Worüber wir nicht reden - Jenny Bünnig - E-Book

Worüber wir nicht reden E-Book

Jenny Bünnig

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Leben, die Familie und der ganze normale Wahnsinn Die Europameisterschaft im Kürbiswiegen führt Patrizia und Daniel zurück in ihr Elternhaus. Für beide kommt dieses Familientreffen zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Patrizia steckt in einer beruflichen und emotionalen Sackgasse, und Daniel will nicht wahrhaben, dass seine Ehe vor dem Aus steht. Zudem fordern die pubertierende Tochter und der kleine Sohn seine ganze Aufmerksamkeit. Für die Erwachsenen wird dieses Wochenende zu einer Reise in ihre Kindheit, zurück zu ihrem Bruder Rafael, über den sie nicht reden. Doch die Vergangenheit sitzt stets mit am Tisch. Ein turbulentes Wochenende, an dem Tante und Nichte bei der Polizei landen, der Kürbis nicht frieren darf und Goldfisch Blanche eine Schwimmhilfe bekommt. Eben ein ganz normales Familientreffen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 501

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jenny Bünnig

Worüber wir

nicht reden

Roman

LangenMüller

Für euch

Besuchen Sie uns im Internet unter

www.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook: 2017 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8326-9

Donnerstag

13:30 Uhr

»Warum gehen wir nicht rein?«

»Weil Papa Angst hat.«

»Wovor?«

»Vor Opa und Tante Patti.«

»Warum hast du Angst, Papa?«

»Ich hab keine Angst«, murmelte Daniel, kaum laut genug, dass seine Kinder ihn verstehen konnten.

Er hielt mit den Händen das Lenkrad des alten Volvo umfasst, obwohl der Motor nicht mehr lief, und sah nach draußen auf das kleine beigefarbene Haus mit dem ewig kaputten Gartenzwerg neben dem Eingang. Alles sah aus wie immer, obwohl nichts wie immer war.

Wo war Patti? War sie noch nicht da? Daniel sah ihr Auto nicht. Was für ein Auto fuhr sie überhaupt? Er konnte sich nicht erinnern.

Irgendwann musste er reingehen. Natürlich. Er konnte nicht ewig mit Janne und Jonathan im Wagen sitzen und das Haus seiner Eltern von der anderen Straßenseite aus ansehen. Jonathan würde vielleicht mit ihm warten. Janne nicht.

»Ich hab keine Angst«, wiederholte Daniel lauter, wollte sich zu Jonathan umwenden, der auf der Rückbank saß, doch der Anschnallgurt ließ es nicht zu.

Kräftig zog Daniel daran, einmal, zweimal, dreimal. Drehte sich. Zerrte. Versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien. Es wollte ihm nicht gelingen. Nicht einmal gegen einen dämlichen Anschnallgurt gewann er. Mit einem Seufzen ließ er sich in den Sitz zurücksinken. Schweiß stand auf seiner Stirn. Dass er ständig so schwitzen musste.

»Ich wollte nur …«

»Was wolltest du?«, fragte Janne und drückte auf den Öffner des Anschnallers. Der Gurt sprang zurück. Daniel war befreit.

Er warf seiner Tochter einen dankbaren Blick zu.

Sie trug die Haare sehr kurz. Eigentlich hatte sie Wellen, leichte Locken. Zu erkennen war das nicht. Daniel hatte die Locken gemocht. Janne nie. Vielleicht hatte sie sich deshalb die Haare kurz schneiden lassen, vielleicht auch, damit man die Ohrringe besser sah, drei an jeder Seite. Die hatte sie sich heimlich stechen lassen. Zusanna war schrecklich wütend gewesen, Daniel nur froh, dass sich Janne nicht für einen Ring durch die Nase entschieden hatte.

»Danke.« Er lächelte sie an. Janne hatte die großen grünen Kopfhörer nicht abgesetzt, wie sie es oft tat. Nie wusste er, ob sie ihn hörte oder nicht.

Sie lächelte nicht zurück. »Was wolltest du?«

»Ich wollte nur einen Augenblick hier sitzen und …«

»Toll!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, drehte das Gesicht zum Seitenfenster. In der Spiegelung der Scheibe verdoppelten sich der zusammengepresste Mund, die schwarz umrandeten Augen, die steile Falte zwischen den Brauen. »Ich wollte sowieso nicht mitkommen.«

Daniel schluckte. Ja, Janne war ein Teenager. Ja, Teenager waren schwierig. Aber das war anders. Sie wusste es. Wusste sie es?

»Wohnt in Opas Garten ein gruseliger Monsterkürbis?«, fragte Jonathan.

»Woher haste das denn?« Ohne Anschnallgurt konnte sich Daniel zu seinem Sohn umdrehen und ihn ansehen.

Jonathan wippte mit dem Fuß, als würde er einem Takt folgen, den niemand sonst hörte, sein Oberkörper wackelte leicht hin und her. Lange Autofahrten fielen ihm schwer. Alles fiel ihm schwer, wenn er ruhig sitzen musste. »Janne hat gesagt, dass in Opas Garten ein gruseliger, monstermäßiger Riesenkürbis wohnt, der kleine Kinder frisst.«

»Vielen Dank auch.« Vorwurfsvoll blickte Daniel Janne an.

»Ich habe nicht gesagt, dass er kleine Kinder frisst. Nur kleine Jungs.«

»Das macht es besser.«

Janne zuckte gleichgültig die Schultern. Sie hatte so viel von Zusanna. Lag es daran?

»Stimmt das, Papa?«

Janne war kein schwieriges Kind gewesen. Ein Einsteigermodell. So hatte Zusanna sie genannt. Wenig Geschrei, kaum Tränen und ein wunderbares Lachen, bei dem man mitlachen musste. Schnell hatten Zusanna und er gewusst, dass sie ein zweites Baby wollten. Geklappt hatte es lange nicht. Aus verschiedenen Gründen. Erst zehn Jahre später war Jonathan gekommen, und alles, was mit Janne schön und einfach gewesen war, war plötzlich schwierig geworden. Wir wussten nicht, was für ein Glück wir hatten, hatte Zusanna mal gesagt. Das stimmte nicht. Daniel hatte es gewusst. Jeden Tag. Die ganze Zeit.

»Papa!«, sagte Jonathan ungeduldig. »Papa, Papa, Papa. Stimmt das?«

»Nein.« Daniel schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.« Er streckte die Hand nach hinten und fuhr seinem Sohn durch das unordentliche Haar. »Kinderfressende Kürbisse gibt’s nicht.«

»Und welche, die riesengroß sind?«

»Die schon.«

»Aber es wohnt keiner in Omas und Opas Garten, oder?«

»Ich hoffe nicht«, gab Daniel zurück.

»Was?«

»Ich …«, setzte er an, wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte.

Wind frischte auf. Im Auto spürten sie es nicht, aber Daniel sah es. Eine Böe bewegte die Blätter des großen, alten Baumes, der im Vorgarten stand, das Laub am Boden und die Schaukel, die an einem der Äste hing. Immer noch. Wie viel Spaß sie auf dieser Schaukel gehabt hatten. Früher. Sie hatten Wettbewerbe im Weitspringen veranstaltet, versucht, die Wolken mit ihren Schuhspitzen zu treffen wie Fußbälle und den Himmel mit ihren Händen zu erreichen. Es war ihnen nicht unwahrscheinlich vorgekommen. Unmöglich schon gar nicht.

Bei allem, was sie getan hatten, hatte meist Patti gewonnen, Daniel selten, Rafael nie.

Vor den Fenstern hingen dieselben Gardinen wie in Daniels Kindheit. Vielleicht stimmte das nicht. Vielleicht waren sie in der Zwischenzeit ausgetauscht worden. Trotzdem kam es ihm so vor. Weiß waren sie, gehäkelt, mit ein bisschen Spitze. Nicht blickdicht. Man hätte näher herantreten und hindurchsehen können, um zu erfahren, was im Haus vor sich ging.

War es nicht mit allem so?

»Papaaaa!«, riss Jonathan ihn aus den Gedanken.

Jonathan konnte sehr ungeduldig sein, das hatte was mit seinem Tempo zu tun, und manchmal klang er schon so vorwurfsvoll wie Janne immer. Daniel hatte gedacht, dass er für Vorwürfe noch Zeit hatte.

»Papa!«

»Was denn?«, fragte er zurück. Er rieb sich über die Augen. Ihm fehlte Schlaf, er hatte nicht viel bekommen in letzter Zeit. Stundenlang lag er im Bett, neben sich Zusanna, die ruhig und gleichmäßig atmete, als wäre Schlafen so einfach, als wäre Nebeneinanderliegen so einfach, als wäre alles so einfach. Daniel blieb die Nächte wach.

»Haben Oma und Opa einen Riesenkürbis im Garten?«

»Weiß ich nicht.«

»Natürlich weißt du das!«, fuhr Janne dazwischen.

»Was?«

»Deswegen sind wir hier.«

»Wir sind wegen einem Riesenkürbis hier?«, fragte Jonathan.

»Nein … Ja. Ich bin nicht sicher.«

Daniel musste an das Telefonat mit seinem Vater denken. Daran, was dieser gesagt hatte. Komisch hatte er geklungen. Daniels Vater klang immer komisch. Er konnte nicht gut telefonieren. Früher hatte Daniel nur mit seiner Mutter gesprochen und die Stimme seines Vaters im Hintergrund gehört. Seine Mutter hatte jedes Mal wiederholt, was sein Vater gesagt hatte, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Daniels Vater sprach von Natur aus laut.

Ja, es war um den Kürbis gegangen, beim Telefonat mit Winni letzte Woche. Aber Daniel hatte das Gefühl gehabt, dass sie nicht nur darüber gesprochen hatten.

