: Eigentlich ist das, was Mephisto und Faust hier beschließen, kein Pakt, sondern eine weitere Wette. Wenn Mephisto Faust zufrieden stellen kann, hat er die Wette und Faustens Seele gewonnen. Und seine Wette mit Gott. Schafft er es nicht, sind seine Bemühungen vergebens und er verliert die Wette mit Faust. Und seine Wette mit Gott.

Das heißt, dass meine Seele gar nicht so ohne weiteres verloren ist. Keineswegs!

Denn: Wann war ich in meinem Leben überhaupt jemals wirklich mit irgendetwas zufrieden? Und warum sollte sich meine – zugegebenermaßen vielleicht etwas nörgeltantige - Einstellung plötzlich ändern?

Alles halb so schlimm! Ha!

Meine chronische Unzufriedenheit ermöglicht mir vielleicht einen völlig risikolosen Supertrip: Jugend, Abenteuer, Ekstase!

Ich kann es schon deutlich vor mir sehen: Ich, wieder jung und sagenhaft schön! Als hochbezahltes Topmodell, weltberühmter Schauspieler oder erfolgreicher Politiker! Kanzler Faust! Klingt gar nicht schlecht. Mein Leben wird eine Non-Stop-Sex-Orgie sein, ein nicht enden wollender Super-Orgasmus...

Während ich dusche, singe ich erleichtert vor mich hin: „I can´t get no – wah wah - satisfaction.“

DIE LUSTIGE KNEIPE

Wann geht das große Abenteuer denn jetzt eigentlich los?

Ich warte.

Es ist schon ziemlich spät.

Der Fernseher läuft.

Endlich klingelt das Telefon. Es ist Jack.

„Hallo, Wolfi“, zwitschert er vergnügt, „schnapp dir ein Taxi und komm rüber ins Schwejk, dann können wir schauen, wie es weitergeht.“

 

Das Schwejk. Die lustige Kneipe. Frankfurts Schwulentreff Numero Uno. Wenn hier mal nichts los ist, dann ist in ganz Frankfurt nichts los. Hier trifft sich Jung und Alt, Arm und Reich, Blöd und Schlau. Das Schwejk bringt die Szene auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Deshalb ist der Laden auch meistens proppenvoll. Deutsche Schlager, Autoscooter-Techno, volkstümliche Hitparade und die neuesten Chartbreaker dröhnen aus den Lautsprechern. Die Lampen über der Theke schwingen im Takt. Da kommt Stimmung auf! Hier steppt der Bär! Äppelwoi, Sekt und Bier fließen in Strömen. Es wird mächtig gebaggert. Wer trotzdem allein nach Haus geht, ist selbst dran schuld.

Tatsächlich war ich schon seit Jahren nicht mehr hier.

Ich drücke dem Taxifahrer ein paar Scheine in die Hand und gehe rein. Halbdunkel. Marianne Rosenberg schluchzt: „Eine von uns beiden muss jetzt gehen...“ Es ist gar nicht so viel los, wie ich befürchtet habe. Das liegt daran, dass Sonntag ist. Brave Schwestern erholen sich sonntagabends von den Strapazen des Wochenendes.

Acht oder neun Augenpaare schießen neugierige Blicke in meine Richtung. Ich zünde eine Zigarette an. Jack ist nirgendwo zu sehen und hinter der Bar erblicke ich – Gott im Himmel steh mir bei! - Bierschiss-Bruno!

Ich habe keine Ahnung, woher Bierschiss-Bruno diesen grässlichen Namen hat. Wer will das auch wissen. Jeder nennt ihn so. Jedenfalls hinter seinem Rücken. Bierschiss-Bruno ist um die Zwanzig und das Klischee schlechthin. Trendklamotten. Trendfrisur. Immer mittendrin. Immer pleite. Immer unter Strom. Ich hatte ihn mal - notgeilerweise - mit nach Haus genommen und er war so angesäuselt, dass bei ihm rein gar nichts ging. Besser so! Es ist mir schleierhaft, wie dieses Würtstchen an einen Job im Schwejk gekommen ist.

Wahrscheinlich durch Erpressung.

Bierschiss-Bruno scheint mich glücklicherweise nicht zu erkennen. Ich bestelle einen Sauergespritzten. Marianne Rosenberg hat zu Ende gesungen und jetzt läuft Udo Jürgens' „Der Teufel hat den Schnaps gemacht“.

Ich stehe an der Theke und nippe an meinem Glas. Wo ist Jack? Die Jungs neben mir erzählen sich Witze. Grauenhafte Leute! Plötzlich legt einer von ihnen seine Hand auf meine Schulter, beugt sich zu mir rüber und bohrt seine feuchte Zunge in mein Ohr. Ein großer Kerl, schlacksig, vielleicht fünfundzwanzig, nach vorne gekämmtes blondes Haar mit viel Wachs drin, Stupsnase, Jungbanker-Outfit. Ich habe ihn noch nie vorher gesehen.

„Hallo, Wolfi!“, haucht er in mein Ohr.

„Jack!“, stelle ich fest. Sein Aussehen, seine Art sich zu bewegen, selbst seine Stimme sind völlig anders als gestern.

„Keine Namen!“, flüstert er.

Jack stellt mich seinen Trinkkumpanen vor: „Hey Leute, kennt ihr Gernot? Gernot arbeitet als Maître de Cuisine im Frankfurter Hof. Außerdem betreut er eine Kochsendung auf TM3.“

Er lügt wie gedruckt.

Jack deutet auf einen drahtigen Dunkelhaarigen mit blondgefärbten Strähnchen und eng anliegendem weißen Body-Shirt, unter dem sich ein Brustwarzen-Piercing abzeichnet. „Das ist Heiko und das ist, äh, wie war nochmal dein Name?“

„Andy“, sagt der Angesprochene. „Hallo, Gernot. Kennst du den? Was ist der Unterschied zwischen einer Tunte und einem Tumor?“

„Keine Ahnung“, flunkere ich, obwohl ich diesen Kalauer bestimmt schon tausend Mal gehört habe. Ich mustere Andy. Er hat einen Crew-Cut und trägt eine Brille, die ihm überhaupt nicht steht und ein schwarzes Polo-Hemd von HOM.

„Hahaha!“, prustet Andy los und krümmt sich vor Lachen, bevor er die Pointe dann doch noch an den Mann bringen kann. „Es gibt auch gutartige Tumore!“ Er kann gar nicht mehr aufhören zu gackern.

„Wahnsinnig witzig!“, ich ringe mir ein kleines Lachen ab.

„Eine Runde Hütchen für meine Freunde!“, ruft Jack gutgelaunt.

Bierschiss-Bruno baut eine Reihe Asbach-Cola-Hütchen auf. Eins für sich. Wir prosten uns alle zu und die Barschlampe legt eine neue CD auf. Juliane Werding schmachtet: „Verdammt in alle Ewigkeit, ich brauche deine Zärtlichkeit...“

„Aufgepasst“, Jack ist heute Abend eine richtige Stimmungskanone, „ich zeig euch ein paar Tricks!“

Er macht eine geheimnisvolle Handbewegung, wie ein Zauberer in einer Sechziger-Jahre-Samstag-Abend-Fernsehshow, und deutet auf sein Kinn. Man muss schon genau hinschauen: Barthaare sprießen, erst langsam, dann schneller, bis innerhalb von höchstens dreißig Sekunden ein sogenanntes Techno-Bärtchen Jacks Gesicht ziert.

„Oh Mann!“, sagt Heiko.

„Es kommt noch besser!“ Jack genießt seinen Auftritt.

