Meine fremde Freundin - Jenny Bünnig - E-Book
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Meine fremde Freundin E-Book

Jenny Bünnig

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Beschreibung

Ihr ganzes Leben haben Josephine und Inken als beste Freundinnen im Ruhrgebiet verbracht. Doch nun, mit Anfang dreißig, macht sich Josephine mit nichts als einem Rucksack und einem Aldi-Zelt auf, um in den Gärten wildfremder Menschen zu kampieren – sie kann einfach nicht mehr in geschlossenen Räumen sein. Etwas ist geschehen, das Josephine und Inken endgültig auseinandergetrieben hat. ›Meine fremde Freundin‹ erzählt von der tiefen Zuneigung zweier Frauen, von zwei Familien, einer Region und ihren Menschen und von der Unmöglichkeit, jemanden ganz und gar zu kennen.

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Jenny Bünnig

Meine fremde Freundin

Ich bin’s. Mehr hast du nie gesagt. Ich bin’s. Als hätten alle sofort wissen müssen, wer du bist. Als müssten wir dich immer gleich erkennen. Wenn ich am Telefon gesagt habe: Hier ist Josephine, hast du geantwortet: Wir sind nicht mehr in den Neunzigern, ich hab gesehen, dass du es bist. Das hat mich geärgert. Und gleichzeitig habe ich dich bewundert. Weil du sicher warst, wer du bist, und sicher sein konntest, dass alle anderen das auch wussten.

Hallo, sage ich jetzt in die Gegensprechanlage.

Nur hallo.

Es folgt ein Schweigen, in dem der Regen hinter mir lauter wird.

Ich habe ihn kommen sehen, den Regen. Das ist selten. Meistens ist er einfach da, aber ich bin auf ihn zugelaufen. Keine Wasserwand, eher etwas Durchlässiges, feines Gewebe, das die Farben verschwimmen lässt, vielleicht zwanzig Meter entfernt, zehn, fünf, Farben und Formen werden gräulich, seltsam unklar, irgendwie weich. Ein Regennetz, hinter dem sich die Welt versteckt. Anfangs ist es ein Rauschen, das anschwillt, erst als ich mitten im Regen stehe, kann ich hören, dass er nicht immer gleich klingt, sondern satt und schwer, wenn er auf Erde trifft, hart und hohl auf Asphalt, dunkel und dumpf auf Autodächern, hell und hoch, wo er Glas berührt. Das Fallen selbst höre ich nicht. Das hört man nie. Fallen ist Fallen. Es macht keine Geräusche.

Kalt hängt das Wasser in meinen Kleidern (ein Hoch auf den deutschen Sommer). Erst habe ich noch jeden einzelnen Tropfen gespürt, der durch den Stoff meines T-Shirts gesickert ist, konnte fühlen, wie er über meine Schultern gelaufen, meiner Wirbelsäule hinab gefolgt ist, in meine Unterhose, erst in der Kniekehle habe ich seine Spur verloren. Mittlerweile ist alles nass. Der Regen hat sich in meinen Schuhen gesammelt, schmatzt zwischen meinen Zehen, hat gemeinsam mit dem Matsch jeden meiner Schritte schwer gemacht, schwerer noch.

Inzwischen ist es fast dunkel, ich habe zu lange gewartet, bis dem Himmel das Licht ausgegangen ist. Es gewittert nicht mehr. Kein Blitzen, nur vereinzeltes, sehr entferntes Grollen. Der Regen ist geblieben.

Ich blicke zu den Wolken, tief hängenden Wolken, zu schwer für die Höhe, aus dickem dunklen Kartongrau, verwischt wie damals, als wir uns an Aquarellmalerei versucht haben, nach unserer Seidenmalereiphase und vor meinen stümperhaften Experimenten mit Ölfarbe, Kreide, Bleistiften und Tusche, ehe ich einsehen musste, dass ich für nichts davon Talent besitze, während du für alles zu viel Talent besessen hast, und wir darum wetteiferten, was das unglücklichere Los ist.

Der Summer ertönt, die Tür springt auf.

Ich kann hineingehen, nicht hinauf.

Tropfend stehe ich im Hausflur. Um mich bildet sich eine Pfütze aus Schlamm und Wasser, und ich warte, dass ich die erste Stufe nehme, und tue es nicht. Die ganze Zeit wusste ich, dass ich hierherkommen würde, in den letzten Wochen, unterwegs, jeden Tag, von Anfang an, auch als ich es noch nicht wusste, habe ich es gewusst. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Mit einem lauten, scheppernden Geräusch wird plötzlich das Licht eingeschaltet, der Hausflur wird hell. Ich wäre auch im Dunkeln gelaufen. Er kennt mich zu gut.

Ich muss an dich und mich denken. Wie wir beim Spielen im Wald von einem Schauer überrascht worden sind. Mit eurem Hund Mücke, der Regen gar nicht mochte. Ich war da wie er und wollte mich unter einen Baum stellen und warten, bis das Schlimmste vorbei war.

Wozu haben wir Gummistiefel?, hast du gesagt.

Die sind schon voller Wasser.

Das ist doch das Schönste daran.

Endlich gehe ich die Treppe hoch, die kurze Hose klebt an meiner Beinvorderseite, mein Rucksack zieht mich nach hinten, das Zelt noch ein bisschen mehr, ich zähle jeden Schritt, jede Stufe, wie ich es früher immer getan habe, als würde es irgendwas ändern, wenn ich weiß, wie groß die Anstrengung ist, als würde es irgendetwas leichter machen. Ich bin unsportlich. Selbst jetzt noch, nachdem ich jeden Tag gelaufen bin, einen so weiten Weg zurückgelegt habe. Mein Herz klopft.

Als die letzten neun Stufen vor mir liegen, hebe ich den Kopf. Die Wohnungstür ist geöffnet, der Raum dahinter hell erleuchtet, er ein dunkler Schatten davor. Wir sehen einander an.

– Ich hab mich schon gefragt, wann du zu mir kommst.

– Ich weiß nich … Brauchense noch wat?

– Nein, vielen Dank.

– Wirklich nix? Gar nix? Undse sind sicher, datse hier draußen schlafen wolln? Ich hab auchn Gästezimmer, wissense?