»Das ist mir zu doof!« Janne warf ihm einen strafenden Blick zu, riss die Wagentür auf, sprang raus. Kühle Luft und das Heulen des Windes schwappten herein. Mit einem Knall schlug seine Tochter die Tür wieder zu, es war still.

Daniel sah ihr nach, wie sie mit zornigen Schritten in Richtung Haus ging. Er hätte heulen können.

»Wir sehen einen Riesenkürbis. Wir sehen einen Riesenkürbis«, sang Jonathan von der Rückbank und lachte. »Ist das nicht toll?«

»Ja.« Daniel schüttelte leicht den Kopf. »Das ist toll.«

»Können wir reingehen?« Von hinten trampelte Jonathan gegen Daniels Sitz, setzte dabei seine Mütze auf.

»Jonathan!« Daniel fasste nach hinten, versuchte, seinen Sohn am Treten zu hindern. »Willst du wirklich diese Mütze …?«

»Was?«

»Nichts. Gehen wir.«

Daniel blickte noch einmal zum Haus. Es kam ihm vor, als könnte er das Quietschen der Schaukel hören, die sich im Wind bewegte. Er konnte sich gut erinnern, wie Patti und er den Gartenzwerg beim Fußballspielen getroffen hatten. Seine Schwester hatte geschossen, von Daniel war der Ball abgeprallt, der Gartenzwerg zu Bruch gegangen, und alles hatten sie auf Rafael geschoben. Rausgekommen war das nie. Und niemand hatte die Figur repariert. So war seine Familie. Wie der kaputte Gartenzwerg. Niemand sagte was. Nichts wurde in Ordnung gebracht.

Daniel atmete tief ein, zwang sich, das Lenkrad loszulassen, rutschte vom Sitz, stieg aus. Es war frisch, der Wind kräftig.

»Zieh deine Jacke an«, sagte er zu Jonathan, der mit den Füßen voran von der Rückbank in eine kleine Pfütze sprang, dass Wasser an seinen Beinen nach oben spritzte. Daniel hielt seinem Sohn dessen Anorak entgegen.

Jonathan nahm ihn nicht. »Ich lauf ganz schnell.«

»Dann lauf ganz schnell.« Mit einem leisen Seufzen ließ Daniel den Arm sinken. »Ich komm gleich nach. Ich ruf eben Mama an«, fügte er hinzu.

»Um ihr zu sagen, dass du sie lieb hast?« Jonathan grinste.

»Genau.«

»Iiiihhhh«, rief er und rannte seiner Schwester nach.

Daniel blickte ihm hinterher und zog das Telefon aus der Tasche.

13:31 Uhr

Patrizia stand vor dem Waschbecken und starrte sich ins Gesicht. Neben ihr am Badezimmerschrank lehnten die Krücken. Sie hatte die Hände auf den Keramikrand gestützt, beugte sich vor und betrachtete das Bild, das ihr der schlierige Spiegel zurückwarf. Dreiundvierzig war sie. Wann war sie so alt geworden?

Sie trug die Haare wie immer. Hochgesteckt zu einem Knoten, der mittig auf ihrem Kopf saß. Nicht streng gebunden. Eher locker. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte die Frisur zu ihr gepasst. Sie hatte etwas Entschlossenes, vorwitzig, ernsthaft, aber nicht ernst. Sie hatte einer Frau gehört, die gespannt war, neugierig, die wusste, wer sie war, was sie wollte, wohin die Reise gehen würde. War Patrizia jemals diese Frau gewesen?

Lächerlich kamen ihr die Haare heute vor. Es fiel ihr schwer, sie jeden Morgen zu binden. Manchmal konnte sie die Arme kaum heben. Es waren dieselben Handgriffe, seit Jahren, sie wollten ihr nicht mehr gelingen. Immer war was falsch, und Patrizia tat es nur, weil ihr alles andere wie Aufgeben vorkam, als hätte sie es akzeptiert.

Wann war aus ihr diese Versagerin geworden?

Patrizia war am Morgen erst mit dem Zug und dann mit dem Bus gefahren. Leichter wäre es mit dem Taxi gewesen, weil sie auf den Krücken nicht gut laufen konnte, aber das konnte sie sich nicht leisten. Sie hatte kaum genug Geld für die Fahrkarten. Schon gar nicht, nachdem sie die dämlichen Schlittschuhe gekauft hatte. Was hatte sie da geritten?

Vielleicht hätte sie Busfahrerin werden sollen. Oder Zugbegleiterin. Oder das, was der fremde Mann machte, der mit dem schwarzen Aktenkoffer eingestiegen war und ihr die meiste Zeit gegenübergesessen hatte.

Patrizia hatte mit dem Bus fast dieselbe Strecke genommen wie früher, wenn sie von der Schule nach Hause gefahren war. Es hatte sich angefühlt, als würde sie mit jeder Haltestelle weiter in die Vergangenheit reisen. Alte Schanze, Koloniestraße, Sportpark, Barbarasee, Wedau Bahnhof, Worringer Weg, Bissingheim Dorfplatz.

Zum Studium war Patrizia weggezogen. Es war praktischer gewesen, sie hatte nicht bleiben wollen. In den Ferien und an Wochenenden hatte sie ihre Mutter besucht. Ihren Vater nur, weil er zufällig auch da gewesen war. Mit der Zeit war es weniger geworden, sie hatte viel zu tun gehabt. Patrizia konnte sich kaum erinnern, wann sie das letzte Mal hier gewesen war. Zu Weihnachten, sicher. Danach? Ostern? Irgendwann im Sommer?

Der Weg von der Haltestelle bis zu ihren Eltern war beschwerlich gewesen. Vorbei an den Eisenbahnerhäusern, in denen heute kaum noch Eisenbahner lebten. Bis auf ihren Vater vielleicht. Langsam war Patrizia vorangekommen, einige Male gestolpert, fast gefallen. Am Haus von Giesigs war sie vorbeigegangen, die hier nicht mehr wohnten, an der Einfahrt von Familie Paulsen, dem Ehepaar Itten, das vor einigen Jahren in ein Heim gezogen war. Lebten sie noch? Zumindest einer von beiden? Manchmal hatten Daniel und Patrizia bei Ittens zu Mittag gegessen, wenn sie aus der Schule gekommen waren. Einmal hatte Patrizia bei Herrn Itten gewartet, weil ihre Mutter sie vergessen hatte. Hin und wieder hatte Frau Itten auf Rafael aufgepasst, und als diese Sache passiert war, waren Daniel und Patrizia oft bei Ittens gewesen, mehrere Tage.

Heute hatte ein arktikblaues, neu aussehendes Auto vor der Garage gestanden. Sicher ein junges Ehepaar, eine kleine Familie. Ob sie Kinder hatten? Was machten sie beruflich? Patrizia konnte nicht aufhören, über diese Dinge nachzudenken. Immer.

Sie drehte den Wasserhahn auf. In den Leitungen gluckste es, ehe ein dünner Strahl ins Waschbecken floss. Seit Jahren ging das so. Niemand kümmerte sich darum. Patrizia hielt die Handgelenke in den salzweißen Strom. Kühl war es, fast kalt. Die Haut prickelte. Luftblasen zerplatzten. Patrizia betrachtete ihre Finger mit den Ringen, die roten Fingernägel farblich passend zum Lippenstift. Alles dasselbe. Gefühlt seit Ewigkeiten. Sie hatte mal gedacht, dass das ihr ganz eigener Stil wäre.

Aus der Tasche, einem großen erdbraunen Lederbeutel, fischte Patrizia Tablettenstreifen, drückte zwei heraus, hielt sie in der Hand, sah sie an, schluckte sie herunter und spülte mit Wasser nach, in der Hoffnung, dass es damit besser gehen würde, dass sie aufhören würde, Angst zu haben. Gab es das? Gab es Medikamente dagegen, dass man sich vor dem Leben zu Tode fürchtete?

Die restlichen Tabletten schob Patrizia in ihre Hosentasche, betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, die Haare, den Mund, die Falten um die Augen, auf der Stirn. Dann wandte sie sich ab, griff nicht nach den Krücken, machte einige humpelnde Schritte nach hinten und ließ sich auf den Toilettendeckel sinken.

Von unten hörte sie die Klingel, Türenschlagen, Lachen. Wahrscheinlich waren Daniel, Zusanna und die Kinder angekommen. Sie sollte nach unten gehen, sie alle begrüßen, sich freuen, dass sie einander wiedersahen. Wie lange war es her? Wie groß waren die beiden jetzt? Sie mochte ihre Nichte und ihren Neffen. Sie mochte ihren Bruder und seine Frau. Es war schön, sie zu treffen.

Patrizia blieb sitzen.

Sie hatte es nie besonders lange mit ihrem Vater ausgehalten, war immer zu ihrer Mutter geflüchtet. Das ging nicht mehr, und Patrizia hatte lange wortlose Minuten mit ihrem Vater am Küchentisch gesessen, ehe sie sich auf den Weg ins Badezimmer gemacht hatte. Wie lange war sie hier? Fünf Minuten? Zehn? Länger?

Im Bad sah alles wie früher aus. Geblümte Tapete, lehmbraunes Waschbecken, beigefarbene Fliesen an den Wänden, dunklere auf dem Boden, Ohrenstäbchen in einer durchsichtigen Dose auf dem Regal, ein winziges Seifenstück in einer Schale neben dem Wasserhahn, vielleicht mal eine Muschel, vielleicht ein Fisch, ein weicher, plüschiger Überzug über dem Toilettensitz. Eine gehäkelte Hülle mit einigen losen Fäden hielt die Toilettenpapierrollen. Auf dem Fensterbrett standen kleine Porzellangänse in Eierschalenweiß mit abgeschlagenen Schnäbeln und Flügeln, die irgendwer irgendwann dorthin gestellt hatte, wahrscheinlich zu Ostern, wahrscheinlich ihre Mutter. Seda hatte einen seltsamen Hang zur Spießigkeit, die zu Patrizias Vater besser gepasst hätte.

