Meine Stadt - Xi Xi - E-Book

Meine Stadt E-Book

Xi Xi

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Beschreibung

Kann es ein Leben ohne Hongkong geben? Nicht für Aguo, den neunmalklugen, stolzen Bürger der Stadt. Mit seiner Schwester Afa lebt er im Haus der Tanten, genannt »die Lotusblumen«. Oder, an ihren übel gelaunten Tagen, »die Lotuswurzeln«. Aguo wundert sich über alles und jeden in der Schule, mutiert zum leidenschaftlichsten Elektroinstallateur der Stadt und lernt auf seinen Streifzügen durch das Hongkong der 70er Jahre die gesamte Bevölkerung kennen: Müllsammler und Telefonistinnen, Seemänner und Tischler. Sie alle sind vom Festland hier gestrandet, mit sehnsüchtigen Herzen und pompösen Plänen. Doch das Leben in der Stadt gestaltet sich reicher an Hindernissen als gedacht. Was Aguo, auf einem Telefonmast sitzend, nicht davon abhält, begeistert vom ewigen Leben Hongkongs zu träumen.

Xi Xi hat Generationen von Leser:innen geprägt – nun endlich kann man sie auch auf Deutsch entdecken. In ihrem Kultroman über Hongkong erzählt sie rasant und fantasievoll die stürmischen 70er Jahre der Metropole, die bis in die Gegenwart weisen – es schafft damit einen wunderschönen, virtuos verspielten Stadtroman.

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MOBI

Seitenzahl: 318

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


Cover

Titel

Xi Xi

Meine Stadt

Roman

Aus dem kantonesischen Chinesisch und mit einem Nachwort von Karin Betz

Suhrkamp

Impressum

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Die Originalausgabe erschien vom 30. Januar bis 30. Juni 1975 als Serienroman in der Literaturbeilage des Hong Kong Express sowie 1999 unter dem Titel 我城 bei Hung-fan Bookstore, Taiwan. Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e.V. für die großzügige Unterstützung ihrer Arbeit. Die Übersetzung aus dem kantonesischen Chinesisch wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der Bibliothek Suhrkamp 2023.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: Nurten Zeren, Berlin

Umschlagfoto: aledettaale/iStock by Getty Images (Strommast mit Kabeln)

eISBN 978-3-518-77556-1

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

1

2

3

4

Zeit: Acht Uhr morgens

Ort: Das Wohnzimmer

Personen: Zwei Menschen

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

Menschen: Einige

Und jetzt: Hunde

Und jetzt: 709

Und jetzt: Die Straßen

Und jetzt: Auf dem Land

Und jetzt: Maschinen

17

18

Nachwort zur deutschen Übersetzung

Informationen zum Buch

Meine Stadt

1

Ich nicke. Klar. Was hatte ich schon zu sagen außer einem Nicken. Ein altes Wohnhaus, ein witziges Haus mit siebzehn Türen, und sie sagen: Ihr könnt hier wohnen.

»Ihr«, das sind meine Mutter Siusiu, meine Schwester Afa und ich, Aguo. Und »sie«, das sind die Schwestern meines Vaters, zwei sind die jüngeren und eine ist die ältere Schwester. Gestern früh, nein, den halben Vormittag lang musste ich nachdenken, bis mir einfiel, dass ich ihnen schon zwei Male begegnet bin. Beim ersten Mal, das weiß ich noch genau, sahen sie aus wie Lotusblumen, also hell und strahlend. Beim zweiten Mal sahen sie aus wie Lotuswurzeln, grau und schlammig.

Heute kamen sie zu mir.

– Heute wird nicht geschwommen

sagten sie. Als wären sie Königinnen. Sie haben mich mitgenommen, um das Haus anzusehen, und ich bin mitgekommen und sehe es mir an. Man sieht, dass das Haus und seine Häuserfreunde in einer Weise aufgereiht sind, die ihnen Freude macht, wie ein Wald, auf beiden Seiten der Straße. Das Haus selbst, es steht an der Straßenecke, weicht vor der Straße zurück. Während die anderen Häuser hoch sind, ist es niedrig; während die anderen Häuser fröhlich und lebhaft sind, ist es täppisch und lachhaft. Dabei fällt mir ein: Es ist genau wie ich, Aguo. Es scheint zu schlafen, darum lasse ich es schlafen. Obwohl es draußen nicht besonders kalt ist, kauert es sich zusammen, kuschelt sich in seine bleichen Steinmauern wie in eine warme Strickjacke, nimmt einen dicken Wollschal dazu. Und Handschuhe. Und Stricksocken.

Im Erdgeschoss hat es eine Gittertür mit fünf Vorhängeschlössern, dahinter liegt eine Eingangstür mit Schnappschloss, und hinter dieser Tür liegt eine Treppe, mit Stufen so breit, dass fünf Aguos nebeneinander draufpassen.

– Im ersten Stock könnt ihr wohnen

– Im Erdgeschoss wohnt der Türwart Abei

sagen die Lotusblumen. Sie sagen noch, dass sie nicht wissen, wann sie zurückkommen werden, in vielen Jahren vielleicht, vielleicht nie. Zu an-stren-gend, zu un-wür-dig, sich um ein Nest wie dieses zu kümmern, nicht besser als in der Chrysanthemenzeit geernteter Longjing-Tee neunten Grades, blabla. So reden sie und ziehen dabei die Brauen hoch, plustern dabei die Straußenfedern auf ihren Schultern auf, rosa Straußenfedern. Heute sind sie Lotusblumen.

Wir steigen zusammen die Treppe hinauf, die Stufen beantworten jeden unserer Schritte, ta-tapp, ta-tapp; mal antworten sie leise, mal laut, im immergleichen Rhythmus, betont, ta-tapp; mein Kopf ist plötzlich voll von Geschichten. Ich glaube, ich bin in einem echten Wald, wo barfüßige Kopfjäger die Trommel schlagen, ta-tapp. Nein, ich glaube, ich bin auf einer riesigen Kirchenorgel, wir hüpfen über die Tastatur und spielen zusammen ein Lied, eins wie Wir backen Brot, wir backen Brot, wir haben keine Not. Aber ich glaube nicht, dass den Lotusblumen dieses Lied gefallen würde. Herumlaufen gefällt ihnen auch nicht besonders. Sie zeigen mit der Hand nach vorn: Ich soll mich allein umsehen, alle Räume inspizieren, Wände Türen Fenster und Stühle Tische Schreibtische und Schalen Schüsseln Teller und Hände Füße Kopf und Berge Flüsse Felder und Hunde Kühe Schafe. Also gehe ich mich umsehen, beäuge die Decken und den Treppenabsatz und öffne die erste Tür, und dann geht es Tür-auf-Tür-zu, ich weiß nicht wie oft.

