Meine doppelte Liebe - Heinz Kruschel - E-Book

Meine doppelte Liebe E-Book

Heinz Kruschel

4,3

Beschreibung

Die neunzehnjährige Erle, deren Freund Matti zur Armee einberufen wird, lernt einen kubanischen Studenten kennen. Sie will Matti nicht weh tun und führt ein Doppelleben, das sie in Konflikte bringt. Als Orestes plötzlich nach Kuba zurückmuss, kümmert sich Erle nicht mehr um Studium und Prüfungen, dabei wäre sie gern Lehrerin geworden. Probleme über Probleme, aber Erle schlägt alle Hilfsangebote aus. LESEPROBE: Das muss Liebe sein. Mein Verstand macht mir Vorwürfe, aber ich komme mir schön und glücklich vor. Ich werde an Matti schreiben: Du, ich habe jemanden kennengelernt und glaube, bisher gar nicht gewusst zu haben, was Liebe überhaupt ist. Das kann man nicht schreiben. Draußen ballt sich Schnee. Im All ziehen Gestirne ihre Bahn. Feuchtigkeit dringt in Poren und Kleider. Noch nie habe ich das Wort „ich“ so bewusst gedacht. Ich, ich bin mehr als eine Königin. Oft wusste ich nicht, was ich von einem zum anderen Tag wollte. Heute weiß ich es: Ich will ihn wiedersehen. Ist mein starkes Gefühl eine große Untugend? Ich weiß: Das ziemt sich nicht, das ist frivol, du bist untreu, ein Luder, nicht verkommen, also noch zu retten; aber wenn du so weitermachen solltest, dann sieht man dich nicht mal mehr durch den Zaun an. Das kann man von mir sagen. Die Leute können sich von mir aus die Finger steif zählen, wenn sie mir sagen wollen, was ich alles bin. Es ist mir egal. Über Nacht taut es. Der Boden verliert die schützende Schneedecke, aber dann setzt wieder Barfrost ein, der sich in die nackte Erde beißt. Nun wird mir bange. Ich warte auf ein Zeichen. Hundertmal sehe ich sein Bild, in Straßen, an Haltestellen, hinter Fenstern, in unserem Zimmer. Ich werde noch tagblind. Bang wird mir, weil ich denke: Ob er sich an mich erinnert? Ob er mich wiedersehen will? Da soll man heiter und festbleiben. Ich schreibe den Satz auf den Zettelblock in unserem Zimmer: Für mich gibt es nichts Schöneres auf der Welt als ein Liebespaar, und wenn ich jemanden sagen höre, lieben bedeutet, die eigene Freiheit und Integrität zu verlieren, frage ich, ob wir von demselben Gefühl sprechen. Der Satz stammt von Anne Philipe. Aber zur Zeit, da ich ihn noch nicht wiedergesehen habe, fühle ich mich unfrei. Manchmal schreibt mir Mattis Mutter. Sie ist eine berühmte Briefschreiberin, sie schreibt täglich an irgendwen.

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Impressum

Heinz Kruschel

Meine doppelte Liebe

ISBN 978-3-95655-136-9 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1983 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digitalaramondItcT-Light",serif'>®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Seine Berührung spüre ich noch. Manchmal, wenn mir einer sehr sympathisch ist, wünsche ich mir, er möge mich anfassen, mir die Hand geben oder die Hand auf meinen Arm legen. Nicht mehr leben möchte ich, wenn mich kein Mensch mehr berühren würde ...

Nun ist er weg. Ob er genug Socken mitgenommen hat? Vorn doziert Ernst, unser Lieblingsprofessor, er sieht mich an. Dreißig Prozent sollen die Arbeit verhauen haben. Sie müssen nachschreiben. Ich bin nicht dabei. Ich denke an Matti.

Draußen ist Waschküchennebel. Mancherorts wird bei solchem Wetter Smogalarm gegeben. Matti wird inzwischen in der „Taiga“ sein und sich leid tun.

Dreizehn Stunden ist es schon her. Er wird angekommen sein nach so langer Fahrt. Ich spüre noch seine Lippen und Hände und habe mich seitdem nicht gewaschen.

Er ist losgezogen. Gezogen ist genau das richtige Wort, halb zog es ihn, halb … nein, es zog ihn ganz tüchtig. Er wurde gezogen, früh um fünf. Draußen der dichte Nebel, seine Mutter und ich in der Tür. Er Tränen in den Augen. Der Eingezogene ist rückwärtsgegangen und hat gewinkt, nach zehn Metern haben wir das Winken nicht mehr sehen können. Ich weiß von Willi, dass sie die Jungen manchmal vier Stunden lang warten lassen, bis der Zug abfährt. Ich hätte Vorlesung und Seminar geschwänzt, aber er wollte allein gehen. Ich hätte ihn souverän gemacht, denn er wirkte schwach und so traurig. Wie er im Nebel verschwand, das war ein Abschied wie im Kino. Frau Richards hat geweint. Ich habe nicht geheult, aber einen Schmerz in der Herzgrube habe ich gespürt. Die letzte Nacht haben wir kaum geschlafen, weil wir zwischen Himmel und Erde lagen. Gesprochen, geflüstert, damit seine Eltern nichts hörten. Aber sie wussten ja, das Mädchen ist bei ihm. Wir haben Pläne gemacht. Wohin fahren wir im Sommer, eine Rundreise durch das Land, mit der „Honda“ und dem Zelt, nach Bernburg an der Saale, wo Eulenspiegel geblasen haben soll, in den Spreewald, wo die Mücken so gekonnt stechen können, an die überfüllte Ostsee und nach Rostock, wo die Dichter in Schwärmen zusammenhocken.