Hier, unten, das ganze Haus, nichts hatte sich verändert. Dieselben dunklen Möbel, dieselben hässlichen Teppiche auf denselben hässlichen Kacheln, dieselben Vorhänge und Platzdeckchen und Sitzkissen auf den Stühlen. Patrizias Vater war älter geworden. Das war alles.

Patrizia blickte auf ihr Gipsbein. Dick war es und schwer und kreideweiß. Aber es tat nicht weh. Nicht auf die Art. Es war eine dumme Idee gewesen. Natürlich war es nicht egal, wie viel Zeit vergangen war. Natürlich konnte man nicht, was man früher konnte. Einfach so.

Manchmal konnte sie nicht mal atmen.

Draußen vor dem Fenster sah sie den Baum mit der Schaukel. Es war windig. Die Äste bogen sich, die Blätter rauschten, einige fielen zu Boden. Durch die Spalten des Fensterrahmens bahnten sich feine Streifen kühler Luft ihren Weg, bewegten leicht die halben Häkelgardinen. Von einem hellen Austerngrau war der Himmel. Ein Oktoberhimmel. Geschichtet wie Sahnedessert. Das Jahr war fast vorbei. Patrizia hatte sich vor diesem Monat gefürchtet. Warum? Es war nicht überraschend gewesen. Vor Wochen hatte sie es schon gewusst. So war es eben. Von Anfang an war ihr klar gewesen, worauf sie sich einlassen würde. An der Uni Karriere machen. Promovieren, sich habilitieren, immer arbeiten, immer gut sein, immer schlau, besser als alle anderen, das Ziel im Blick.

Und nun saß sie hier. Auf dem weichen Toilettenüberzug im Badezimmer ihrer Eltern. Mit einem Gipsbein. Hatte sie es wirklich gewusst? Schwachsinn! Nichts hatte sie gewusst. Gar nichts.

Patrizia angelte nach den Krücken, um nach unten zu gehen.

Unter mir schimmerte das Weiß. Es war nicht einfach weiß. An einigen Stellen ging es ins Bläuliche, an anderen schimmerte es graugrün, an wieder anderen hatte es einen Gelbstich, je nachdem, wie das Licht von der Decke darauffiel und in welchem Winkel ich es betrachtete. Von der Bande hatte es ausgesehen, als wäre es glatt. Erst als ich mit wackeligen Beinen in der Mitte stand, konnte ich erkennen, dass es Rillen hatte, feine und breite, runde, geschwungene und solche, die in einer Zacke endeten. Hier war das Eis pulverig aufgeworfen, dass es wie Schnee aussah.

Über der Bahn lag eine besondere Kälte. Ich hatte das Gefühl, sie als Glitzer in der Luft sehen zu können, unten dichter, fast funkelnd, oben beinahe unsichtbar. Rechts war der Ausgang, links das Rot der Umgrenzung, die sich um das Oval schloss, über mir das Schwarz der Decke.

Hier zu stehen, das hatte ich mir gewünscht. Wochenlang hatte ich meinen Eltern in den Ohren gelegen, endlich Eislaufen zu dürfen. Nicht einfach mit dem Schlitten oder den Schuhen über das Eis rutschen, wie wir es jeden Winter auf dem Blauen See taten. Ich wollte diese wunderbaren Drehungen machen, diese Sprünge, diese Figuren. Ich wollte über die Bahn sausen, entschlossen und elegant, wie ich es bei anderen gesehen hatte. Ich wollte diese schönen Kostüme tragen und mich im Takt der Musik bewegen und so glücklich lächeln.

Jetzt stand ich hier. Es fühlte sich nicht an, wie es ausgesehen hatte. Hart und rutschig war der Boden unter mir. Ich hatte Schwierigkeiten zu stehen, wagte es nicht, mich zu rühren, hatte Angst zu fallen. Damit meine Füße nicht auseinanderglitten und ich auf den Kufen das Gleichgewicht verlor, musste ich mich konzentrieren. Angestrengt blickte ich meine schönen weißen Schlittschuhe an, als könnte ich sie dadurch zwingen zu bleiben, wo sie waren.

»Was ist?«, fragte meine Mutter.

Sie hatte eine große Runde gedreht und kam nun zu mir in die Mitte. Rosa leuchteten ihre Wangen. Sie lächelte. Meine Mutter lächelte immer. Sie bewegte sich auf diese geschmeidige Art. Wie Schwimmen sah das Laufen auf dem Eis bei ihr aus.

»Ich kann nicht«, sagte ich, mehr brachte ich nicht heraus, weil ich die Luft anhielt. Zu groß war meine Angst, ich könnte fallen, wenn ich atmete.

»Du kannst was nicht?« Sie blieb vor mir stehen, als wäre das ganz selbstverständlich.

»Ich kann nicht laufen.«

»Wieso nicht?«

»Es ist so rutschig.«

»Das ist Eis, Schätzchen.«

»Weiß ich.« Ich verzog das Gesicht.

»Was hast du gedacht, wie es sein würde?«

»Anders«, sagte ich. Gemeinsam blickten wir auf meine Füße. »Ich dachte, ich könnte gleich …« Mit der Hand machte ich eine ungenaue Bewegung, geriet aus der Balance, kippte zur Seite, wurde vor Schreck steif. Ich würde fallen! Auf den harten Boden! Mir wehtun! Mich verletzen! Meine Mutter griff nach mir, fasste meine Arme, hielt mich fest. Ich blieb stehen, fiel nicht.

Ich sah sie an, die Finger in die Ärmel ihrer Jacke gekrallt. »Warum kann ich das nicht?«

»Ich weiß es nicht, Schätzchen.«

»Andere können das auch. Bei denen sieht es so einfach aus. Warum krieg nur ich das nicht hin? Andere schaffen immer alles sofort.« Schon spürte ich das Brennen von Tränen, das Kratzen meiner Stimme im Hals. Ich hasste es zu weinen, aber ich hatte mir alles so schön vorgestellt. Und jetzt? »Ich dachte, es würde leichter sein.«

Meine Mutter schwieg, nickte. »Ist es nicht.«

»Es ist so hart und rutschig.«

»Ja.«

»Ich hab Angst hinzufallen und mir wehzutun.«

»Versteh ich gut.« Sie legte eine Hand auf meine Wange. »Hab ich auch.«

»Aber du fährst trotzdem.«

»Was wär die Alternative? Ich kann nicht die ganze Zeit in der Mitte stehen und nichts tun. Irgendwann bekomm ich Hunger.« Mit einem Grinsen tippte sie mir auf die Nasenspitze. »Und um am Rand zu sitzen und zuzusehen, macht es mir zu viel Spaß.«

»Wie schaffst du das?«

»Ich mache einen Schritt.«

»Und?«

»Mehr nicht.«

»Aber …«

»Das mach ich jedes Mal.«

»Ich weiß nicht, wie«, sagte ich. Zurück kam der weinerliche Klang meiner Stimme und ärgerte mich. Ich wollte keine Heulsuse sein, keins von den Mädchen, die ständig flennten.

»Du musst den Fuß heben und nach vorne setzen und …«

»Ich weiß, wie man einen Schritt macht!«, gab ich ärgerlich zurück. Meine Mutter machte sich lustig. Das half mir nicht.

»Wo ist dann das Problem?«

»Ich …« Sie musterte mich, wartete. Ich wartete ebenfalls. »Hilfst du mir? Hältst du mich fest?«

»Ich halt dich immer fest, Schätzchen.«

Ich zögerte, blickte auf meine Schlittschuhe und das Weiß darunter. Wie sollte ich die Kufen vom Eis lösen? Ich würde umfallen. Sofort! Ich würde mir wehtun. Ich würde mir die Knie aufschlagen. Vielleicht sogar das Kinn. Die ganze nächste Woche würde ich mit einem Verband an den Beinen und einem Pflaster im Gesicht herumlaufen müssen. Schrecklich peinlich! Alle Kinder in der Schule würden mich auslachen. Gut, nicht alle Kinder. Letzten Monat war ein Klassenkamerad von mir, Sven, mit einem blauen Auge in den Unterricht gekommen. Niemand hatte gelacht. Patrick hatte was Doofes gesagt, Patrick sagte ständig was Doofes. Und als Maren beim Spielen hingefallen war und sich einen Zahn abgebrochen und furchtbar geweint hatte, hatten wir anderen sie getröstet.

Wehtun würde es trotzdem!

Ich dachte an meine Knie, meinen Hintern, an meine Handgelenke und meinen Kopf. Wahrscheinlich würde ich hinfallen. Wahrscheinlich würde es wehtun. Ich schob meinen Fuß nach vorne. Als die Kufe über das Eis glitt, hinterließ sie eine schmale Spur. Wackelig war es, rutschig. Ich fühlte mich unsicher. Meine Mutter hielt mich fest. Ich wartete. Wartete länger. Machte den nächsten Schritt. Vielleicht würde ich hinfallen. Vielleicht würde es wehtun. Geschmeidig und elegant fuhr meine Mutter rückwärts vor mir her. Ich folgte, stockend, zögerlich. Meine Finger presste ich um ihre Hände. Wir wurden schneller. Der frische Wind fuhr mir ins Gesicht. Das Gleiten ging ganz von selbst, ohne Kraft, und fühlte sich schön an.

Ja, vielleicht würde ich hinfallen. Vielleicht würde es wehtun.

13:35 Uhr

Daniel hatte Zusanna nicht erreicht. Zweimal hatte er es versucht, es lange klingeln lassen und schließlich aufgegeben. Er war seinen Kindern nachgegangen, am kaputten Gartenzwerg vorbei ins Haus.

