Meine Tochter hat s nicht leicht - Lise Gast - E-Book

Meine Tochter hat s nicht leicht E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Die 12jährige Reni ist ausnahmslos glücklich: Sie hat viele liebe Freunde, lebt in einem Kindererholungsheim und alle 6 Wochen wird sie von neuen Spielkameraden besucht. Ein wunderschönes Leben, doch Reni würde mit ihren Eltern mehr Zeit verbringen. Zum Glück weiss die schlaue Reni wie sie ihren Wunsch in Realität verwandeln kann... – Eine wunderschöne und mit viel Humor und Lebensklugheit erzählte Geschichte. Lesenswert!Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-

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Lise Gast

Meine Tochter hat's nicht leicht

Mit Zeichnungen von Emmy-Claire Haag

Saga

Meine Tochter hat’s nicht leicht

German

© 1955 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509753

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Renis seltsame Familie Das schönste Geburtstagsgeschenk

„Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen, mein Liebchen...“

Reni fuhr in ihrem Bett in die Höhe. Die Sonne flutete golden zum Fenster herein, und mit ihr der Gesang aus mindestens siebzig Kinderkehlen, so frisch und hell wie dieser Junimorgen.

„Komm heraus da aus dem Haus da, komm heraus da aus dem Stübchen...“

Drüben im andern Bett bewegte sich jetzt ein schwarzer Schopf, und Erikas rotgeschlafenes Gesicht hob sich aus dem Versteck des gekrümmten Armes, in dem es bisher gelegen hatte. Es mußte noch sehr früh am Tage sein. Erika war sonst immer vor Reni wach.

„Denn die Sonn’, denn die Sonn’, denn die Sonne ist da!“

Reni kannte diesen Kanon natürlich, denn er war im Heim sehr beliebt. Heute aber klang er ihr noch netter, frischer und beschwingter als sonst. Freilich, heute bedeutete er auch etwas Besonderes. Er war ihr Geburtstagsgruß.

Sie war im Nachthemd ans Fenster gehopst und guckte hinaus. Wirklich, sämtliche Heimkinder standen unten und sangen — Jungen und Mädel, alle ungefähr in ihrem Alter, so um zwölf Jahre herum. Tante Thea, die Turntante, dirigierte. Sie stand mit dem Rücken zum Fenster, die Kinder mit dem Gesicht. Jetzt hatten ein paar von ihnen Reni erspäht. Sie winkten — Reni winkte wieder. Und da drehte sich auch Tante Thea mitten im Dirigieren um und winkte auch.

„Wir gratulieren!“ rief eines der Kinder, die anderen fielen ein, und der Kanon kam gewaltig ins Wackeln. Darüber mußte Tante Thea lachen, und so hob sie die Hand und ließ die Kinder, die gerade sangen: „Ist daaa!“ ihren Ton aushalten, bis die nächsten und dann die übernächsten Stimmen auch so weit gekommen waren.

„Wir gratulieren unserer Reni!“ rief es darauf im Chor, und Reni lachte und winkte. Während sich unten der Gratulationsruf in ein lustiges allgemeines Geschrei und Geschwätz auflöste, fuhr Reni in aller Eile in ihren Luftanzug. Duschen konnte sie nachher noch. Jetzt mußte sie erst zu den Kindern.

„Reni!“ rief Erika hinter ihr her, aber Reni war schon abgesaust. Bei ihr ging immer alles im Schnellzugstempo.

So und nicht anders fegte sie auch der Treppe zu, um in den Hof hinauszurennen, aber an der Glastür der kleinen Wohnung fing sie jemand ab. Dieser Jemand war Tante Mumme.

Tante Mumme nahm Reni erst einmal in den Arm, um ihr zu gratulieren, und dann sagte sie etwas, was Renis Eifer, zu den Heimkindern im Hof zu gelangen, abbremste. Sie sagte:

„Aber Reni, die sind doch schon wieder weg! Die packen doch heute. Um zehn fahren sie allesamt ab. Hast du das denn vergessen?“

„Richtig!“

Reni lachte und hakte sich bei Tante Mumme unter, während sie miteinander in das kleine Familienwohnzimmer gingen. Dort war schon zum Frühstück gedeckt.

