Meine Mutter lacht - Chantal Akerman - E-Book

Meine Mutter lacht E-Book

Chantal Akerman

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Beschreibung

Zeit ihres Lebens vermag die Mutter nichts zu erzählen von ihrem Leid in Auschwitz, während sich die Tochter ihre ganz eigene filmische und künstlerische Sprache erarbeitet, ein Leben in Paris und New York sucht und findet. Als die Mutter schließlich gebrechlich ist, proto­kolliert sie die ihnen gemeinsam verbleibende Zeit. Im wiederkehrenden ­Lachen der Mutter, dem Rhythmus der Tage und Nächte erinnert sich die Tochter an ihr eigenes Leben, blickt auf entscheidende Freundschaften und Liebschaften zurück.

 

Meine Mutter lacht changiert zwischen nüchternem Journal und zärtlicher Anrede, fragiler Auseinandersetzung und intimem Selbstgespräch und ist das schmerzhafte Zeugnis mehrerer Abschiede: ein Schlüssel zum Werk der großen Filmemacherin und ein ergreifendes Stück autobiographischer Literatur.

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Seitenzahl: 214

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Titel des Originals: Ma mère rit

© Editions Mercure de France, 2013

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage

ISBN 978-3-0358-0551-2

© DIAPHANES, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

 

Satz und Layout: 2edit, Zürich

Druck: Steinmeier, Deiningen

 

 

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Abbildungen

 

Ich habe das alles geschrieben, und nun mag ich nicht mehr, was ich geschrieben habe. Das war vorher, vor der gebrochenen Schulter, vor der Herzoperation, vor der Lungenembolie, bevor meine Schwester oder mein Schwager mich anrief, damit ich mich von ihr verabschiede (endgültig). Bevor sie nach Brüssel in ihre Wohnung zurückkam, für immer.

Bevor sie lachte.

Bevor ich verstand, dass ich vielleicht alles falsch verstanden hatte.

Bevor ich verstand, dass ich nur eine verfälschte und eingebildete Wahrnehmung hatte. Und dass ich nur dazu imstande war. Nicht zur Wahrheit und kaum zu meiner Wahrheit.

 

Jetzt lebt meine Mutter und ist gesund. Das sagen alle, und alle sagen auch, dass sie stark ist, und niemand versteht, wie sie überlebt hat.

 

Sie hat überall Schmerzen, aber ihre Haare sind wieder gewachsen. Das ist ein Wunder.

 

Sie hat wieder zugenommen. Sie schafft es fast, mit ihrer gebrochenen Schulter zurechtzukommen. Man muss ihr trotzdem noch helfen sich anzuziehen, sich auszuziehen, ihr Fleisch zu schneiden und ihr Brot zu schmieren. Sie kann auch nicht allein spazieren gehen und das ist wirklich schade. Zum Glück gibt es Clara, die bei ihr wohnt, ganz hinten in der Wohnung, so hat jede Raum für sich. Clara kommt aus Mexiko. Sie ist die Schwester von Patricia, die bei ihr saubermacht.

Zu Weihnachten und Silvester feiern sie Feste und laden meine Mutter ein. Meine Mutter sagt, Weihnachten und Silvester bedeuten nichts, aber sie freut sich, dass sie eingeladen wird, und bei den Mexikanern ist tolle Stimmung und das liebt sie. Sie kommt mit rosigen Wangen und glänzenden Augen von diesen Festen zurück.

Sie lacht oft zwischen ihre Klagen. Sie hat Freude.

 

Ich höre auf ihr Lachen. Sie lacht wegen nichts. Dieses Nichts ist viel. Manchmal lacht sie sogar am Morgen.

Sie wacht müde auf, aber sie wacht auf und beginnt den Tag.

 

Ich bin aus New York zurückgekommen, um ein paar Tage mit ihr zu verbringen.

Und ich weiß nicht wie und warum, aber sie lässt mich existieren, wie ich bin.