Es roch nach Mittagessen. Feijoada. Schon an der Tür drang Daniel der würzige Duft nach Zwiebeln, Knoblauch und Pfeffer entgegen, wie so viele Male, wenn er von der Schule nach Hause gekommen war. Eintopf war das Einzige, was seine Mutter hatte kochen können. Sie hatte es von ihrer Mutter gelernt. Es war einfach und ging schnell. So oft hatte sie das Essen verbrennen lassen, weil irgendwas dazwischengekommen war, dass Daniel kaum wusste, wie es richtig schmeckte. Einmal war er mit Zusanna in einem brasilianischen Restaurant gewesen. Du bist so wenig brasilianisch, hatte sie gesagt. Du hast so wenig von deiner Mutter. Früher hatten Patti und er sich Essensbrasilianer genannt.

Feijoada completa hatten sie an diesem Abend bestellt, mit Reis und Farofa. Hatte seine Frau gewusst, dass sie Schweineohren und -füße gegessen hatten? Er hatte es ihr nicht gesagt. Zusanna hatte es geschmeckt, Daniel nicht.

Nachdem er seine Jacke an die Garderobe gehängt hatte, ging er dem Duft nach. Es roch nicht angebrannt. Janne und Jonathan waren bereits in der Küche. Er hörte ihre Stimmen, dazwischen die seines Vaters. Wo war Patti? War sie noch nicht da? Würde sie kommen?

Er musste mit ihr reden.

Einige Male hatte Daniel ihr auf die Mailbox gesprochen. Sie hatte nicht zurückgerufen.

»Dein Sohn is ’n Rock am Tragn«, war das Erste, was Winni sagte, als Daniel den Raum betrat, der sehr warm war. Kein Fenster war offen. Wahrscheinlich lief die Heizung.

Daniel sah zu Jonathan, der vor der Küchentür stand, die Hände zu beiden Seiten seiner Schläfen, und nach draußen spähte. Hatte er was gehört?

»Hallo«, erwiderte Daniel, ging zögerlich zu seinem Vater, der eine Schürze trug und seine orangefarbene, leuchtende Bahnfahrerwarnweste. In der Hand hielt er einen Kochlöffel. Seine Wangen waren rot und schwitzig. Das Schwitzen hatte Daniel definitiv von ihm.

War das ein blauer Fleck an seinem Auge?

Falten bestimmten Winnis Gesicht, teilten es ein, in kleine und große Partien, gerade und schräg. Über die Jahre waren die verschiedenen Ausdrücke in seinen Zügen stehen geblieben, bewegten sich kaum noch. Schon vor einer Weile hatte sein Bart die Farbe verloren, nun war ihm auch das letzte bisschen Grau abhandengekommen. Dicht und weiß und borstig lag er unter Winnis Nase, nicht mehr so ordentlich gestutzt wie früher.

»Ich freu mich auch, dich zu sehn.« Daniel umarmte seinen Vater, klopfte ihm den Rücken. Die Wange seines Vaters war ganz kurz an seiner.

»Dein Sohn trägt ’n Rock.«

»Ich weiß.«

»Er is ’n Junge.«

»Ich weiß.«

»Wie ’n Mädchen siehter damit aus. Jungs tun keine Röcke tragn.«

Anstatt zu antworten, richtete Daniel den Blick erneut auf Jonathan. Er hatte einen dunkelblauen Cars-Pullover an, Turnschuhe, die eigentlich blinken konnten, es aber nicht taten, eine schwarze Strumpfhose mit Schlammspritzern und einen geblümten Rock. Natürlich hatte Jonathan auch Hosen, er trug sie nicht gern. Keine einzige hatte er sich letztes Mal beim Einkaufen ausgesucht, sondern war in die Mädchenabteilung gelaufen, zu einem dunkelblauen Rock, der sich bauschte, wenn man sich drehte. Im Kindergarten hatte eine Erzieherin Daniel darauf angesprochen. Sie hatte ihn extra noch mal angerufen, abends, war besorgt gewesen. Ob Jonathan unglücklich sei, ob sie Daniel einen guten Kinderpsychologen empfehlen sollte. Er müsste dringend das Gespräch mit seinem Sohn suchen. Daniel verstand nicht. Wo war das Problem? Sollte er seinen Sohn zwingen, Hosen anzuziehen? Zwei Wochen lang war ein Junge in einem Piratenkostüm in den Kindergarten gegangen, und ein Mädchen trug partout keine Schuhe. Dazu hatte niemand was gesagt.

»Und wat soll die Mütze?«, fragte sein Vater.

»Er mag sie.«

»Dat is ’n Einhorn. Dat kannste nich machn. Deinen Sohn ’ne Einhornmütze tragn lassn. Dat kommt davon, weiße?«

»Was meinst du?«

»Arbeitn muss ’n Mann. Et is nich richtig, datte deine Frau dat Geld verdien lässt. Männersache is dat.«

Daniel schwieg und spürte, wie Schweißperlen seinen Rücken hinabliefen. Elendig heiß war es. Er wusste, wie sein Vater war. Es war besser, nichts zu sagen.

»Wat für ’n Mann soll aus ihm werdn, wenner ’ne alberne Einhornmütze trägt? Lächerlich sieht dat aus!«

»Im Gegensatz zu deiner Warnweste?«, fragte eine Stimme von der Tür aus.

Daniel drehte sich um. Im Kücheneingang stand Patti, gestützt auf zwei Krücken, den Mund leicht verzogen, nach links oben. Immer etwas spöttisch. Warum hatte sie Krücken?

»Tante Patti!«, rief Jonathan und stürmte auf Daniels Schwester los, warf sich ihr in die Arme und sie beinahe um. Janne stand ebenfalls von ihrem Platz am Tisch auf und ging zu ihr, wurde von Patti umständlich, aber innig gedrückt, während die am Türrahmen das Gleichgewicht hielt.

Patti lachte. Sie sah aus wie immer. Und irgendwie nicht.

Sie trug die Haare zusammen, ihren roten Lippenstift, eine dunkle Bluse mit kleinen weißen Punkten, eine schwarze Stoffhose, einen Schuh links, dazu den Gips rechts. Ein weißes Ungetüm von der Mitte ihres Fußes über das Fußgelenk bis hinauf zum Knie, die Zehen guckten raus. Das war anders. Der Gips. Natürlich. Doch daran lag es nicht, dass sie anders aussah.

»Warum hast du Krücken?«, wollte Jonathan wissen.

Patti ging leicht in die Knie, beugte sich so weit wie möglich nach unten, um Jonathan ins Gesicht zu sehen. So machte Daniels Schwester es, wenn sie mit seinen Kindern sprach. Sie war die Erste gewesen, die Janne und Jonathan nach der Geburt im Arm gehalten hatte. Noch vor Seda und Winni. Davon gab es Fotos. Sie gehörten zu Daniels Lieblingsbildern.

»Ich bin gefallen«, sagte Patti.

»Tut es weh?« Jonathan streckte die Hand nach dem Gips aus.

»Nur manchmal. Du hast eine schöne Mütze.« Mit den Fingerspitzen zupfte sie am weichen, rosafarbenen Stoffhorn, das auf Jonathans Stirn thronte.

»Das ist ein Einhorn.«

»Hab ich mir gedacht.«

»Magst du Einhörner?«

»Ich liebe sie.«

»Ich auch.« Jonathan lächelte breit.

»Wusstest du, dass Einhörner die edelsten aller Fabeltiere sind und für das Gute stehen? Es gibt Darstellungen von ihnen in der christlichen Kunst, die aus dem 12. Jahrhundert stammen. Ganz schön alt, oder?«

»Hm«, machte Jonathan unbeeindruckt. »Ein Mann hat mal einem Babystier ein Horn von der Seite weggenommen und es auf die Stirn gesetzt. Es ist drangewachsen, und er sah aus wie ein Einhornstier.«

»Das wusste ich nicht.«

»Ich weiß alles über Einhörner.«

»Sieht so aus.«

»Gib nicht so an!«, knurrte Janne, die ihre Kopfhörer abgenommen hatte. Sie baumelten ihr nun um den Hals. »Du weißt nicht alles über Einhörner.«

»Wohl. Weiß ich wohl.«

»Red keinen Scheiß!«

»Papa! Janne hat Scheiß gesagt.«

»Du jetzt auch.«

»Du aber zuerst.«

»Und?« Janne zuckte die Schultern.

Zögerlich kam Daniel näher. Er musste an den Tag denken, als die Sache mit Rafael passiert war. Irgendwie kam ihm ständig dieser Tag in den Kopf, wenn er seine Schwester sah. War das immer so gewesen? Schon früher? Oder erst jetzt? Ging es ihr genauso?

Es war einer der schönsten Tage gewesen. Und der schlimmste.

»Hallo«, sagte Daniel, machte einen weiteren Schritt auf Patti zu, umarmte sie unbeholfen. Sie fühlte sich dünner an, vielleicht war er auch dicker. »Schön, dich zu sehen.«

Sie nickte.

»Ich hab ein paarmal versucht, dich anzurufen.«

»Ich hatte viel zu tun.«

Was sollte er sagen? Gab es irgendwas, das Daniel sie fragen oder ihr erzählen konnte? Ihm fiel nichts ein. Warum fiel ihm nichts ein? Patti war seine Schwester, sie waren mal unzertrennlich gewesen. Nicht so unzertrennlich, wie er gedacht hatte. Aber trotzdem. Es war so unendlich weit weg.

»Sagst du mir noch, woher du das blaue Auge hast?« Mit einer der Krücken deutete Patti auf ihren Vater.

