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»Meine zauberhafte Weihnachtsreise« | Adventskalender-Roman über die 24 schönsten und bekanntesten Advents- und Weihnachtsbräuche Von Christbaumkugel bis Krippenspiel: Ein bezaubernder Roman mit einer inspirierenden Botschaft Eigentlich liebt Aurelia Weihnachten, doch in diesem Jahr will sich der Zauber nicht recht einstellen. Erst als der Weihnachtsmann höchstpersönlich sie am Vorabend des Ersten Advents mit einem ganz besonderen Adventskalender überrascht, erlebt sie ein echtes Weihnachtswunder: Santa nimmt sie in seinem Schlitten mit an 24 unvergessliche Orte – dorthin, wo die Weihnachtsbräuche entstehen. Aurelia sieht den Stern von Bethlehem und besucht den ersten Christkindlmarkt. Dabei ist ihre Reise auch eine Reise zu sich selbst, denn sie lernt, ihre Wünsche ernst zu nehmen – und an Wunder zu glauben. Wünschen wir uns nicht alle ein Weihnachtswunder? Das perfekte Geschenk für Advent, Nikolaus und Weihnachten!
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:
Cover & Impressum
Prolog
1. Türchen
2. Türchen
3. Türchen
4. Türchen
5. Türchen
6. Türchen
7. Türchen
8. Türchen
9. Türchen
10. Türchen
11. Türchen
12. Türchen
13. Türchen
14. Türchen
15. Türchen
16. Türchen
17. Türchen
18. Türchen
19. Türchen
20. Türchen
21. Türchen
22. Türchen
23. Türchen
24. Türchen
Danksagung
Literatur
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Aurelia blinzelt, während sie das Mehl mit geübten Bewegungen in die Schüssel siebt. Sie liebt Weihnachten – eigentlich. Sie liebt den Duft von Zimt und Vanille, das warme Licht der Kerzen und die leuchtenden Augen ihrer Kinder, wenn die ersten Schneeflocken fallen. Aber sie liebt es nicht, wenn ihr Tag schon vor fünf Uhr morgens beginnt, weil sie sonst keine Zeit findet, all das vorzubereiten, was sie sich vorgenommen hat. In letzter Zeit fühlt sie sich oft wie eine Artistin auf einem Drahtseil, die ihre Nummer aber eher schlecht als recht beherrscht: Job, Kinder, Haus, Weihnachten – jeder Tag ein Kraftakt. Und obwohl sie sich so sehr auf den Advent gefreut hat, häufen sich die Momente, in denen die Erschöpfung überwiegt. Heute wollte sie eigentlich mit dem Backen fertig geworden sein, damit der Plätzchenteller am ersten Dezember schön bunt ist. Aber sie hat nur zehn Sorten geschafft statt zwölf, wie sie es eigentlich geplant hatte, deswegen legt sie jetzt, vor dem Abendessen, noch eine Sonderschicht ein.
Aurelia seufzt leise und streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. Irgendwie fühlt sich die Vorweihnachtszeit zunehmend wie ein Marathon an.
»Mama, ich brauche ein Kostüm für das Krippenspiel!«, ruft der fünfjährige Gabriel aus dem Wohnzimmer. »Wir vom Kindi dürfen beim Krippenspiel von Noelle die Schäfchen spielen.«
»Und ich muss morgen unbedingt einen Kuchen mitbringen«, ergänzt Zweitklässlerin Noelle beiläufig.
Aurelia starrt auf die halb fertigen Plätzchen, die vor ihr auf der Arbeitsplatte liegen. »Was für einen Kuchen?«
»Na, für die Adventsfeier in der Schule.«
»Schatz, das hättest du mir früher sagen müssen!«, ruft Aurelia und hofft, dass ihr Verzweiflung und Gereiztheit nicht allzu deutlich anzuhören sind.
Ihre Tochter zuckt mit den Schultern. »Ich hab’s selbst erst heute erfahren.«
Aurelia atmet tief durch. Kein Grund zur Panik, sagt sie sich. Ich kann einen Rührkuchen backen, das geht schnell, dann muss der Plätzchenteig eben warten. Und für das Kostüm habe ich noch Zeit …
Sie wischt sich die Hände an der Schürze ab, um die Zutaten für den Kuchen bereitzustellen – und bemerkt, dass keine Eier mehr da sind. Mist! In diesem Moment geht die Haustür auf. Michael, ihr Mann, kommt mit drei prall gefüllten Einkaufstüten herein und seufzt zufrieden. »So, ich hab’ alles besorgt! Der Laden war die Hölle – ich sag’s dir, die Adventszeit macht die Leute verrückt.«
Na super, denkt Aurelia. Ich kann ihn jetzt unmöglich darum bitten, noch einmal loszuziehen, um Eier zu besorgen.
Sie wirft einen Blick auf die Tüten. »Hast du auch die Marzipankartoffeln mitgebracht?«
Michael hält inne. »Marzipankartoffeln?«
»Ja, morgen ist doch der erste Dezember«, sagt sie leise, damit die Kinder sie nicht hören. »Für Gabriels Kalender. Die liebt er doch so sehr.«
»Oh. Nein, die hab’ ich vergessen. Tut mir wirklich leid, Schatz.«
Aurelia schließt kurz die Augen. Es ist nicht schlimm, sagt sie sich. Dann geht sie eben noch mal einkaufen. Eier und Marzipankartoffeln. Und danach backen.