Wieder macht er eine mysteriöse Geste. Alle Farbe entweicht seinem Gesicht, dann färbt es sich schlagartig leuchtend grün.

Alle starren ihn an, völlig baff.

„Krass! Wie machst du das?“, will Andy wissen.

„Das“, behauptet der Verwandlungskünstler frech, „hab ich bei Siegfried und Roy in Las Vegas gelernt“. Er grinst selbstzufrieden. „Für meinen nächsten Trick brauche ich ein großes Glas Wasser!“

Bruno, dem die ganze Geschichte ganz offenkundig irgendwie spanisch vorkommt, füllt ein Glas mit Mineralwasser und stellt es auf die Theke. Er guckt misstrauisch. Jacks Gesicht hat mittlerweile wieder die richtige Farbe angenommen, das Bärtchen ist auch verschwunden. Er schnippt mit den Fingern und zeigt auf das Glas. Die Flüssigkeit sprudelt und schäumt.

„Probier mal! Keine Angst, das ist nicht giftig.“ Jack gibt das Glas Heiko, der vorsichtig einen Schluck nimmt.

„Äppelwoi!“ Heiko ist spürbar erleichtert und nimmt gleich noch einen Zug.

„Jetzt ist aber mal gut,“ sagt Bierschiss-Bruno sichtlich nervös.

„Ach, komm schon, Bierschiss-Bruno! Ich mach doch nur Spaß!“, entgegnet Jack.

„Und bitte nenn mich nicht so!“ Bierschiss-Bruno versucht seiner Stimme einen energischen Ton zu geben, aber es klingt nur kläglich.

„Also bitte! Sogar deine Mutter nennt dich so! Wenn du nicht dabei bist.“ Jack trumpft auf. „Ich weiß sogar, woher du den Namen hast. Vor fünf Jahren, als du mit der Schule auf Klassenfahrt warst, hast du mit deinen Kumpeln einen Kasten Bier gekauft und dann...“

„Halts Maul!“ Bruno verliert die Contenance. „Halt dein Scheiß-Maul!“

„Pass mal auf.“ Jack nimmt das Glas mit der verzauberten Flüssigkeit und gießt es ganz langsam über die Theke. Dann nimmt er ein silbernes Zippo-Feuerzeug aus der Hosentasche, lässt es aufschnappen, zündet es an und – Wusch! – schon steht die ganze Theke in hellen Flammen.

Bierschiss-Bruno ergreift einen feuchten Lappen und versucht das Feuer zu ersticken. Der Lappen brennt. Und seine Hände. Geistesgegenwärtig steckt er beide Hände in das volle Spülbecken. Es zischt.

„Oh Gott!“, kreischt Bierschiss-Bruno.

„Gott“, stellt Jack hochnäsig fest, „hat überhaupt nichts damit zu tun!“

Die Flammen breiten sich schnell aus. Ein beherzter Gast hat den Feuerlöscher entdeckt. Leider kann er ihn nicht bedienen. Panik. Heiko, Andy und die anderen Zecher geben Fersengeld. Im Nu ist der Laden leer.

Jack klatscht in die Hände und die Flammen sind augenblicklich verschwunden.

„Komm, wir gehen!“, schlägt er vor. „Ich fahr dich nach Haus.“

 

Gesagt, getan. Schon sitzen wir in dem weißen Porsche Boxter, mit dem Jack heute unterwegs ist, und flitzen nach Griesheim.

Jack wirft eine CD in die Stereo-Anlage: „Pleased to meet you, hope you guess my name...“ Das sind natürlich die Stones. Jack singt die charakteristischen Woo-woos gutgelaunt mit, und schon halten wir vor dem heruntergekommenen Mietshaus, in dem ich wohne.

„Heute kein Sex, Wolfi! Ich hab noch schrecklich viel zu tun. Du weißt ja: Der Teufel schläft nie!“, ruft er mir zu, während ich aussteige. „Ach ja, und sei bitte morgen früh um exakt viertel nach neun genau hier!“ Er drückt mir einen Zettel mit einer Adresse in der Bürostadt Niederrad in die Hand und verschwindet laut hupend in der Nacht.

BÜROSTADT INFERNO!

Frankfurt/Main. Montag, 30. 8.

Ich habe kaum geschlafen.

Punkt halb acht springe ich wie eine Feder aus dem Bett. Rasieren, Duschen, Zähneputzen. Dann eine Zigarette und Kaffee. Und dann noch eine Zigarette. Und noch etwas Kaffee. Planet-Radio spielt die neuesten Hits und verbreitet unerträglichen Frohsinn.

Zwanzig nach acht verlasse ich das Haus. Ich liege gut in der Zeit. Der blaue Himmel verspricht einen sonnigen Tag. Ich quetsche mich in die überfüllte Straßenbahn Richtung Hauptbahnhof. Hier muss ich umsteigen. Eine verwirrte alte Schachtel, die ihre ganze Habe in einem halben Dutzend Einkaufstüten herumträgt, glotzt mich an und stammelt „Du! Du! Du!“, aber ich bin schon im Tiefgeschoss verschwunden und haste zur S-Bahn Linie 8, Richtung Rüsselsheim über Frankfurt Flughafen. Auf dem Bahnsteig warte ich mit unzähligen ungeduldigen Angestellten, die wohl alle ein bisschen spät dran sind, und einer rein männlichen, leicht angejahrten Reisegruppe mit Bergen von Koffern und Taschen auf die S-Bahn.

Schon kommt die Acht. Die Sesselpupser, die Sextouristen und ich zwängen uns in die eh schon vollgestopften Wagen und gleich darauf ruckelt und zuckelt die Bahn eiligst von dannen.

In Niederrad spuckt die S-Bahn das Angestellten-Heer aus. Ich schließe mich der schier endlosen Karawane an, die in Richtung der Bürotürme zieht.

 

Pünktlich um 9:15 Uhr bin ich vor der verabredeten Adresse. Ein riesiges Bürohochhaus. Wo ist Jack? Während ich warte, rauche ich eine Zigarette, beobachte die Flieger, die am Himmel vorbeiziehen und mache mir Sorgen, ob das alles nicht doch ein paar Nummern zu groß für mich ist.

„Doktor Faust?“ Ein stattlicher Bursche nähert sich. Der Hausmeister, nehme ich an. Sandfarbenes glattes Haar, breite Nase, gespaltenes Kinn. Unrasiert. Er trägt eine grobe blaue Arbeiterhose und ein graues T-Shirt. Auf dem rechten Arm hat er eine Tätowierung, die ein Kreuz auf einem Hügel mit Sonnenaufgang zeigt.

„Das bin ich“, bestätige ich und schau ihn mir an. Ein ordentliches Päckchen in der Hose und ein üppiger Hintern.

„Hier entlang.“ Er führt mich ins Haus und zum Fahrstuhl. Wir warten. Ich stelle mir vor, dass wir in den Keller fahren und es dort miteinander treiben.

Blühende Phantasie!

Der Fahrstuhl kommt. Wir fahren aufwärts, bis nach ganz oben. Ich folge ihm über die Treppe bis zur Tür zum Dach. Er bückt sich und fischt einen Schlüssel unter der Fußmatte hervor. Dabei rutscht seine Hose ein gutes Stück nach unten und ich habe einen prima Blick auf die Klempnerfalte, die frech zwischen Hosenbund und dem viel zu kurzen T-Shirt hervorlugt. Mir läuft das Wasser im Munde zusammen.

Wir treten aufs Dach. Ganz schön frisch hier oben!