Meine Unordnung scheint sie nicht mehr zu stören. Als ob sie sie nicht mehr bemerkt. Sie akzeptiert. Sie akzeptiert mich, wie ich bin. Früher war das nicht so, aber seitdem sie den Tod gespürt hat und ihm entgangen ist, hat sie sich verändert. Sie weiß, was wichtig ist und was nicht, und sie akzeptiert mich.

Manchmal spricht sie noch von meiner Geburt und davon, dass ich ihre Milch nicht vertrug und wie sie ihr Kind verkümmern sah und wie schrecklich das war. Irgendwann hat man schließlich eine Milch gefunden, die ich vertrug. Was wäre passiert, wenn nicht.

Sie lacht.

Ich höre ihr Lachen so gern.

Sie schläft viel, aber sie lacht. Sie hat Freude. Dann schläft sie.

 

Sie hat endlich ihr Alter akzeptiert. Sie weiß, dass sie sich in die Bettmitte legen muss, um nachts nicht rauszufallen. Sie weiß, dass im Flur, der zur Toilette führt, ein Licht anbleiben muss. Sie weiß, dass jemand hinten in der Wohnung schläft, nicht weit weg, für alle Fälle. Sie weiß das alles und sie ist einverstanden. Ihr gefällt das. Sie freut sich, wenn Clara auftaucht. Sie freut sich, mit ihr zu sprechen und zu lachen. Wie zwei Freundinnen, die sich seit Ewigkeiten kennen.

Meine Schwester hatte die Idee. Sie hat gedacht, dass meine Mutter nicht mehr allein leben kann, und Clara ist mit ihr nach Belgien zurückgekommen und im Moment läuft alles gut.

Sie mag die Mexikaner, also die Schwester von Clara und ihre Söhne, wenn sie kommen, guten Tag sagen und mit ihr essen. Sie sind herzlich und lachen mit ihr. Und das tut gut. Das tut so gut, dass sie nicht mehr darauf verzichten kann. Sowieso mag sie es, wenn Leute da sind. Sogar der Klempner, der ganz eilig mit seiner kleinen Tochter gekommen ist. Ich hatte die ganze Nacht geschöpft, weil Wasser von den Nachbarn hereinfloss und nicht aufhörte. Das war wirklich ein Ereignis, und sogar das, dieses Ereignis mochte sie irgendwie, obwohl sie sich fragte, warum das passiert, und sie sich sagte, dass ihr Haus alt wird, und sie hoffte, dass sie keine Kosten hat, weil sie mit wenig lebt, und wenn sie auch noch Reparaturen bezahlen muss, weiß sie nicht, was sie tun soll.

 

Sie weiß, dass sie auf ihre Töchter zählen kann, aber das mag sie nicht. Sie bittet nicht gern. Sie will mit dem zurande kommen, was sie hat. Das heißt mit nicht viel. Dabei hat sie in ihrem Leben immer mit meinem Vater gearbeitet, nur nicht offiziell. Also muss sie mit ihrer Rente von den Deutschen und ihrer Kriegsgefangenenrente zurechtkommen. Und dann noch mit einer Wohnung, die mein Vater für mich gekauft hatte, damit ich etwas habe.

Diese Wohnung vermieten wir, das bringt ihr noch etwas ein, aber nicht viel, weil die Wohnung nicht toll ist und sie sie sehr billig vermietet.

Als der Klempner mit seiner kleinen Tochter gekommen ist, hat ihr die kleine Tochter mit ihren geflochtenen Zöpfen so gut gefallen, dass sie ganz außer sich war. Das war so schön und das kleine Mädchen war ruhig und lächelte. Meine Mutter hat ihr Orangensaft gegeben.

Der Klempner machte schrecklichen Lärm mit einer Spezial-maschine zur Beseitigung der Verstopfung, aber alles kam in Ordnung und ich musste nicht mehr die ganze Nacht schöpfen.