Ich begegne unendlich vielen Türen, unendlich vielen. Die größte hat zwei Flügel, die sich nach innen schließen, und ist so schwarz wie getrocknete Datteln. Als ich sie das erste Mal treffe, ist sie geschlossen, stolz und herausfordernd steht sie vor mir. Ich drücke sie auf, mit aller Kraft, und öffne sie einen Spalt weit; weit genug, um zehn Katzen hereinzulassen.

– Auaaa

schreit sie, ein langgezogener Schrei, und wirft mir brotkrumendicken, seifenflockendichten Staub auf den Kopf, ich muss gleich zweimal niesen. Leise rieselt der Schnee, denke ich. Dann treffe ich die Fenster. Die Fensterscheiben haben wellenförmige Reliefs, wie uralte Orakelknocheninschriften. Durch diese Fenster erkennt man nicht, was für Dinge auf der anderen Seite liegen, keine Farben, keine Formen; was auf der anderen Seite liegt, dringt niemals zu dieser Seite durch. Nur das Sonnenlicht dringt hindurch, aber es ist, einmal auf dieser Seite angelangt, nicht mehr dasselbe. Ich betrachte es gründlich; ja, es sieht aus wie Granny’s Oatmeal.

Danach, neben einer schief in den Angeln hängenden, mit einer dicken Staubschicht beladenen Tür, begegne ich einer plumpen, von Rostflecken übersäten Badewanne, der ich mit ausgesuchter Höflichkeit einen guten Tag wünsche. So geht es weiter, zu einer Spitzbogentür (das ist eine Tür, die oben kantig zuläuft wie eine Scheibe Krustenbrot). Dahinter liegt eine Galerie (die würde geschmückt mit türkischen Wandteppichen bestimmt wunderschön aussehen). Die Galerie mündet in einen Brückengang (das ist ein Weg auf Stelzen), darunter liegt ein Himmelsbrunnen (das ist ein offener, kleiner Hof). Im Hof gibt es Bäume (einer davon ist eine Guavenart, die anderen sind keine Guavenart). Die Zweige bilden sehr feine, vom Sonnenlicht eingerahmte Muster, die sie offenbar den bunten Fliesen auf die Nasen kleben wollen (damit der gute Guavenduft darin hängen bleibt).

Ich begegne Vögeln, lauter Spatzen, die gerade quer über den Deckel des Wassertanks auf dem Dach einen Hüpfwettbewerb veranstalten. Ab und zu breiten sie die Flügel aus und arrangieren dabei zusammen mit den fleckigen Bambusstangen zum Wäscheaufhängen und den sandigen, klobigen, narbigen Blumenkübeln die Farbschattierungen neu.

Anschließend nicke ich den Lotusblumen zu.

– Geh zu deiner Mutter und sag es ihr

sagen die Lotusblumen.

Mutter sagt nichts.

Es ist Sonntag. Sonntag ist wie jeder andere Wochentag. Regelmäßig passieren verschiedene Sachen, manche neu, manche sehr, sehr alt. Heute passiert etwas sehr Altes. Schon heute früh waren Mutters Augen rot wie Tomaten und dick wie Kürbisse. Jetzt ist sie umringt von sieben oder acht Frauen, die ihr aus allen Richtungen ihre feisten oder schmalen, langen oder kurzen, rechten oder linken, aber immer sehr weißen Hände entgegenstrecken, um ihr zu helfen. Ihre Hände sehen deshalb so weiß aus, weil sie alle Schwarz tragen. Allerdings leuchtet auf den Fingern der ein oder anderen Hand hübscher roter Nagellack. Abgesehen von ihren auffällig weißen Händen haben die Frauen in Schwarz noch etwas gemeinsam, sie alle besitzen nämlich wiedererkennbare, sehr verschiedene Köpfe und Gesichter.

Diese Gesichter verstecken sich normalerweise zu Hause in unserem Fotoalbum. Als das Album noch neu war, war es ganz flach, inzwischen ist es zu einem dicken Rugbyball angeschwollen. Wenn man nicht aufpasst, fallen stapelweise Gesichter heraus. Manche der Gesichter tauchten zum Beispiel zusammen mit dem schönen runden Vollmond am Tag des Mittherbstfestes zum Mondkuchenessen auf, andere zum Frühlingsfest zwischen den Bergen von Apfelsinen, Likörflaschen und Pralinenschachteln, jeweils hinter großen roten Briefumschlägen. Heute haben sie die Regeln gebrochen, sind alle auf einmal aufgetaucht und tragen alle die gleichen, gar nicht so hässlichen, wenn auch schlecht geschnittenen schwarzen Kleider, aus denen die heute so auffälligen weißen Hände ragen, die sehr beflissen, sehr behutsam um Mutter herumstreichen.

Vor mir steht eine weitere Reihe schwarzer Kleider, aus dem gezackten Rand ihres oberen Saums ragen drei seltsame Gesichter hervor, alle drei Lotuswurzelgesichter. Eins davon (Mitleidsmodus) drückt gewissenhaft die Gefühle hinter dem Gesicht aus, das heißt, die Augen sind geschlossen und die Augenbrauen sind zusammengezogen. Ein anderes (Sorgenmodus) wälzt Luft um, ob mit dem Mund oder mit der Nase, ist schwer zu erkennen. Das dritte (Verzweiflungsmodus) ist eigentlich kein Gesicht mehr, sondern nur zwei rote Ohren; der Rest, einschließlich einer Brille, ist säuberlich mit einem Taschentuch bedeckt, blau mit weißem Blumenmuster. Neben diesen Gesichtern, mit etwas Abstand, steht meine Tante Youyou, ganz allein. Stimmt nicht. Bei genauerem Hinsehen bemerke ich meine Schwester Afa neben ihr. Meine Tante steht da wie eine deprimierte Vogelscheuche, eine von denen, die mit hängendem Kopf auf einem großen Stein stehen. Ihr Mund ist geschlossen, die Lippen sind fest zusammengepresst. Meine Schwester Afa hält sich an ihrer langen schwarzen Robe fest und verbirgt ihr Gesicht in den Falten. Hin und wieder lugt ihre Schläfe oder ihr Hals daraus hervor, wie ein Eichhörnchen aus seinem Bau. Das Papiertaschentuch in ihrer Hand ist nur noch ein ausgefranster Baumwollfetzen, den sie mal auf ihren Mund, mal auf die Nase presst.