Und wir haben uns abgefragt. Weißt du noch, der erste Kuss und wie wir das erste Mal zusammen geschlafen haben. Geständnisse, die jeder schon kannte. Ich mag deine Brust, Erle. Ja, die verändert sich, wenn du sie streichelst. Ich möchte dich immer anfassen und die Uhr anhalten.

Ich fasse Matti gern an. So ein Typ bin ich. Die Menschen, die ich mag, die muss ich berühren, sie können siebzig sein oder erst sechs Wochen alt. Ich muss ihre Haut, ihre Wärme spüren. Aber vor denen, die ich nicht mag, ekele ich mich, wenn sie mich berühren.

Meine Eltern müssen nicht unbedingt erfahren, wo ich die Nacht über war. Die sollen sich um ihren Hund kümmern, um den Chow-Chow Kurti. Ein Chow-Chow soll der treueste Hund unter der Sonne sein. Er stirbt, wenn er seinen Herrn verliert. Aber man bringt ihm keinen wirklichen Appell bei, ums Verrecken nicht, und dem dicken Kurti schon gar nicht, der liegt am liebsten auf seiner Hundehaut.

Matti soll nicht so durchhängen. Wenn sie Mädchen nehmen würden, ich hätte mich freiwillig gemeldet, natürlich nur für seine Einheit. In England soll es sogar einen weiblichen Admiral geben.

Ernst trägt heute wieder Strickhemd, Pullover und noch eine Weste unter dem Jackett, nun sieht er stämmig aus und ist dabei so dünn. Aber er verspritzt literweise Geist und flicht französische Sätze in die Rede. Dann hat er gute Laune. Ich passe nicht auf, weil ich nicht durchgerasselt bin, brauche demnach nicht zur Nachprüfung, muss überhaupt nicht zuhören, kann also Matti einen Tröstebrief schreiben.

2. November 1976 ...

war natürlich Quatsch, was ich Dir gestern gesagt habe. Ich meine, mit jedem Tag, den wir uns sehen, den Du da sein wirst, ist es wie einen Tag weniger dienen. Wir wissen, warum das alles, und vielleicht müssen wir es unseren Urenkelkindern mal erklären, wäre schön. Wir wissen, also sind wir frei. So einfach soll es sein? So einfach ist es nicht, ich fühle mich nicht so frei, obwohl ich weiß, warum Du wegmusstest. Eigentlich ist das mit dem „einen Tag weniger“ auch Quatsch. Man kann es auf das ganze Leben beziehen, und schon wird es pessimistisch. Denn mit jedem Tag, den wir leben, kommen wir dem Tod näher. Ich kann richtig doof sein! Ist mir eingefallen, als ich die Naht an Deiner Kutte genäht hatte. Und glaub nur, den Willi juckt es, dass Du nicht da bist, der tut nur so lax. Inzwischen wirst Du dort sein. Aber wo nur? Du hast Zivil ausgezogen und steckst in einer Uniform. Passt sie? Sicher nicht, bestimmt ist sie zu groß, die Ärmel zu lang und die Hosenbeine zu kurz. Du musst, wenn dieser Brief ankommt, in einem von Dir selber bezogenen Bett geschlafen haben, allein. Weißt Du, was mir an Dir so gefällt? Dass Du immer versuchst, aus einer Situation das Beste zu machen, auch wenn sie noch so verfahren ist. Das musst Du auch diesmal tun, Du darfst nicht schwach sein. Du darfst natürlich, aber Du musst bald darüber wegkommen. Ich mache es Dir nicht gerade leicht, und dabei will ich es tun. Gebe ja zu, dass mir vor Schreck der Daumen in die Hand fällt, wenn ich an die lange Zeit denke. Aber ein Schreck ist dazu da, dass er überwunden wird, horrido. Erst am Abend dusche ich heute, Du — und weißt Du, warum? So lange will ich den Geruch von Dir auf meinem Körper haben. Du, halt Dich schön senkrecht, tu Dir nicht leid, werde ein guter Mensch, Du Schuft, ich grüße Dich ganz lieb und küsse Dich ganz dick überallhin ...

2. Kapitel

Ernst, der Professor, sieht zu mir. Er wird nicht glauben, dass ich seine Rede mitschreibe, obwohl er sieht, dass ich schreibe. Ernst, du kannst mich heute mal ...

Hoffentlich kommt bald Mattis erster Brief, wir haben ja die schnellste Post der Welt.

Warum fallen mir bloß immer wieder die Socken ein? Ob er genug mitgenommen hat? Willi hat ihn gewarnt und gesagt, dass man nur zwei Paar bekommt, von denen ein Paar gleich in den Tornister muss.

Strenge Sitten sind das.