Der Klempner hat ihr gesagt, dass es wieder passieren kann, weil die Rohre alt sind. Meine Mutter hat gesagt, wir werden sehen. Alles zu seiner Zeit. Sie hat sich gesagt, wenn es in zehn Jahren passiert, ist sie vielleicht nicht mehr da und dann muss sich meine Schwester darum kümmern, weil ich nicht praktisch veranlagt bin. Dabei hatte ich den Klempner angerufen, obwohl Weihnachten war, und der Klempner ist gekommen. Und sie hat gelacht.

 

Sie hat Mühe, ihre Wohnung zu verlassen. Sie geht fast gar nicht mehr raus, dabei spricht sie nur davon, rauszugehen, aber es ist dunkel und feucht, es ist Winter. Und sie weiß, dass die Feuchtigkeit schlecht für sie ist, wo sie so krank war. Doch auch wenn es etwas weniger feucht ist, was in diesem Dezember manchmal sogar in Brüssel vorkommt, geht sie nicht raus. Nur auf die Terrasse, und dabei bleibt es. Sie schaut den trostlosen Garten im Erdgeschoss an, sie schaut die Katze an, sie schaut den Hund an. Sie sieht den Liegestuhl, den der Wind umgekippt hat, der auf seinem Weg alles mitnimmt. Aber abgesehen davon ist niemand im Garten. Die Kinder sind nicht mehr da. Wahrscheinlich drinnen. Im Frühling wird sie sie wiedersehen und sie freut sich. Sie wartet auf den Frühling und sie weiß, dass er kommt und dass sie dann die Vögel vorbeiziehen hört. Das gefällt ihr.

Ich schaffe das nicht. Ich schaffe es nicht, auf den Frühling zu warten. Ich bin im Winter mit dunklen und schweren Wolken, die aussehen, als wären sie für immer da.

Ich habe das Gefühl, dass es das Ende ist, aber es ist nicht das Ende.

Ich weiß weder, was ich tun werde, noch wo ich leben werde und ob ich wieder irgendwohin fahren werde. Aber ich werde nach Paris in meine Wohnung fahren. Ich habe eine Wohnung. Das ist mein Zuhause. Das sagt man so, Zuhause.

Aber ich spüre nicht, dass ich ein Zuhause habe, auch kein Anderswo. Einen Ort, um sich zuhause oder anderswo zu fühlen.

Manchmal denke ich, ich werde ins Hotel gehen, das wird ein Zuhause anderswo sein, da werde ich schreiben können.

Ich habe alles wiedergelesen, was ich geschrieben habe, und es hat mir zutiefst missfallen. Aber was tun, ich habe es geschrieben. Es ist da.

Ich denke, wenn ich es überarbeite, wird es mir vielleicht weniger missfallen. Dabei habe ich mir in den Monaten, in denen ich nichts getan habe, gesagt, bald fange ich wieder an zu schreiben oder ich mache weiter und es wird gut sein.

 

Meine Mutter schläft in ihrem elektrischen Sessel, wie im Flugzeug. Das ist ein großartiger Sessel, wie im Flugzeug in der Businessclass. Sie liebt diesen Sessel und schläft sehr oft darin, dann hat sie nicht das Gefühl, im Bett zu bleiben.

Das Bett ist schrecklich. Es ist besser, sich nur nachts hineinzulegen.

 

Tagsüber schläft sie in ihrem Sessel im Wohnzimmer und hat noch das Gefühl zu existieren. Es klingelt, diesmal hört sie es, sie hört es nicht immer, sie geht aufmachen, sie lächelt. Sie ist so froh, dass sie es gehört hat, und sie ist so froh, dass jemand kommt. Obendrein ist es Andrée, und sie liebt Andrée.

 

Andrée ist eine große blonde Frau, die es liebt zu reden. Auch meine Mutter liebt es zu reden, also verstehen sie sich gut miteinander.

 

Heute ist Freitag und sie wird Fisch essen und sie freut sich.