Ich stehe etwas abseits, neben einem Haufen dicker Seile, die zuerst reglos daliegen, bis jemand vor mir daran zieht und sie eilig davonschwimmen, wie Wasserschlangen. Vor mir stehen nämlich eine Menge Leute, einer davon ist hochgewachsen und hat etwas Soldatisches, vielleicht war er im Krieg Offizier (Kommandomodus), und erteilt Anweisungen. Mir will partout nicht einfallen, wie er heißt. Hinter ihm eine ganze Reihe Köpfe. Mit Gehirnen. Nehme ich an. Keinen dieser Köpfe kenne ich, die Gehirne auch nicht. Jedenfalls sind alle Anwesenden ausgesprochen höflich und gut angezogen, als hätten sie sich hier zu einer wichtigen Generalprobe versammelt. Tatsächlich dauert diese Probe schon ziemlich lange, weshalb einer, sein Haar ist etwas spärlicher als das von dem Mann daneben, ausgiebig gähnt. Dann hebt er die linke Hand und vollführt die folgenden Gesten:

1.Er streckt den Arm schnell nach vorn aus,

2.beugt den Arm wie zu einer Respektsbezeugung vor der Brust,

3.starrt auf sein Handgelenk.

Bei der alten Sache, die heute passiert, spielt ein Sarg eine Rolle. Während der eine auf seine Armbanduhr starrt, tragen andere den Sarg ein paar Stufen hinauf. Die dicken Seile und der Sarg sind miteinander zu einem denkbar praktischen Lastenaufzug verknüpft worden. Die Maserung der Seile und die Maserung des Sargs ergänzen sich so perfekt wie ihre Farben. Das ist der Augenblick, in dem viele der Anwesenden eine Erkältung bekommen.

– Dann auf Wiedersehen!

sage ich.

– Wiedersehen

sage ich. Nachdem ich das gesagt habe, fällt mir ein, dass ich, sobald ich zu Hause bin, unbedingt ein Beauty Sweet essen muss. Beauty Sweet heißen die Erkältungsdrops, von denen wir immer welche dahaben. Jetzt legt Mutter einen Strauß in Zellophan gehüllte Schnittblumen auf die Kombination aus Sarg und Seilen. Kaum dass die Blumen auf diesem speziellen Lastenaufzug zu liegen kommen, drücken sie auf »B«.

Es ist ein heller, heiterer Tag, die Sonne strahlt schon seit heute früh. Sie scheint auf das gelb-weiß gestreifte Aufblaspferdchen, das dort drüben auf dem Schwimmbecken zwischen den Hofmauern treibt. Sie scheint auf die Colaflasche, die auf dem Abfallhaufen gegenüber der Peak-Pagode liegt. Sie scheint auf das Heck des Flugzeugs, das durch eine Wolke in Lämmchenform fliegt. Solcherlei Dinge zu tun, gefällt der Sonne an sonnigen Tagen. Als die Blumen mit dem Aufzug nach unten fahren, fällt die Sonne auf ihre Zellophanhülle und auf die silbrig glänzenden, zu einer Schleife gebundenen Bänder, aus denen sie Lichtpfeile heraufschickt, die in viele Augen stechen. Irgendwann sind die Lichtpfeile aus, die Blütenblätter liegen im Schatten, und das Lächeln hat auf den Blumen keinen Platz mehr.

Mutter kniet sich hin und nimmt langsam, sehr langsam, eine Handvoll Erde auf. Ihre Bewegung ist so bedeutsam langsam, dass sie einen Trend setzt, den der Wind verbreitet wie eine ansteckende Krankheit. Auf einem nahe gelegenen Fußballfeld erfasst er den Schiedsrichter, die Linienrichter, die Spieler beider Mannschaften, sogar den Fußball, und das Spiel wird zu einem Zeitlupenspiel. Anschließend erfasst er den Fluss, der nicht mehr weiterfließt, eine Krähe, die in der Luft stehen bleibt. Dann, plötzlich, wird die Krähe zu einem Gewicht und fällt mit einem lauten Platschen auf Mutters Kopf.

Mutter öffnet die Finger, und die Erde rieselt hinab.

– Es regnet!

– Es schneit!

Das müssen die Rufe der Ameisen und der Raupen sein. Aber Mutter hört sie nicht, will sie nicht hören, sie ist offenbar entschlossen, von heute an eine professionelle Gärtnerin zu werden, die geheimnisvolle Pflanzen züchtet, und alle unterstützen sie dabei und nehmen eine Handvoll Erde auf, um die Saat zu bedecken.

Männer in Arbeitskleidung schlitzen große Säcke auf und halten sie mit der Öffnung nach unten, auch sie fleißige Gartenhelfer. Dann verteilen sie Kalk, wie Dünger, bis alles mit einer reinweißen Schicht bedeckt ist. Alle vorhandenen Füße stapfen darüber und treten sie fest.

– Dann auf Wiedersehen!

sage ich. Als ich das gesagt habe, beschließe ich, kein Beauty Sweet zu lutschen, wenn ich zu Hause bin. Ich nehme lieber ein Delicious. Das ist der Name der anderen Sorte Erkältungsdrops, die wir immer dahaben, sie wirkt viel besser als Beauty Sweet.