Willi hat gesagt: Dann wirst du mit den Rechten und den Pflichten bekannt gemacht. Pflichten hast du sehr viele. Rechte gibt es auch. Dann kommt eine Grippeschutzimpfung. Und von da an, hat der Willi gesagt, wird jeder merken, dass die Armee ganz anders ist, als er sie sich vorgestellt hat. Es kommt die Enttäuschung und mit ihr die Um- oder auch Einstellung auf Einheitsessen. Jawohl. Wegtreten. Bitte eintreten zu dürfen. Gestatten, Genosse Leutnant. Bitte wegtreten zu dürfen. Dann kommt die wichtige Frage, ob die Unterwäsche in Weiß ausreichen wird.

Willi hat gesagt: Drei Kreuze kannst du bereits nach der Grundausbildung machen, mein Bruder Matti. Aber für solche Worte des Bruders Willi hatte Matti nur ein müdes Lächeln übrig. Er wird oft an ihn denken, das ist meine Meinung, Willi ist nämlich ein Praktiker vor dem Herrn.

Zur Vereidigung fahre ich hin. Ich freue mich heute schon. Wenn auch seine Eltern dabei sein werden. Es ist egal, die verstehen uns und gönnen uns eine Stunde, in der wir allein sein können.

Nun erinnere ich mich. Das ist das Wort der erfahrenen Menschen, die ein gewisses Alter erreicht und viel erlebt haben. Nun habe ich meine Erinnerungen an ihn, weil ich ihn nicht selber haben kann. Ich habe das Echo seines letzten Lachens und weiß, dass auch vergangenes Lachen nachscheppern kann. Gott, wie das klingt. Es fehlt nur, dass Tränen meinen Blick trüben. Erle, heule nicht.

Ich werde mich an diesen Zustand gewöhnen. Ich kann Matti nicht mehr anrufen, am Wochenende treffe ich ihn nicht an, ich weiß nicht einmal, wo er ist, weil die Wüste noch keine Anschrift hat.

Kitty will mich ablenken. Sie hat einen Block an die Wand genagelt. Er hängt zwischen unseren Schreibtischen. Jeden Tag soll eine von uns eine Erkenntnis daraufschreiben, hat sie verlangt, eine eigene oder eine fremde, zu der man selber stehen kann.

Sie hat den Anfang gemacht: Für die eigenen Fehler ist man wie ein Maulwurf, für fremde Fehler wie ein Luchs, altes Sprichwort. Schöne Einsicht! Ob der Spruch von ihr stammt?

Nach drei Tagen der erste Brief von Matti. Anscheinend hat er gleich nach der Ankunft geschrieben. Das stelle ich mir so vor: Auf dem Flur brüllt der baumstarke Hauptfeldwebel, Männer mit solchen Dienstgraden müssen aus Gründen des Respekts immer baumstark sein, und die jungen, frisch eingetroffenen Knaben laufen hektisch los. Nur mein Matti nicht, der steht am Tisch und bückt sich tief, diese Haltung mag er nämlich beim Schreiben. Er teilt seiner Liebsten mit, und nun endlich beginne ich den Brief zu lesen:

... mit der Frisur hast Du Dich getäuscht wie ich. Kaum waren wir gegen neunzehn Uhr hier ... Also muss er tatsächlich vierzehn Stunden unterwegs gewesen sein, die haben auf jedem Rübendorf gehalten oder sind über Suhl gefahren.

... da wurde ich meine Haare los. Jetzt sehe ich vielleicht aus! Übrigens habe ich Zeit zum Schreiben, weil Stromausfall ist. Wir schreiben alle bei Taschenlampenlicht. Meine Illusion schmilzt wie Schokolade, die man auf die Heizung gelegt hat, von wegen, der schreibt, während ein baumstarker Hauptfeldwebel auf Alarm geschaltet hat, der schreibt nämlich, weil alle schreiben und ihm nichts anderes übrig bleibt. Dir würde es gefallen, dieses Licht, wenn wir allein sein könnten. Das aber dauert noch lange. Du, ich sehe aus wie Jimmi Hendrix kurz vor seiner Jugendweihe, hoffentlich gefalle ich Dir so noch ...

Er gefällt mir auch mit Glatze. Aber mein lieber Matti könnte ruhig persönlicher schreiben. Man kann einen Menschen mit einem Brief berühren.

Vielleicht geht es ihm zurzeit wie mir. Ehe ich in Gang komme — drei Stunden Sport könnten da was ausmachen. Überhaupt habe ich heute einen schönen Tag. Eine Arbeit, Lexikologie, voller Schuss in den Ofen. Aber nicht nur bei mir, ein Trost. Dann Leitungswahl mit den sinnlosen Diskussionen Duppes um des Diskutierens willen („Wir müssen uns selber provozieren, Freunde!“), ausgerechnet dieser Duppe. Dann Tütensuppe, für die ich verantwortlich war. Als sie schon duftete, kippte der Kocher um, alles spritzte voll. Jedenfalls waren da eine Menge kleiner Nudeln drin, die ich aufsuchen musste, viele kleine Buchstaben. Ich hätte hundertmal das Wort Matti zusammensetzen können und Dutzende Male den Satz: Du fehlst mir sehr. Wir brieten uns je ein Ei und durften Polök machen.

Der Brief ist ein Lichtstrahl. Ich lese und lese ihn immer wieder, aber es steht nicht mehr drin. Kitty hat den Marx immer noch nicht durchgeackert.