Ja, Plattfischchen. Plattfischchen sind kleine Plattfische. Sie mag Plattfischchen. Ich auch, aber ich freue mich nicht und ich frage mich, warum.

 

Sie freut sich, sie freut sich so sehr, dass ich mich schließlich auch freue.

Sie sagt, dass das Fleisch der Plattfischchen viel köstlicher ist als das der Plattfische.

 

Andrée kommt freitags, um ihr zu helfen, und sie freut sich schon am Donnerstag. Sie denkt an die Plattfischchen und sie denkt an Andrée, so wohlerzogen.

Sie mag Andrée, sie mag es, wie ihr Andrée die Plattfischchen mit einer Soße aus Butter und Petersilie zubereitet.

 

Sie weiß alles über Andrée, sie weiß, dass sie zwei wohlerzogene Söhne hat, wie sie sagt, einer wird sogar Anwalt. Sie weiß, dass Andrées Mann Kommissar bei der Kriminalpolizei ist und dass er seine Waffen nie mit nach Hause nimmt. Er will nicht, dass sich seine beiden Söhne an Waffen gewöhnen. Er will nicht, dass seine beiden Söhne bei der Polizei arbeiten, er hat zu viel erlebt. Meine Mutter versteht.

Sowieso versteht sie alles oder fast alles. Und Andrées Leben interessiert sie. Ja, das Leben der Menschen, die sie trifft, interessiert sie und sobald man ihr etwas erzählt, was nur ein bisschen lustig ist, lacht sie.

Sie lacht mit Samira, mit Maria, mit Sonia, sie lacht mit allen.

Mit allen ihren Haushaltshilfen.

Und meine Mutter, die fast nichts mehr ganz allein machen kann, und ganz gewiss nicht mehr sich waschen und anziehen und viele andere Dinge, hat Anrecht auf eine tägliche Haushaltshilfe. Sie machen den Einkauf und das Mittagessen und waschen sie.

Sie steigt vorsichtig in die Badewanne und freut sich. Sie klammert sich an eine Stahlstange und die Haushaltshilfe kontrolliert, ob das Wasser die richtige Temperatur hat, dann duscht sie meine Mutter sanft und meine Mutter ist zufrieden, sie fühlt sich besser.

 

Es stört sie überhaupt nicht, vor diesen Haushaltshilfen nackt zu sein. Zum Glück hat meine Mutter keine solchen Störungen und es stört sie nicht, dass man sie nackt sieht. Sowieso musste sie sich daran gewöhnen. Bei meinem Vater war das nicht der Fall, er war sehr schamhaft, aber auch er musste sich daran gewöhnen, als er sehr krank geworden ist. Meine Mutter ist eine moderne Frau und Nacktheit stört sie nicht. Ich sage nicht, dass sie gar kein Schamgefühl hat. Aber nur so viel wie nötig, nicht mehr. Also sind diese Sachen und speziell die Nacktheit nichts, was sie stört. Ich würde nicht sagen, im Gegenteil, aber manchmal frage ich mich. Ich bin eine Mischung aus meinem Vater und meiner Mutter, also habe ich Schamgefühl und dann plötzlich gar nicht mehr.

 

Einmal ist keine Haushaltshilfe gekommen, weil Weihnachten war. Also musste ich sie selbst waschen.

Es störte sie auch nicht, vor mir nackt zu sein. Mich schon! Ihr gefiel es, dass ich sie wusch. Mir nicht.

Ich habe es getan und Schluss. Ich habe ihr nicht gesagt, dass es mich stört, und ich habe mir gesagt, dass es mich nicht stören sollte. Und hat es mich wirklich so sehr gestört? Eigentlich nicht. Nur ein bisschen.