Auf Afas Pferdeschwanz ist eine üppige weiße Stoffblume mit sehr vielen kleinen Blütenblättern befestigt. Mit dieser weißen Stoffblume hat es zu tun, dass die Lotuswurzeln gesagt haben:

– Ihr könnt hier wohnen

Mutter sagt nichts. Der Wind nimmt auf den Flügeln des namenlosen Engels Platz. Die Treppenstufen vor dem weißen Kalkteppich starren sie mit kalten Augen an. Und sie blickt bei jedem Schritt zurück.

Sonntagvormittag. Auf einer Rasenfläche von undefinierbarer Form ist eine größere Menschenmenge versammelt. Um die ganze Rasenfläche mit den vielen Menschen zieht sich ein schwarz glänzendes Geländer, mit Verzierungen der Sorte altehrwürdige Symbole.

Wenn die Sonne auf das schwarz glänzende Geländer scheint, bekommt man Lust, rüberzuklettern und auf der leicht abschüssigen Rasenfläche Purzelbäume zu schlagen. Was allerdings noch nie jemand getan hat. Wem auch immer einfällt, dort Purzelbäume zu schlagen, der lässt die Idee schnell wieder fallen und läuft stattdessen zu dem nahe gelegenen Platz gegenüber der Bank, schaut sich an, wie das Wasser der Fontäne auf die bunten Kacheln spritzt, isst ein Eis am Stiel und geht nach Hause.

Die Abfalleimer auf dem Platz sind heute gut gefüttert worden. Auf einer der Zeitungen, mit der sie gefüttert worden sind, stehen Sachen wie diese:

Das Zentrum des Erdbebens der vergangenen Nacht lag auf der Landstraße von Kelakunlun im Bezirk Badan, vierunddreißig Meilen nördlich von Tagete.

Heute stehen also viele Menschen auf der Rasenfläche, aber wie viele sind viele? Man ist versucht zu raten. Die einen sagen fünftausend, die anderen siebentausend. Wieder andere sagen neuntausendzweihundertfünf. Bei der letzten Zahl, neuntausendzweihundertfünf, scheint es sich um eine behördlich geprüfte und verlautbarte Zahl zu handeln. Jeder denkt, der Leiter der Pressestelle der Regierung wäre hier.

Aber dann ruft jemand laut: Dreizehntausend! Ein nahe gelegenes Auktionshaus versteigert eine Keramikvase aus der Zeit des Kaisers Qianlong. Der Auktionator hört dreizehntausend, wiederholt die Zahl noch drei Male, und als niemand ein höheres Gebot abgibt, lässt er lautstark seinen Hammer niedersausen. Es kommt nicht oft vor, dass hier sonntags Antiquitäten versteigert werden.

Hier ist Sonntag ein Feiertag. Die Bewohner der Stadt sind entweder noch im Bett oder sie fahren irgendwohin, zum Schwimmen, Wandern, Angeln oder auch zum Bummeln und Leutebeobachten; sie sind auf dem Weg zu einem Hotel für einen Dim-Sum-Sonntagsbrunch, oder sie stehen um Tickets für die Frühvorstellung an; oder sie essen schon ihre Dim-Sum, angeln schon ihre Fische.

Nicht jeder geht gerne angeln. Manche mögen es, mit einem Extra Eye über die Straße zu gehen, das heißt, ein Auge sieht nach rechts, das andere nach links und noch eins wieder nach rechts. Walk slowly. Straße überqueren langsam.

Einer von denen mit dem Extra Eye trägt eine Reisetasche über der Schulter, in der zwei Gänse Platz hätten. Die Tasche ist mit einem Reißverschluss verschlossen und wirkt sehr schwer, so als ob tatsächlich zwei Gänse drin wären. Auf der Tasche prangt das Bild eines Flugzeugs, das um den Globus fliegt. Man stelle sich vor: Flugzeuge, die niemals einen Flughafen zum Landen finden, und eine Welt, die zu dicht bevölkert ist, um Platz für Landebahnen zu haben.

Obwohl er einer von denen mit einem Extra Eye ist, hält er mit beiden Händen noch dazu mehrere runde, lange und kurze Teile einer Fotoausrüstung. Als er an der Rasenfläche vorbeigeht, halten ihn die Gräser für einen Jäger.

– Schnell, versteck den Specht

– Schnell, versteck den Hasen

sagen die Gräser. Dabei hat sich der Mann mit dem Extra Eye längst entschlossen, oben im Großbaumpark Bilder zu schießen, dort blüht der Hahnenkamm. Allein der Gedanke an die lächelnden Hahnenkammblüten lässt ihn in großen Schritten dorthin eilen, er scheint zu befürchten, dass ihm eine Minute später schon andere Linsen die blühenden Gesichter weggeschossen haben. Hinter ihm gehen zwei mit einem Spiegel. Als sich ihr Spiegel beim Überqueren des Rasens mit Gesichtern füllt, verlangsamen sie sofort ihre Schritte.

– Oh, so viele Menschen sehen in unseren Spiegel!

sagen sie und halten inne, damit die vielen Gesichter sich ausgiebig betrachten können; dann tragen sie den Spiegel in ein großes, gläsernes Gebäude.

Der Mann an der Rezeption des gläsernen Gebäudes liest gerade eine Zeitung. Was er liest, kann niemand wissen, denn die Wand hinter ihm ist nicht von der Art, die Geheimnisse ausplaudert. Der soeben angekommene Spiegel muss erst noch aufgehängt werden. Würde man sich allerdings direkt vor den Rezeptionisten stellen, nah genug, um sein Räuspern zu vernehmen, könnte man den Leitartikel auf der Vorderseite der Zeitung lesen; dort steht:

Vielerorts wird Reis heutzutage in Plastiksäcke verpackt, weshalb die Nachfrage nach Jute permanent schrumpft. Eine Bevölkerung von 1400 Menschen pro Quadratkilometer wird sich nicht vom Juteexport ernähren können.

Abgesehen von den zusätzlichen Gesichtern auf der abschüssigen Rasenfläche ist heute ein Tag wie jeder andere. Die Autos fahren aus Richtung Großbaumpark die Staatsstraße herunter, vorbei an der Station für die Bergkletterbahn zum Kreisel, wo sie immerzu im Kreis fahren, rund, rund, kugelrund, rund wie Chrysanthemenkringel, Hirsekrapfen, Klebreisbällchen. Auf dem Balkon des zweigeschossigen Hotels gegenüber dem Kreisel steht eine Gruppe Westmenschen und bewundert den Osten, der sich vor ihren Augen ausbreitet.