– Das ist sehr nett, aber …

– Is natürlich nix Besonderes, aber frisch bezogen. Nich dat ich in letzter Zeit viele Gäste gehabt hätte. Oder überhaupt. Trotzdem mach ichs imma wieder frisch. Nur fürn Fall. Und na ja … vielleicht isses schöner als hier draußen auffer Isomatte.

– Es ist eine gute Isomatte, behauptete ich. (Es ist die billigste gewesen.)

– Es wird sehr dunkel. Undse sind ganz allein. Man hört ja doch so einiges.

– Hm.

– Vielleicht wirds heut Nacht kalt.

– Ich hab einen Schlafsack.

– Reicht dat denn? Se könnten doch vielleicht …

– Ihr Angebot ist wirklich nett. Aber machen Sie sich bitte keine Umstände.

– Dat wärn keine Umstände.

– Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass ich in Ihrem Garten schlafen darf. Und ich mache das jetzt schon eine Weile.

– Dat hamse gesagt, ja.

– Es ist gar nicht so schlimm, wie es vielleicht aussieht. Eigentlich ist es sogar … irgendwie nett, denke ich.

– Wenigstens solls trocken bleiben.

– Sehen Sie? Dann ist doch alles gut.

– Wennse meinen. Dann geh ich jetz rein. Aber ich lass die Tür offen. Nee, ich lass die Tür lieber nich offen. Dat is wahrscheinlich keine gute Idee. Dat kannste heute nich mehr machen. Ich geb Ihnen nen Schlüssel. Hier. Dann könnense reinkommen, wennse Durst ham oder aufs Klo müssen oder sichs doch anders überlegen. Also, dann … Ne gute Nacht wünsch ich Ihnen.

Etwas unbeholfen streckte Frau Koslowski eine kleine, aber kräftige Hand nach mir aus, drückte meine in einer schnellen, festen Berührung, wischte sich die Finger an ihrer Hose ab, stand stöhnend auf, nickte mir zu, drehte sich halb um, nickte noch einmal und ging dann zum Haus zurück, tauchte in den Schatten ein, den das Gebäude warf und der länger und länger wurde, bis er, in einigen Minuten, mich erreicht haben würde. Ich sah zu, wie sie die wenigen moosbewachsenen Treppenstufen zur Kellertür hinabging und verschwand.

Ich blieb allein in ihrem Garten zurück.

Sollte ich mir die Mühe machen, das Zelt aufzubauen? Wenn es trocken blieb, wäre es vielleicht nicht nötig. Dann könnte ich die Nacht unter freiem Himmel verbringen. Das stellte ich mir schön vor. Ich hatte es mir schon einmal schön vorgestellt und den Rest der Nacht pitschnass und zitternd unter einem alten, halb kaputten Sonnenschirm verbracht, von dessen Rändern sich der Regen als Wasserfall auf die Terrasse hinabgestürzt hatte. Dir hätte das gefallen. Ich machte mich daran, die Zelttasche aus meinem Rucksack und das Zelt aus seiner Tasche zu befreien. Mittlerweile hatte ich Übung, es ging schneller als an den ersten Abenden, ich breitete es an der Stelle aus, die mir Frau Koslowski gezeigt hatte, nicht zu nah an den Rosen, weit genug entfernt von den Dahlien und Chrysanthemen, schob die Stäbe durch die Öffnungen, bog sie nach oben, befestigte einige Schlaufen und Ösen, drückte sechs von acht Heringen in den weichen, feuchten Boden (die übrigen zwei waren verloren gegangen, der eine direkt beim ersten Abbauen, der andere wahrscheinlich vorgestern), spannte die Leinen. Anschließend kletterte ich mit der Isomatte, die alte Luftmatratze hatte schon am dritten Tag ein Loch gehabt, und meinem Rucksack voran durch den Eingang ins Innere.

An die Zeltluft, in der ich möglichst kurz und nicht zu tief einatmete, hatte ich mich gewöhnt, genau wie an das Umziehen im Liegen, Mückenstiche, krabbelnde Tierchen, die ihren Weg durch die kleinste Ritze fanden, stinkende Socken und die Sorge, dass das Zeltdach ein weiteres Mal über mir einstürzen könnte. Neu waren die Scheuerstellen an meinen Schultern. Daumengroße und daumenlange Striemen, da, wo die Rucksackträger lagen, rot und schmerzhaft. Zwei neue Blasen waren dazugekommen. Vielleicht hätte ich doch Geld in Wanderschuhe investieren sollen. Aber ich ging nicht wandern, ich lief, das war ein Unterschied, nicht ausgeschilderten Routen folgend, sondern Straßenzug um Straßenzug, in einem seltsamen Zickzack meiner eigenen Karte nach, die ein vollkommenes Durcheinander war, über Asphalt und Kopfsteinpflaster.

Im Sitzen, mit krummem Rücken – hätte ich doch ein größeres Zelt kaufen und nicht dein altes aus dem Keller klauen sollen? –, schob ich mir die Hose von den Beinen, schlüpfte aus T-Shirt, dann BH, legte beides zur Seite an den Rand, zog einen Schlafanzug über, rollte die Isomatte vollständig aus, legte meinen Schlafsack darauf, der Garten war abschüssig, senkte sich nach rechts, ich würde nicht gut schlafen. Steine und harter Boden machten mir nichts aus, abfallender Untergrund brachte mein Gleichgewicht durcheinander, das hatte ich schon als Kind gehabt. Erinnerst du dich? In letzter Zeit war es schlimmer. Nicht nur deshalb war Frau Koslowskis Angebot verlockend gewesen. Was hätte ich für ein weiches Bett mit frisch gewaschenen Bezügen gegeben. Daran war nicht zu denken. In Räumen hielt ich es noch immer nicht lange aus.

Ich rieb mir die schmerzenden Schulterstellen mit einer Creme ein, die ich unterwegs bei einem dm gekauft hatte, ein wenig tat ich auch auf die neuen Blasen und die alten, obwohl ich wusste, dass das nicht half. Die Zähne putzte ich mir mit einem Schluck Wasser, das ich auf einer Imbisstoilette abgefüllt hatte, und spuckte es zurück in die Flasche, darin hatte ich Routine, dann kramte ich Block und Stift heraus.