»Is kein blaues Auge.«

»Natürlich ist das eins.«

»Ich werd wohl besser wissn, ob dat ’n blaues Auge is oder nich. Dafür brauch ich …«

»Es riecht nach Feijoada«, unterbrach Daniel ihn, sah zum Herd und dann Winni an.

»Dat liegt wohl daran, dat ich Feijoada am Kochn bin.«

»Was ist Fädschoada?«

»Ein brasilianischer Eintopf«, erklärte Daniel an Jonathan und Janne gewandt.

»Seit wann kannst du Feijoada kochen?« Auf ihre Krücken gestützt, humpelte Patti in Richtung Küchentisch. Als sie einen Stuhl erreicht hatte, ließ sie sich fallen und lehnte die Gehhilfen neben sich. »Seit wann kannst du überhaupt irgendwas kochen?« Sie gab ein spöttisches Geräusch von sich.

Seine Schwester konnte unglaublich spöttisch sein, schon als Kind. Daniel hasste das.

»Auf jeden Fall riecht es sehr lecker.«

»Ich hab nicht gesagt, dass es das nicht tut. Ich hab nur …«

»Machst du sie mit Schweine- oder Rindfleisch?«

»Ich tu sie mit gar keim Fleisch machn.« Winni rieb sich die Hände an der Schürze ab, hatte den Kochlöffel zur Seite gelegt.

»Hah!«, machte Patti.

»Wieso nicht?«

»Ich ess kein Fleisch.«

»Du isst kein Fleisch?« Patti verzog das Gesicht auf eine Art, wie nur sie es konnte. Hochgezogene Augenbrauen, gerümpfte Nase, spitze Lippen. Man fühlte sich am Ende wie der letzte Idiot. Oft war es Daniel so gegangen. Auch heute noch.

»Seit wann isst du kein Fleisch?«, fragte er.

»Tu ich eben nich.«

»Janne isst auch kein Fleisch«, sagte Jonathan. »Sie ist Vegetarier.«

»Vegetarierin«, verbesserte Janne, die auf der anderen Seite des Küchentischs Platz genommen hatte, die Kopfhörer wieder aufgesetzt.

»Warum ham die jungn Leute heute ständig diese Dinger auffe Ohrn?« Daniels Vater schüttelte den Kopf. »Schäbbig find ich dat. Is doch keine Art. Du musst den Leutn doch ordentlich zuhörn.«

»So wie du?«

»Können wir dir irgendwie helfen?« Daniel versuchte zu lächeln. Es wollte ihm nicht gelingen. Warum war kein einziges Fenster auf? Er würde an der warmen Luft noch ersticken.

»Nein.«

»Sollen wir schon mal den Tisch decken?«

»Wenn’s euch Spaß macht.«

»Das ist so typisch!« Genervt stöhne Patti auf.

»Wat?«

»Warum kannst du nicht einfach sagen: Ja, danke für die Hilfe. Ist das so schwer?«

»Wenn ich doch keine Hilfe brauchn tu.«

»Brauchst du ja nie. Alles schaffst du allein. So ein Schwachsinn! Ich hab keine Ahnung, warum ich hier bin.«

»Wegen dem Riesenkürbis«, erwiderte Jonathan und blickte erst Patti ernst an, dann Daniel. »Oder, Papa? Janne sagt, wir sind wegen dem Riesenkürbis hier.«

»Ich dachte, das wär ein Scherz!« Aus ihrem Knoten hatte sich eine Strähne gelöst, die sich Patti nun aus dem Gesicht strich.

Früher, als Kind, als Jugendliche, hatte sie die Haare offen getragen. Eigentlich hatte sie Wellen, ein bisschen wie Janne. Seit Patti zum Studium weggezogen war, kannte Daniel sie nur mit diesem Knoten auf dem Kopf. Ein bisschen wie ein Knopf, den man drücken musste. Ein Buzzer. Wie beim Familienduell. Was gefiel seiner Schwester daran? Wie eine alte, verbitterte Gouvernante wirkte sie damit. Diese Frisur hatte nie zu ihr gepasst.

»Ich dachte, wir sollten kommen, weil …« Als Patti ihm einen Blick zuwarf, nickte Daniel langsam.

»Dachte ich irgendwie auch …«

Enttäuschung erschien auf Jonathans Gesicht. »Dann gibt es keinen Riesenkürbis?«

»Natürlich tuts den gebn!«, antwortete Daniels Vater. »Und et is nich nur irgendein Riesnkürbis. Sondern der größte Riesnkürbis vonne Welt.«

»Von der ganzen Welt?«, staunte Jonathan.

Patti verdrehte die Augen.

»So isset.«

»Und wo? Wo ist er?« Aufgeregt hüpfte Jonathan auf der Stelle, dass das Horn auf seiner Mütze vor- und zurückschwang.

Um diese Begeisterung, die aus dem Nichts kommen konnte, beneidete Daniel seinen Sohn. War das eins von den vielen Dingen, die einem verloren gingen, wenn man erwachsen wurde? War er als Kind auch so gewesen? Rafael schon.

»Im Garten.«

»Im Garten, im Garten, im Garten!« Jonathan lief zur Küchentür, hielt inne, als er sie erreicht hatte, spähte nach draußen und runzelte die Stirn. »Frisst der Kinder?« Er drehte sich zu seinem Opa.

»Nur die bösn.«

Einen Moment schien Jonathan zu überlegen. Das Einhorn rutschte ihm in die Stirn, die Tierohren klappten nach vorne. Mit Schwung warf er den Kopf zurück. »Im Garten ist der weltgrößte Riesenkürbis. Im Garten ist der weltgrößte Riesenkürbis«, sang er. »Kann ich ihn sehen, Opa? Kann ich ihn sehen?« Mit dem Zeigefinger klopfte er gegen das Glas der Tür.

»Wenne willst.«

»Will ich. Will ich. Will ich.«

Winni trat auf ihn zu, drückte die Klinke nach unten. »Dann kannste gleich deiner Omma Hallo sagn.«

»Oma ist im Garten?«

Draußen trieb der Wind graue Wolken über den Himmel. Leise klatschten die letzten verbliebenen Blätter eines Baumes, der neben dem Haus stand, gegen die Fenster. Es sah nach Regen aus.

»Aber es ist kalt und windig«, sagte Daniel.

»Du kannst Mama nicht bei dem Wetter nach draußen setzen«, fügte Patti hinzu.

»Ich tu sie nich bei dem Wetter nach draußn setzn. Sie wills so. Den Kürbis willse sehn.«

»Sicher …«

»Du musst mir nich sagn, wat gut für meine Frau is.«

»Offenbar doch!«

»Du hast kein Recht …«

»Ich hab kein Recht? Ich hab alles Recht der Welt. Ich bin ihre Tochter.«

»Und mehr nich!«

»Mehr nicht? Willst du mich verarschen?«

»Dat fällt dir imma nur ein, wenn’s dir innen Kram passt.«

»Wie bitte?«

»Papa?«, flüsterte Jonathan, der sich von der Gartentür abgewandt hatte und einige Schritte auf Daniel zugekommen war. »Tante Patti hat verarschen gesagt.«

»Ich weiß.« Liebevoll tätschelte Daniel dem Einhorn die Stirn, blickte von seiner Schwester zu seinem Vater, wieder zurück.

Irgendwas musste er tun. Musste was sagen. Den Streit schlichten. Wie? Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, wie als Kind, wenn Rafael einen seiner Anfälle bekommen hatte. Mit den Händen auf den Ohren hatte sich Daniel auf den Boden gehockt, hinter die Tür oder den Tisch, manchmal unter sein Bett, bis sich sein Bruder beruhigt hatte. Daniel hatte den Lärm nicht ertragen können, nicht die Tränen und Rafaels Gesichtsausdruck, nicht seine Mutter, wie sie ihn an sich gezogen und hin- und hergewiegt hatte, bis die Krämpfe und das Weinen nachgelassen hatten. Wie ein Schmerz hatte sich die Zeit dazwischen angefühlt, als würde sie niemals zu Ende gehen. Als Kind war ihm das so vorgekommen. Jetzt fühlte sich Daniel auch manchmal so.

»Wollen wir uns den Kürbis ansehen?«, fragte Daniel in die Wut hinein, die zwischen Patti und seinem Vater hin- und hersprang. In vielem waren sich die beiden so ähnlich, wie zwei Stiere, die aufeinander zurannten. Keiner von beiden würde zurückweichen. »Wollt ihr Oma Hallo sagen?« Er wandte sich an Jonathan und Janne, streckte die Hände nach ihnen aus.

»Will ich.« Janne stand von ihrem Platz am Tisch auf.

Einen kurzen Moment hoffte er, es wäre wie früher und seine Tochter würde seine Hand nehmen. Es hatte ihm Sicherheit gegeben, ihr Sicherheit geben zu können. Stundenlang waren sie so gelaufen, als Janne klein gewesen war, nebeneinander, ihre kleinen Finger in seinen großen.

Es war nicht mehr früher. Sie ging an ihm vorbei, ohne ihn zu berühren.

Jonathan dagegen ergriff Daniels Hand, hielt sie fest. »Warum streiten Opa und Tante Patti?«

»Haben sie schon immer getan.«

»Und worüber?«

Den Arm um Jonathans Schultern legend, zog Daniel seinen Sohn an sich. Gemeinsam traten sie hinter Janne durch die Tür in den Garten und in die frische Oktoberluft, während zornige Stimmen sie nach draußen begleiteten. Als er Jonathan einen Kuss auf die Stirn drücken wollte, traf er das Einhorn. »Ich glaub, das wissen sie selbst nicht.«

13:52 Uhr

Gegen das Fenster in der Küche drückte sich die warme Heizungsluft. Patrizia hatte das Gefühl, als könnte sie die Kälte draußen sehen. Der Himmel hatte sich verändert. Von ihrem Platz am Tisch wirkte er nicht länger dick und sahnig und schwerfällig. Er hatte die Farbe von Edelstahl, die dunklen anthrazitfarbenen Wolken waren in Bewegung, glitten über die Wipfel der Bäume und die Dächer der Häuser hinweg. Der Wind löste sie auf und schob sie zu neuen Formen zusammen, zog sie in die Länge, stauchte und ballte sie.