„Okay“, meint der Kerl, während ich das gegenüberliegende Bürohochhaus unter die Lupe nehme, das noch um einige Stockwerke höher ist, als das, auf dessen Dach wir stehen, „zieh dich aus!“

„Wie bitte?“

„Zieh dich aus, ich will dich ficken!“ Der Bursche geht ganz schön ran. Derb greift er mir zwischen die Beine, dass mir Hören und Sehen vergeht.

„Warum eigentlich nicht? Sind wir nicht alle geile Tiere?“, denke ich und ächze: „Na, hören Sie mal! Wer glauben Sie eigentlich, wer ich bin?“

„Du kleines Ferkel brauchst es doch ganz dringend!“ Mit einer blitzschnellen Bewegung reißt er mir das Jackett vom Leibe, das ich gerade erst im Schlussverkauf bei Hertie für achtundneunzig Mark erstanden habe.

Ratsch! Wie Papier!

„Hey!“ Ich suche nach Worten. Der geile Bock greift nach meinem gefälschten Versace-Classic-Shirt.

Ripp! Zack!

Das war der Gürtel. Wie macht er das? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu! Der Unhold packt meine Hose mit beiden Händen, zerreißt sie völlig mühelos und wirft sie achtlos über die Brüstung. Bis auf meine Olaf-Benz-Unterhose, meine Socken und meine Dockers bin ich völlig nackt.

„Jack!“, stelle ich fest. Der Leibhaftige hat mir erst vor wenigen Stunden gezeigt, dass er jede beliebige Gestalt annehmen kann.

„Der Kandidat hat hundert Punkte!“, schmunzelt er, zerfetzt meinen Schlüpfer und entledigt sich dann selbst im Handumdrehen seiner Kleidung. Der lüsterne Hausmeister, der in Wirklichkeit der Teufel selbst ist, lächelt mich gierig an. Ordentlich Haare auf der muskulösen Brust. Stark erregt. Genau so wie ich!

Ich werfe einen Blick auf das gegenüberliegende Hochhaus und sehe Dutzende von Sachbearbeitern mit dampfenden Kaffeetassen und Zigaretten am Fenster stehen und zu uns rübergaffen. Einige lachen. Andere tun so, als wären sie empört. Eine von den Tippliesen hat einen Fotoapparat mit Blitzlicht. Klick, klick, klick!

„Ach du Scheiße! Lass uns hier verschwinden!“ Ich habe keine Lust auf Publikum.

„Zu spät!“, keucht er und drückt mich gegen die hydraulische Winde für den Fensterputzer-Lift. „Komm schon, Wolfi, nimm´s wie ein Mann!“

Es tut höllisch weh, als er in mich eindringt.

„So ist das, wenn man vom Teufel geritten wird! Versuch es zu genießen!“, brummt er, während er fest zustößt.

Also versuche ich es zu genießen. Was soll ich auch sonst tun? Ich konzentriere mich ganz und gar auf meine Geilheit. Und auf Jack. Und auf das Publikum.

„Das Beste kommt noch!“, flüstert Jack zwischen zwei Stößen und zeigt auf eine Boeing 747 am Himmel.

Die Maschine fliegt verdächtig tief und kommt überraschend schnell auf uns zu. Ein immer lauter werdendes Dröhnen erfüllt die Luft. Ich bemerke, dass das Fahrwerk ausgefahren ist. Sturzflug! Unsere Zuschauer schauen jetzt gar nicht mehr so amüsiert aus der Wäsche. Eher ängstlich. Der Jumbo kommt immer näher. Er wird immer größer. Jack keucht immer ekstatischer. Mir ist, als ob ich die Stimmen oder die Gedanken der Fluggäste hören könnte.

 

„Mayday! Mayday!“

„Oh bitte bitte, bitte nicht!“

„Pull up! Pull up!“

„Zwickt mich, damit ich aufwache!“

„Oh my sweet Jesus!“

„Mama!“

„Cut the Engines!“

„Nein, nein, nein, nein, nein!“

Schreie und Jammern. Nackte Angst. Pure Verzweiflung. Verleugnung des Unabwendbaren. Tränen fließen. Schließmuskeln versagen...

Jetzt ist der Flieger ganz nah. Er ist wirklich riesig. Majestätisch und bedrohlich schwebt er vielleicht zehn Meter über uns. Die Luft vibriert. Es stinkt nach Kerosin. Die Triebwerke sind unvorstellbar laut. Für seine Größe ist er wirklich unglaublich schnell.

 

Eine unendliche Zehntelsekunde später trifft er auf das Bürohochhaus mit den schaulustigen Angestellten. Ihre schrillen Entsetzensschreie übertönen alles. Hunderte von Fensterscheiben zerspringen. Metall prallt mit ohrenbetäubendem Geräusch auf Beton.

Und dann, zeitgleich: Die Explosion! Eine gewaltige Druckwelle aus Flammen, Glassplittern, Metalltrümmern, Blut, Knochen und heißer Luft rast über uns hinweg.

Jack explodiert im gleichen Augenblick. Er wimmert: „Oh Jesus! Mein süßer Jesus!“ Ich spüre sein Sperma. Es ist eiskalt. Jetzt komme auch ich. Inmitten des lodernden Feuerballs. Die Hitze überwältigt mich und ich glaube, ich verglühe.

DIE GRUSEL-KLINIK DES DOKTOR VORNOFF

Als ich die Augen wieder öffne, sitzen Jack und ich in einem nachtblauen Landrover, der in einem Höllentempo über die Autobahn jagt.

„Bitte versuch hier nicht alles voll zu bluten!“, meint Jack gutgelaunt vom Fahrersitz aus und reicht mir ein schmuddeliges Tempo, „die Karre ist brandneu!“

Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel. Meine Nase blutet wie die Seuche. Außerdem sehe ich weit hinter uns eine gigantische schwarze Rauchsäule in den Himmel aufsteigen.

„Oh Gott!“

„Gott“, doziert Jack und imitiert dabei den besserwisserischen Trickfilmhelden Schlaubi Schlumpf, „hat keinen Finger gerührt, um diese Katastrophe zu verhindern!“

Er angelt ein Päckchen Reval aus dem Handschuhfach, bietet mir eine an und aktiviert den Zigarettenanzünder. „Wow! War das nicht atemberaubend? So muss Sex sein! Bombastisch! Wie ein Feuersturm!“

Ich wische das Blut ab, so gut es geht, zünde die postkoitale oder postinfernale Zigarette an und inhaliere.

Würzig und verdammt stark. Schmeckt ein bisschen nach Blut, aber das ist okay.

Jack hat die gleiche Gestalt wie bei unserem ersten Treffen angenommen: Jung, braungebrannt, muskulös, hinreißend lächelnd. Die rabenschwarzen Haare sind heute allerdings etwas länger, lockiger und ziemlich ölig. Er trägt ein weißes T-Shirt mit dem Aufdruck „Hard Rock Café Izmit“, eine protzige goldene Rolex, schwarze Adidas-Trainingshosen, die an der Seite mit Druckknöpfen zusammengehalten werden, und dazu passenden Sportschuhe.

Ich selbst bin immer noch splitternackt, bis auf die Socken und die Dockers. Erstaunlicherweise habe ich überhaupt keine Brandwunden. Abgesehen von dem Nasenbluten registriere ich nur ein paar Abschürfungen, blaue Flecken und ein leicht flaues Achterbahngefühl. Ansonsten geht es mir richtig prima, wenn man bedenkt, dass gerade eben direkt neben mir ein vollbesetzter Jumbo-Jet explodiert ist.