Sonst wurde draußen gefrühstückt, mit den Heimkindern zusammen. Zwischen den beiden Heimgebäuden lag der große Wohnhof, der an der dritten Seite von der niedrigen, langen Turnhalle abgeschlossen wurde. Diese Turnhalle lief von einem Haus zum anderen, und hinter ihr begann die Liegewiese, die sacht den Hang hinaufstieg. Im Wohnhof unter den drei dicken Kastanienbäumen standen ein paar eingerammte Tische. Hier wurde gefrühstückt, zu Mittag und zu Abend gegessen, wenn es das Wetter irgend zuließ, und zwar saßen hier alle durcheinander, die jeweiligen Heimkinder, die Tanten, die sie betreuten, und die Familie. Renis noch ziemlich neue Familie, in der man sich nicht zurecht fand, wenn man sie nicht erklärt bekam:

Da war Reni, ihre Mutter und ihr neuer Vater, der gleichzeitig der Onkel Doktor des Heims war. Dann gehörten noch Tante Mumme dazu, Vaters Schwester, die dem Heim vorstand, ebenso Christian, Vaters Sohn und Renis neuer Bruder, und schließlich Erika Niethammer, Renis Freundin, die für ein ganzes Jahr sozusagen ihre Schwester sein durfte. Diese merkwürdige und zusammengewürfelte Familie verteilte sich mit an den Tischen der Heimkinder, damit überall jemand saß, der Bescheid wußte und auf Ordnung hielt. Bei jedem Kinderschwung, der ankam mit Geschwatz und Gelache, mit großen und kleinen Sorgen und neuen Liedern, Spielen und Dummheiten, bei jedem dieser Kinderschübe machte Reni eine neue Tischordnung, und dort, wo am ehesten Unfriede zu erwarten war, bei den größeren Jungen zum Beispiel, dort setzte sie Vater hin oder auch Christian. Vater konnte wunderbar ausgleichen, wenn es Meinungsverschiedenheiten gab, mit seinem trockenen Humor, seinen kleinen Geschichten, mitunter auch mit einer überraschenden Strenge. Und Christian, der schon sechzehn war, ähnelte in dieser Beziehung seinem Vater sehr.

Reni bewunderte sowohl den Vater wie den neugebackenen Bruder um dieser Art willen, den Vater offen, Christian versteckt und ohne es zuzugeben. Sie hatte bis vor einem Vierteljahr nur eine Mutter gehabt; Renis Vater war früh gestorben.

Ein paar Wochen vor Ostern aber hatte sie den Onkel Doktor als neuen Vater bekommen und gehörte nun samt ihrer Mutter ganz und gar und wirklich richtig hierher, in das von ihr so heiß geliebte Heim am Berge. Hier war sie aufgewachsen, unter Tante Mummes Pflege, das einzige Kind im Heim, das blieb: Tante Mummes und Onkel Doktors Dauerheimkind.

Renis Mutter war früher Gutssekretärin bei Erikas Eltern gewesen und nur selten ins Heim zu Besuch gekommen. Freilich, gesehnt hatte sie sich immer nach ihrer kleinen Tochter, und eines Tages war sie gekommen, um Reni zu sich zu holen. Erika, die ohne Geschwister aufwuchs, wünschte sich so sehr eine Freundin. So luden ihre Eltern Reni ein.

Erika war ein lieber und netter Kerl. Die beiden Mädel verstanden sich sofort. Aber Reni konnte das Heim, und vor allem den zärtlich geliebten Onkel Doktor, nicht vergessen. Sie sehnte sich, je länger desto mehr, nach beiden zurück und erreichte es schließlich, daß sie, mit Erika zusammen, für eine kurze Zeit wenigstens wieder zu Besuch dorthin fahren durfte. In diesen Tagen geschah das Unglück.

Renis Mutter stürzte mit dem Pferd und verletzte sich so, daß sie viele Wochen liegen mußte. Alle bangten um sie, Reni am meisten. Frau Jahnecke wurde auch nicht wieder richtig gesund. Reiten jedenfalls würde sie nie mehr können.

Das war eine ganz schreckliche Geschichte. Zum großen Glück kümmerte sich der Onkel Doktor um Mutter, und sein Wunsch, sie zu sich ins Heim zu holen als seine Frau, ging nun in Erfüllung. Reni bekam damit den besten Vater der Welt.