 

Wenn dann die Haushaltshilfe da ist, also jeden Tag außer Weihnachten, seift sie sie von Kopf bis Fuß ein, vorsichtig, um ihr nicht wehzutun, und sie freut sich über den Seifenduft. Sie schnuppert und sagt, das riecht gut. Dann trocknet die Haushaltshilfe, die eine oder die andere, sie vorsichtig ab und hilft ihr in ihrem Schlafzimmer beim Anziehen. Nur obenrum. Man muss ihr den Pullover über den Kopf ziehen, dann den Arm mit der gebrochenen Schulter in einen Ärmel schieben, mit dem zweiten Ärmel kommt sie zurecht, oder fast, man hilft ihr trotzdem. Mit dem Rest kommt sie zurecht und sie ist froh zurechtzukommen.

 

Dann versucht sie den linken Arm mit Hilfe des rechten Arms anzuheben, wie es ihr der Physiotherapeut gezeigt hat. Das macht sie mehrere Male. Sie fragt sich, ob sie ihren linken Arm diesmal höher heben konnte als beim letzten Mal, sie zeigt es mir, fragt mich ob oder ob nicht, und ich sage, ich glaube schon. Aber ich weiß es nicht.

Sie hat Hoffnung, sie denkt, dass sie es eines Tages schaffen wird, dass sie Fortschritte macht, jedenfalls ein bisschen, genug, um ihr Brot zu schneiden, genug, um sich allein anzuziehen und auszuziehen.

Sie denkt, dass sie mit fünfundachtzig Jahren noch Fortschritte machen kann, sie denkt es wirklich und sie versucht. Und der Physiotherapeut gratuliert ihr jedes Mal. Und er sagt, dass es besser geht. Ob er es denkt, weiß ich nicht, aber er sagt es. Er sagt auch, dass meine Mutter einen sehr schönen Rücken hat, und meine Mutter lacht und freut sich. Er weiß, welche Komplimente Freude machen. Und er hat schnell alles von meiner Mutter verstanden. Sie ist übrigens sehr geschmeidig und durch die Übungen hat sie es geschafft, ihre Beine zu stärken.

Sie gibt sich Mühe, die Übungen zu machen, und der Therapeut gratuliert ihr.

Wenn ich da bin, sagt er, schau dir das an, schau dir diese Beine und diesen Rücken an.

Er sagt, sie ist so geschmeidig, man würde denken, eine junge Frau. Es gibt sogar Übungen, die er selbst nicht mehr schafft, weil er steif ist, dabei ist er erst fünfzig.

Er sagt, mit der Geschmeidigkeit wird man geboren und wenn man nicht so geboren ist, braucht man eine Menge Übungen, um diese Geschmeidigkeit zu erreichen, und sobald man aufhört, verschwindet sie wieder.

Er zeigt meiner Mutter, wie steif er ist, und sagt, dass meine Mutter Glück hat, sie war immer geschmeidig, das hält sie aufrecht und mich auch.

Und meine Mutter lacht und nach dem Besuch des Therapeuten hört sie nicht auf zu wiederholen, was ihr der Therapeut gesagt hat, und sie ist sehr zufrieden. Sie sagt, ich war immer geschmeidig und du auch. Ich habe dir meine Geschmeidigkeit vererbt. Wenigstens das.

 

Was Clara, die aus Mexiko kommt, am liebsten macht, ist kochen, und wenn ein paar Leute bei meiner Mutter sind, freut sie sich und kocht ziemlich aufwändige Gerichte. Alle gratulieren ihr und alle denken, dass meine Mutter Glück hat, Clara zu haben, und das stimmt.

Leider hat sie manchmal, vor allem, wenn ich da bin, lange Anfälle von Augenmigräne, die vier Tage dauern können. Zum Glück bin ich da, um meiner Mutter zu helfen sich anzuziehen, sich auszuziehen und ihr Fleisch zu schneiden.

Ich glaube, dass Clara den Moment wählt, wenn ich da bin, um lange Migräne zu haben. Sie weiß, dass ich tun werde, was zu tun ist. Also kommt die Migräne.

Meine Mutter macht sich Sorgen. Manchmal klopft sie an Claras Tür. Sie sieht Clara auf dem Bett, zur Wand gedreht. Sie kann ihr Gesicht nicht sehen, also schließt sie die Tür vorsichtig und sagt, wir müssen sie in Ruhe lassen.