„Da drüben ist der treue Fridolin!“, ruft Jack und deutet auf einen antiken, völlig verrosteten, ehemals türkisfarbenen Kühlwagen, der vielleicht hundert Meter vor uns herschleicht. Schon sind wir direkt neben ihm. Jack lässt das Beifahrerfenster herunter und hupt. Ein speckgesichtiger Bursche mit dunkelblonder Mecki-Frisur und Doppelkinn lächelt uns zu. Zwischen den feisten Lippen glimmt ein dicker Zigarrenstumpen. Haare quellen aus dem ärmellosen Feinripp-Unterhemd. Er hat ein kleines Cartoon-Teufel-Tattoo mit dem Slogan „The Devil made me do it!“ auf dem behaarten linken Oberarm. Irgendwie erinnert er mich an den blinden Würger aus dem Edgar-Wallace-Film „Die toten Augen von London“. Die Stereoanlage dröhnt bis zu uns herüber „I´m on a highway to hell!“ Das sind AC/DC von Anno Dunnemals, 1979. Damals noch mit dem unvergeßlichen Bon Scott. Jetzt kommt das Gitarrensolo. Fridolin grinst über alle vier Backen, zeigt uns einen nach oben gerichteten Daumen und hupt zurück.

Jack gibt Gas, und schon lassen wir ihn hinter uns.

„Fridolin ist ein großartiger Kerl. Einer meiner besten Mitarbeiter. Aber Vorsicht, Wolfi! Beim Sex ist er wie ein wildes Tier, weißt du? Der reißt dir beim Ficken glatt den Kopf ab und merkt es erst 'ne halbe Stunde später. Also: Hände weg, okay?“, warnt mich Jack mit erhobenem Zeigefinger, während er ein Handy aus der Hosentasche fummelt und eine Nummer wählt.

„Ich muss mich jetzt mal gerade ums Geschäft kümmern.“ Er wendet sich seinem Gesprächspartner zu. „Hallo, Eric? Ich bin´s! Wir sind jetzt auf dem Weg. Genau. Fridolin hat alles besorgt! Aktion Hohes-C geht jetzt in die heiße Phase! Ach ja, und ich bringe noch jemanden mit, für das verbesserte Jungbrunnen-Programm.“

Jack wirft mir einen prüfenden Blick zu. „Also, ich glaube, im Grunde wirklich alles von A bis Z. Vollständige Generalüberholung! Was? Was soll das heißen, keine Zeit? Du vergisst wohl mal wieder, wer hier der Boss ist, Eric-Baby! Soll ich mal mit deinem kleinen Schatz darüber reden? Soll ich den putzigen Lausbuben vielleicht mal von der Schule abholen? Den süßen Blondschopf? Würde dir das gefallen?“

Jack kann seiner Stimme einen wirklich bedrohlichen Ton geben, wenn er will. Zuckersüß flötet er weiter.

„Siehst du! Dann sind wir uns doch einig. Und als kleinen Extra-Bonus habe ich ein Original-Autogramm von diesem entzückenden Star-Wars-Racker für dich besorgt. Wie heißt er noch? Jake Lloyd. Genau! Also bis später, du Strolch!“

Gleich darauf wählt er eine weitere Nummer.

„Silvie? Ich bin´s. Sei ein Schatz und lauf rüber ins Filmplakat-Geschäft in der Müllerstraße und besorg mir ein Foto von diesem Kinderstar aus „The Phantom Menace“, okay? Wir treffen uns kurz hinter Rosenheim. Ich bin in einem Landrover unterwegs. Das übliche Kennzeichen.“

Noch während Jack telefoniert, überfällt mich eine bleierne Müdigkeit und ich döse ein.

„Du schnarchst!“, verrät mir Jack, als ich wieder aufwache.

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster: Weißblauer Himmel, sattes Grün, ein herrliches Alpenpanorama liegt vor uns. Im Autoradio dudeln volkstümliche Hits.

Jetzt kommen die Nachrichten im Radio: „Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass alle 348 Passagiere und die Mitglieder der Crew den Tod gefunden haben. Der Flug 714 nach Sydney ist bereits mit über einer halben Stunde Verspätung gestartet...“ Jack sucht einen anderen Sender. „... drei Stunden nach der Katastrophe hat die Feuerwehr den Brand immer noch nicht unter Kontrolle ...“ „...wurde für den kompletten Stadtteil das Ausnahmerecht verhängt ...“ „... warum der Pilot eine Schleife über Frankfurt geflogen ist, um dann wieder Kurs auf den Flughafen zu nehmen, ist nach wie vor ungeklärt ...“

„Und so weiter, und so fort! Diese Trottel werden niemals herausfinden, was wirklich passiert ist.“ Jack deutet mit dem Daumen auf den Rücksitz, wo ein verbeulter, verschmorter orangefarbener Metallkasten mit weißen und schwarzen Markierungen und der Aufschrift „DO NOT OPEN!“ liegt.

„Das ist der Cockpit-Flugschreiber!“, verkündet er stolz und freut sich wie ein Kind.

Plötzlich klopft es an die Beifahrertür. Ich schaue raus. Eine junge Frau rast auf einer Yamaha-Virago neben uns her und schenkt uns ein strahlendes Lächeln. Sie trägt eine Motorradbrille, ein hellblaues Tank-Top, schwarze Radlerhosen und weiße Sandalen mit unmöglich hohen Plateau-Sohlen. Ihre langen schwarzen Haare flattern im Wind.

Jack lässt das Beifahrerfenster herunter und sie pfeffert einen braunen A-4-Umschlag auf meinen Schoß. Dann gibt sie Gas, dreht sich noch einmal um, wirft uns eine Kusshand zu und hängt uns mühelos ab.

„Das ist Silvie“, sagt Jack, „sie leitet unser Münchener Office.“

Vergnügt fährt er weiter und pfeift ein kleines Lied, während ich die Landschaft genieße und versuche, an gar nichts denke. Kurz darauf biegen wir von der Autobahn ab. Von der Abfahrt aus sehe ich einen riesigen See mit Touristen-Dampfern und Segelbooten. Wir fahren ein Stück am See entlang, durch eine hübsche Ortschaft und dann in ein kleines Villenviertel am Waldrand. Schließlich halten wir vor einem unauffälligen, mehrstöckigen Landhaus.

 

PRIVATKLINIK

PROF. DR. MED. E. VORNOFF

 

PLASTISCHE CHIRURGIE

TERMIN NACH VEREINBARUNG

 

steht auf einem protzigen Schild. Daneben gleich noch ein Schild: WARNUNG VOR DEM HUNDE! mit Abbildung eines wildgewordenen Pitbull-Terriers. Jack hupt und gleich darauf öffnet sich die Pforte und wir fahren in die Tiefgarage.

Kaum dass er den Motor abgeschaltet hat, zieht Jack ein großformatiges Foto aus dem braunen A-4-Umschlag, nimmt einen schwarzen, wasserfesten Edding aus dem Handschuhfach und schreibt in einer leicht kindlichen Schreibschrift „with best regards, Jake Lloyd“ quer über die Abbildung eines Jungen, der mit den beiden bekannten Star-Wars-Robotern in einer Art Wüstenlandschaft posiert. Dann steigen wir aus und Jack führt mich zum Aufzug, mit dem wir nach oben fahren.

Hier sieht alles sehr krankenhausmäßig aus, und der typische Geruch von antiseptische Reinigungsmitteln liegt in der Luft. Jack steuert auf eine Tür mit der Aufschrift SPRECHZIMMER zu und tritt ohne Klopfen ein. Ich folge auf dem Fuße.