Weiter oben steht das Stars and Stripes-Beziehungspflegeamt. Da heute Sonntag, heiliger Ruhetag ist, hat es geschlossen. Vor dem Gebäude arbeiten ein Reinigungstrupp und ein Wasserwagen gemeinsam daran, den Asphalt zu säubern. Während der Wasserwagen Wasser versprüht und die beiden riesigen, runden Bürsten unter seinem Bauch wirbeln lässt, hat sich ein Haufen Altpapier gebildet, der darauf wartet, auf den Müllwagen geladen zu werden.

Da kommt ein Mensch, der wie eine rostige Schere geht, und zieht ein Stück einer zerfledderten Tageszeitung aus dem Papierhaufen. Das Reinigungsteam beobachtet ihn natürlich dabei, aber wer wollte ihm verwehren, in den Genuss der Lektüre einer alten Zeitung zu kommen, in der nichts steht außer:

Es wird erwartet, dass weder die strategischen Posten Metulla und Ein Gedi noch die Abu Rudeis-Ölfelder in Sinai aufgegeben werden.

Der Mann, der diese gedruckten Worte aufgelesen hat, stellt sich sogleich auf ein Bein wie ein Storch und reibt die Zeitungsseite gegen seine Schuhsohle. Er muss sich gehörig anstrengen, um den hartnäckig an der Sohle klebenden Kaugummi loszuwerden. Danach wirft er Zeitung und Kaugummi zurück auf den Abfallhaufen und geht mit flinken Schritten davon. Deshalb klebt der Kaugummi jetzt fest auf den Ölfeldern von Abu Rudeis.

In diesem Augenblick versammelt sich eine Menschenmenge vor der Umzäunung der abschüssigen Rasenfläche. Es klingt, als ob ein Schuss fällt, wie zu Beginn eines Rennens. Das Ergebnis: Innerhalb der Umzäunung sind mehr Menschen, aber außerhalb herrscht mehr Lärm.

– Ach, ein Volksbegehren

Der Mann im Seufzmodus hatte angenommen, dass all diese Menschen auf dem Rasen zur Bewerbung um die Hubschrauberpilotenlizenz anstehen würden.

– Hat jemand zum Protest gegen den Sonntagsregen aufgerufen?

Das sagt ein Mann mit einem großen schwarzen Regenschirm unter dem Arm. Gerade als alle miteinander smalltalken wollen, wird ihre Aufmerksamkeit an einen Neuankömmling auf einem Motorrad weitergereicht. Der Neuankömmling trägt eine Windjacke, einen Sturzhelm und Turnschuhe mit Spikes. Er gebietet dem Motorrad, sich am Straßenrand hinzulegen; dann stürzt er sich in die Menge und zwängt sich nach vorn durch, bis seine Nase beinahe das Eisengitter rammt. Er verschränkt die Hände und hängt die Daumen in zwei Ohren seiner fetten Hose ein; diese Ohren dienen eigentlich dazu, einen Gürtel gerade zu halten. Die Daumen des Mannes hängen so schwer in den Ohren, dass seine Hose fast herunterrutscht.

– Gibt es hier ein Lagerfeuer?

– Gibt es hier ein Lagerfeuer?

fragt er immer wieder. Das ist einer, der es mag, wenn etwas los ist. Aber auf dem Rasen gibt es nur Sonnenschein, kein Feuer, und er ist enttäuscht.

Ein anderer Mann, der ebenfalls auf einem Motorrad heranbraust, ist ein Reporter; er hat einen Freund mitgebracht. Als sie ankommen, nimmt der Freund ihm den Helm ab, befestigt ihn am Ende des Motorrads und braust laut knatternd davon. Der Mann mit den Daumen in den Ohren seiner Hose sieht das davonfahrende Motorrad, rennt wie der Blitz durch die Menge zu seinem Motorrad zurück, tritt den Kickstarter und verfolgt das andere Motorrad. Jeder kann hören, wie er ruft:

– Auf ein Wettrennen!

– Auf ein Wettrennen!

Schon bald ist er nicht mehr zu sehen. Dass der Mann, der gerade angekommen ist, ein Reporter ist, weiß man, weil an seinem Hemd ein Journalistenausweis glänzt. Darauf ist ein Foto von ihm, ein Farbfoto. Erst geht er ein paar Schritte, dann rennt er und ist im Nu auf dem Rasen.

– Gibt es denn keine andere Lösung?

Mit einem Mikrofon, das aussieht wie ein Gießkannenkopf, fragt er die Leute auf dem Rasen nach ihrer Meinung.

Zur gleichen Zeit, am Rande des Platzes, der unweit der Rasenfläche liegt, verlässt eine Fähre die Anlegestelle. Ein Mann, der neben einer Reihe Rettungsringe an Deck sitzt, summt mit, als der Big Ben am Hafen seine angestammte Melodie erklingen lässt, und summt auch die folgenden Glockenschläge mit, bis zehn. Er weiß nichts von der Menge auf dem Rasen, er weiß nicht einmal etwas von der Existenz einer solchen Rasenfläche in der Stadt. Er sitzt einfach an Deck, wirft hin und wieder einen flüchtigen Blick auf die ruderlosen Sampans und das Meer, in dem es so viele Dinge gibt, von denen man an der Oberfläche nichts sieht. Neben ihm liegt ein Bündel, das er auf dem Sitz abgelegt hat, als er an Bord kam. Es handelt sich um getrockneten Fisch, der in die Seite einer alten Zeitung eingeschlagen ist, das Papier schon rissig und zerknittert und voller Ölflecken. Trotzdem kann man gut lesen, was dort gedruckt steht:

Ein leuchtend blaues, von drei Lichtkreisen umgebenes Objekt wurde während eines Zeitraums von drei Stunden wiederholt am Himmel über Australiens Ostküste gesichtet.

Da dem Besitzer des Trockenfischpäckchens auf der Fähre nichts zu tun bleibt und es sich um einen herrlichen Tag handelt und die Meeresbrise so angenehm über das Deck weht, nickt er bald ein.