Nach drei Stunden, schon im Bett, stoße ich erst auf das Geheimnis: Ich habe Mattis Briefumschlag auseinandergespielt und sehe, dass er von innen beschrieben ist, ganz klein. Mann, mir war wie Weihnachten. Matti ist ein Schlauer.

Ich stelle mir vieles vor. Ich möchte vor Dir liegen an einem Strand und über Deine Fußspitzen hinweg zu Deinem Gesicht sehen, über Deine Zehen, den Bauch und die Brüste bis auf Deine Stupsnase. Verrückt, was? Und Du hast nichts an. Und dann möchte ich auf Deinem Rücken liegen, Du hast einen sehr schönen Rücken, aber auch eine schöne Vorderseite. Wir kennen unseren Ovid. Ich kann hier vieles ertragen, weil ich Dich habe, weil es solche Bilder gibt.

Er ist richtig frech und macht mir Appetit. Von wegen Bauch, von wegen Stupsnase. Aber sonst, das wäre nicht schlecht, ich kenne das Spiel. Ich mag ihn sehr, aber komisch, denn das, was das Allerschönste sein soll, das Letzte, das Größte, von dem alle schwärmen, das habe ich noch nicht empfunden, und dabei weiß ich, dass er es immer empfindet. Warum ist es so?

Ich kann nicht mehr lernen, nun nicht mehr. Es geht auf Mitternacht zu. Eigentlich müsste ich drei Dutzend Verben, die einen bestimmten Fall verlangen, zusammenstellen und einpauken. Seitdem ich den Umschlag auseinandergespielt habe, ist es aus mit dem Lernen. Vor den Füßen liegen, ja, und dann kitzeln, das kenne ich.

Kitty schläft wie ein Dachs. Sie hat sich was einfallen lassen. Unsere Zimmertür sieht ganz toll aus. Von außen ein Plakat: Marx macht Macht! und sein Porträt, aber von innen, sozusagen Hinterkopf an Hinterkopf, Satchmo. Wenn das Licht aus ist, scheint durch die Glasscheibe Satchmos Grimasse, ganz unheimlich, und dazu der Löwenkopf von Karl Marx, dem Zweifler. Alles braucht eben seinen richtigen Platz. Die beiden passen zusammen. Ich glaube, sie hätten sich gut verstanden.

3. Kapitel

Manchmal, auf der Straße, wenn mir einer entgegenkommt, der wie Matti aussieht, gehe ich auf ihn zu, wie früher, pirsche mich ran. Ich will ihn erschrecken, will rufen: Du alter Strolch bist auch hinter jedem Zaun zu finden. Und manchmal sehe ich einen in die Bahn einsteigen, die gerade abfährt. Einmal wollte ich jemandem die Augen zuhalten und sagen: Rate mal, wer ich bin.

Ich sehe ihn allerorten, und dann ist es irgendein Typ.

Der Winter fängt früh an. Mitte November, und es schneit schon. Aber in die Großstadt kommen keine Füchse. Auf den Lichtmasten hocken keine Bussarde. Unsere Stadt Ix-Ix wird um diese Zeit trist. Matti hatte als kleiner Junge nicht Leipzig sagen können, sondern nur Ix-Ix, seitdem heißt Leipzig so für uns.

Endlich wieder ein Brief von ihm. An seine Bude gewöhnt er sich, sechs Mann, die Raucher stören ihn nicht. Aber sonst ist der Brief ein Stöhnen. Er soll ja keine Lobpreisungen auf die Armee abgeben, aber er muss sich zusammenreißen. Wenn Du wüsstest, liebe Erle, ach.

Er muss sich zusammenreißen können. Warum kann er denn aus dieser Situation nicht das Beste machen? Er muss sich unterordnen, na und? Er muss sich eben unterordnen und überhaupt nicht klagen, weil manches hart ist. Erstens gibt es überall Kings, immer im Leben, und zweitens geht es um keine schlechte Sache. Wir überstehen schon das erste halbe Jahr. Lass nur deinen schönen Hendrix-Kopf nicht hängen. Matti hat gemeint, wir hätten vorher heiraten sollen, und ich höre seinen Vorwurf: Du wolltest nicht. Ist Quatsch, Matti, dein Vorwurf ist Quatsch, wir lieben uns, alles andere ergibt sich daraus, du alter Duselmatti, du.

Er habe eine dürre Hoffnung, schreibt er. Dürre Hoffnung, das klingt so wehleidig. Weihnachten oder Silvester könne er kommen. Das denkt er sich doch aus. Aber er soll sich nicht darauf versteifen. Wenn nicht, fällt auch kein Himmel auf die Erde. Denkt er vielleicht, ich weiß, was ich ohne ihn anfangen soll? Ich lege mich in mein Bett und schlafe durch.

Seine Vereidigung ist am 20. November. Seine Eltern werden auch kommen, ich kann mit ihrem Wagen mitfahren, die denken an alles. Matti hat nämlich Eltern, die immer alles verstehen, angeblich. Aber ich fühle mich besser, wenn ich mich der berühmten Reichsbahn anvertraue. Allein sein und zu ihm fahren. Dabei mag ich seine Eltern mehr als meine.