Meine Mutter respektiert Clara und ihre Privatsphäre. Sie hat ständig Lust nachzusehen, aber sie hält sich zurück.

Ich sage, wenn sie sich besser fühlt, steht sie auf, sorg dich nicht. Sie weiß, dass wir alles für sie getan haben. Mein Neffe in Mexiko ist mit ihr zum größten Spezialisten für Migräne gegangen. Der hat ihr Medikamente gegeben, aber das bringt nicht viel. Dann denkt meine Mutter an meinen Neffen und lacht. Lacht vor Freude. Sie liebt meinen Neffen.

 

Eine Frau stöhnt in ihrem Bett. Ein leises, wiederholtes Stöhnen.

Dann sagt sie, oh ich weiß nicht, ich weiß nicht. Weiß sie, dass sie es laut sagt. Sie ist taub. Sie glaubt wahrscheinlich, dass sie es nur denkt. Sie sagt laut, was sie denkt, ohne zu wissen, dass sie sagt, was sie denkt.

Also wissen wir, ihre Töchter, was sie denkt.

Sie ist taub, aber nicht ganz. Es gibt Sachen, die sie hört, wie die Klingel und manchmal sogar das Telefon, aber sie mag das Telefon nicht mehr, weil sie nur errät, was man zu ihr sagt. Also hat ihr meine Schwester einen Computer gegeben, nun kann sie skypen, und wenn sie den Mund desjenigen oder derjenigen sieht, der oder die spricht, versteht sie besser. Außerdem sieht sie uns gern, das bringt uns näher. Sie war sehr wütend über die Computer, weil sie spürte, dass sie zu einer anderen Welt gehörte und dass die neue Welt sie zurückwies, aber mit Skype kommt sie klar.

Also verbringt sie viele Stunden vor dem Computer für den Fall, dass ich oder meine Schwestern online sind, und wenn wir nicht online sind, regt es sie auf, aber wir können nicht die ganze Zeit online bleiben. Wirklich nicht.

Mit Skype hört sie nämlich besser. Weil sie sieht. Aber sie hört sich nicht stöhnen.

Doch wenn man sie fragt, ob sie sich sorgt, sagt sie nein.

Sie sagt, dass sie schlecht geschlafen hat, weil sie vergessen hat, ihr Lexotan zu nehmen, sie hat bis zwei Uhr früh geschlafen, ist aufgewacht, hat gemerkt, dass sie ihr Lexotan nicht genommen hat.

Sie hat eins genommen, aber danach hat sie schlecht geschlafen.

 

Jetzt sitzt sie in der Küche und isst ihre Cornflakes.

 

Sie hat noch ein paar Haare auf dem Kopf, sie, die so eitel war. Sie, die so schön war. Alle sagten es. Und ich war stolz auf sie, auf meine Mutter, diese schöne Frau. Und ich liebte sie.

 

Sie kommt aus dem Krankenhaus. Sie weiß, dass sie fast draufgegangen wäre. Sie weiß, dass sie alt ist, aber sie sagt, dass sie es nicht glaubt. Sie will leben.

 

Sie weiß auch, dass sie wieder ins Krankenhaus muss, um sich am Herzen operieren zu lassen. Sie sagt, dass es eine ganz einfache Operation ist. Inzwischen schleppt sie sich dahin. Ein wahres Knochenbündel.

 

Sie wartet auf die Putzfrau Patricia. Sie mag ihre Putzfrau, sie mag ihre Fröhlichkeit, sie mag es, wenn sie ihre Söhne mitbringt und für vier kocht, sie hört sie lachen. Das mag sie.

Sie ist nicht sicher, dass sie richtig verstanden hat, ob sie heute oder morgen kommt, weil das Telefon trotz ihres Hörgeräts eine Qual ist. Sie hört etwas, aber was? Meistens rät sie. Manchmal gut, manchmal schlecht. Also lebt sie im Ungewissen.