2

Sonntagnachmittag. Manche sagen: Es ist Sonntag, was soll man da schon tun, spielen wir doch einfach Mahjong. Sie sind zu viert, genau die richtige Anzahl Spieler, also ziehen sie den Klapptisch hervor, stellen ihn auf und schütten eine Ladung durchscheinender Geleebonbons auf die Tischplatte.

Wenn sich vier um einen Mahjong-Tisch versammeln, herrscht sofort Remmidemmi. Jeder knallt seine Spielsteine möglichst laut auf den Tisch, als ob immer der gewinnt, der den größten Lärm macht. Sieg hin oder her; besser, man nimmt vorsorglich eine Siegerpose ein. Wenn vier um einen Mahjong-Tisch versammelt sind, schreien sie beim Herumschieben der Steine gerne laut herum, in einem fort kommentieren sie, was gerade passiert, was vorhin passiert ist, was gleich passieren wird.

Zusätzlich zum lauten Spielsteineknallen und dem lauten Spielkommentieren schalten sie oft noch den Fernseher ein, damit der Spaß perfekt ist (es ist natürlich nicht die Schuld des Fernsehers, dass sie ihn zu diesem Zweck einschalten). Das Unterhaltungsprogramm von sieben Fernsehsendern inklusive Werbung sorgt für ausreichend zusätzlichen Gesprächsstoff. Deshalb könnte die Stimmung in diesem dreihundert Fuß großen Raum, der Wohn- und Schlafzimmer zugleich ist, nicht munterer sein.

Die Wohnung, in der die vier spielen, ist ziemlich klein. Wie soll man sagen; das ganze Stockwerk besteht aus einer einzigen Wohnung; genauer gesagt, ist es ein dreihundert Fuß großes Zimmer (dass es ein dreihundert Fuß großes Zimmer ist, ist natürlich nicht die Schuld des Dreihundertfußzimmers). Der Raum beinhaltet eine Küche, in der nicht einmal der Kühlschrank Platz findet, und ein Badezimmer, in dem ein paar Holzsandalen kaum zwei Schritte gehen können. Die Badewanne sieht man beim Hereinkommen nicht, denn sie befindet sich auf dem Bild, das hinter der Tür hängt (dass sie sich auf dem Bild hinter der Tür befindet, ist natürlich nicht die Schuld des Bilds).

Ein Dreihundertfußzimmer kann man selbstverständlich in mehrere, noch kleinere Zimmer unterteilen. Am Eisengitter der Eingangstür im Erdgeschoss klebt ein roter Zettel, auf dem deutlich zu lesen steht: Mittleres Zimmer zu vermieten. Wer diesen Zettel liest, sieht sich auch das Zimmer an, sagt: Ach so, es ist ein Wandschrank in einem brandneuen Design, der durch seine große Schlichtheit überzeugt, und empfiehlt dem Besitzer, ihn an die Vereinigung für Mediterrane Kultur zu schicken, damit sie ihn nächstes Jahr im Herbst auf der Einrichtungsmesse ausstellt.

Die Besitzer der Wohnung, in der die vier zusammen Mahjong spielen, haben die Wohnung nicht aufgeteilt. Sie haben lediglich drei schwere, sperrige Hartholzbetten schön rechtwinklig und jeweils mit der Kopfseite gegen die Wand gestellt (dass sie lediglich drei schwere, sperrige Hartholzbetten schön rechtwinklig und jeweils mit der Kopfseite gegen die Wand gestellt haben, ist natürlich nicht die Schuld der Betten). Bei zwei der Betten handelt es sich sogar um Doppelstockbetten. Außerdem haben sie noch zwei Kleiderschränke, einen Esstisch und seine sechs Stuhlfreunde hineingezwängt, zwei Kampferholzkästen und zwei Kommoden, die zusammen einen Fernseher schultern. Bunt sind in der Wohnung nur die beiden Kommoden.

Obwohl der verfügbare Raum begrenzt ist, lassen sich die Mahjong-Spieler davon nicht stören. Es ist ihnen trotzdem gelungen, den Klapptisch neben der Tür aufzubauen, eine ganze Reihe Fernsehsendungen sind schon gelaufen. Gleichwohl bringt das Mahjong-Spielen in dieser Wohnung gewisse Schwierigkeiten mit sich. Zum einen gibt es bei Hitze keine Klimaanlage, nur einen elektrischen Ventilator, der fortwährend ihre Haare zerzaust und manchmal auch ihre Hirne. Zum anderen muss das Spiel jedes Mal, wenn es an der Tür klingelt, unterbrochen werden und zwei der vier Spieler müssen zur Strafe in der Küche stehen (dass sie in der Küche stehen müssen, ist natürlich nicht die Schuld der Küche), damit die Tür aufgemacht werden kann. Soeben haben sie vorgeführt, wie das funktioniert, denn Youyou ist zurückgekommen, in einem Paar grauer Sandalen.

Noch vor Kurzem hat Youyou sich in einem Paar weißer Sandalen bei einem Spaziergang entlang der Hauptstraße gesonnt. Der Ort ihres Sonnenbads liegt gleich vor dem Harbour Building, er nennt sich Schlangshatsui. Dort herrscht reges Kommen und Gehen, manche sitzen in der Sonne, manche sehen aufs Meer hinaus oder beobachten Schiffe. Manchmal führen die Matrosen vor, wie man auf Distanz Anker von Sand und Schlamm reinigt, indem man sie mit sehr langen Schläuchen abspritzt. Manchmal tummeln sich rings um die Schiffe Sampans, die ihnen das Gesicht waschen. Lauter Dinge, die man nicht zu Hause durch das Fenster sehen kann.

Das Harbour Building, dort wo Youyou spazieren war, ist winterwarm und sommerkalt und hat die Form einer Startbahn, die aufs Meer hinausführt. Es ist von drei Seiten von Wasser umgeben, nur eine hängt am Festland. An den von Wasser umgebenen Seiten ankern Schiffe, die Festlandseite mündet in eine lange Passage mit zahlreichen Geschäften. Die große Halle im Eingangsbereich liebt es, sich mit Blumengebinden zu schmücken und mit den Traditionen streitende Tische und Stühle auszustellen. Und Autos. Manchmal gibt es auch Immer-hereinspaziert-Konzerte. Deshalb drängen sich hier sonntags alle dicht an dicht.