Kannst du mal aufhören, aus allem eine Geschichte machen zu wollen, Josephine?

Das hast du an diesem einen Abend zu mir gesagt. Schrecklich wütend bist du da gewesen, Inken. Ich weiß gar nicht mehr, warum. Oder will ich das nur glauben? Das Leben ist kein gutes Buch. Nein. Darin waren wir einer Meinung. Der Unterschied ist nur, dass du es für gar kein Buch gehalten hast und ich für ein schlecht geschriebenes ohne Stringenz, echte Tiefe und Happy End. Du und ich sind mehr als eine Geschichte. Aber eigentlich wusstest du, dass ich das Schreiben zum Überleben brauche, weil nur du solche Dinge von mir wusstest.

Jetzt vielleicht dringender als jemals zuvor.

Ich schaltete mein Handy ein, ein altes Gerät, kein Smartphone, es konnte gerade so SMS empfangen, trotzdem hatte ich es tagsüber immer aus. Meine Mutter hatte geschrieben. Dass sie mich liebte. Nicht mit diesen Worten, weil sie es nicht mit diesen Worten sagen konnte, das konnte sie nie. Ich musste es hineinlesen, das konnte ich mal besser, mal schlechter, früher hatte mir auch meine Brille nicht geholfen, heute konnte ich es manchmal entziffern, ohne die Augen zusammenzukneifen. Meine Mutter fragte, wo ich sei (wenn ich das wüsste), und schrieb, dass ich mich melden solle. Und dass sie mich liebte. Nur nicht mit diesen Worten. Die anderen neuen Nachrichten las ich nicht, weil sie nicht von dir waren, sondern wahrscheinlich über dich oder an dir vorbei, absichtlich, und das konnte ich noch immer nicht ertragen.

Aus der Seitentasche meines Rucksacks nahm ich Opa Schmittis schwarzen Mühlestein, den ich eingesteckt hatte, als Opa Schmitti kurz in die Küche gegangen war, stellte den Stein vor mich auf das Papier, betrachtete ihn. Mit der Zeigefingerspitze fuhr ich die feinen Rillen entlang, im Kreis, im Kreis, immer im Kreis.

Ich musste auf die Toilette.

Ich versuchte, es zu ignorieren, las ein bisschen, aber das Licht war schon zu schlecht, und ich war heute nicht dazu gekommen, neue Batterien für die Taschenlampe zu kaufen, außerdem war das eine der Sachen, die ich in den letzten Wochen verstanden hatte: Wenn man nicht gehen will und nicht gehen kann, muss man umso dringender. Ich drehte mich um, krabbelte zum Eingang, faltete mich zusammen, stand auf, faltete mich auseinander. Sollte ich wirklich durch den Keller ins Haus gehen? Die Fenster waren schon dunkel. Es war spät. Ich hatte mich immer bemüht, bereits nachmittags einen Platz zum Zelten zu finden, weil ich niemanden aus dem Bett klingeln wollte. Aber heute war es anders gewesen, und Frau Koslowski hatte sehr müde ausgesehen, als ich vor ihrer Tür gestanden hatte, trotzdem hatte sie mich hereingebeten.

Könnte ich einfach irgendwo hier draußen …?

Ich blickte mich um. Der Garten hing voller Schatten, die größer wurden, länger und breiter und sich zueinander ausstreckten. Vielleicht neben dem Gartenzwerg mit der Pfeife im Mund? Eine gewisse Verrohung hatte ich an mir festgestellt, die mich überrascht hatte, und noch mehr überraschte mich, dass ich sie erleichternd fand. Ich trug seit einer Woche dieselbe Kleidung, hatte nicht einmal die Unterwäsche gewechselt, hin und wieder wusch ich mich, bisher hatte ich kein einziges Mal geduscht, ich kämmte mir nicht die Haare, rasierte mir nicht die Beine und knabberte mir die Fingernägel kurz, statt sie zu schneiden. An manchen Abenden war das meine Lieblingsbeschäftigung. Das und das Knibbeln und Zupfen und Kratzen an neuen Stichen, Blasen und Wunden. Früher hatte mich mein Äußeres ständig verunsichert, war ich schick genug angezogen oder zu schick, saß die Jeans richtig, sahen meine Beine dick darin aus, waren Turnschuhe nicht angebracht, sollte ich flache Schuhe tragen, um nicht noch größer zu wirken, konnte man in der Bluse meine Schweißflecken sehen, oder meinen BH, war das Top zu eng oder nicht eng genug, stand ich mit halb nacktem Hintern da, wenn ich mich vorbeugte, hätte ich doch das Kleid von H&M kaufen sollen, das ich zurückgeschickt hatte, oder ein ganz anderes, würde ich mich darin besser fühlen, hätte mir eine Hose Sicherheit gegeben, sollte ich den Bauch einziehen, war der Schnitt unvorteilhaft, hätte ich besser eine Nummer größer genommen, stand mir die Farbe nicht, hätte ich für den Rock auch meine Oberschenkel rasieren sollen? Überhaupt diese albernen Albträume, wenn ich meine Beine länger nicht rasiert hatte, ich ging dann im Schlaf ins Schwimmbad oder in einem Minikleid auf eine Party oder krempelte mir in einer überfüllten U-Bahn die Hose bis zu den Knien hoch, eigentlich total dämlich, aber man konnte die Uhr danach stellen. Jetzt faszinierte mich der Prozess der Verwahrlosung und wie schnell er voranschritt, doch ich ahnte, dass ich ihn begrenzen musste, wenn ich weiter an Türen klingeln und um einen Zeltplatz für die Nacht bitten wollte. Neben einen Gartenzwerg mit Pfeife ins Gras zu pinkeln, ging zu weit.

Ich nahm Frau Koslowskis Schlüssel.

Das Haus war von innen so finster, wie es von außen ausgesehen hatte. Im Keller tastete ich nach dem Lichtschalter, betätigte ihn und war fast erschrocken, als die Helligkeit in den Raum sprang. Die Decke war niedrig, Regale reichten bis hinauf, es roch muffig, wie es in den meisten Kellern muffig riecht, links gab es ein großes Waschbecken, übrig geblieben aus einer Zeit, in der man Hosen und Hemden noch von Hand wusch. Dunkler Schmutz hatte sich auf dem Boden abgesetzt. Ich schlängelte mich zwischen Eimern und Kisten und Müllsäcken hindurch zur steilen Treppe, ging nach oben. Der Lichtschein folgte mir ein Stück hinauf, bis die Dunkelheit im Erdgeschoss ihn aufhielt.