Als sie aus dem Krankenhaus gekommen ist, hat der Kardiologe zu ihr gesagt, machen Sie ganz ruhig vor der Operation. Ja, sie macht ganz ruhig. Sowieso, wie könnte sie sonst machen. Sie schleppt sich dahin. Atmet mit Mühe, das ist wegen der Aorta. Die Aorta hat sich verengt.

Sie schläft ständig ein. Wacht auf. Isst ein bisschen. Existiert.

 

Sie steht auf, isst, nimmt ihr Bad, seit einigen Tagen schafft sie es ganz allein in die Wanne und wieder heraus.

Isst. Legt sich auf das Sofa. Schläft. Wacht auf.

Spricht ein bisschen mit ihren beiden Töchtern, die für sie da sind. Über alles und nichts.

Wenig.

Was bleibt noch.

Nach der Operation vielleicht.

 

Eine Frau mit Gnadenfrist. Die überlebt hat. Sie weiß es, sie hat überlebt und wird weiter überleben. Ihr Moment ist noch nicht gekommen, sagt sie.

Ich weiß nicht, ob sie das denkt, denn ihr Stöhnen und ihr Ich weiß nicht, das sie laut sagt, ohne es zu wissen, sagen etwas anderes.

 

Bevor sie ins Krankenhaus ging und wieder herauskam, um sich auf ihre Operation vorzubereiten und wieder ins Krankenhaus zu gehen, war ich da.

Sie war sehr krank und ich hatte Angst, Angst, dass sie aufhört zu atmen, vor mir in ihrem Sessel.

Sie war eingeschlafen und man spürte, wie sich ihr Herz abmühte, noch zu schlagen, also sah ich sie an, atme Mama, verlass mich nicht, atme.

Verlass mich nicht, noch nicht. Ich bin nicht bereit und vielleicht werde ich nie bereit sein.

 

Ihr Atem wurde so mühsam, dass wir sie in die Notaufnahme bringen mussten. Dort im Krankenhaus hat man sich um sie gekümmert, damit sie bis zur Operation durchhält.

Die Operation, sagen sie wieder und wieder, das ist nichts. Aber dieses Knochenbündel, ihre wenigen Haare, ihre erloschenen Augen, werden sie es ertragen. Man wird sehen.

Ich sage immer, man wird sehen. Ich sage, man wird sehen und denke dabei immer, dass eine Menge passieren kann. Da gibt es nur zwei Sachen, Leben oder nicht.

Und wenn das Leben wieder losgeht, dann geht sie wieder los.

 

Das Kind war alt geboren und so war das Kind nie erwachsen geworden. Es entwickelte sich in der Welt der Erwachsenen wie ein altes Kind und das gelang ihm schlecht. Das alte Kind sagte sich, wenn es seine Mutter nicht mehr gäbe, könnte es nicht mehr zurückkommen, hätte es keinen Ort mehr.

In der Jugend hatte das Kind sich ausgetobt, dann im Erwachsenenalter nur Unsinn gemacht, wusste aber, dass es immer zurückkommen konnte.

Und nachdem sein Vater gestorben war, zu seiner Mutter.

Sobald das Kind kam, immer erschöpft vom Erwachsenenleben, das es nicht zu leben schaffte, legte es sich auf das Sofa und schlief ein paar Stunden. Danach, etwas weniger erschöpft, aß es.

Das Kind ist sie, bin ich. Und jetzt bin ich alt, ich werde sechzig. Und älter. Und ich bin immer noch nicht weiter. Ich habe kein Kind. Ein altes Kind bekommt kein Kind. Was wird mich danach am Leben halten?

Könnte ich leben, um zu schlafen, aufzustehen, zu essen, zu schlafen. Ich vergaß, Radio zu hören. Ich höre Radio. Das ist nicht mehr die Zeit mich auszutoben. Und ich bin froh, wenn die Sonne schlafen geht, um auch schlafen zu gehen.