Heute zeigte das Harbour Building eine Kunstausstellung. Gleich beim Betreten des Gebäudes stieß Youyou auf ein weiß lackiertes Ölfass, das auf dem Teakholzparkett der Lobby stand, mit einer Beschriftung an der Seite, in vielen bunten Lackfarben: Ich habe Hunger (dass das Ölfass Hunger hatte, war natürlich nicht die Schuld des Ölfasses).

Neben dem Ölfass befand sich ein aufgedrehter Wasserhahn, der mehr oder weniger runde Ringe ausspuckte. Der Wasserhahn ragte aus einem Bild mit einer weißen Schaumblase heraus, einer Blase, wie man sie aus Comics kennt. Sie driftete um die Öffnung des Wasserhahns herum; in ihr stand zu lesen: Ich habe Durst (dass der Wasserhahn durstig war, war natürlich nicht die Schuld des Wasserhahns).

Vor dem Ölfass lag ein breiter Rasenteppich, allerdings war das Gras schwarz (dass das Gras schwarz war, war natürlich nicht die Schuld des Grases), schwarz wie verkohlter Toast. Am Rand des Rasens stand ein eckiges Schild, auf dem die Aufschrift Rasen betreten verboten durch Mach mich wieder grün ersetzt worden war.

Am anderen Ende des schwarzen Rasens führte eine Treppe in den ersten Stock. Unter der Treppe hockte ein kleiner Junge mit einem Notizblock in den Händen. Die erste Seite war aufgeschlagen und man konnte lesen, was dort gedruckt stand.

Der Junge war kein Teil der Kunstausstellung, sondern half beim Verkauf der Lotterielose für den Kinderschutz. Als Youyou an ihm vorbeiging, sagte er

– Bitte kauf mir ein Los ab

Er war offensichtlich sehr erschöpft und hatte sich deshalb unter die Treppe gehockt.

An diesem Tag verteilte eine kleine Gruppe von lächelnden, ihren Mund vor Lächeln nicht zukriegenden Jugendlichen mit unordentlichen Haaren bedruckte Papierseiten an die Leute. Wer kein mit trompetenblasenden Engeln bedrucktes Papier haben wollte, ging ihnen im Zickzackkurs aus dem Weg. Einer aber riss ein Blatt an sich und sagte, er kenne das schon: Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend.

Andere wiederum hatten keine Zeit zum Lesen und stopften das Blatt Papier erst in ihre Taschen und danach in den Abfalleimer. Youyou stopfte es nicht in den Abfalleimer, sie las es. Folgende Sätze las sie:

Sonne weiße Sonne

Weiße Sonne weiße

Wenn ich morgens aufwache und einen schönen Tag erblicke, freue ich mich

Wenn ich morgens aufwache und einen schönen Tag erblicke, die Kühe fressen Gras und du trinkst Milch, freue ich mich

Wenn ich morgens aufwache und einen schönen Tag erblicke und die Kühe fressen Gras und du trinkst Milch und wir alle sitzen zusammen und lesen ein Gedicht, freue ich mich

Wenn ich morgens aufwache und einen schönen Tag erblicke und die Kühe fressen Gras und du trinkst Milch und wir alle sitzen zusammen und lesen ein Gedicht, in dem es heißt, ein Ehepaar mit neunzehn Kindern reitet lachend auf einem Nilpferd, freue ich mich

Freue ich freue

Ich freue ich

Als Youyou nach Hause kommt, bringt sie außerdem eine Schachtel Buntstifte mit und zwei Zeichenblöcke mit Kartonpapier.

– Hallo wie geht’s

sagt sie. Alle sagen irgendwas, mir geht’s gut wie geht’s dir und dann macht jeder, was ihm Spaß macht. Youyou zeichnet gerne. Sie setzt sich an den Esstisch, schlägt einen Zeichenblock auf und nimmt die Stifte aus der Schachtel. Dann zeichnet sie einen großgewachsenen Mann mit Locken, eine kleinwüchsige Frau mit zwei Rougeflecken auf dem Gesicht, neunzehn Kinder mit Ponyfrisur und Zöpfen, mit glattem Haar und lockigem Haar, die alle zusammen auf einem lachenden Nilpferd reiten. Youyou weiß nicht mehr, ob ein Nilpferd fünf oder vier Zehen hat, weshalb sie zu der Schatztruhe neben dem Teakholzbett rennt, um nach einem Band mit Abbildungen von Tieren zu suchen. Youyou hat eine Schatztruhe.

Youyous Schatztruhe, die früher einmal eine Apfelkiste war, ist mit allen möglichen Dingen vollgestopft. Der Band mit Tierbildern, nach dem sie sucht, liegt ganz unten. Immer, wenn sie ihn herausholen will, muss sie zuerst die anderen Sachen darüber herausnehmen und sie dann wieder zurücklegen.

Bei den anderen Sachen handelt es sich um: das Ausschlagpapier einer Bonbonschachtel, ein Stück unförmiges Schaumgummi, das irgendwann irgendwas gepolstert hat, ein hölzerner Fisch, der eigentlich nur ein Stück Holz ist, das in Fischform gebracht worden ist, ein hohes Glas mit einer Ausbuchtung am Rand, eine Weinflasche mit Hula-Hula-Rock, die Youyou auf der Straße gefunden hat.

Es gibt einen gewissen Jemand, dessen Blick auf die Dinge der Welt so aussieht:

Dinge, die man zur Dekoration ausstellen kann, wie zum Beispiel Orchideen, Schnitzereien. Fünf Punkte.

Dinge, mit denen man seinen Appetit stillt, wie Steaks, Schnecken. Dreißig Punkte.

Dinge, die man trägt, um auf der Straße Blicke auf sich zu ziehen, wie Pelze, Diamanten. Dreißig Punkte.

Dinge, die dir außerordentlichen Ruhm einbringen, wie literarische und künstlerische Meisterwerke. Hundert Punkte.

Dinge, für die man einen Orden bekommt, wie Wohltätigkeit, hohe Beamtenposten. Tausend Punkte.