Sie besaß nun also alles, was ihr bisher fehlte: einen Vater, eine Mutter, die bei ihr blieb, einen Bruder, dazu Tante Mumme, und um das Glück vollzumachen, hatten Niethammers erlaubt, daß Erika für ein Jahr hierher ins Heim übersiedelte. Auf diese Weise war Reni zu einer gleichaltrigen Schwester gekommen. Sie, die bisher ein Heimkind, wenn auch ein Dauerheimkind gewesen war, stand jetzt mit einem Mal mitten in einer Familie, die ihr gehörte. Das war so wunderbar, manchmal wachte sie früh auf und konnte es noch immer nicht begreifen.

Freilich, ein bißchen anders als in andern Familien ging es hier schon zu. Das brachte der Betrieb des Heims einfach mit sich. Sechs Wochen verlor sich die so mühsam erworbene Familie des Doktors sozusagen ganz im Schwarm der Heimkinder, um dann für drei oder höchstens vier Tage einmal allein zu sein. Das dauerte so lange, bis ein neuer Kinderschwarm anrückte, mit Rucksäcken und Koffern, Geschrei und Gelächter, Frohsinn und Heimweh. Reni kannte das nicht anders und war im großen und ganzen auch damit einverstanden, nur manchmal fand sie es doch etwas störend.

Heute aber klappte es gut. Heute war ihr Geburtstag, und da rückten die Heimkinder gerade wieder ab. Man bekam früh noch das Geburtstagsständchen gesungen, man würde sicherlich dies oder jenes kleine Geschenkpäckchen zugesteckt bekommen, dann aber fuhren die Ferienkinder weg, und man konnte in der Familie feiern. Morgen war nämlich außerdem noch Pfingsten. Reni hatte ihren Geburtstag mit Bedacht ausgewählt!

„... und daß du immer gesund bleibst und mich lieb behältst!“ schloß Tante Mumme ihre Ansprache. Reni hatte nicht ein Viertel davon gehört. Sie guckte gespannt auf ihren Platz am Kaffeetisch: kein Geschenk? Wirklich keins?

Ein Kuchen stand da, auch ein Lichterkranz, natürlich noch nicht angezündet. Auch Blumen, und die Fest-Tasse mit dem goldenen Rand. Sonst nichts?

„Wann kommen denn die anderen?“ fragte sie und sprang von einem Bein auf das andere, nur ein klein wenig, damit Tante Mumme nicht nervös wurde. Aber still stehen konnte man nun einmal am Geburtstag nicht. „Und frühstücken wir wirklich hier? Bei uns?“

‚Bei uns‘ hieß die kleine Wohnung, die seit Mutters Einzug sogar eine Glastür bekommen hatte, damit sie richtig abgeschlossen war. Sie lag im Wirtschaftsgebäude des Heims, während sich drüben im andern Haus die Schlaf- und Aufenthaltsräume für die Heimkinder befanden. Hier aber wohnten jetzt Vater und Mutter, ein Zimmer hatte Christian bekommen, und Reni teilte das, das sie von jeher inne gehabt hatte, für dieses Jahr mit Erika. Dann gab es noch das Kaminzimmer — Reni fand, dieses sei das schönste von allen — und das kleine Wohnzimmer mit dem großen, breiten Glasfenster, an dem es so herrlich blühte. Seit Mutter keine Pferde mehr betreuen konnte, hatte sie ihr Herz für die Blumen entdeckt. Denn etwas mußte sie immer pflegen, außer den Kindern natürlich, die sie auch betreute, ihre drei „eigenen“, Christian, Erika und Reni, und die sechzig oder siebzig anderen, die alle sechs Wochen wechselten.

Zur Familie gehörte auch Tante Mumme, Vaters Schwester. Aber sie wohnte nicht hier. Sie hatte sich ganz mit Absicht und mit dem Starrsinn, den nur ganz kleine Kinder oder ältere Leute aufbringen, ein Zimmer außerhalb der Wohnung ausbedungen. Freilich lag es gleich neben der Glastür, dort, wo auch die Tanten und die Küchenmädel wohnten, außer derjenigen Tante, die „Dienst hatte“ und für eine Woche im anderen Haus schlief. Dort gab es ein helles, kleines Zimmer für die Nachtwächterin, und eine der Tanten hauste dort immer acht Tage lang, um gleich zur Hand zu sein, wenn eins der Heimkinder einmal schlecht träumte, nach der Mutter rief oder nachts plötzlich krank wurde.