Er schreibt: Der Stahlhelm, hat seine zweieinhalb Kilogramm. Das übertreibt er doch. Mit so viel Masse auf dem Kopf kann man nicht in den Himmel sehen, bloß auf Schnecken, Würmer und Frösche. Bei meiner Mutter würde ich jetzt alle Suppen essen, sogar Mohrrüben und Nudeln. Ist es denn so schlimm? Wenn zum Tag der Armee die Feldküche Erbseneintopf ausschenkte, hat der immer prima geschmeckt. Und wenn schon, Essen ist nicht das wichtigste. Du liebe Güte, er schreibt: Ich habe noch 1 084 Tage zu dienen. Wie das klingt, so nach Unendlichkeit. Ich schicke ihm zum ersten Advent eine Stolle, eine erzgebirgische, und ich möchte ihm sagen: Ich bin auch allein, verdammt noch mal, und mir gefällt das gar nicht, aber fertig werden kann man damit.

Und weil ich so allein bin, hätte er persönlicher schreiben können. Ich lese und höre das gern, und mir ist, als spüre ich dann seine Hände auf meiner Haut. Er könnte schreiben von den Stellen meines Körpers, die er schön findet. Und von dem, was wir beide gern tun, wenn wir uns lieben. Oder glaubt er etwa, sein neunzehnjähriger Ausbilder, den sie Krähe nennen, liest alle Briefe und spielt die Umschläge auseinander?

Ich schreibe ihm gleich wieder und will milde in seine Wüste regnen und seine Finsternis (ist die schon geistiger Art?) erhellen.

Und wenn mein Brief angekommen ist, befehle ich über die lächerlichen fünfundachtzig Kilometer hinweg: Augen zu, ein Bild, eine Erinnerung, die Wiesen am Elbufer, aufsteigende Kirchtürme am jenseitigen Ufer, Farbe, Geruch, alles und die Decke des Himmels über uns, so, und nun kannst du lesen, Matti ...

4. Kapitel

Nach dem Partiturspiel bekomme ich Seelenkater. Keiner zankt sich mit mir, weil keiner da ist. Von Matti kein Brief, und Kitty ist bei ihrem Horst. Dessen Eltern haben eine Waschanstalt für Autos und schenken Katalyt und Petroleum aus, verdienen viel Geld damit. Kitty muss nicht auf dem Klavier spielen wie ich, sie kann Geld ausgeben und sich die Schuhe kaufen, die mir im Exladen so gut gefallen haben und die für mich unerschwinglich sind. Nun leiste ich mir den Seelenkater. Das glaubt bloß keiner, Matti, du fauler Kerl, du Duselmatti. Du darfst Post scheffeln von allen Seiten, du darfst Stollen einheimsen und im Spind stapeln, du darfst dich auf der Sturmbahn erfrischen und dich fit halten.

Ich kenne mich, so ein Seelenkater dauert nicht lange bei mir, dann muss ich lachen und komme mir komisch vor.

Ich sehe mir meine Hände an, das soll Ärger bringen. Aber Matti hat schöne Hände, sie sind warm, weich und fest. Glitschige Hände mag ich nicht, Hände müssen trocken sein. Ich will mich kennen? Ich kenne mich nicht. Wahrscheinlich kennt sich ein Mensch selber kaum. Es kann einem richtig unheimlich werden vor diesem fremden Ich, das einen ziemlich bestimmt in der Hand hat. Diese Teilung in zwei Wesen, einem beobachtenden und einem handelnden, ist mir schon oft aufgefallen.

Alles Quatsch.

Ich muss heute noch zwei Arabesken von Debussy spielen, das ist auch so konfus und unerklärlich. Man wird gefesselt, gereizt und weiß nicht einmal zu sagen, was einen so verwirrt.

Ich möchte gern Lehrerin werden, obwohl so viele Menschen abraten. Am liebsten möchte ich in einer vierten oder fünften Klasse anfangen. Da sind die Kinder noch klein und wirken noch kleiner, wenn sie von der Bank aufgestanden sind, diese Geister. Und diese Klasse möchte ich dann bis zur zehnten führen. Sie formen. Menschen formen, das ist das allergrößte. Nach Jahren spüren: Das ist dein Einfluss, das geht irgendwie auf dich zurück.

Und mit Matti an einer Schule. Wenn er kommt, werde ich schon stellvertretende Direktorin sein. Wir gehen zusammen zum Dienst, die Leute grüßen uns.

Aber Heirat jetzt, das wäre wirklich Fax. Eine Studentin und ein Soldat, der Unteroffiziersschüler ist, heiraten und suchen eine Bleibe. Für den Fall, dass er mal Urlaub hat? Wir können in seinem Zimmer sein, wann wir wollen. Für die Leute? Das wäre was. Bei eigener Bleibe heißt es bald: Kartoffeln, Kohlen, Kinder.

Ich werde mir morgen eine Flasche Wein kaufen, es hat Stipendium gegeben.

Matti wird Geschichte und Deutsch unterrichten, ich Russisch und Deutsch, und nach Jahren werden uns ehemalige Schüler besuchen und sagen: Das verdanken wir alles Ihnen. Ich entdecke heute auch die Worte, Ansichten, Einstellungen meiner früheren Lehrer. Ist das nicht fantastisch, so einen Beruf zu haben, bei allem Ärger, den es geben wird, sonst wäre das ja unheimlich im Sinne des Wortes. Was man alles in einem Menschen wecken kann. Es gibt keinen schöneren Beruf.