Nicht zu fassen! Bei diesem Wetter saß ihre Mutter im Garten. Wahrscheinlich frierend und zitternd. Kälte hatte sie nie gut ausgehalten. Ständig hatte sie die Heizung aufgedreht, selbst im Sommer. Da war sie wie Patrizia.

Winfried musste den Verstand verloren haben!

Und dann so eine dämliche Ausrede. Als wollte ihre Mutter draußen sitzen, um den Kürbis zu sehen. Irgendeinen dämlichen Kürbis. So ein Unsinn! Glaubte Patrizias Vater das wirklich?

Wenn Daniel dasselbe gedacht hatte, schien es ihn nicht wütend zu machen. Natürlich nicht. Daniel wurde nie wütend. Schon als Kind nicht. Manchmal fand Patrizia das unerträglich. Manchmal fand sie ihn unerträglich!

»Du hast kein Recht …«, sagte Winfried.

»Ich hab kein Recht? Ich hab alles Recht der Welt. Ich bin ihre Tochter.« Patrizia verschränkte die Arme vor der Brust und schob die Hände unter die Achselhöhlen.

Eine neue Angewohnheit. Nicht das Verschränken. Damit hatte sie begonnen, als sie zum ersten Mal Klausuraufsicht gehabt hatte. Sie war studentische Hilfskraft gewesen und hatte professionell wirken wollen, Autorität vermitteln, die sie nicht hatte, weil sie nicht älter gewesen war als die Leute, die vor ihr gesessen und heimlich versucht hatten, bei ihren Nachbarn abzuschreiben. Es hatte eine Grenze zwischen ihnen und ihr ziehen sollen. Es hatte zeigen sollen, dass sie sich sicher war.

Jetzt war das anders.

Patrizia ertappte sich dabei, dass sie die Arme verschränkte, um sich selbst festzuhalten.

»Und mehr nich!«

»Mehr nicht? Willst du mich verarschen?«

»Dat fällt dir imma nur ein, wenn’s dir innen Kram passt.«

»Wie bitte?«

Das war so typisch!

Nie hatte Winfried Fehler zugeben können. Nie hatte er irgendwas verstanden. Er war sein ganzes Leben lang Lokführer gewesen. Woher sollte er wissen, wie es war, nächtelang an einem Projekt zu arbeiten, selbst Sommerwochenenden am Schreibtisch zu verbringen, im Büro zu schlafen? Weil es einen nicht losließ. Weil man nicht anders konnte. Ihren Urlaub hatte Patrizia im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, in der Sächsischen Landesbibliothek, der British Library verbracht, in den Museen in New York, Madrid, Paris, St. Petersburg, Amsterdam. Vielleicht hätte sie sich das alles sparen sollen. Vielleicht hätte sie eine Ausbildung machen sollen. Bei Aldi an der Kasse. Damit hätte ihr Vater was anfangen können. Er hatte keine Ahnung, wie es war, zu lieben, was man tat. Er hatte keine Ahnung, wie es war, nicht länger als sechs Monate planen zu können, zwölf, wenn man Glück hatte.

Nichts wusste er! Gar nichts!

Bei der Unterschrift unter ihren ersten Viermonatsvertrag war sich Patrizia vollkommen frei vorgekommen. Als müsste sie sich nicht festlegen. Als wäre sie an nichts gebunden. Als stünde ihr alles offen. Andere planten für die nächsten Jahre, sie würde im Herbst vielleicht in Oxford sein, in Athen oder Amerika. War das nicht Freiheit?

Schon lange fühlte es sich wie das Gegenteil an.

»So was muss ich mir nicht sagen lassen. Nicht von dir!« Aus dem Augenwinkel sah Patrizia, wie Daniel mit den Kindern die Küche verließ und nach draußen in den Garten ging.

Natürlich! Auch das war typisch. Am liebsten nichts hören und nichts sehen. Wenn es schwierig wurde, verdrückte sich ihr kleiner Bruder. Da war er wie ihr Vater. Machte sich aus dem Staub und ließ andere mit der Scheiße zurück.

»Als hätteste dir je wat sagn lassn!«

»Als hättest du mir je was zu sagen gehabt.«

Mit den Händen auf der Tischkante drückte sich Patrizia hoch, griff nach ihren Krücken. Ohne Winfried anzusehen, humpelte sie um den Stuhl und auf die Gartentür zu. Ihr Blick fiel auf die Kommode aus dunklem Holz, links daneben unter dem Fenster, auf die Fotos, die dort aufgereiht waren. Hier stand das Hochzeitsfoto ihrer Eltern, leicht bräunlich, leicht beige, eingefasst in einen kohleschwarzen Holzrahmen. Sie kannte es. Natürlich. Hatte sie es sich jemals angesehen? Ihre Mutter trug ein Kleid, hielt einen Blumenstrauß in den Händen. Welche Farben waren es gewesen? Das Beigebraun der Fotografie hatte sie verschluckt. Patrizias Eltern hatten sich vor einem Brunnen aufgestellt. Was war das für ein Brunnen? Wo? Sehr dicht standen sie beieinander. Hatte Patrizias Vater den Arm um ihre Mutter gelegt? Er trug einen Anzug. Patrizia hatte ihn nie in einem Anzug gesehen. Nur das eine Mal. Ob es derselbe Anzug war? Konnte man denselben Anzug zu einer Hochzeit tragen und zu einer Beerdigung?

Patrizias Blick glitt weiter, zu den anderen Fotos. Schnappschüsse, in schwarz-weiß, in Farbe, vom Strand, aus dem Garten, Kinderbilder, sehr alte und weniger alte, kleine und große, von Daniel und ihr und von Rafael. Sie blieb stehen, streckte die Hand nach einer der Aufnahmen aus, auf der sie zu dritt zu sehen waren, in Badesachen auf dem Rasen, wollte sie berühren, entschied sich um, zog die Finger zurück.

»Macht es dich nicht traurig, die Bilder jeden Tag zu sehen?« Weil ihre Stimme so seltsam klang, räusperte sie sich. Es half nicht.

Hatte Winfried sie nicht gehört? Hatte er sie nicht hören wollen? Ohne eine Antwort trat er neben sie, gemeinsam betrachteten sie die Fotografien. Eine Familie reduziert auf Momente, das Leben stillgestellt in Augenblicken. Was lag zwischen ihnen? War das wichtig? War es nicht das Wichtigste?

»Wat wär anders, wenn ich se wegräum? Besser macht dat auch nix.«

Langsam nickte Patrizia. »Ich geh nach draußen.«

Ihr Vater nickte ebenfalls.

Das Erste, was Patrizia sah, als sie durch die Küchentür in den Garten trat, war der Sonnenschirm, der einige Schritte von ihr entfernt in der Nähe der Garage aufgespannt war. Im frischen Wind bauschte sich sein gelb-weißer Stoff, die Blätter raschelten und rauschten, die Ränder flatterten hektisch. Das Geflecht aus Stangen wurde von Böen bewegt, drehte sich im Kreis und gab ein helles, heiseres Quietschen von sich. Patrizia kannte den Schirm. Jeden Sommer hatte er im Garten gestanden und sie an ein Eis am Stiel erinnert. Wenn die Sonne sehr scharf und grell gewesen war, hatte sie an Zitrone und Banane denken müssen. War das Licht sanfter und goldener gewesen, hatten die Streifen wie Vanille- und Mangoeis ausgesehen.

Heute war der Schirm schmutzig und verdreckt, die Sonne nirgendwo zu sehen.

Patrizias Mutter und Rafael hatten den Garten geliebt. Stunden hatten sie mit dem Pflanzen und Pflegen und Stutzen von Blumen verbringen können. Es war eines der wenigen Dinge, bei denen Patrizias Bruder zur Ruhe gekommen war. Die Arbeit mit den Händen, die warme, weiche Erde hatten ihm gutgetan. Mit unvorstellbarer Konzentration hatte er kleine Würmer und Käfer beobachten können, hatte eine eigene kleine Gießkanne gehabt und ein schmales Beet mit Kräutern, für die er verantwortlich gewesen war. In einem Sommer, dem letzten, hatten sie Salat gegessen, den er gezogen hatte. So stolz war er gewesen.

Als Patrizia sich nun umsah, hatte der Garten nicht viel Ähnlichkeit mit dem Garten von früher. Die Wiese war verwildert, viele Stellen vertrocknet, niemand hatte sich gekümmert. Aus dem Teich in der hinteren Ecke, in dem sie als Kinder geangelt hatten, obwohl keine Fische darin geschwommen waren, war ein sumpfiges Schlammloch geworden. Auf der glatten, schmierigen Oberfläche spiegelten sich die vorüberziehenden Wolken. Das Dach der kleinen Laube hatte dem Wind nichts entgegenzusetzen. Patrizia hatte sich hier früher oft versteckt, um Daniel zu erschrecken. Er war so ein leichtes Opfer gewesen. Damals hatte es überall Blumen und Sträucher und Hecken gegeben. Heute gab es nur ein einziges Beet, und in diesem saß groß und herrschaftlich, geschützt vom Sonnenschirm, ein heller, blasser Riesenkürbis.