Im Nachtwächterheim wurden auch manchmal lustige Feste gefeiert, Feste, zu denen man im Schlafanzug erschien, ‚ganz heimlich‘, und bei deren üppiger Bewirtung einen dann der Doktor überraschte, höchst erstaunt, drohend und brummend und schließlich auf den allgemeinen Spaß eingehend. Bei jedem Kinderkurs wurde dieser Jux gemacht, und es war furchtbar lustig, zu beobachten, wie die jeweiligen Kinder sich benahmen, wenn der Doktor hereinschneite. Manche versteckten sich, andere machten sich gar nichts draus, wieder andere verstummten vor Schreck. Immer aber endete das Ganze mit einem großen, befreienden Gelächter, wenn der Doktor zugab, daß die ganze Heimlichkeit nur Schein war und dies Spiel sich bei jedem Kinderkursus wiederholte.

Viel Lustiges gab es im Heim. Reni aber hatte sich diesmal zu ihrem Geburtstag gewünscht, daß es ein Geburtstag ganz „in Familie“ würde. „Ganz unter uns! Weiter wünsche ich mir nichts!“ hatte sie gesagt, immer wieder. Und so war also der Frühstückstisch hier gedeckt, an Mutters Blumenfenster, und nicht wie sonst im Wohnhof.

„Wann kommen denn die andern? Geht es nicht bald los?“ fragte sie begierig. Tante Mumme schüttelte den Kopf.

„Aber Reni! Wenn drüben gepackt wird! Denkst du wirklich, da hat Mutter Zeit und Ruhe?“

Freilich, es war eine dumme Frage gewesen. Reni sagte sich das selbst und bemühte sich, kein saures Gesicht zu machen. Es gelang nicht ganz.

„Früher wurde immer ganz frühzeitig beschert“, murrte sie, „vor dem Frühstück sogar. Früher...“

„Möchtest du denn, daß es noch so wäre wie früher?“ fragte Tante Mumme leise und mahnend. „Daß du Mutter nur alle Vierteljahre einmal sehen könntest, und sie arbeiten müßte, weit von dir, bei anderen Leuten?“

„Ach wo. Das möchte ich nicht. Nie mehr möchte ich das!“ rief Reni eilig und sich selbst genau so überredend wie Tante Mumme, „da frühstücken wir eben erst um zehn. Wenn ich bis dahin nicht tot umfalle vor Hunger — — oder platze vor Spannung.“

„Spannung? Worauf denn? Ich denke, du hast dir nichts gewünscht als einen Geburtstag unter uns?“ fragte Tante Mumme hinterhältig.

„Freilich. Gerade deshalb soll er zeitig anfangen!“ rief Reni lustig. „Eigentlich ist es ja gemein: Um sechs wird man durch ein Ständchen geweckt, und dann muß man bis wer weiß wann hungern!“

„Komm, hier!“ Tante Mumme öffnete sogleich eine bunte Blechdose und schob Reni einen Keks in den Mund und ein paar weitere in die Hand. Sie zerfloß immer vor Mitleid, wenn man sich kläglich stellte. „Vielleicht kriechst du noch einmal ins Bett?“ riet sie versuchsweise. Reni lachte.

„Nein, Tante Mumme, das kann ich nicht. Aber ich weiß was: Ich renne jetzt hinüber, drüben wird doch jetzt gewogen. Aufschreiben, wieviel jedes Kind in den letzten sechs Wochen zugenommen hat, das kann ich genau so gut wie Mutter. Und da vergeht die Zeit schneller. Außerdem kann Mutter inzwischen etwas anderes tun. Meinst du nicht?“

„Ja, Reni, das ist ein guter Gedanke.“ Tante Mumme sah der davonlaufenden Reni liebevoll nach. Mitten im Hof stoppte diese übrigens plötzlich ab und drehte um. Tante Mumme wunderte sich. Dann aber lachte sie, denn gleich darauf hörte man es im Badezimmer rauschen. Reni holte das vorhin verschobene Duschen nach. Und Reni duschte immer so ausgiebig und heftig, daß das ganze Badezimmer schwamm.