5. Kapitel

Zwei Tage nach dem Stipendium und dem Weinabend komme ich mir klein und düster vor. Meine Stimmung: adagio, largo. Mein Tempo: fluchtartige Hast. Mein Rhythmus: stockend, synkopierend, abrupt. Und literarisch müsste ich zu Buß- und Klagegesängen neigen, so Richtung Lenau etwa.

Ich leide unter einem depressiven Ichgefühl, weil ich betrunken war, als Matti mit bloßen Händen und bei diesem Wetter über eine glitschige Eskaladierwand musste, als sein Schrank im Barackenzimmer zusammenbrach, als er keinen Nagel hatte, keinen Hammer und keine Schraube fand, als er dringend Putzlappen brauchte und sich schließlich alles aus der Nachbarbaracke klaute, die gerade renoviert wurde. Als ich einschlief, rotweinselig, saß er noch arglos und brav in einer Versammlung und meldete sich zu Wort. Da konnte ich kein Wort mehr sprechen. Ich schäme mich.

Putzlappen, jawohl, sie sind wenig erhebend, aber wenn man sie braucht, zum Putzen wahrscheinlich, wenn man sie also nicht hat, dann muss man krumme Wege gehen ... Ich schäme mich.

Eines Tages heiraten wir.

Wie wird das dann sein?

Kitty ist nur noch selten im Internat, sie wohnt im Zimmer des schönen Horst und spielt schon Ehefrau, seine Eltern haben nichts dagegen. Soll es so sein, immer Fettlebe?

Oder wie bei meinen Eltern? Mein Vater braucht nicht viel, nur Ruhe und Bequemlichkeit und keine Probleme nach Feierabend, die hat er in seiner Dienststelle genug. Und sie, seine Frau, sie braucht Sauberkeit und kämpft verbissen gegen Staub, Flecke und Krümel. Allüberall sieht sie den Staub, sogar die Blattgewächse musste ich mit Heidebier abwaschen. Matti meint zwar, ich sähe meine Eltern zu schwarz, sie wären keine Karikaturen, aber ich sehe sie nun mal nicht anders. Wie sie möchte ich nicht verheiratet sein. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch zusammen schlafen.

Wie Mattis Eltern? Sein Vater arbeitet wissenschaftlich, ihn interessiert der englische Briefroman vergangener Jahrhunderte mehr als das, was er speist oder was die Tomaten und Kartoffeln kosten. Und seine Frau tippt für ihn die Manuskripte und Gutachten, kocht, hält sauber, telefoniert, erledigt Korrespondenz, besorgt Bücher, empfängt ungebetene Besucher und verhandelt. Und trotzdem macht sie sich Vorwürfe, wenn sie down ist: Ich lebe von seinem Geld, er ernährt mich. Aber der Herr Wissenschaftler sähe ganz schön alt aus ohne ihre Hilfe. Wie Mattis Eltern also, so könnte ich schon eher verheiratet sein. Oder doch lieber nicht. Zuarbeit will ich nicht machen.

In unserer Seminargruppe haben wir ein Ehepaar, die Alts. Sie zanken sich oft und kriechen wieder zusammen. Das soll stimulieren, sagt er, der an Dürrsucht leidet, obwohl er viel isst. Ist nur Spiel, sagt sie, in einer Ehe muss es krachen. Gute Leistungen bringen sie ja. Wie die Alts? Nein, ich zanke mich nicht gern, man sieht dabei so grämlich aus. Wie meine Großeltern also. Aber Großvater hat Oma verlassen, als er zweiundsechzig Jahre alt war. Das macht sich nämlich so schön in den Gedichten, zum Beispiel bei Kahlau, den ich sehr mag: ... sie lagen Bein an Bein, bis man sie fand. Sie lagen da seit sechzigtausend Jahren. Man löste ihre Hand aus seiner Hand.

Verheiratet sein, das ist ein äußeres Zeichen für Zuschauer, Bekannte, Nachbarn, Verwandtschaft, verheiratet gleich harmonisch. Aber wie viele täuschen sich und andere? Sie täuschen, das macht krank.

Ich frage mich, denn Matti darf ich mit solchen Fragen jetzt nicht kommen: Kann ich mit ihm zuerst Tristan und Isolde (da sind wir immer noch im ersten Akt) und späterhin Philemon und Baucis sein?

Das ist eine Wagenladung an Gefühl. Diesem Anspruch bin ich gewachsen, wirklich? Na klar! Ein Mensch allein soll solchem Anspruch überhaupt standhalten können? Aber natürlich, er wird manches falsch machen, aber er wird vieles korrigieren können. Wenn zwei es versuchen, ehrlich, dann schaffen sie es. Junge, du kannst ganz ruhig sein. Matti, wir beide sind keine spielenden Menschen.

Kitty dagegen, ja, Kitty ist ein Homo ludens, ein spielender Mensch, denn ihre Tätigkeit ist völlig zweckfrei. Wir sind denkende Menschen. Kitty ist ein nettes, dickes Luder, aber solche Fragen darf ich ihr nicht stellen, sie sind ihr zu gewichtig.

6. Kapitel

Am 20. November, am Tag der Vereidigung meines Matti.