Er war rund und prall und größer als ein aufblasbares Planschbecken. Die Oberfläche war fest, aber unförmig, die Rillen und Knubbel ungleichmäßig. Der Stängel erinnerte sie an ein knochiges, krummes Kinderbein. Überhaupt hatte der Kürbis für Patrizia große Ähnlichkeit mit einem dicken Jungen, der sich in den Garten ihrer Eltern gehockt hatte. Schön sah anders aus.

»Ach, du Scheiße!«

»Tante Patti hat Scheiße gesagt«, rief Jonathan, der an ihr vorbeilief und dann auf einem Fuß weiter in Richtung Kürbis hüpfte.

»Geht’s?« Fragend verzog Daniel das Gesicht.

Auf dem nassen, rutschigen Gras kam Patrizia mit den Krücken noch langsamer voran. Als sie eine abwehrende Handbewegung machen wollte, geriet sie aus dem Gleichgewicht, sah sich schon mit dem Gesicht voran in die Matsche fallen. Das hätte gepasst! Im letzten Moment konnte sie sich fangen, blieb stehen, musste durchatmen. Ihr Herz klopfte, ihre Arme und Beine zitterten. Das kannte sie nicht von sich. Ständig hatte sie jetzt Angst, noch mal hinzufallen. Hatte sogar Angst, einen weiteren Schritt zu machen.

»Geht’s?« Daniel war neben sie getreten.

»Ja, ja.« Unwillig schüttelte Patrizia den Kopf, setzte konzentriert die Krücken vor sich, folgte ihnen. Stück für Stück.

Patrizias Mutter saß neben dem Kürbis, auf einem Stuhl unter dem Sonnenschirm, eingewickelt in dicke Wolldecken, bis hinauf unters Kinn. Neben ihr hockte Janne und sprach mit ihr, doch Patrizia konnte nicht hören, was sie sagte. Ihre Mutter hatte nur Augen für das Riesengewächs.

Dünn sah sie aus, blass, die Wangen eingefallen. Vor allem ihre Stirn und die Haut um die Augen hatten Ähnlichkeit mit knittrigem Papier. Obwohl sie über 70 war, war ihr Haar dick und dunkel. Wenige weiße und graue Strähnen durchwirkten das Rußschwarz wie glänzende Fäden einen Teppich. Früher waren ihre Hände niemals zur Ruhe gekommen, sie hatte mit ihnen geredet, gestritten, gelacht. Mit einer zärtlichen Entschlossenheit hatte sie andere an sich gezogen, hatte Rafael den Schmerz und die Aufregung und die Angst aus dem Rücken gestrichen. Jetzt lagen Sedas Hände matt zusammengefaltet in ihrem Schoß, die Fingernägel, die früher so oft bunt lackiert gewesen waren, hatten keine Farbe.

»Hallo, Mama«, sagte sie leise, als sie neben den Stuhl trat. Jede Silbe klebte an ihren Lippen. Warum fiel es ihr so schwer zu sprechen?

Ihre Mutter ließ nicht erkennen, ob sie Patrizia gehört hatte, sondern blickte weiter auf den hässlichen Kürbis.

Was sollte sie tun? Was sollte sie sagen? Patrizia hatte große Angst, was falsch zu machen, dass alles falsch sein konnte. Zu Weihnachten hatte ihre Mutter sie Giovanna genannt. Es war unmöglich gewesen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Patrizia war ihrer Mutter den Rest der Feiertage aus dem Weg gegangen und früher abgereist. Sie hatte keine Ahnung, wer Giovanna war.

Hier, schnell, hatte Patrizias Mutter gesagt, wenn sie mit dem Auto an einer Tankstelle gestanden hatten und Patrizias Vater zum Bezahlen reingegangen war. Dann hatte sie Smarties verteilt. Für jeden zwei. Gemeinsam hatten sie sich die Linsen in den Mund gestopft. Und wenn ihr Vater zurückgekommen war, hatten sie so getan, als wäre nichts gewesen. Heimlich schmeckten Smarties am besten.

Patrizia stellte die Krücken umständlich zur Seite, zögerte, beugte sich nach unten und berührte mit einer Hand unbeholfen die Schulter ihrer Mutter, die sich dünn und zerbrechlich unter dem dicken Wollstoff anfühlte. Die Berührung ließ ihre Mutter zusammenzucken. Sie hob den Kopf, sah sich um, zu Patrizia nach oben.

»Hallo.«

»Ich bin’s … Patrizia.« Es war kalt hier draußen, der Wind so scharf, dass er Patrizia Tränen in die Augen trieb. Sie hätte sich wirklich eine Jacke mitnehmen sollen. Verdammt! Warum hatte sie nicht daran gedacht?

»Hallo.«

»Seda«, drang Winfrieds Stimme in ihren Rücken. »Seda, dat is Patti.« Er trat neben sie. In seiner Kleidung hing noch der Duft nach Feijoada, Patrizia roch es deutlich.

»Patti …«

Patrizia hielt die Luft an. Würde ihre Mutter sie wieder nicht erkennen? Würde sie ihr wieder einen anderen Namen geben? War sie aus den Gedanken und Erinnerungen ihrer Mutter endgültig verschwunden? Natürlich traf ihre Mutter keine Schuld. Sie tat es nicht absichtlich. Es lag am Alter, an der Demenz. Aber das machte es nicht besser. Nichts machte das besser.

Patrizia schluckte.

Sollte sie die Hand zurückziehen? Vielleicht war es ihrer Mutter unangenehm, von ihr berührt zu werden. Von einer Fremden. Warum hatte sie vergessen, sich eine Jacke anzuziehen? Musste es so verflucht kalt sein?

Früher war ihre Mutter oft morgens zu ihr ins Bett geklettert. Noch vor der Schule. Sie hatten nebeneinandergelegen, manchmal auf dem Rücken, manchmal auf der Seite, dass ihre Nasen sich beinahe berührt hatten. Über alles und nichts hatten sie geredet, leise, als dürfte sie niemand hören, als hätten sie Geheimnisse, die nur füreinander bestimmt gewesen waren. Diese Zeit hatte ihnen allein gehört.

»Freuste dich, Patti zu sehn?« Patrizias Vater stellte sich neben den Stuhl seiner Frau. »Unsre Tochter«, fügte er hinzu, als müsste er das erklären. Wahrscheinlich musste er das. Offensichtlich. Es klang seltsam aus seinem Mund.

»Patti.« Endlich lächelte Patrizias Mutter, streckte die Hände nach oben, griff Patrizias Finger. »Patti! Patti.« Sie wollte Patrizia an sich ziehen, war jedoch zu schwach, sich aus dem Stuhl zu heben. Patrizia konnte sich mit dem Gipsbein nicht weit genug nach unten beugen. Ihre Köpfe stießen aneinander. Patrizias Mutter küsste sie auf die Wangen, links und rechts, mit den Händen Patrizias umschlossen, so fest, als wären diese die Reling eines Schiffes und sie hätte Angst, über Bord zu gehen. So fest, dass es wehtat.

»Patti«, sagte Seda immer wieder. »Patti.«

»Daniel is auch da, Seda. Siehste?« Als sie sich von Patrizia gelöst hatte, wies Winfried auf Daniel. Er kam näher und weinte. Natürlich! Daniel weinte immer. Mit dem Ärmel seines Hemdes wischte er sich über die Augen, schniefte in den Stoff. »Die Kinder sind auch mit. Janne. Und Jonathan.« Janne, die neben dem Stuhl im Gras hockte, lächelte, während Jonathan die Erwachsenen nicht beachtete, sondern um den Kürbis hüpfte, als würde er einen Tanz aufführen.

Bei jedem Namen folgte Sedas Blick Winfrieds Finger. Sie nickte und lächelte. Am Ende kehrten ihre Augen zu Patrizia zurück.

»Sie sind alle da.«

»Alle sind da«, wiederholte Patrizias Mutter die Worte. Verstand sie, was das bedeutete? Sie sah schlecht aus. Warum sah sie so schlecht aus?

»Sie erinnert sich nicht an uns«, sagte Patrizia leise, wusste nicht, ob es eine Frage oder eine Feststellung sein sollte, wusste nicht einmal, für wen die Worte bestimmt waren. Vielleicht für niemanden.

Ihr Vater sah sie an. »Meistens doch.«

»Du hast wirklich einen Riesenkürbis in deinem Garten, Papa«, sagte Daniel.

»So isset.«

»Wie schwer ist der?«

»Dat werdn wir am Sonntag wissn.«

»Du willst wirklich nach Ludwigsburg?«

»Dat kannste annehmn.«

»Wo liegt das überhaupt?«, fragte Patrizia.

»Irgendwo in Baden-Württemberg. Bei Stuttgart, glaub ich«, erwiderte Daniel.

»Wie lange fährt man dahin?«

»Fünf Stunden?«

»Drei Stunden und zweiunddreißig Minuten, wenn wir die A3 nehmen«, sagte Janne. Überrascht sahen sie alle an. Sie hielt ihr Handy in die Höhe. »Ich hab’s gegoogelt.«

Daniel lächelte. »Wie willst du das machen? Wie willst du den Kürbis nach Stuttgart kriegen?«

»Andreas hat ’n Hänger.«

Patrizia wandte den Kopf Winfried zu. »Andreas?« War das sein Ernst? »Du hast Kontakt zu Andreas?«

»So isset. Er is Sedas Arzt. Er wohnt hier umme Ecke.« Ungenau deutete ihr Vater zum Zaun und machte ein Gesicht, als könnte er nicht verstehen, dass Patrizia überhaupt nach Andreas fragte.

Natürlich konnte er das nicht. Er hatte nie irgendwas verstanden.