Dinge, die man später einmal für astronomische Summen verkaufen kann, wie Häuser, Aktien. Dreitausend Punkte.

Die Dinge in Youyous Schatztruhe sind null Punkte wert. Deshalb ist Youyous Schatztruhe auch eher so was wie ein Mülleimer. Als sie endlich ihren Bildband findet, muss sie feststellen, dass das Nilpferd darin leider in einem Fluss steht und seine Zehen nicht zu sehen sind. Sie entschließt sich, fröhlich zu tun, was ihr beliebt, und zeichnet ein Nilpferd mit vier Zehen an jedem Fuß.

Nun erheben sich die Mahjong-Spieler an den Ufern ihres Flusses aus durchsichtigen Geleebonbons, tauschen die Plätze und spielen weiter.

– Stören wir

fragen sie und drehen ihren Lärmpegel etwas herunter.

– Ich bin euch wohl zu langweilig

sagt Youyou. Sie nimmt zwei Baumwollblusen, die sie am Morgen auf das Bett gelegt hat, und geht in die Küche. Youyou hat keine Waschmaschine. Sie hat zwar gerade ein Los bei der Harbour-Building-Lotterie gekauft, aber selbst, wenn sie ihr plötzlich eine Waschmaschine bringen würden, es gäbe keinen Platz dafür.

Im Grunde wäscht Youyou auch viel lieber mit der Hand, sie mag keine Maschinen. Ein Fahrstuhl zum Beispiel ist eine Maschine, die deinen Beinen das Treppensteigen erspart, er ist aber auch eine Erfindung, die Menschen bei Stromausfall in einen winzigen Raum einsperrt. Der elektrische Türöffner im Bus ist eine Maschine, mit der sich die Tür bedienen und die Fahrgastzahl berechnen lässt, er ist aber auch eine Erfindung, die zwei Ticketschaffner und einen Türsteher arbeitslos macht.

Youyou schüttet Waschpulver in eine Plastikschüssel und hält die Schüssel unter den Wasserhahn, damit das fließende Wasser das Pulver auflöst. Abgesehen von ein paar schwachen Schaumblasen zeigt das Pulver keine Reaktion. Erst als sich Youyou die Waschanleitung auf der Schachtel genauer ansieht, fällt ihr wieder ein, dass es sich um nicht schäumendes Waschmittel handelt, ein neues Produkt für den Gebrauch in Waschmaschinen.

Vergangene Woche hatten zwei Hausiererinnen geklingelt; zögerndes Stammeln, porzellanweiße Haut, betrübter Blick, prallvolle Taschen. Wenn man unter diesen Umständen Waschpulver kauft, schert man sich natürlich nicht um die Sorte.

Schaumfreies Waschpulver erlaubt ihr nicht einmal die vage Idee einer Seifenblase. Es fühlt sich seltsam an, ihre Kleidung mit dem schaumfreien Pulver zu waschen. Es ist, wie eine Vitamin-C-Tablette zu schlucken und sich einzubilden, dass es dasselbe wäre, wie eine saftige, sonnengereifte Apfelsine zu essen. Das Gefühl beim Tablettenschlucken ähnelt keinesfalls dem Gefühl beim Apfelsinenessen (dass die Vitamin-C-Tablette nicht dasselbe ist wie eine saftige Apfelsine, ist natürlich nicht die Schuld der Tablette).

Youyou weicht ihre Blusen kurz ein und spült sie dann gleich wieder aus. Anschließend hängt sie die Wäsche neben das einzige Fenster der Küche, wo es eine Holzstange gibt, die dort eigens für das Aufhängen der tropfnassen Wäsche angenagelt wurde. Gegen Abend, wenn der Gasherd benutzt wird, muss Youyou sie wieder abnehmen und ins Badezimmer hängen. Tropfende Wäsche bereitet großes Kopfzerbrechen.

Die Mahjong-Spielrunde beschließt, heute kein Abendessen zu kochen, sonntags kochen zu müssen nervt. Sie einigen sich darauf, demnächst ein paar Instantnudeln Marke Drei Minuten zu verputzen, und setzen sodann mit Feuereifer ihr Spiel fort.

Youyou steht in der Küche, am Fenster, in der winzigen Lücke, die die tropfende Wäsche ihr lässt (dass sie in der Lücke steht, die die tropfende Wäsche lässt, ist natürlich nicht die Schuld der tropfenden Wäsche). Sie sieht, wie die Bleiblechdächer unterhalb des Gebäudes in der brennenden Hitze flimmern. Eins der Blechdächer ist vollständig bedeckt mit Mandarinenschalen, alle mit den weißen Bäuchen nach oben, sodass sie von Weitem aussehen wie Blumenkohlröschen. Die Blätter des aus einem Riss in der Wand wachsenden Baums sehen aus wie mit einer Staubschicht überzogen (dass die Blätter aussehen wie mit einer Staubschicht überzogen, ist natürlich nicht die Schuld des Staubs). Manchmal klettern Katzen auf die Dächer, um sich dort zu räkeln; heute jedoch nicht. Nichts außer diesen lustigen Kämmen auf den Dächern, fein säuberlich aufgereiht, recken sie ihre großen Zähne in dieselbe Richtung. Wer weiß, vielleicht finden die jungen Zugvögel künftig ganz allein den Weg nach Süden.

Wäre es schon Nacht, könnte Youyou die Gebäude in der Ferne wie bunte Lampen blaugrün und rotgelb leuchten sehen. Das Rotgelbe könnten Lampen sein, das blasse Blaugrüne vielleicht Neonröhren. In manchen Fenstern gibt es keine Farben; vielleicht nehmen sie das Mondlicht.

Wenn es Nacht wird, oder an farblosen Tagen, hängt hinter den Häusern eine rote Signalleuchte in der Luft, deren Lichter im Rhythmus eines Herzschlags pulsieren. Sie sagt den Flugzeugen über ihr:

– Ich bin ein Berg

Die Flugzeuge antworten mit einem ohrenbetäubenden Lärm (dass die Flugzeuge nur mit ohrenbetäubendem Lärm antworten, ist natürlich nicht die Schuld des Lärms).

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