„Hallo Eric, alter Junge!“, ruft Jack jovial quer durch den abgedunkelten Raum.

Es ist niemand zu sehen. Ich schaue mich um. Die Wände sind über und über mit gerahmten Fotos und Autogrammkarten irgendwelcher Kinderstars überseht: Timmy aus „Lassie“, Bud aus „Flipper“, Macauley Culkin, Heintje, die Teens, Shawn Cassidy, Aaron Carter, der original Kinder-Schokolade-Junge aus den 60er Jahren und Hunderte mehr, die ich nicht kenne, meist schwarz-weiß, teils leicht vergilbt, aber alle mit Widmung.

Dann nehme ich eine Bewegung wahr. Ein unglaublich kleiner Mann kommt hinter dem riesigen, mit Zeitschriften und Büchern überladenen Schreibtisch hervorgetrippelt. Er ist gerade mal 1,30 Meter groß. Gesicht und Hände wirken wie die eines Kindes. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, einen Greis vor mir zu haben, so unvorstellbar langsam bewegt er sich. Sein kurzes, blondgefärbtes Haar ist dünn, die Haut im Gesicht wirkt unnatürlich gespannt. Er trägt einen weißen Arztkittel und hat ein Stethoskop um den Hals.

„Der gute Jack Hammer, welch eine Ehre!“, seine Stimme klingt brüchig und gleichzeitig sehr hell. „Und wen haben wir denn hier? Hast du den Burschen auf einem Autobahn-Parkplatz aufgerissen?“ Er mustert mich von oben bis unten und schaudert. „Großer Gott, schau dir das an: Motiv-Socken und Dockers-Wanderschuhe. Na danke!“

„Angela und ich haben mal wieder so eine Faust-Wette laufen, weißt du? Und das ist unser neuer Doktor Faust. Aus Frankfurt am Main. Er war übrigens einer der ersten, der menschliche Zellen geklont hat“, sagt Jack und legt seine Hand auf meine Schulter.

„Doktor Johann Wolfgang Faust? Ich glaube, ich habe von Ihnen gehört! Sie haben sich doch einen Homunkulus in der Petri-Schale auf dem Fensterbrett gezüchtet, nicht wahr? Ja ja, da gab es Gerüchte im Internet.“ Der Kleinwüchsige gibt mir einen erstaunlich festen Händedruck. „Sie können mich übrigens Doktor Vornoff nennen.“

„Das war damals nur so ein kleines Experiment. Ich wollte es auch eigentlich rechtzeitig abbrechen“, murmele ich. Das ist - nebenbei gesagt - nicht ganz wahr: Tatsächlich hatte ich bereits ein Buch mit den schönsten Kindernamen der Welt gekauft.

„Ja ja“, sagt Doktor Vornoff und nimmt eine kleine Tischglocke von seinem Schreibtisch, mit der er dreimal klingelt.

„Schau mal, was ich dir mitgebracht habe!“ Jack übergibt dem Doktor das Foto aus dem Umschlag. „Kaum zu glauben, dass der süße Fratz später mal auf die dunkle Seite der Macht wechseln soll, nicht?“

Bevor der gute Doktor antworten kann, betritt eine stämmige Frau in Schwesterntracht das Sprechzimmer. Sie hat die Statur einer Hammerwerferin, eine beachtliche Oberweite und wildes blondes Haar. Ein Fieberthermometer hängt im rechten Mundwinkel. Sie ist stark geschminkt, schwer parfümiert und hat lange, weißlackierte Fingernägel mit silbernen Applikationen.

„Schwester Ilsa, bitte begleiten Sie den jungen Mann auf sein Zimmer!“, befiehlt Doktor Vornoff. Das lässt sie sich nicht zweimal sagen. Sie packt mich am nicht vorhandenen Schlafittchen und dirigiert mich aus dem Sprechzimmer hinaus Richtung Fahrstuhl. Wir fahren in den vierten Stock. Sie öffnet eine Tür.

„Das ist dein Zimmer! Dusch dich erst mal. Du hast es weiß Gott nötig.“

Ich schaue mich um. Ganz hübsch: Blick auf den Wald und den dahinter liegenden See. Ein einladendes Bett, in das ich mich jetzt am liebsten legen würde, Radio, eine OP-Liege hinter einem Bettschirm, eine kleine Nasszelle mit Waschbecken, Dusche und WC. Das Übliche...

Die Dusche tut mir wirklich gut. Während das heiße Wasser auf meinen müden Körper prasselt, denke ich an die Ereignisse des Vormittags: Die bedauerndswerten Seelen in dem Flugzeug! Und die armen Angestellten in dem Bürohochhaus! Mein Gott, das darf doch alles gar nicht wahr sein! Dann denke ich an Jack und unsere geile Nummer auf dem Hochhausdach! Schon habe ich eine steinharte Erektion.

Gerade trockne ich mich ab. Da platzt Schwester Ilsa ohne anzuklopfen ins Zimmer. Sie rollt einen kleinen Instrumentenwagen, mit einem Rasiermesser, Rasierseife, einem Rasierpinsel und einer Nierenschale voller Wasser drauf, vor sich her und starrt pikiert auf meinen Ständer.

„Das ist ja wohl absolut widerlich!“, herrscht sie mich an und greift nach dem Rasiermesser. „Wenn du irgendwelche Schweinereien versuchst, schneid ich ihn dir ab! Jetzt leg dich hin, ich soll dich für die Operation vorbereiten. Rasieren und Fiebermessen.“

„Aber ich ..., ich...“, entgegne ich schwach.

„Kein Aber!“, wettert sie und lässt das Fieberthermometer blitzschnell von einem Mundwinkel zum anderen wandern, „alle Männer sind potentielle Vergewaltiger.“

Plötzlich passiert alles entschieden zu schnell. Im Handumdrehen hat die resolute Krankenschwester meine Schamhaare eingeseift und abrasiert und mich auf der bereitstehenden Liege festgegurtet. Wir fahren mit dem Fahrstuhl abwärts bis ins dritte Tiefgeschoss.

 

Schwester Ilsa schiebt mich in einen großen, schlecht beleuchteten Raum, der mir wie eine wilde Mischung aus mittelalterlicher Hexenküche und High-Tech-OP vorkommt.

Brennende Kerzen sind auf den neuesten Computer-Monitoren befestigt. Mit getrockneten Fröschen und Fledermausflügeln gefüllte Bonbongläser stehen neben einem supermodernen Sekretabsauger und einer halbvollen Flasche Martini. Rostige Knochensägen und chromblitzende Kornzangen liegen auf den Instrumententabletts völlig durcheinander. Eine Katze faucht. Es riecht nach Krankenhaus und Haschisch.

„Ich gebe die Narkoseschwester!“, ruft Jack fröhlich. Er trägt einen forstgrünen OP-Chirurgenmantel, OP-Handschuhe sowie Mundschutz und spielt mit einer Fingerringsäge.

„Hey! Können wir nicht noch einmal darüber reden?“, versuche ich zu protestieren.

„Keine Zeit, keine Zeit!“, brummt Doktor Vornoff, der ein entsprechendes Outfit und einen Stirnspiegel trägt. Er hantiert mit einem Mastdarmspekulum. „Zählen Sie langsam von zehn abwärts!“

Jack presst mir einen nach Äther stinkenden Lappen über Mund und Nase.

„Zehn!“, huste ich.

„Also, wenn ihr mich fragt, was wir hier machen, ist eine totale Verschwendung von Zeit und Geld!“, stellt Doktor Vornoff fest.