„Nein, hier! Du magst doch keine Jagdwurst“, rief Reni und hielt den Jungen, der schon beinah an ihr vorbeigeschoben war, am Ärmel fest. „Da, Schweizer Käse. So, aber die Wurstbrote gib wieder!“

Die Kinder sahen jetzt, stadtfein gemacht, ganz anders aus als all die Wochen vorher. Sonst waren sie barfuß in Spielanzügen oder Shorts herumgesprungen, jetzt hatten sie Dirndlkleider und Schuhe und Strümpfe an, die Jungen Lederhosen und Joppen, manche sogar richtige „städtische“ Anzüge. Und die inzwischen nachgewachsenen Haare waren entweder mit viel Wasser an die Köpfe gepappt oder standen über die Ohren, sodaß die jeweiligen Mütter wahrscheinlich gleich nach dem Begrüßungskuß sagen würden: „Nun aber fix zum Haarschneiden!“ Das war jedesmal so, und Reni stellte ihre Augen immer gewissermaßen um, wenn sie sich verabschiedeten.

Heute gab sie den Reiseproviant aus. In zwei großen Waschkörben wartete der; handliche kleine Päckchen, in Pergamentpapier verpackt, und die Kinder zogen zwei und zwei vorbei, während Reni verteilte. Sie hatte im Lauf der letzten Kursuswochen beobachtet, was der eine gern aß und der andere nicht mochte, deshalb konnte sie den einzelnen ein bißchen raten. Freilich, manchem, der frech gewesen war oder überhaupt grundsätzlich am Essen mäkelte — solche Kinder gab es! —, dem gönnte sie es, wenn er einen Aufstrich erwischte, den er nicht mochte.

Schließlich waren alle Abfahrenden im Hof versammelt und sangen das Abschiedslied.

„Wahre Freundschaft soll nicht wanken,

wenn sie gleich entfernet ist,

lebet fort in den Gedanken,

und der Treue nicht vergißt ...“

Das große Gepäck war schon verfrachtet, der Wagen bereits aus dem Hof gerollt; Tante Thea stand, im Kostüm, die Wandertasche über der Schulter, bereit. Sie begleitete den Kurs und kam erst morgen wieder. Die anderen Tanten hatten frei bis nach Pfingsten.

„Na, wer von euch möchte einmal wiederkommen?“ fragte sie, als der letzte Ton verklungen war.

„Ich, ich, ich!“ rief es von überall, und die Mädel drängten sich an sie heran. Reni stand ein wenig abseits und lächelte.

So leicht kam keins der Kinder wieder. Mitunter schon, aber selten. Wirklich wiedergekommen war eigentlich nur sie, Reni.

Sie dachte daran, wie es früher gewesen war, wenn die Heimkinder abgefahren waren. Dann standen das große Haus und der geliebte Wohnhof leer, Tante Mumme suchte Zuflucht in der Küche und braute sich als Trost einen extra starken Kaffee. Wenn Reni allein vom Bahnhof zurückkam, fragte Tante Mumme, was für einen Pausenkuchen sie sich diesmal wünsche. Und Reni hatte dann die Tage gezählt, manchmal sogar die Stunden, bis die nächsten Kinder kommen würden.

Jetzt war das anders. Auch wenn nicht Geburtstag war, fieberte sie auf die Zeit, in der sie „in Familie“ lebten. Nein, traurig war sie nie mehr, wenn die Heimkinder abfuhren, so nette auch manchmal darunter waren.

„Ja, ich schreib dir, Inge“, versprach sie aus diesem Gedanken heraus eifrig, während sie ringsum Hände schüttelte. „Ihr müßt aber auch schreiben! Ja, die Fotos bekommt ihr noch, das macht diesmal Christian, da geht es schnell. Ja, ich habe eure Anschriften, klar!“

Endlich waren sie fort. Die letzte winkende Hand war um die Ecke verschwunden, man hörte das Schwatzen leiser werden und verstummen. Reni faßte Erika an den Händen und wirbelte sie im Kreis herum, mitten im Wohnhof, aus lauter Lust am Dasein.

