Meine Reise zu Chaplin - Patrick Roth - E-Book

Meine Reise zu Chaplin E-Book

Patrick Roth

4,4

Beschreibung

Alles beginnt im Dunkeln: Wenn das fiebrige Kind zum Chaplin-Schauen aufs Sofa umgebettet wird, wenn der Dreizehnjährige sich auf dem Schulhof in die Quintanerin verliebt, die Geraldine Chaplin ähnlich sieht, wenn der 22-jährige Filmstudent im Dunkel des "Encore" zum ersten Mal Chaplins "Lichter der Großstadt" sieht ..."Meine Reise zu Chaplin" ist die Geschichte einer Begeisterung. Sie erzählt von Roths lebenslanger Liebe und Verehrung für den Autor von "City Lights" (1931), dem er von der Leinwand eines verfallenen L.A.-Kinos bis vor die Schweizer Haustür nach Vevey gefolgt war, ihm persönlich einen Brief zu überreichen.22 Jahre nach der Reise zum bewunderten Vorbild geht Roth die Reiseroute nochmals ab. Schritt für Schritt macht er sich den Grund seiner Chaplin-Begeisterung bewusst. Es ist das Ereignis der Berührung zwischen dem Tramp und dem ehemals blinden Blumenmädchen, das er als den "heiligsten Moment der Filmgeschichte" erkennt und in seiner Erzählung noch einmal neu auferstehen lässt.So wird die "Reise zu Chaplin" selbst zu einem Film à la Chaplin: mit dem jungen Mann in der Rolle des Tramp und dem Erzähler als Regisseur der Erinnerung.

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Patrick Roth

Meine Reise zu Chaplin

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Meine Reise zu Chaplin

Ein Encore

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2013www.wallstein-verlag.de

Vom Verlag gesetzt aus der Stempel GaramondDruck und Verarbeitung: Friedrich Pustet, Regensburg

ISBN (Print) 978-3-8353-1357-6ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2441-1ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2442-8

Für den 1.7.2003

Love comes unseen.                           Amerikanisches Sprichwort

All I need is the opportunity.                           Charlie Chaplin

Der flüchtige Held aber sprang in eine Kapelle, die in der Nähe war, und gleich oben zum Fenster in einem Satze wieder hinaus.                           Brüder Grimm                           Das tapfere Schneiderlein

1

Alles beginnt im Dunkeln.

Ich lag als Fünfjähriger mit schwerem Fieber im Bett, da hörte ich meine Großmutter der Mutter zuflüstern:

»Laß den Bub doch Chaplin kucken, wenn er aufwacht. Der tut ihm sicher gut.«

Die ersten Bilder von ihm, die ich nach dem Umgebettetwerden vom Sofa aus sehen durfte, unterschieden sich nur geringfügig von meinen Alpträumen, liefen hastig im Fieberschwarzweiß des Kriegs vor mir ab, lösten Lachsalven bei Großmutter und Eltern aus, die mir unverständlich blieben, weil ich mit meinen fiebrigen Augen die Figuren in den unscharfen und wie von Hahnenfüßen zerkratzten, heller und dunkler flatternden Fernsehbildern nur geköpft-kopflos hin- und herwuseln sah. Schlachthofkomik, grauenhaft! Ich sah weg, schob die Hand unters Laken und schlief wieder ein.

Charlie Chaplin war in Bemerkungen meiner Eltern, Erzählungen der Großeltern, der Onkel und Tanten, wiederholt aufgetaucht. Sprichwörtlich war er, als habe es »Chaplin« schon immer gegeben. Und schnell. Wenn sein Tramp irgendwo was angestellt hatte, ließ er sich nicht fassen, schlug schneller zu als die anderen, entkam schneller, um schnell irgendwo noch schnell anderes anzuzetteln.

Unglaublich. Aber wahr. Denn Chaplin besaß, gerade weil ihn die Erwachsenen nannten, auch Wirklichkeit. Im Kindergarten wußte mal einer von uns:

»Der hat doch auch die Autobahn gebaut.«

Na klar. Und leicht einzusehen, warum. Denn auch die Autobahn war »schnell«, vom Herrn der Ungeduld, vom Herrn der Fluchtwege gebaut, damit auch andere Leute, mein Vater zum Beispiel, Gelegenheit hätten, sich am Wochenende per Aufholjagd schnell bei Verwandten zu zeigen, sie aber, wenn’s uns Kindern langweilig wurde oder ein Heimspiel des KSC bevorstand, ebenso schnell wieder im Rückfenster des kleinen VW verschwinden zu lassen.

Schon in Chaplins Namen erschien uns Schnelligkeit mit Komik gemischt. CHAP war das Geräusch, das ein Zweig machte, wenn man ihn in fliegendem Lauf mit raschem Schwertstreich abschlug: CHAP! Unheimlich nah waren wir damals, ohne ’s zu ahnen, einer Herleitung seines Namens, die »Chaplin« als englische Variante des französischen chaplain (»Kaplan«, eigentl. »Geistlicher in einer Kapelle«) deutet, dahinter aber noch die Capellani erkennt, jene Hüter der capa, des Mantels Sankt Martins, den der Heilige mit einem Schwertstreich teilend dem frierenden Bettler zugeworfen hatte. CHAP.

Schwertstreich bleibt Schwertstreich, hätten wir damals gesagt. Die Verkleinerungsform CHAP-lin jedenfalls bedeutete uns soviel wie »kleiner Streich« oder »Kleiner, der Streiche macht«.