Nur noch vier Wochen bis zur Operation.

Das hat sie gestern gesagt.

Aber heute Morgen nach dem Frühstück war sie schon müde.

Sie hat sich auf das Sofa gelegt.

Als ich nachgesehen habe, hat sie zu mir gesagt, essen hat mich müde gemacht.

Aber habe ich das Recht mich auszuruhen? Ich habe ihr gesagt, das ist kein Recht, das ist eine Pflicht.

 

Und ich, werde ich hier vier Wochen durchhalten.

Ich halte nur durch, wenn ich schreibe. Und sowieso, hier oder anderswo, was ist der Unterschied. Mein Leben, ich habe kein Leben. Ich habe es nicht geschafft, mir eins zu machen. Also hier oder anderswo. Aber anderswo ist es immer besser. Also fahre ich los und wieder los und komme zurück, mein Leben lang.

 

Ich bin zuerst in ein winziges weißes Zimmer nach Paris gefahren, wo es kalt war.

Dann wieder woandershin, wo es warm war. Dann wieder woandershin in eine sehr große Stadt auf der anderen Seite des Atlantiks, wo ich Luft holen konnte.

Ich fühlte mich wohl. Ich lebte. Ich entdeckte das Leben und die anderen, auch wenn ich manchmal ganze Nächte hindurch herumlief, weil ich nicht wusste, wo ich schlafen sollte. Aber meistens wusste ich es. Die Leute waren gastfreundlich und ich konnte schlafen, mich waschen und sogar essen. Diese Leute habe ich dieses Jahr wiedergesehen, sie hatten sich nicht verändert. Sie waren immer noch genauso gastfreundlich. Sie fragen sich immer noch, wie ich am Ende bei ihnen gelandet bin. Ich auch. Das bleibt ein Geheimnis.

Und da, wo es warm war, hätte ich beinah geheiratet wegen der Wärme und auch, weil ich nicht mehr wusste, was ich mit mir anfangen sollte, und eine Versagerin war, weil ich einen schlechten Film gemacht hatte, also warum nicht heiraten. Und wenigstens einem eine Freude machen, nämlich meinem Vater.

 

Als ich meinen Vater gefragt habe, warum er unbedingt wollte, dass ich heirate, hat er gesagt, wenn du krank bist, ist jemand da, der sich um dich kümmert. Wie wusste er, dass ich krank, sehr krank sein würde, das frage ich mich.

Vielleicht sagte er das einfach so, weil er nichts zu sagen hatte. Aber er hatte sich um seine kranken Schwestern gekümmert, also glaubte er, dass alle Frauen krank wären. Dabei war seine Mutter stark. Erst nach dem Krieg hat sie nicht mehr durchgehalten. Während des ganzen Krieges verließ mein Vater den Keller, in dem sie versteckt waren, er verließ ihn, ging arbeiten, trug keinen gelben Stern, er wusste, dass es ohne besser war, und sie hielt durch.

 

Als der Krieg vorbei war, war es nicht mehr so. Es war, als hätte sie all ihre Kräfte während des Krieges erschöpft. Jedenfalls stelle ich mir das so vor. Niemand hat es bestätigt. Aber das musste es sein oder etwas anderes. Jemand hat mir von Menopause, von Diabetes erzählt. Aber es war etwas anderes.

 

Mein Vater sprach nicht über seine Mutter, nur eine seiner Schwestern sprach über sie und sagte, dass sie sie sehr liebte. Das ist die einzige Schwester in meiner Familie, die einen Nichtjuden geheiratet hat, sie hatte ihre Gründe. Sie liebte ihn. Sie liebt ihn immer noch. Und sie pflegen sich gegenseitig. Das sind meine jüngste Tante und mein jüngster Onkel. Sie haben alle möglichen Krankheiten, aber sie kommen jedes Mal davon, wahrscheinlich, weil sie sich gegenseitig pflegen.