„Neun!“

„Wenn wir schon mal dabei sind, sollten wir auch gleich seine Hämorrhoiden wegätzen“, schlägt Jack vor.

„Acht!“

„Was ist mit diesem Skalpell? Das ist ja total stumpf! So kann ich nicht arbeiten!“, schimpft der Doktor.

„Sieben!“

„Wie wär‘s mit einer radikalen Geschlechtsumwandlung? Das wäre doch bestimmt eine irre Überraschung für das Spatzl!“, kichert Schwester Ilsa.

„Sechs!“

„Einverstanden. Haben wir genug Silikon für die Brüste?“

„Fünf!“

„Diese Abdecktücher stieren vor Dreck! Was soll das wieder? Hab‘ ich nicht ganz klar gesagt, nicht wieder so ein Pfusch?!“, nörgelt Jack.

„Vier!“

„Ist diese Nadel steril?“

„Drei!“

„Wo ist dieses verfickte Scheiß-Zauberbuch?“

„Zwei!“

„Los kommt, wir sägen ihm die Beine ab! Das gibt einen Riesenspaß!“

„Eins!“

„Meinetwegen! Und dann am besten auch grade noch die Arme!“

„Null!“

Ich höre die drei noch kichern und dann wird alles schwarz und ich stürze in ein bodenloses Loch.

OPERATION JUNGBRUNNEN

Ich habe einen Traum:

Jack und ich fahren in einem fickfroschgrünen Citroen 2CV durch eine malerische, sonnendurchflutete bayerische Seenlandschaft. Vögel zwitschern, Kühe muhen, Mägde singen. Aus irgendeinem mysteriösen Grund sind wir auf der Flucht und haben uns als Frauen verkleidet, um unsere Verfolgen abzuschütteln. Wir tragen lächerliche blonde Langhaarperücken, die unsere übertrieben großen Koteletten kein bisschen verbergen können. Jack spricht mit einem starken niederländischen Akzent, und ich habe eine kieksige, sich ständig überschlagende Stimmbruch-Stimme. Es kommt zu allerlei Verwicklungen und unsere Verfolger, lauter liebenswerte bayerische Originale, müssen ebenfalls Frauenklamotten anziehen. Jedenfalls läuft alles darauf hinaus, dass wir, unsere Verfolger und ein paar Schlagersänger in auffälligen Schlaghosen, die zufällig auftauchen, Gruppensex in einem Heuschober haben, der dann einstürzt. Schließlich rasen Jack und ich in einem Motorboot über den Wörther See und Jack singt „Der Junge mit der Mundharmonika“. Er hat wegen des starken Seegangs sichtbar Schwierigkeiten, die Lippen synchron zum Playback zu bewegen.

Für einen Augenblick komme ich zu mir. Ich spüre Nadelstiche in meiner Kopfhaut und ein Saugen an meinen Hüften. Meine Augen sind bandagiert und ich kann mich nicht bewegen. Das alles ist mir zum Glück herzlich egal, ich habe ein angenehmes gleichgültiges Gefühl, als wäre ich in Watte gepackt. Gott segne Valium! Dann falle ich zurück in den Schlaf und träume weiter:

Es ist Nacht. Jack und ich - immer noch in Frauenkleidern - tragen eine endlos lange Leiter durch die dunklen Straßen einer ostdeutschen Kleinstadt. Wir kommen zu einem riesigen gelben Barockhaus. Mit Hilfe der Leiter klettern wir durch ein Fenster im dritten Stock. Dann sind wir in einer Stube mit einem altertümlichen Ohrensessel und einem miefigen ungemachten Bett. Es ist Goethes Sterbebett. „Los mach´s mir!“, fordert mich Jack auf. „Gib dem Teufel, was dem Teufel gebührt!“ Schon liegen wir im Bett und treiben es wie die Wilden. „Mehr Licht!“, stöhnt Jack. „Mehr Licht! Mehr Licht!“

 

Jetzt liege ich in einer Art Halbschlaf und höre ein leises Kinderweinen von ganz weit her. Manchmal spüre ich ein Ziehen oder Kneifen, aber das ist mir nach wie vor piep-egal.

Jemand singt: „Mütter haltet eure Kinder fest, am Chiemsee ist heut Kinderfest...“ Es ist Doktor Vornoffs glockenhelle Greisenstimme.

Ich habe ein Gefühl, als würden hunderttausend weißglühende Ameisen durch meinen Körper krabbeln. Wieder schlafe ich ein und der Traum geht weiter:

Jack und ich – beide immer noch im Fummel – rauchen dicke Zigarren. Wir sind schwer bewaffnet und überfallen eine Bank. Obwohl es gar nicht nötig ist, knattern wir mit unseren Maschinenpistolen vergnügt in die Menge und flüchten lachend in einem Bus, dessen Passagiere wir als Geiseln nehmen.

 

Als ich diesmal wieder wach werde, liege ich in dem gemütlichen Bett in meinem Krankenzimmer. Es ist heller Tag. Ich kann mich zwar immer noch nicht rühren, aber immerhin kann ich mich umsehen. Neben dem Bett steht ein Infusionsständer mit Tropfglas, das zur Hälfte mit einer bläulichen Flüssigkeit gefüllt ist. Ich kann spüren, wo die Kanüle in meinen Arm sticht.

Im Zimmer nebenan singt jemand die Notenleiter rauf und runter. In verschiedenen Oktaven. Trällert kleine Melodien. Immer und immer wieder. Stunde um Stunde.

Draußen geht die Sonne unter und wieder gleite ich hinüber ins Land der Träume:

Jack und ich - immer noch als Frauen getarnt – sind auf der Flucht. Kläffende Bluthunde sind uns auf den Fersen. Wir rennen auf einen Bahndamm zu, aber wir kommen nur langsam voran, wegen der hochhackigen Pumps, die wir tragen, und weil wir mit Handschellen aneinander gefesselt sind. Trotzdem schaffen wir es, auf einen vorbeidonnernden Güterzug aufzuspringen. Der Zug rollt durch ein verwüstetes Frankfurt. Scheinwerfer tasten den bewölkten, stockdunklen Himmel ab. Der Messeturm steht in Flammen und es regnet Blut. „Das ist die Apokalypse! Das ist das Ende der Welt!“, schreit Jack quietsch-vergnügt. Ein Fledermaus-Schwarm greift uns an. Eine der Fledermäuse verbeißt sich in meinen rechten Oberarm. Das sticht!

 

Ich wache auf.

„Er wacht auf!“, bemerkt Doktor Vornoff, der neben meinem Bett steht und mich beobachtet.

„Nicht bewegen! Nicht bewegen! Das dauert nur noch zehn Sekunden“, ruft Jack. Er ist damit beschäftigt, etwas auf meinen rechten Oberarm zu tätowieren. „So, schon passiert!“

„Schwester Ilsa!“, ruft der Arzt und schnippt mit den Fingern.

Augenblicklich kommt die Gerufene herein. Die stattliche Krankenschwester rollt einen mannshohen Spiegel vor sich her.

„Na los, Wolfi, schau dir das an!“, fordert mich Jack auf. „Das bist du.“

Ich stehe auf und stelle mich vor den Spiegel.

Das bin ich: Unglaublich jung! Höchstens achtzehn! Volles Haar! Strahlend weiße Zähne! Athletisch! Attraktiv! Geradezu hinreißend schön! Auf meinem rechten Arm ist die frische Tätowierung zu sehen. Ein schlichter, dynamischer Schriftzug, den ich auch in Spiegelschrift entziffern kann: JACK.