Es war ein kleines Haus in einer kleinen Straße, dem man ansah, dass nur die Dinge repariert worden waren, für die es Geld gegeben hatte, und dass das nicht viele gewesen waren in den letzten Jahren. Ein paar Fenster waren ausgetauscht worden, Risse zugespachtelt, aber nicht überstrichen, Treppenstufen ausgebessert, Kacheln ersetzt, Läufer bedeckten die abgewetzten Teppichstellen. Das Erdgeschoss bestand aus einer engen Küche, in die man sich zwischen zwei Schrankreihen hineinschieben musste, außerdem einem Wohnzimmer, mittelgroß, und einer winzigen Toilette unter dem Treppenaufgang, die nachträglich eingebaut schien und deren Decke sich schräg unter die Stufen duckte, als würde sie den Kopf einziehen. All das hatte ich vorhin nur kurz gesehen, als mich Frau Koslowski herein- und in den Garten geführt hatte, es reichte, um mich jetzt halbwegs zu orientieren. Erst als ich aus dem gebückten Badezimmer zurück in den Flur kam, bemerkte ich den schmalen Streifen bläulich gefärbten Lichts, der durch den Türspalt aus dem Wohnzimmer in die dunkle Diele fiel. Ich zögerte, überlegte, trat näher heran.

Der Fernseher lief, ohne Ton, warf stumm seine bewegten Bilder in den Raum, auf einen gemusterten Teppich, der an einigen Stellen dick, an anderen sehr dünn war, eine Hügellandschaft aus Wollfasern, bergig an den entlegeneren Stellen, abschüssig, wo die Wege ausgetreten waren, über einen Sessel, einen wuchtigen Couchtisch, das Sofa, auf dem Frau Koslowski schlief. Aus Erzählungen wusste ich, dass mein Vater früher immer morgens auf dem Sofa eingeschlafen war, ein Nachtwandler, der gearbeitet hatte, wenn alles still und dunkel gewesen war, das Negativ zum Leben meiner Mutter. Frau Koslowski war nicht einfach eingeschlafen, sie hatte sich das Bett hier unten gemacht, mit Bettlaken über dem hellbraunen Kratzpolster, mit Kopfkissen und Bettdecke. Sie lag seitlich, ein Arm unter dem Kopf, das Gesicht dem schweigenden Fernsehgerät zugewandt, dessen Licht über ihre Züge huschte, die Falten tiefer und dunkler erscheinen ließ. Ihre Haut erinnerte an eine Mandarine, die man in der Obstschale vergisst und die erst uneben und runzlig wird, in ihrer Unebenheit und Runzeligkeit dann trocken und hart. Ihre rechte Wange bewegte sich bei jedem Atemzug.

Obwohl ich mich wie ein Eindringling fühlte, blieb ich einen Moment länger im Türrahmen stehen, betrachtete den Fernseher (es lief ein Film im Ersten, in dem zwei Leute wortlos miteinander stritten), betrachtete den Raum, dessen Wände nicht mit Tapeten, sondern mit dunklen Schränken und Regalen verkleidet waren, an jeder Seite, sogar rechts und links des Fensters, als wollten sie das Zimmer und die Menschen darin in der Mitte zusammenschieben. Alles passte. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, diesen Raum, vielleicht das ganze Haus, sorgfältig einzurichten, mit aufeinander abgestimmten Farben und Holzsorten und Stoffmustern, das schien lange her, und in den letzten Jahren hatte offenbar die Zeit oder das Geld oder die Fähigkeit gefehlt, sich mit Möbeln eine Zukunft zu entwerfen.

Die bestimmende Farbe war Braun, sogar im Dämmerlicht war unübersehbar, dass sich selbst die verlorene Vase auf dem Fensterbrett, die kleinen geschnitzten Figuren neben dem Fernseher, die Ansammlung von Kissen auf dem Sessel, die dort für die Nacht aufgetürmt waren, an diese Vorgabe hielten. Einzige Ausnahme war ein Bett. Ein Krankenbett, weiß und wuchtig, das jemand mit Mühe zwischen Sofarückenlehne und hintere Schrankwand gezwängt hatte und dessen Aufstehhilfe nach oben ragte; sie erinnerte mich an das einzige Instrument, das ich zur Enttäuschung meiner Mutter in der Grundschule neben den Klangstäben hatte spielen können. Mit seiner kantigen Form, den grauen Metallstreben, dem hellen, abwaschbaren Kunststoff war es ein Fremdkörper in einer Welt aus verschrammten braunen Holzflächen. Wie ein Unfall kam es mir vor. Ein Unfall mitten im Raum. Ich musste mich abwenden, weil ich Angst hatte, eine von denen zu sein, die das Leid fremder Leute begaffen.

Als ich an der Treppe vorbeikam, warf ich einen Blick hinauf, der erste Stock lag dort oben wie ein schwarzes Loch, dann drehte ich mich um, tastete mich in den Keller und zurück in den Garten. Es war bereits so finster, wie Frau Koslowski angekündigt hatte, aber noch warm. Beinahe blind kletterte ich in mein Zelt, stellte die Schuhe, die in den zwei Wochen bereits gelitten hatten, die schmutzig und deren Sohlen abgelaufen waren, vor den Eingang und zog die Reißverschlüsse zu, mit denen ich die Welt aus- und mich in dieser kleinen Kapsel aus silikonbeschichteter Nylonzelthaut einschloss.

 

– Wie trinkense Ihrn Kaffee?

– Das müssen Sie nicht machen.

– Mit Milch und Zucker?

– Ja, gerne.

– Wie viel?

– So viel, dass es nicht mehr nach Kaffee schmeckt.

Warum trinkst du dann überhaupt Kaffee?, hättest du mich gefragt, wenn du hier gewesen wärst, Frau Koslowski aber nickte nur, goss Milch nach und schüppte Zucker aus der Dose, als würde sie auf einer Baustelle ein Loch ausheben.