Ich bin von Ix-Ix aus nach D. gefahren, habe dort eine Stunde gewartet, stieg in den Zug nach F., der für dreißig Kilometer siebzig Minuten brauchte, aber in F. war der Zug nach Z. weg, sodass ich mich nach einer Taxe umsehen musste.

„Keine Chance, Fräulein, wissen Sie denn nicht, dass in Z. Vereidigung ist, da sind fünfhundert Unteroffiziersschüler, die mindestens eintausenddreihundert Besucher erwarten, Söhne, Brüder, Väter, Bräute, Mütter, Großeltern …“ Geschenkt, Herr Haberecht.

Da stand ich nun und wusste: Frau Richards wird natürlich schon da sein und das große Spektakel live erleben, den Vorbeimarsch im Exerzierschritt, den die Jungen wochenlang geübt hatten.

Tatsache, ich kam zu spät. Die Reichsbahn ist sehr zuverlässig, nur nässeempfindlich, die Reichsbahn liebt mäßiges Klima. Ein Stück war ich zu Fuß gegangen, den Rest von mitleidigen Daciabesitzern mitgenommen worden, die gleich auf den Teppich sahen, sie trugen nämlich Hausschuhe in ihrem Auto.

Ich fand Matti. Seine Mutter bei ihm. Ich fand ihn in seinem Zimmer vor dem Schrank, den man hier Spind nennt: voll von Esswaren. Alle Spinde waren prall gefüllt. Überall Uniformen und Zivil, alles sah schön vaterländisch aus und war geschmückt. Ich hatte mir das so ähnlich vorgestellt. Diese tristen Baracken, diese öde Gegend, in der man nur den Zeterruf der Krähen hört. Matti in Ausgehuniform. (Die heißt wirklich so, aber es gibt keine Heimkehruniform.) Dass der Hosenboden so weit war, die Ärmel so lang, die Haare so kurz, nein, so übertreiben konnte wieder nur mal die Wirklichkeit. Aber sein Gesicht stimmte. Es strahlte. Alle Gesichter der uniformierten Jungen strahlten.

Ich hatte mir auch das vorgestellt, was nun folgte: Er hat erzählt und erzählt und erzählt.

Dabei hätte ich ihm gern mit den Lippen den Mund geschlossen. Ich hörte zu.

Um rauszukommen, mussten wir durch das Objekt laufen. Objekt, so heißt hier die Kaserne. Das heißt, die Baracken sind auch Objekt. Als Matti sich fertigmachte, seufzte er und sagte: „Du lieber Gott, da muss ich aber oft grüßen.“ Das hatten sie geübt, das ging, zack, zack, und Matti hatte viele Bekannte, er musste oft grüßen. Ein dicker Raupenträger grüßte sogar zuerst und gab Matti die Hand und unterhielt sich mit ihm. Wir staunten.

Frau Richards machte runde Augen. „Das war doch ein hohes Tier, Matti.“

Er sagte lässig: „Das war mein Parteisekretär, das macht der immer so, wenn er mich trifft, er ist in Ordnung.“

Er musste noch oft grüßen.

Mit dem Auto sind wir nach F. gefahren, nun bequemer, er und ich hinten. Wir spürten uns. Wir aßen in der Mitropa: Frau Richards hatte an alles gedacht und einen Tisch bestellt, im Auftrag des Sekretariats von Genossen Professor Doktor Richards. Das Sekretariat ist sie. Es gab Wein und zähe Schnitzel. Alles verging so schnell.

Ich wollte bleiben und später zurückfahren, aber Frau Richards nötigte mich. Es gäbe keine Busverbindung, nur eine Verladerampe, wahrscheinlich für Panzer oder andere Eisenschildkröten.

Was ich für wichtige Sachen von Matti erfahren habe: Dass man am Donnerstag duschen kann und darf und muss, dass es danach frische Unterwäsche gibt, dass zweimal in der Woche das warme Wasser läuft, dass Matti des schlechten Essens wegen auf der Versammlung schon gefragt hat, dass diese Frage immer auf der ersten Versammlung gestellt wird, dass er Kultur machen soll in der Kompanie, weil sein Vater an der Kulturfront stehe, dass er das erste Mal Geld bekommen hat, so eine Art Abschlag: einhundertsiebzehn Mark und siebzig Pfennig.

Frau Richards trank viel Cola und Selters und musste deswegen öfter raus. Dann küssten wir uns, und ich schob seine Hand nicht von meiner Brust, am liebsten hätte ich seinen Kopf in meinen Schoß gelegt. Es war mir egal, ob man uns von den Nachbartischen aus zusah, ob sie lachten oder blödelten. Ich habe nichts gehört. Es wurde viel geküsst.

Mein Gesicht war rot, als Frau Richards zurückkam. Ich rieb meinen Kopf an seiner Jacke und sagte, eben des roten Kopfes wegen: „Von dem Stoff, den du da trägst, kostet die Tonne bestimmt bloß siebenunddreißig Pfennig, aber sonst siehst du aus wie in meinen Träumen.“

Geflunkert, in den Träumen sehe ich ihn anders: Wir stehen morgens oder nachts in seinem Zimmer, umfassen uns und sehen über das Neubaugebiet hinweg, hinter dem manchmal Wolkenbänke oder Berge zu sehen sind, eine Gebirgsmasse über der anderen, Gneis auf Granit oder so ähnlich. Wir schweben ihr entgegen und wissen nicht mehr, ob die Erde bewohnt ist.