„Ich liebe es, meine Arbeit zu signieren!“, kommentiert Jack.

Ich bin von meinem eigenen Spiegelbild einfach überwältigt und schon merke ich, wie sich etwas zwischen meinen Beinen rührt.

„Modell Pornostar! Für den Fall, dass du eine Filmkarriere im Auge hast!“, preist Jack mein monströses Glied, das sich jetzt stolz erhebt.

„Der Lümmel kriegt schon wieder einen Steifen! Das ist ja nicht zum Aushalten!“, mault Schwester Ilsa und bekreuzigt sich.

„Nimm doch bitte Rücksicht auf die anwesenden Damen“, mahnt der gutgelaunte Satansbraten und reicht mir eine schwarze Cargo-Hose und ein dunkelgraues T-Shirt mit RENT-Aufdruck. „Das dürfte deine Größe sein, Wolfi-Schatz. Bedecke deine Blöße.“

„Er ist perfekt, absolut perfekt“, stellt Doktor Vornoff fest, der kaum seinen Blick von mir abwenden kann. „Das ist mit Abstand unsere gelungenste Operation!“

„Die Ehre gebührt allein dir, Eric, mein Allerwertester! Von diesem modernen Laser-Skin-Resurfacing-Zeug und Nano-Technologie-Dingsda habe ich dummes Ding doch keinen blassen Schimmer“, lobt Jack den guten Doktor, der noch schnell einen kleinen Verband über dem frischen Tattoo befestigt.

Im Handumdrehen schlüpfe ich in Hose und Hemd und ziehe meine alten Dockers an. Mein Magen knurrt. Ich könnte einen Bären verschlingen.

„Komm mit, ich zaubere dir ein Frühstück!“ Schwester Ilsa dirigiert mich in die im Landhaus-Stil gehaltene Küche im Erdgeschoss. An der Wand hängt ein Kruzifix und ein kitschiges Bild, das zeigt, wie der Heiland mit einer frommen bayerischen Großfamilie am gedeckten Tisch betet. Sie schenkt mir einen großen Becher dampfenden Kaffee ein, stellt Butter und einen Brotkorb auf den Tisch mit der weiß-blauen Tischdecke und schlägt sechs Eier in die Pfanne.

„Kann ich eine Zigarette haben?“, bitte ich höflich.

„Spinnst du? Hast du eigentlich eine Ahnung, wie viel Teer der Doktor aus deiner Lunge gekratzt hat? Willst du unsere harte Arbeit grad wieder zunichte machen? Rauchen ist doch heutzutage sowieso völlig passé!“, schimpft die Schwester, während sie die Rühreier auf einen Teller gibt und serviert. „Du müsstest deine Nikotinsucht eigentlich auch schon überstanden haben.“

„Wieso? Ich meine, wie lange bin ich denn eigentlich schon hier?“, frage ich zwischen zwei Gabeln.

Sie zeigt auf einen Kalender mit Bibelsprüchen. „Heute ist der neunte September. Also gut zehn Tage.“

Jack kommt in die Küche. Er hat sich umgezogen und trägt jetzt einen schwarzen Anzug von Brioni, ein edles blütenweißes Hemd und einen bunten Versace-Schlips. „Mach mal zu, Wolfi! Der Wagen wartet! Wir haben heute noch viel vor!“

Gerade kann ich noch runterschlucken und mit Kaffee nachspülen, da drängt er mich schon zum Ausgang. Doktor Vornoff drückt mir im Vorbeigehen noch schnell die Hand und ruft: „Viel Glück, Doktor Faust! Viel Glück!“

 

Draußen wartet tatsächlich eine weiße Lincoln-Stretchlimousine mit laufendem Motor. Fridolin, gekleidet wie ein Chauffeur, mit Reitstiefeln und rasiertem Schädel, öffnet den Schlag. Er salutiert und glotzt gierig grinsend auf das stattliche Paket zwischen meinen Beinen. In der Limousine erwartet uns Silvie. Sie trägt ein kurzes schwarzes Cocktailkleid und kämpft gerade mit dem Verschluss einer Flasche Veuve Clicquot. Wir steigen ein, da kommt noch Schwester Ilsa angerannt und drückt mir eine Packung Nikotinpflaster in die Hand.

„Gib auf dich acht“, ruft sie und gibt mir einen dicken Kuss auf die Wange. „Und lass die Finger von den Zigaretten!“

Alle winken und der Wagen setzt sich in Bewegung.

„Ich bin übrigens Silvie!“, sagt Silvie und reicht mir ein Glas Champagner. Wir sind uns ja offiziell noch gar nicht vorgestellt worden.

„Mein Name ist Faust“, entgegne ich, und wir stoßen an.

Schon sind wir auf der Autobahn.

„Komm schon, Fridolin, jetzt drück mal auf die Tube!“, befiehlt Jack, „wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“ Dann prostet er mir zu. „So, Wolfi, jetzt geht das große Abenteuer endlich richtig los!“

„Wo geht´s denn hin?“, frage ich neugierig.

„Warst du eigentlich schon mal bei einer schwarzen Messe?“ Silvie beantwortet meine Frage mit einer Gegenfrage, „ich meine, bei einer richtigen schwarzen Messe?“

DIE SATANISCHE JUNGSCHAR

Die Stretch-Limo saust wie ein Pfeil über die Autobahn.

Fridolin legt eine CD ins Car-Stereo: Dean Martin in seiner besten Schmalz- und Schnulzen-Phase.

Jack singt ein paar Zeilen mit: „In the chappel, by the moonlight...“

Ich nippe am Champagner und beobachte die Landschaft. Wälder, Wiesen, Kleinstädte, Industrieanlagen und Raststätten huschen vorbei. Schon sieht alles gar nicht mehr so typisch bayerisch aus.

„Ich glaube, das ist die beste Leistung, die unser guter Doktor je zustande gebracht hat! Du siehst einfach hinreißend aus“, sagt Silvie, die mich von oben bis unten mustert.

„Ja, absolut umwerfend“, pflichtet Jack bei. „Das ist nicht dieser oberflächliche Pfusch, den Eric sonst liefert. Aber er hatte ja auch prima Material und er war hervorragend motiviert.“

„Doktor Vornoff!“ Silvie spuckt den Namen geradezu verächtlich aus. „Ich kann mich noch erinnern, als er diese Engelmacher-Klinik in London hatte. In den fünfziger Jahren. Was hat er immer gesagt?“, sie äfft ihn nach. „Bei Abtreibungen kommt es nicht so drauf an!“

„Ach komm“, versucht Jack einzulenken. „er hat sicher auch seine guten Seiten. Wir haben sie nur noch nicht entdeckt.“

„Schau mal, was ich hier für dich habe!“ Silvie wechselt das Thema und hält mir ein Bündel Papiere unter die Nase. „Geburtsurkunde, Personalausweis, Reisepass, Führerschein, alles was du brauchst!“

„Dankeschön!“ Ich schau mir den Personalausweis genauer an.

Name: Faust

Vorname: Wolfgang

Geburtstag und Ort: 28.08.81 FRANKFURT/MAIN

 

Auf dem Passfoto sehe ich wirklich absolut fantastisch aus. Und blutjung!

„Wow! Wann habt ihr denn das Foto aufgenommen?“, frage ich begeistert.