Wie erwartet, hatte ich schlecht geschlafen. Jetzt saß ich mit Kopfweh in Frau Koslowskis kleiner Küche an ihrem kleinen Küchentisch und sah ihr zu, wie sie die Kaffeetasse vor mir abstellte und mir gegenüber Platz nahm.

Die Küche passte ins Haus.

Man erreichte sie über Teppichbrücken – dieses Wort schien einzig und allein für Frau Koslowskis Diele erfunden worden zu sein –, die den Weg von einer Tür zur anderen wiesen, in der Küche führten sie zum Kühlschrank und zur Spüle, wollte man sich setzen, musste man sich auf die offene See des fleckigen, leicht pappigen Linoleumfußbodens hinauswagen, in den sich die Tisch- und Stuhlbeine als scharfe quadratische Formen tief eingedrückt hatten. Die Tischplatte war in eine Plastikdecke eingeschlagen wie ein Geschenk. An den Kanten war sie mit diesen Klammern festgesteckt, die ich von meiner Oma kannte. Frau Koslowski hatte mit einem nassen Lappen über die Oberfläche gewischt, bevor sie zwei Platzdeckchen vor uns hingelegt und Teller und Besteck dazugestellt hatte. Die Messer, das Geschirr, der gesamte Raum war auf eine oberflächliche Art sauber, geputzt von jemandem, der zum Putzen eigentlich eine Lesebrille gebraucht hätte. Um die kleine Plastikblume, die ich heimlich anfassen musste, um sicher zu sein, dass sie wirklich aus Plastik war (diese Blumen sehen heute viel echter aus als früher bei meiner Oma), hatte sich ein schmaler Ring gebildet, der etwas dunkler war als der Rest der Tischdecke und an dem der Reinigungsschwamm seit Jahren knapp vorbeiging, auch heute. Die Vertiefung zwischen Schneide und dem Griff meines Messers säumte ein schmaler Rand aus winzigsten vergessenen Essensresten, alter Kaffee hatte die Innenseite der Tassen bräunlich verfärbt, das Holzbrettchen, auf dem Frau Koslowski das Brot schnitt, glänzte leicht speckig.

– Und wie lang machense dat schon?

Frau Koslowski sah aus, als hätte sie länger über diesen Satz nachgedacht, und sprach die Worte auf eine Weise beiläufig aus, die nichts Beiläufiges hatte. Ich hätte so tun können, als wüsste ich nicht, was sie meinte, wie ich es noch vor zwei Wochen getan hatte, als ich meine schmerzhaft prickelnde Wut dadurch bekämpfte, dass ich anderen Leuten das Zusammensein mit mir so unangenehm machte wie mir selbst. Aber ich war seitdem so weit gegangen, dass die Müdigkeit immer öfter gegen die Wut gewann.

– Seit zwei Wochen, sagte ich deshalb wahrheitsgemäß.

– Ach so.

Frau Koslowski schien überrascht, vielleicht sogar enttäuscht. War der schmale Grat zwischen tolerierbarer und untolerierbarer Verwahrlosung möglicherweise doch schon überschritten? Verschämt strich ich mir die Haare aus dem Gesicht, versuchte, mir in der stumpfen Oberfläche des Brotmessers einen Eindruck von meinem Äußeren zu verschaffen. Als mir das nicht gelang, sah ich mir stattdessen Frau Koslowski zum ersten Mal genauer an.

Sie war eine kleine, korpulente Frau, die sich bewegte, als wäre sie früher einmal sehr zierlich gewesen, auf eine leichtfüßige Art, bei der sie ständig anstieß, an Türrahmen, Tischkanten, Stuhllehnen, wie eine Katze, die dicker ist als ihre Schnurrhaare lang und in einem Fensterspalt stecken bleibt. Frau Koslowskis Haarfarbe erinnerte mich an Angela Merkel in jüngeren Jahren, zu dunkel für Blond, zu hell für Braun, im Ton noch zu kräftig, um als ergraut durchzugehen. Ihre Lippen waren dünn und hatten etwas von einem Vogelschnabel. Besonders waren ihre Augen, die mich an die Farbe der Hallenbadfliesen unserer Kindheit erinnerten und die in jedes andere Gesicht besser zu passen schienen als in dieses. Wie alt Frau Koslowski war, konnte ich nicht sagen (damit tat ich mich immer schwer. Du musst nicht von dir auf andere schließen, Josi, hättest du gesagt. Manche Menschen sind so alt, wie sie aussehen), vielleicht fünfzig, vielleicht sechzig, mit Sicherheit trug sie jedoch Kleidung, die zu alt für sie war – eine Bundfaltenhose, eine Bluse mit Schulterpolstern, eine Brosche mit Kettchen – und die wirkte, als hätte sie ihre eigene Mutter an.

– Is dat ne Art … ähm … Urlaub?, fragte mich Frau Koslowski.

– Nein, also eigentlich … nein, ist es nicht.

– Aha. Und laufense nur hier in Essen rum, oder …?

Ich überlegte.

– Ich war schon in Duisburg, Mülheim, Essen, Recklinghausen, Hagen, Düsseldorf, Gelsenkirchen, Krefeld.

– So hinternander? Da sindse ja die ganze Zeit Umwege am Machen.

– Vielleicht … aber eigentlich nicht.

– Und wo wollense hin?

– Weiß ich nicht.

– Wie lang laufense denn noch?

– Bis ich ankomme, schätze ich.

– Und wo wollense ankommen?

– Weiß ich auch nicht.

– Wird dann schwierig.

– Wahrscheinlich.

– Ich hab die Butter vergessen, sagte Frau Koslowski und erhob sich, stieg über die Teppichbrücke, geschützt vor den Linoleumuntiefen, zum Kühlschrank. Dat is nix weiter als Streichfett, aber Butter macht alles besser. Findense nicht?