Was für Streiche?

Streiche, die Spuren hinterlassen.

Insofern waren auch jene verkratzten Filmstreifen, die das Fernsehen zeigte (die großen Filme hatte Chaplin damals aus dem Verkehr gezogen), bei uns Kindern enorm beliebt. Es schien uns, als seien die Kratzer durch Chaplins wahnsinnig schnelles Handeln, durch seine Unruhe, juckende Ungeduld, herrliche Streitsüchtigkeit, durch seinen zähen Lebenswillen und seine Lust zu Streichen entstanden. Der Kleine, der Streiche macht, wollte gesehen werden, weigerte sich schon in seinem ersten öffentlich gezeigten Streifen, Kid Auto Races at Venice, der Kamera aus dem Weg zu gehen, verkratzte uns kräftig das Glas, hinter dem wir saßen und glotzten, und sagte damit: »Ja, schaut her! Her zu mir! Wie ich die Kurve kratze! Beißt euch durch! Hinterlaßt Spuren!« Jedes Kind hat ihn wortlos so verstanden.

Wieder im Dunkeln.

Acht Jahre später.

Wir saßen im Kino, dreizehnjährig, ließen uns von Doktor Schiwago überrollen, verliebten uns alle in Julie Christie, die Mädchen in Omar Sharif. Aber spätestens auf dem Nachhauseweg, als ich ihre Augen nicht vergessen konnte, hatte ich eine zweite Geliebte: die Frau, die Schiwago zurückgelassen, der er untreu geworden war und die, wie wir wußten, »in Wirklichkeit« Geraldine Chaplin hieß, Charlies Tochter.

Die von Schiwago zu Unrecht Verlassene war, so schien es mir, in ihrem Verlassensein, ihrem verlassenen Treubleiben, nur noch schöner geworden, hatte sich ganz in ihre Augen zurückgezogen, diese zu schwarzen Schlitzen geschlossen, auch die schreckweiße Haut ihres Körpers so eng um sich gespannt, daß es mich noch in der Erinnerung überkommt, wie sehr man als Junge die Arme um sie legen, sie wärmen und lebenslang liebhaben wollte.

Im selben Jahr entdeckte ich auf dem Schulhof eine Quintanerin, die Geraldine Chaplin ähnlich sah. Und wie diese schien sie sich ihrer irrsinnigen, eigenartigen Schönheit überhaupt nicht bewußt. In fliegendem Lauf, aus der Mitte des Flüsterbogens, den zwei Freundinnen um sie schlossen, stieß ihr Bild in mich, verschlug mir schwertstreichs den Atem: CHAP.

Während jeder Schulpause gab es jetzt nur eines: sie zu finden, sie zu sehen und – vielleicht – von ihr gesehen zu werden. Sie anzusprechen, hielt ich seit ihrem Auftritt in unserer Aula für ausgeschlossen. In Anwesenheit aller Schüler hatte sie auf ihrer Querflöte Debussys Syrinx gespielt. Syrinx, das ist die Flöte des Pan. Aber auch der Name des Mädchens, das sich dem Gott noch unter der Hand ausgelöscht hatte, verwandelt entkommen war. Panisch-chaplinesk war auch meine Reaktion: unnahbar war sie jetzt, denn »niemand kam an sie heran« – aber auch grenzenlos begehrenswert.

Einmal, wieder beim Gehen, auf dem Pausenweg, hielten ihre Mitengel überraschend, umstanden sie schützend. Scheinheilig mußte ich weiterlaufen, wollte den Deckmantel des lässigen Pausenschlenderers nicht verlieren. Als ich nahekam, verlangsamte ich doch, denn ich sah: Sie hatte einen ihrer Zöpfe gelöst, um ihn mit schnellen Fingern neu zu flechten. Sekundenlang glaubte ich genau zu wissen, wie fließend-glatt ihr Haar sich anfühlte, wie kühl und dichtgepreßt es in den schwarzen Zopfspangen stak, die ihre Fingerspitzen abschließend berührten. Ich war an der Gruppe fast schon vorbei, da blickte sie auf und sah mich: sehen. Errötete, als schaute ich auf eine Blöße. Strich sich den Zopf über die Schulter und lächelte mir zu.

Warum bin ich damals weitergegangen?

She sends me. Diese heute veraltete Redensart Verliebter war in den USA der fünfziger Jahre noch oft zu hören. Ende der Sechziger entsprach ihr dann: she turns me on (sie erregt mich). Aber in she sends me war noch das Bild der Reise beschlossen, Reise ins Reich der Gefühle, Bild des Reisenden, der der »Senderin« zusingt: I would do anything for you. Tödlich-wörtlich ist das zu nehmen, bis zur Selbstaufgabe, Gefangenschaft, grausam genug. Denn der »Gesandte«, dieser reisend Liebende, dient immer. Dient – ohne ’s zu wissen – dem Gott, Eros, dem alles Lieben, alles Fragen gilt. Dem daher alle großen Reisen gelten. He sends you.

In der Nacht, die über meine Reise nach Los Angeles und meine nächsten 22 Jahre entscheiden sollte, saß ich Rücken an Rücken mit einer amerikanischen Anglistikprofessorin der Freiburger Uni. Unter der Leitung eines englischen Regisseurs probten die Lehrkräfte des Fachbereichs Anglistik eine Aufführung von Arthur Millers The Crucible – im Original. Ich war der einzige Student, der mitwirken durfte. Rücken-an-Rükken war eine exercise