»Er wohnt hier?«

»Im Haus von Ittens.«

»Im Haus von Ittens?« Ihr Vater hob die Schultern. Typisch! Patrizia fühlte sich, als hätte sie Sand verschluckt. Jedes Wort schien in ihrem Hals zu kratzen. »Und ist er …? Hat er …? Wohnt er mit seiner …?«

»Tuter.«

»Seit wann?«

»Dat würdeste wissen, wenne öfter hier wärst.«

»Was arbeitet sie? Seine Frau.«

»Wat weiß ich.«

»Haben sie Kinder?«

»Warum fragste dat nich selbst?« Winfried fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnauzbart. »Essen is gleich fertig«, fügte er hinzu, wandte sich um und ging ohne ein weiteres Wort ins Haus zurück.

Jonathan folgte ihm. »Essen, Essen, Essen!« Einbeinig sprang er auf Patrizias Vater zu und hängte sich an dessen Arm. Dieser legte ihm eine Hand auf die Einhornmütze.

»Schwachsinn!«

»Was meinst du?«

»Dieser beschissene Kürbis.« Patrizia machte eine so schwungvolle Geste, dass sie auf ihren Krücken das Gleichgewicht verlor und sich am Stuhl ihrer Mutter festhalten musste, um nicht umzufallen. »Das alles!«

»Ja«, sagte Daniel nur. Wie immer.

»Und dieser alberne Kürbiswettbewerb. Ich fahr nicht zum Arsch der Welt, damit Winfrieds hässlicher Kürbis eine Medaille gewinnt.«

»Ich find ihn ganz hübsch. Die Farbe gefällt mir.«

Klar, dass Daniel wieder was Gutes an der Sache finden musste. Konnte er nicht einmal sagen, dass etwas scheiße war, wenn es scheiße war?

»Das ist keine Farbe! Außerdem sieht das Ding«, Patrizia gab ein abfälliges Geräusch von sich, »wie ein kleiner, fetter Junge aus.«

»Find ich auch«, sagte Janne und erhob sich. »Wie Dirk aus der Grundschule, dem ich mal selbst gemachte Pfannekuchen andrehen wollte, weil ich aus Versehen Salz statt Zucker reingeschüttet hatte.«

»Was? Davon wusste ich gar nichts.«

Janne beachtete ihren Vater nicht.

»Danke! Endlich gibt jemand diesem hässlichen Kürbismonster mal einen Namen. Dirk! Dirk, der Pfannekuchenjunge.« Patrizia grinste. Janne grinste zurück. »Väter müssen nicht alles wissen«, fügte Patrizia leicht spöttisch hinzu, drehte sich zu Daniel.

Der hatte Ähnlichkeit mit einem im Regen stehenden Hund. Niemand konnte besser wie ein nasser Köter aussehen als ihr Bruder.

»Wo ist Zusanna? Ist sie nicht mitgekommen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Würdest du mit deiner Oma reingehen, Janne? Ich muss was mit deiner Tante besprechen. Außerdem gibt’s gleich Essen.«

Jannes Blick ging von Daniel zu Patrizia, dann wieder zurück. »Ich bin kein kleines Kind mehr!« Daniel schwieg. »Du kannst mich nicht immer wegschicken. Ich hab ein Recht darauf …«

»Janne!« Er zog am Kragen seines Hemdes. Seine Stirn glänzte vor Schweiß.

Wie konnte er schwitzen, wenn es kalt wie in einem Eisschrank war?

Janne sah ihren Vater so zornig an, wie Patrizia ihren eigenen unzählige Male angesehen hatte. Es gab so viel, das Patrizia ihrem Vater nicht verzeihen würde.

»Toll!« Jannes Unterlippe zitterte. Vor Wut schien sie weinen zu müssen. Patrizia kannte das zu gut. Schließlich wandte sich Janne ihrer Oma zu. »Oma Seda? Wollen wir reingehen? Es gibt gleich Essen.«

Seda reagierte nicht.

Um sie direkt ansehen zu können, beugte sich Daniel zu ihr vor. »Gehst du mit Janne rein, Mama? Mit Janne.« Während er auf seine Tochter deutete, sprach er sehr langsam und deutlich. »Rein. Gehst du rein? Mit Janne?«

»Sprich nicht mit ihr, als wäre sie eine Idiotin!«

Was sollte das? Ihre Mutter war dement, nicht bescheuert! So was hätte sie sich nie gefallen lassen. Seda war nicht auf den Mund gefallen. Wütend konnte sie werden, laut, und anderen die Meinung sagen. Einmal hatte sie sich mit einem Mann angelegt, der ihr den Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hatte. Am Ende hatte der Typ seinen teuren BMW zurückgesetzt und war weggefahren.

»Tu ich nicht. Ich wollte nur …«

»Mama?« Erneut legte Patrizia ihrer Mutter eine Hand auf die Schulter, obwohl es schwer war. »Mama?«

»Was?« Erschrocken sah Patrizias Mutter sie an. Wie ein kleiner Vogel, den jemand aus dem Nest geworfen hatte und der mit großen Augen und flatternden Flügelchen auf dem Boden hockte.

Nie hätte Patrizia es für möglich gehalten, dass ihre Mutter mal so vor ihr sitzen würde. Sie war immer stark gewesen, entschlossen, kein Problem hatte es gegeben, für das ihre Mutter nicht eine Lösung gewusst hatte. Und Patrizia brauchte sie. Jetzt. Sie wusste nicht weiter.

Stattdessen sah ihre Mutter aus wie etwas, das man nur vorsichtig berühren durfte, um es nicht kaputt zu machen. Patrizia war nicht gut in solchen Dingen.

»Gehst du mit Janne rein?«

»Ich will beim Kürbis sitzen.«

»Es ist kalt und sieht nach Regen aus.« Sie wies nach oben zum Himmel, dessen Grautöne wechselten, von Aschgrau zu Feldgrau, Rauchgrau und Silbergrau. Über dem Dach des Hauses schimmerten die Wolken in einem dunklen Schiefergrau und wirkten vor Nässe schwer.

»Ich bleib hier.«

»Wir essen gleich. Es gibt Feijoada. Die magst du so gern.«

»Nein.«

»Die hast du früher gern gegessen«, versuchte es Daniel.

»Ich geh nicht mit.«

Janne kniete sich neben Seda ins feuchte Gras. »Oma Seda? Würdest du mit mir reingehen?«

Es schien Seda schwerzufallen, den Blick abzuwenden, doch langsam drehte sie den Kopf. Ihre Gesichtszüge entspannten sich, aber sie sah Janne an, als würde sie ihre Enkeltochter nicht kennen. Fühlte es sich so für sie an? Kam Patrizias Mutter niemand von ihnen bekannt vor? Nichts?

Patrizia musste sich wegdrehen, betrachtete ebenfalls den Kürbis. Irgendwie sah er selbstzufrieden aus. Konnte Dirk, der Pfannekuchenjunge, selbstzufrieden in seinem Beet hocken?

»Du gehst mit mir rein?«, fragte Patrizias Mutter.

»Ja, Oma Seda. Wir gehen zusammen.«

»Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?«

»Kannst du.«

»Ich glaub, ich komm aus dem Stuhl nicht raus.« Seda kicherte. »Wegen der Beine. Die wollen nicht.«

»Das schaffen wir.«

»Meinst du?«

»Klar!« Lachend half Janne ihrer Oma aus den Decken, die fest um sie gewickelt waren wie ein Kokon.

Etwas hilflos standen Daniel und Patrizia daneben. Was sollten sie tun? Patrizia spürte den Wind noch schärfer um sich. In der Küche war es schön warm gewesen. Hier war es so eisig, dass sie sich nicht rühren konnte.

»Braucht ihr Hilfe?«, fragte Patrizia und stützte sich auf ihre Krücken, legte ihr gesamtes Gewicht darauf.

»Geht schon«, antwortete Daniel, der einen Schritt vor gemacht hatte.

Patrizia hätte geholfen. Sie war froh, dass sie nicht musste.

Gemeinsam fassten Daniel und Janne Seda an den Armen, er rechts, sie links, und hievten sie auf die Beine. Ohne sich zu rühren, sah Patrizia zu.

»Wollen wir, Omi?«

»Ziemlich frisch.«

»In der Küche ist es wärmer.«

»Was ist das?« Sich am Arm ihrer Enkelin festhaltend, deutete Seda auf die giftgrünen Kopfhörer, die um Jannes Hals lagen, und machte die ersten Schritte zum Haus.

»Kopfhörer.«

»Schön sehen die aus. Weißt du den Weg?«

»Den Weg? Zur Küche? Den weiß ich.«

»Dann ist gut. Ich hab nämlich keine Ahnung.«

Wann war das alles passiert? Hatte Patrizia nicht eben noch in der Küche auf einem Stuhl gesessen und sich von ihrer Mutter den Pony schneiden lassen? Hatte sie nicht erst gestern mit ihrer Mutter wild Rock ’n’ Roll durchs Wohnzimmer getanzt? War es wirklich länger als eine Woche her, dass sie mit dem Kopf auf dem warmen Bauch ihrer Mutter geschlafen hatte?

»Ist es ein glatter Bruch?«

»Was?«

»Dein Bein.« Daniel deutete auf den Gips. »Ist es ein glatter Bruch?«

»Ja … irgendwie so.«

»Wie hast du das gemacht?«

»Hab ich doch gesagt. Ich bin gefallen.«

»Einfach so?«

»Kann man einfach so fallen?«

»Wie lange musst du den Gips tragen?«

»Ein paar Wochen.«

»Musstest du operiert werden?«

»Was sollen die Fragen?«

»Ich möchte wissen, was passiert ist«, sagte Daniel. »Wir haben uns lang nicht gesehen. Ich wusste nicht, dass du dir das Bein gebrochen hast. Dass du einen Gips trägst. Ich bin dein Bruder. Sollte ich das nicht wissen?«

»Einmal Zurück in die Zukunft II«, sagte ich der Frau am Schalter, warf bereits einen Blick an ihr vorbei.