Ich nickte, weil sie recht hatte und weil ich mich fragte, ob dieses Gefühl aus Frau Koslowski die Katze mit den zu kurzen Schnurrhaaren gemacht hatte. Seit unserem elften Lebensjahr haben du und ich kein Fleisch mehr gegessen, wenn man von den Gemüsefrikadellen absieht, die meine Oma mal für uns gekocht hat und die zu gut für echte Gemüsefrikadellen schmeckten. Das haben wir eigentlich gewusst, oder? Eine Weile haben wir uns sogar vegan ernährt (ich allerdings weniger lang, als du gedacht hast), weil ich deine Argumente überzeugend fand, wie ich dich meistens überzeugend fand. Aber Butter bleibt Butter. Und beim Brunchen am Seehaus mache ich mir jedes Mal den Teller mit Rührei voll, weil ich mir dann einreden kann, dass jemand anderes für den Tod von Millionen männlicher Küken und leidender Hennen in Legebatterien verantwortlich und es auch keine Lösung ist, wenn das ganze gute Rührei weggeschmissen wird, während irgendwo Kinder verhungern.

Das ist doch ein Neunziger-Jahre-Argument, müsstest du jetzt sagen.

Und ich würde antworten: Die Neunziger waren ja auch die bessere Zeit.

– Machense schön dick drauf, sagte Frau Koslowski und stellte die Butterdose vor mich hin.

Dass Frau Koslowski Butter in einer Butterdose aufbewahrte, kam mir folgerichtig vor. Du dagegen hast dir mal diese wunderschöne weiße Porzellandose gekauft, auf dem Trödel, als wir übers Wochenende in Kopenhagen waren, ohne zu wissen, dass es eine Butterdose war, und ohne jemals Butter hineinzutun. Sie stand nutzlos herum, weil dir wichtiger war, dass sie gut aussah und zu den anderen Dingen passte. So warst du nämlich auch schon immer.

Als ich meine Graubrotscheibe mit einer großzügigen Schicht Butter beschmiert hatte, wartete ich auf Frau Koslowskis Zustimmung. Nachdem sie zufrieden genickt hatte, bedeckte ich das hellgelbe Fett mit Käse, schnitt das Brot in zwei Hälften, die ich aufeinanderlegte, zusammendrückte, bis die Butter an den Seiten leicht hervorquoll.

Du hast dich mal von kaum mehr als zehn abgezählten Reiscrackern ernährt. Damals hatte ich Angst um dich, Inken. Nur erzählt habe ich dir das nie.

– Sie haben ein schönes Haus, sagte ich, weil andere Leute das gerne hörten, ich in Wahrheit auch, obwohl ich mir gerne einredete, dass es mir vollkommen egal war und dass mich das von allen anderen (zum Beispiel dir) unterschied, die zu viel Wert auf materielle Dinge legten. Vielleicht war es ein Selbstschutz, weil es niemals jemand gesagt hätte.

– Is nich mein Haus, antwortete Frau Koslowski.

– Wem gehört es?

– Weißich nich.

– Warum nicht?

Frau Koslowski hatte den Butterrest von ihrem Messer am Rand der Dose abstreichen wollen, entschied sich um, nahm stattdessen mehr Streichfett auf und verteilte es als zweite Schicht auf ihrem Brot. Konzentriert fuhr sie mit der Klinge über die Kruste, bis die rostfreie Oberfläche der Schneide sauber war und nur ein schmieriger Film darauf zurückblieb.

– Erst hats der Bank gehört, sagte sie. Dann hamses versteigert. Wems jetzt gehört, weißich nich. Nur raus mussich. Dat weißich.

– Sie müssen hier raus?

Ich deutete ungenau um mich, indem ich den Zeigefinger im Kreis drehte, was mir dämlich vorkam und unpassend und unhöflich auch.

– Hm, machte Frau Koslowski nickend, bedeckte die Butter mit Wurst, noch mal mit Wurst, noch mal mit Wurst.

An ihrem Zeigefinger klebte ein weicher unförmiger Butterklecksrest. Sie bemerkte es nicht. Ich mochte es nicht sagen.

– Wann?

– Bald. Inner Woche. Wat weißich.

– Wieso?

Für den unhöflich kreiselnden Finger hatte ich mich geschämt, für die Frage noch mehr. Zum Glück antwortete Frau Koslowski darauf nicht, biss in ihr Brot, kaute, biss erneut, spülte mit einem großen Schluck Kaffee nach, der zu heiß schien, sie verzog leicht das Gesicht, stopfte ein weiteres Graubrotstück hinterher.

– Wahrscheinlich is dat auch gut so. Is ma ne schöne Gegend gewesen. Aber schon lange nich mehr. Vergessen hamse uns hier.

Als wäre ich mir nicht peinlich genug, drehte ich mich mit meinem Käsebrot in der Hand auf dem Stuhl zum Fenster um, spähte mit zusammengekniffenen Augen angestrengt durch die weißen Häkelgardinen, als könnte ich hinter der Glasscheibe nicht nur erkennen, was nicht mehr, sondern auch, was irgendwann mal schön gewesen war.

– Jede Menge Einbrüche gibt’s hier. Und geklaut wird auch. Dat kannich Ihnen sagn. Sind aber nich nur die Türken. Meine Mutter hatte wat gegen die. Ständig hatse auf die Türken geschimpft. Datse uns die Arbeitsplätze wegnehm und nich mal richtig Deutsch sprechen tun und dat alles. Aber dann habich ihr gesagt: Dat sind alles fleißige und ehrliche Leute, die auch nur dat Beste versuchen. Und mein Vatter is ja damals mit seiner Familie auch noch aus Schlesien gekommen. Da hattense auch nix, sogar weniger, und schwer hamses ihnen hier auch gemacht, aber so richtig. Dat wolltese alles nich hören. Is einfach ne andere Generation. So wat kriegste da nich mehr raus. Aber der Türke von nebenan isn ganz Netter. Der hat mir schon öfters ma geholfen. Und seine Frau isn Kopftuch am Tragen, ja, aber sonst is dat ne Frau wie Sie und ich. Hin und wieder schwätzen wir wohl. Und wie ihr Kleener, der Ali, da vorne …

Frau Koslowski legte ihr Brot ab, stand auf, ging zum Fenster und blickte unter der halben Gardine hinaus auf die Straße, klopfte mit dem Butterfinger leicht gegen die Scheibe.