„Ich habe Angst um dich“, sagte er zum Abschied.

„Aber wovor? Und warum?“

„Es könnte alles kaputtgehen zwischen uns. Ich bin ja ewig nicht da.“ Er ließ seine Hände herabhängen wie baumelnde Lappen.

Sollte ich tausend Eide schwören? Er tat mir leid. Seine Mutter saß schon im Auto, kurbelte die Scheibe herunter, sodass ich ihn nur an mich drücken konnte, so fest ich konnte. Der kratzige Stoff seiner Jacke war wunderbar weich. Matti hatte sich zwar rasiert, aber vielleicht war das sechs Stunden her. Ich hauchte in sein Ohr: „Bleib schön im Takt. Sammle Pluspunkte, dann darfst du öfter in den Sonderurlaub, kommst zu mir, wirst schon sehen, ach, Matti, Angst, das sagst du nicht wieder.“ Mir wäre wohler gewesen, ich hätte heulen können. Aber das wollte und durfte ich nicht. Da stand er nun zag in seinem geschenkten Paar Hosen. Die russische Minute: stehen, nichts sagen, den andern spüren, ein Stück Haut auf Haut, einen Finger, die Augen schließen, die Welt vergessen, alles vergessen, Schlamm, Uniform, Gehorsam, Befehl, Disziplin, grüßen, Dreitausendmeterlauf, Eskaladierwand, tausend und mehr Tage, Eltern, alles vergessen für einen Augenblick. Ade, du.

Frau Richards blänkerte mit den Augen, ihr tat der Junge leid. Ich tue ihr nicht leid, aber so sind nun mal die Mütter von Söhnen.

Wir landeten langsam auf der Erde und ließen uns los wie im Kino. Aber es war ein guter Film.

Ich winkte und winkte, als wir abfuhren. Ich dachte daran, dass ich mit Kitty zusammen weinen werde. Sie kommt in mein Bett, ich erzähle ihr alles, wir weinen und trösten uns, das heißt, sie muss mich trösten, denn dann kommt der Punkt, an dem sie übertreibt und ich sagen muss: Schluss jetzt, raus mit dir.

Während der Fahrt war es gut, Frau Richards zuzuhören. Sie redete ohne Unterbrechung. Matti sagt dazu: Sie muss immer die Luft um sich herum in Schwingungen versetzen. Er redet nicht so viel, von Kindheit an musste er auch mehr zuhören. Was er sagen will, das sieht man ihm meistens an. Nur wie er es sagt, das nicht, das überrascht mich oft.

Frau Richards schwatzt in den Tag hinein. Aber Vertrauen habe ich zu ihr. Vor zwei Jahren war ich mit ihr einmal durch die Straßen gelaufen und hatte ihr von meinem Problem mit Matti erzählt. Frau Richards war zuerst erschrocken und dachte an ein Kind. Aber ich wollte von ihr wissen, warum alles so schön sein konnte mit Matti, alles, auch das Vorspiel, wenn wir uns liebten, aber warum das Letzte, das doch das Größte sein soll, wiederum nicht, warum das oft schmerzte.

Sie war nicht schockiert, zuerst erleichtert, dann suchten wir Gründe, ob es an mir, ob es an Matti liegen könnte. Es gibt viele Gründe. Es klappt auch heute nur selten. Ich weiß nicht so genau Bescheid, denke mir aber, dass sich der Mann operieren lassen könnte, und manchmal, da genügt mir das Vorspiel, denn Matti kann sehr zärtlich sein.

7. Kapitel

Nach der Vereidigung bin ich nicht nach Hause gegangen, jedenfalls nicht sofort. Frau Richards wollte mich bei meinen Eltern absetzen oder mich mit zu sich nehmen, aber ich stieg vor dem Stadtpark aus und lief durch die stillen, leeren Straßen wie die schöne Sarazenerin in London. Wen hat die eigentlich gesucht?

Meine Tränen kamen wie von allein. Ich ließ sie laufen, konnte sie nicht zurückhalten, und ich glaube, ich wollte es auch nicht. Ich hatte Sehnsucht nach Matti und war fertig. Dann grüßte ich die alte Katharinenkirche von einem Soldaten, der gerade vereidigt worden ist und nun ein geschenktes Paar Hosen trägt und zackig grüßen kann. Die Kirche hat bestimmt Sehnsucht nach Leuten, die zu mitternächtlicher Stunde Gottesdienstanschläge und fromme Sprüche deklamieren, sie in andere Sprachen übersetzen und manchmal sogar singen. Das haben wir oft gemacht, Matti und ich, da gab es ganz ulkige Reklameslogans. Du kämmst täglich dein Haar, du Mensch, aber kämmst du auch täglich deine Seele? Die Uhr schlug eins, schlug zwei schon, in stiller Ruh lag Babylon. Ich lief überallhin, wo wir schon gewesen waren, als könnte ich ihn dort treffen: zu dem Bronzebüffel an der Elbpromenade, zum Kloster, wo vor sechshundert Jahren eine Begine Mechthild ihre Visionen dichtete, zum Wehrgang, in die Ruine des alten Schlosses.

Ich war eine einsame Wölfin.