„Du warst noch in Narkose und hast überhaupt nichts davon mitbekommen“, sagt Jack, der sich jetzt hinter der aktuellen Bild-Zeitung verschanzt hat. „Deine Unterschrift hab ich auch gefälscht. Übrigens: Du bist jetzt dein eigener Nachfahre! Sieht so aus, als wäre der alte Doktor Johann Wolfgang Faust in den frühen achtziger Jahren mal für fünf Minuten verheiratet gewesen. Gerade lange genug, um einen Sohn zu zeugen. Dich! Deine Mutter ist dann kurz nach deiner Geburt bei einer Safari verschütt gegangen. Von Kannibalen gekidnappt oder so. Und es sieht ganz so aus, als wäre der grundgute Johann Wolfgang, dein lieber Vater, bei dem Flugzeugabsturz in Niederrad umgekommen. Ein unschuldiger Passant, zur falschen Zeit am falschen Ort!“

„Ich bin mein eigener Sohn! Cool!“, ich stecke die Dokumente in eine der zahlreichen Hosentaschen. „Und was ist das jetzt für eine schwarze Messe?“

„Die Satanische Jungschar feiert!“ Silvie gibt ihren Worten einen dramatischen Ton. „Junge Schwule und Lesben, die den Teufel anbeten, weil die offizielle Kirche sie anpisst. Allein in Deutschland haben wir weit über 50.000 Mitglieder. Natürlich alles streng geheim. Wir finanzieren die Jungschar durch unsere Merchandising-Einnahmen.“

„Welche Merchandising-Einnahmen?“, ich bin heute ganz schön neugierig.

„Du kennst doch die typischen Teufelsdarstellungen. Der Bocksfüßige mit Hörnern und zottigem Schwanz oder die Schlange mit dem Apfel im Maul. Populäre Begriffe wie Dämon, Sukkubus, Inkubus oder die magische Zahl Sechshundersechsundsechzig. Und natürlich Jacks bekanntere Pseudonyme: Der Widersacher, Höllenfürst, Luzifer, Teufel, Pferdefuß, Satan, Old Nick, Scratch, Mephisto, Beelzebub und all die anderen Namen.“ Silvie nimmt einen Schluck Champagner und füllt unsere Gläser auf.

„Wir konnten diese Charaktere und Bezeichnungen leider nicht wirklich rechtskräftig schützen lassen. Trotzdem, wenn irgendeine Heavy-Metal-Band sich Satanic Hellhounds nennt, oder wenn in irgendeinem Gruselfilm Luzifer selbst nach den Seelen der Unschuldigen trachtet, dann wollen wir selbstverständlich am Gewinn beteiligt werden! Wir fragen erstmal ganz höflich an. Zwanzig Prozent vom Netto-Income oder so. Leider werden unsere freundlichen Anfragen in den meisten Fällen ignoriert. Dann schicken wir Fridolin vorbei, der haut dann mal eben mit der Faust auf den Tisch und schon läuft es wie geschmiert.“

Fridolin grunzt freundlich vom Fahrersitz aus. Ich stelle mir vor, wie arrogante stinkreiche Rockstars ihm vor Angst schlotternd ihre Einnahmen auf die Hand zählen.

Silvie fährt fort: „Da kommt schon einiges zusammen, das kannst du glauben. Und das stecken wir in den Nachwuchs.“

„Silvie kümmert sich um das Business“, ergänzt Jack. „Das macht sie ganz verteufelt gut!“

Kurze Zeit später biegt Fridolin von der Autobahn ab. Ich schaue aus dem Fenster. Hier sieht schon alles wieder sehr hessisch aus. Wir fahren in ein kleines Kaff. Auf dem Ortsschild steht „Stillborn“. Schließlich parken wir unter den Kastanienbäumen vor einem großen, versteckt gelegenen Landhaus und steigen aus.

„Hier wohnte früher ein einschlägig bekannter Industriellensohn“, kommentiert Jack.

Wir gehen zum Eingang. Ich stelle fest, dass Jack seine Augenbrauen leicht verändert hat. Höher geschwungen als sonst, sehen sie fast schon ein bisschen diabolisch aus. Bevor wir überhaupt läuten können, wird die Tür geöffnet.

„Mein lieber Jack! Verehrte Silvia! Fridolin! Grüß Gott, kommt nur herein!“ Ein hagerer, nichtssagend aus-sehender Mann, vielleicht Mitte dreißig, mit schlecht-sitzendem Toupet, ausdruckslosen Vogelaugen und dünnen Lippen bittet uns herein und starrt mich an. Er trägt eine pechschwarze Mönchskutte und ein kleines umgekehrtes Kruzifix an einem goldenen Halskettchen. „Wer ist der junge Herr?“

„Mein Name ist Faust!“, sage ich ziemlich knapp und ignoriere die Hand, die er mir hinhält.

„Ich bin Bruder Rüdiger“, stellt er sich vor. „Wir haben bereits angefangen und ein paar Kaninchen und Meerschweinchen geopfert. Um die richtige Stimmung zu erzeugen. Der Standesbeamte ist auch schon da und die Trauungszeremonien haben begonnen. Insgesamt haben wir seit heute früh wohl über siebzig Eheschließungen durchgeführt“, informiert er Jack, den das alles nicht sehr zu interessieren scheint.

„Trauungszeremonien?“, frage ich.

„Heute ist doch der 9. 9. 99“, klärt mich Silvie auf. „Alle Welt heiratet heute. Also haben wir einen Standesbeamten bestochen, der vermählt heute Schwule und Lesben ganz amtlich und hochoffiziell, was ja sonst bekanntlich nicht geht!“

„Ich wusste gar nicht, dass Schwule und Lesben nicht heiraten dürfen. Ich meine: Ein Schwuler kann doch eine Lesbe heiraten, oder?“, versuche ich zu scherzen, aber niemand hört mir zu. Ich merke, dass ich einen ganz schönen Schwips habe, von gerade mal zwei Gläsern Champagner.

Bruder Rüdiger führt uns in einen etwas größeren Saal im Erdgeschoss. Fünf oder sechs junge Lesben- und Schwulenpärchen in schwarzen Mönchskutten stehen vor einer Art Traualtar, auf dem ein paar arme Kaninchen in ihrem Blut schwimmen.

„Und hiermit erkläre ich euch für Mann und Mann und Frau und Frau! Ihr dürft einander jetzt küssen!“, salbadert ein ganz unübersehbar völlig betrunkener alter Sack.

Schon fallen sich die glücklichen Frischvermählten in die Arme. Eine vertrocknete Schachtel am Ende des Saals spielt den Hochzeitsmarsch auf einer Bontempi-Heimorgel.

Das hat schon was!

„Jack, Faust, wollt ihr zwei nicht auch gleich heiraten, wenn wir schon mal dabei sind?“, fragt Silvie betont unschuldig.

„Oh ja! Das ist doch eine tolle Idee!“, platzt es vorlaut aus mir heraus.

„Was? Nein, nein, nein. Nichts gibt’s!“, protestiert Jack.

„Oh bitte, Meister Jack! Es wäre für uns eine große Ehre! Schließt den Bund fürs Leben mit Eurem Begleiter Faust. Schlagt uns diese Bitte nicht ab“, bettelt Bruder Rüdiger.

Schon sind wir von Kuttenträgern umringt. Sie greifen nach Jack, als wäre er ein berühmter Popstar und schreien wild durcheinander.

„Na gut!“, sagt Jack zu mir. „Zeigen wir es ihnen. Lass es uns tun!“

Schon stehen wir vor dem korrupten Standesbeamten. Er stinkt nach billigem Fusel und hat die glasigsten Augen, die ich je gesehen habe.

„Habt ihr eure Papiere dabei?“, säuselt er.

Ich gebe ihm meine nagelneuen Dokumente. Jack reicht ihm einen uralten Reisepass.