– Wie der Ali da vom Auto totgefahren worden is, habich denen einen Kuchen gebacken. Sonen Streuselkuchen mit Äpfeln ausm Garten. Und sogar meine Mutter is mit rüber. Weil … wenns um so wat geht, da kannste ja nich … Dat geht nich. Wir sind ja alles Menschen. Dat sindwer. Und der Ali war auchn ganz Putzigen, sehr höflich, der wusste noch, watsich gehört, und süß warer. Wirklich. Ganz süß.

Sie zögerte, hatte mit der Gardine gesprochen, drehte sich wieder in den Raum und zu mir.

– Nee, nee, die Türken sind nich dat Problem. Aber die ganzen Rumänen, bei denen musste aufpassen. Als Frau trauste dich gar nich mehr, die Tür aufzumachen. Wat weißich denn, wer da draußen auffer Matte steht? Aber eigentlich habich nix gegen die. Die ham dat einfach auch nich anders gelernt, da, wo die herkommen. Mit dem ganzen Müll, dense einfach auffe Straße stellen, dat die Ratten kommen und dat alles …

Frau Koslowski deutete in einer Geste hinter sich, die mich an Meine-Tante-aus-Marokko erinnerte, das Kinderlied, hiphop, schwubbeldiwupp.

– Wie ich noch klein war …

– Sie sind hier aufgewachsen?

– Dat Haus hat noch mein Vatter gekauft. Vom Geld vonner Montage. Achtundfuffzig Jahre wohnich schon hier. Achtundfuffzig.

Frau Koslowski schüttelte den Kopf, als könnte sie es selbst nicht glauben.

– Und dann setzense dich einfach vorde Tür. Mirnixdirnix.

– Und was …

Ich zögerte, sah Frau Koslowski an, durch die Küche, in der sie stand und ich saß, die Einmachgläser auf dem Regal gegenüber, die Blechdosen für Salz, Mehl und Zucker, die über dem Herd aufgereiht waren.

– Was machen Sie jetzt?

Als Kind war ich neidisch auf dich, Inken. Eigentlich war ich immer neidisch auf dich. Aber als Kind konnte ich Nächte damit verbringen, wach zu liegen und stumm aufzuzählen, was ich alles nicht hatte, was du hattest und ich gern gehabt hätte (ein Kinderzimmer unter dem Dach, was mir beinahe märchenhaft vorkam, einen Bruder, der mit mir Fußball spielte, zwei Mütter, die einen liebten, und nicht nur eine, bei der ich mir nicht immer sicher war, glänzende, dunkle Haare, die nicht wie vertrocknetes, ausgedörrtes Gras aussahen, einen Vater, der jeden Morgen im selben Haus wie ich aufwacht, eine schöne Handschrift, ordentlich und schwungvoll, einen neuen blauen Pferdeputzkasten und nicht den komischen gebrauchten, den meine Mutter von der Freundin einer Freundin besorgt hatte, die drei Mark Taschengeld, die du bekamst und von denen du dir jede Woche die Wendy kaufen konntest, während ich in der zweiten Klasse eine Mark fünfzig hatte und für die Wendy zwei Wochen sparen musste, perfekt eingepackte Geschenke, wenn wir zu einem Kindergeburtstag eingeladen waren, die bunt gemusterte Badekappe, die du immer getragen hast, damit deine glänzenden, dunklen Haare nicht nass wurden), ein bisschen so, wie ich als Dreizehn-, Vierzehn-, Fünfzehnjährige, sogar bis heute, intensiv darüber nachdenken kann, was ich an meinem Körper alles verändern würde, wenn ich Wünsche frei hätte (reinere Haut und weniger blass, mehr Busen, blaue Augen statt braune, schönere Füße, ein paar Zentimeter weniger in der Höhe, Haare, die nicht trocken oder fettig oder fusselig aussehen, kleinere Hände mit wohlgeformten Fingernägeln, Ohren, die weniger spitz aussehen, geradere und weißere Zähne, vollere Lippen, keine Brille).

– Nix.

Bei den meisten Menschen gibt es einen Moment, in dem man sehr genau sagen kann, wie sie als Kind ausgesehen haben, selbst wenn man sie als Kind gar nicht gekannt hat. Bei Frau Koslowski war es die Art, wie sie Nix sagte, entschlossen, trotzig, ohne Rücksicht auf Verluste, ich esse meinen Spinat nicht, ich gehe nicht ins Bett, ich knalle die Tür, wie es mir passt, ich mache keine Hausaufgaben, ich räume nicht mein Zimmer auf, du kannst mich nicht dazu zwingen.

– Sollense doch versuchen, mich hier rauszukriegen. Nur über meine Leiche. Wennich dat Haus meiner Eltern verlasse, dann aber inner Kiste. Vorher hauich innen Sack.

– Kann ich Ihr Bad benutzen?, fragte ich, hatte das letzte Stück Butterbrot mit einem klatschenden Geräusch auf meinen Teller fallen lassen, plötzlich hektisch, fahrig, schob bereits den Stuhl zurück.

– Sicher. Sehr gerne könnense auch duschen, sagte Frau Koslowski, unüberhörbar nachdrücklich.

Ich stand auf.

Der Wechsel von Linoleum zu Teppich ließ mich stolpern, so wenig konnte ich gerade die Füße heben, trotzdem war ich erleichtert, die Brücke erreicht zu haben, dem gemusterten Wollfaserweg nur folgen zu müssen, um zur Tür zu gelangen, in die Diele. Frau Koslowski folgte mir, ich hörte ihre Schritte, sie klangen wie etwas, das einem auf den Fersen ist.

– Nehmense ruhig dat Bad oben, sagte sie. Dat is größer. Hier unten hamwer zwar auch eins, aber dat is … Zur Not geht dat auch.

Wir hatten den Treppenaufgang erreicht, waren beide stehen geblieben, als hätten wir uns abgesprochen. Im Tageslicht, das durch das schmale Fenster über der Eingangstür fiel, wirkte es oben weniger tief und schwarz, ich konnte die Stufen sehen, angeordnet als Spirale, die sich nach oben drehte, erahnen, wo sie endeten, trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, am Ufer eines kalten Sees zu stehen, unsicher, ob ich den ersten Schritt hinein machen sollte, und mit der Gewissheit – woher ich sie nahm, wusste ich nicht –, dass Frau Koslowski nicht schwimmen konnte.