„Wenn es jetzt aber immer noch kein Frühstück gibt, verlange ich das Beschwerdebuch!“ rief sie, als Tante Mumme in der Tür des Wirtschaftsgebäudes erschien. Die lachte.

„Brauchst du nicht! Es kann sofort losgehen. Aber wollen wir nicht noch umdecken? Es ist so schön draußen. Da ist ja auch Erika — guten Morgen, du Langschläfer!“

Erika lachte und half den Tisch unter der alten Kastanie zu decken. Reni schleppte schon das Tablett mit den Tassen heran, Christian trug den Kuchen heraus, Tante Mumme die Kaffeekanne, und Mutter brachte den Lichterkranz und rief nach Vater.

„Ich zünde an! Jetzt geht endlich der Geburtstag richtig los!“

Nun saßen sie also allesamt um den verspäteten Frühstückstisch, Reni obenan auf dem Ehrenplatz, und aßen und tranken. Im Augenblick wurde kein Wort gesprochen, sogar Renis Mund, die ‚Klappermühle‘, wie Christian sagte, schwieg. Das war kein Wunder. Denn tatsächlich: nur der Kuchen prangte vor dem Platz des Geburtstagskindes, der Lichterkranz und die Blumen. Sonst nichts, kein Buch, keine Tafel Schokolade, nichts zum Anziehen. Reni versuchte, so zu tun, als wundere sie das garnicht. Aber es gelang ihr schlecht. Alle lachten, Christian am meisten.

„Nun weine mal nicht, wir wollten so gern sehen, wie ein Mensch aussieht, dem der größte Wunsch in Erfüllung gegangen ist“, grinste Christian.

„Ich weine ja gar nicht“, sagte sie und verspürte die größte Lust, ihm die Zunge herauszustrecken, so lang sie war. Große Brüder hatten auch ihre Nachteile, das wußte sie nun schon. Aber sie tat es nicht, nein, nun gerade nicht. Sehr beschäftigt bot sie Kuchen an und gab Milch und Zucker herum, und dabei war sie im Innersten ganz fest davon überzeugt, daß „noch was kommen mußte“. Sie kannte doch ihren Doktoronkel — ihren Vater vielmehr! Während sie das dachte, mußte sie so lachen, daß er ganz erstaunt aufsah.

„So vergnügt habe ich dich ja noch an keinem Geburtstag gesehen“, sagte er hinterhältig. „Von jetzt an gibt es nie mehr etwas anderes als einen ungestörten Tag in der Familie!“

„Von mir aus!“ lachte Reni und blinzelte ihm zu. „Wann fahren wir denn?“ Sie hatte gesehen, daß der Wagen schon draußen stand, Vaters dicker, alter, grauer Doktorwagen.

„Hast du es doch schon verraten, du Bengel!“ sagte der Doktor ärgerlich, „du bist doch das reinste Waschweib, Christian. Ich sage nie wieder etwas.“

„Was habe ich denn verraten?“ fragte Christian empört. Er sagte es absichtlich in einem möglichst frechen, schnippischen Ton.

„Daß wir um die Ponys fahren wollen“, sagte sein Vater aufgebracht, „ich finde, man muß auch den Mund halten können. Wenn es schon nichts anderes als diese einzige Überraschung geben soll zum Geburtstag, dann muß es auch eine bleiben.“

„Um die Ponys? Vater, wirklich? Ist das wahr?“ jubelte Reni und fiel dem neben ihr sitzenden Doktor so stürmisch um den Hals, daß seine Brille verrutschte. „Kaufen wir sie schon? Oder wollen wir sie nur ansehen? Vater, ist es weit? Und fahren wir jetzt gleich?“

„Ich glaube, Paul, jetzt hast du dich selbst verschnappt“, sagte Mutter in diesem Augenblick trocken. Alle lachten. Der Vater schlug sich auf den Mund.

„Hab ich? Aber wenn Christian doch —“

„Ich habe keine einzige Silbe gesagt!“

„Du hast gesagt —“

„Ich habe garnichts — —“

„Nun zankt euch nicht, sondern eßt“, mahnte Tante Mumme und schob Vater ein zweites Stück Kuchen auf den Teller, „verraten ist es nun einmal, und ich finde, Reni kann sich auf der Hinfahrt noch ein bißchen vorfreuen, wenn sie doch sonst nichts bekommt, das arme Kind.“