– Wennse nach oben kommen, isset die zweite Tür links.

Sie hatte mit der einen Hand an das Geländer gegriffen, hielt sich fest, mit der anderen wies sie nach oben.

– Duschense ruhig. Dat is kein Problem.

Ich nickte, kam mir vor wie ein Kind, das allein auf die Reise geschickt wird, nahm die erste Stufe, die zweite, die dritte, ging hinauf, während Frau Koslowski unten blieb, zu mir rauf- und ich zu ihr runterschaute, bis sie aus meinem und ich aus ihrem Blickfeld verschwunden war, die obere Etage erreicht hatte.

– Die zweite Tür links, rief sie. Sehenses?

– Ja, murmelte ich, zu leise, um von Frau Koslowski gehört zu werden, aber sie würde nicht nachkommen, damit ich meine Antwort lauter wiederholte, so viel war klar.

Das obere Stockwerk lag in einem blassgrauen Dämmerlicht, das von geschlossenen Türen, geschlossenen Gardinen und heruntergelassenen Jalousien erzeugt wurde. Auch hier eröffnete sich ein vor Jahren gut genutztes Wegenetz aus Teppichen, die sich zur Mitte hin absenkten, wo die Fasern dunkel und dünn geworden waren, an einigen Stellen schimmerte sogar das Gummigitter durch. Es lag eine Stille in den Räumen, die mehr war als das Fehlen von Geräuschen.

– Hamses gefunden?, drang es von unten zu mir herauf.

– Ich denke schon.

Wieder zu leise.

Einen Moment spürte ich diese kribbelnde Neugier, die man empfindet, wenn man weiß, dass man von niemandem außer sich selbst beobachtet wird. Ich hätte mir die einzelnen Räume ansehen, auch noch weiter nach oben gehen können, Frau Koslowski würde nicht einmal kommen, wenn ich anfinge, alle Wertsachen aus dem Fenster zu werfen (wenn es hier oben überhaupt so etwas wie Wertsachen gab), das hatte ich verstanden. Aber ich wusste, was ich hier finden würde, ein mit Bettlaken zugedecktes Leben, und irgendwie wollte ich das nicht sehen, weil ich das selbst zu gut kannte, ich wollte nur ins Badezimmer gehen und die Tür hinter mir schließen.

 

Der Dienstag im Mai, an dem sich Josephine und Inken das erste Mal trafen, ist zu einer von diesen Geschichten geworden, die sich Menschen erzählen, um den Dingen in ihrem Leben eine Form von Logik, Stringenz und Folgerichtigkeit zu geben und zu sagen: Damit hat alles angefangen.

In Inkens und Josephines Fall war dieser Anfang eine Kleinkindrangelei im Sandkasten um ein Fischförmchen aus blauem Plastik, die ohne Bedeutung hätte bleiben können, wenn nicht Josephine, die Schubserin, von ihrem eigenen Schubsen aus dem Gleichgewicht gebracht worden und auf ihren Po gefallen wäre und angefangen hätte, entsetzlich zu weinen, woraufhin Inken, die Geschubste, die Schubserin tröstete, wie Kinder einander trösten, eine Hand auf die Schulter des anderen Mädchens gelegt, die zweite Hand voller Sand auf dem Weg zum eigenen Mund.

Darüber kamen die Mütter der beiden Kontrahentinnen ins Gespräch.

Auf dem Spielplatz war Maggie meist schweigsam, sie ging noch nicht wieder arbeiten und verbrachte viel Zeit mit Inken allein, wodurch sie das Gefühl hatte, ihre Fähigkeit, mit Erwachsenen zu reden, von Tag zu Tag mehr einzubüßen. Richard war keine Hilfe, er sprach in der Schule so viel, dass er abends sein Wortkontingent aufgebraucht hatte, nur für Inken machte er eine Ausnahme, für Maggie blieben unvollständige Sätze. Selbst Smalltalk erinnerte sie zunehmend an das Spielen mit Bauklötzchen, an das Aufstapeln von groben hölzernen Einzelteilen, die durch eine leichte Berührung in sich zusammenfallen konnten. Wenn sich andere Mütter – denn der Spielplatz war eine Mütterwelt – neben sie setzten, selbstverständlich ihre Möhren- und Apfelstückchen auspackten und von ihrem Tag oder dem Tag ihrer Kinder erzählten, was oft dasselbe war, saß Maggie meist stumm da, nickte, lehnte die angebotenen Möhren- und Apfelstückchen ab und nickte wieder, wenn es ihr passend erschien. Den Morgen über fiel ihr Wortschatz in sich zusammen, und oft kam ihr der Spielplatz wie eine Dekompressionskammer vor, ein Ort, an dem sie vorschriftsmäßig angepasst wurde an den atmosphärischen Luftdruck außerhalb der Inken-Welt, in der sie von morgens um sieben bis mittags um zwei lebte. Inken war an diesem Maidienstag drei Jahre und fünf Monate alt, Maggie wusste das und konnte trotzdem ihre eigene Zählweise wie eine Uhr in ihrer Brust ticken hören: zweihundertsiebenunddreißig Tage.

Inken war als Zweijährige zu Maggie und Richard gekommen. Viel wussten sie nicht über ihre leiblichen Eltern, die Frau vom Jugendamt hatte sich sehr vage geäußert, Allgemeinplätze, die wahrscheinlich auf zu viele der Kinder passten, die sie in anderen Familien unterbrachte. Erst später erfuhren sie mehr über Antonia, die Mutter, aber da nützte ihnen dieses Wissen auch nichts mehr. Von Anfang an war Inken kein schwieriges Kind, dabei hatten sich Maggie und Richard auf Schwierigkeiten eingestellt, und irgendwie (Maggie versuchte selbst, das zu verstehen) war es dadurch schwieriger für sie geworden. Sie hatte sich auf ein Kind vorbereitet, wie sie selbst eins gewesen war, das schlechte Erfahrungen gemacht hatte, das misstrauisch war, sie zurückweisen würde und dessen Vertrauen sie Stück für Stück gewinnen müsste. Doch vom ersten Tag an schenkte ihr Inken ihr Herz.