Sie erklärt ihrem Mann kurz die Lage, der nickt und seufzt. »Gut, dann gehe ich noch mal.«
»Nein, nein«, sagt sie rasch. »Ich mache das schon.«
»Bist du sicher?«, fragt er besorgt. »Du siehst müde aus.«
»Ganz sicher«, erwidert sie. »Ist ja nicht weit.«
»Okay. Aber dann mache ich inzwischen das Abendessen.«
Sie gibt ihm einen Kuss. »Bis gleich.«
»Schatz?«
»Ja?« Schon in der Tür dreht sie sich um.
»Lass dir Zeit. Mach doch noch einen kleinen Spaziergang am See, wenn du ohnehin schon unten bist. Das wird dir guttun.«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich habe keine Zeit. In einer Stunde macht der Laden zu. Wir müssen Abendessen. Ich muss Kuchen backen, und …«
»He«, sagt er, geht ein paar Schritte auf sie zu, nimmt ihre Hände und sieht sie an mit dieser Ruhe, die er meistens ausstrahlt und die sie so liebt. Ihr Fels in der Brandung. »Nein«, sagt er. »Müssen musst du gar nichts. Die Marzipankartoffeln kannst du auch noch nachträglich ins Säckchen tun, oder sollten sie schon im ersten Türchen sein?«
Sie schüttelt den Kopf. »Erst im dritten.«
»Na also. Und was das Schulfest und unseren Beitrag dazu angeht: Im Zweifelsfall kaufen wir morgen früh einen Kuchen beim Bäcker.«
»Aber das geht doch nicht«, protestiert Aurelia, »ich …«
»Doch«, sagt er. »Das geht. Jetzt ab mit dir. Mach einen Spaziergang. Und dann kannst du ja spontan sehen, ob dich dein Weg am Laden vorbeiführt oder nicht.«
»Gut«, gibt Aurelia nach und spürt ein winziges Gefühl der Vorfreude in sich aufsteigen. Allein sein. Zeit für sich haben. Wie gut sich schon die Aussicht darauf anfühlt!
Sie greift nach ihrem Mantel und schlüpft in ihre dicken, gefütterten Winterstiefel. Als sie die Haustür hinter sich schließt, wird sie von frischer Winterluft umfangen. Sie atmet tief durch, überquert die Straße und steuert auf die Treppe zu, die in hundertzweiundfünfzig Stufen – das weiß sie deshalb so genau, weil die Kinder beim Treppensteigen immer zählen – von der Straße, in der sie leben, zum See hinunterführt. Vielleicht, denkt sie, ist das die wahre Kunst: Nicht immer noch mehr zu tun, sondern mal einfach nur zu sein.
Unmittelbar neben der Treppe liegt ein kleiner Supermarkt. Auf dem Rückweg wird sie hier Eier und Marzipankartoffeln kaufen, aber erst mal will sie dem Rat ihres Mannes folgen und einen Spaziergang machen.
Kurz darauf erreicht sie den Mantelhafen. Rechts davon beginnt Überlingens Innenstadt mit ihren Cafés und Restaurants an der Promenade, wo sich im Sommer unzählige Touristen drängen, doch Aurelia hält sich links, schreitet kräftig aus, am dunklen See entlang, in dem sich die Lichter des gegenüberliegenden Ufers spiegeln. Wie wunderbar friedlich es hier ist! Und wie sehr sie diese Stille genießt! Eine halbe Stunde ohne Pflichten, ein winziges Zeitfenster, in dem niemand etwas von ihr will. Keine anspruchsvollen Gäste, die eine Beschwerde haben – Aurelia arbeitet in einem der zahlreichen Hotels an der Rezeption, und jetzt zur Weihnachtszeit sind etliche Menschen in der Stadt, um ihre Familien zu besuchen –, keine Hausaufgaben, die betreut werden müssen, keine Hausarbeit, keine Anrufe. Stille. Einfach nur Stille.
Sie erlaubt sich einen kleinen Abstecher direkt ans Ufer. Über holperige Steine geht sie bis zur Wasserkante, und wie eine magische, kostbare Perle liegt der See vor ihr. Die Lichter des anderen Ufers spiegeln sich in ihm. Ob wohl auch dort drüben gehetzte Mütter spazieren gehen, auf der Suche nach etwas Ruhe, nach einem Moment des Friedens? Wann und warum ist Weihnachten so hektisch geworden? Wann und warum ist das ganze Leben so hektisch geworden?
Mit einem tiefen Seufzen lässt sich Aurelia auf einer der zahllosen Parkbänke nieder, die das Ufer säumen. Jede ist von einer schützenden Hecke umgeben und bietet ein großes Stück Privatsphäre. Genau das, was sie jetzt braucht. Wie gut diese Einsamkeit tut! Doch sie soll nicht lange währen: Zu ihrem Ärger bemerkt Aurelia, dass sich jemand neben sie setzt. Sie lässt ein unwilliges Schnauben ertönen und rückt ein Stück von ihrem Sitznachbarn ab. Als ob es nicht genug andere Parkbänke gäbe! Ihr Nachbar rührt sich nicht und sitzt scheinbar regungslos. Irgendwann wagt sie einen Seitenblick und sieht sich dem Weihnachtsmann gegenüber. Auch er wendet in diesem Moment den Kopf, lächelt ihr freundlich zu und sieht sie aus gütigen, alten und irgendwie … wissenden Augen an. Doch Aurelia ist dieser Blick in diesem Moment zu viel. Sie will doch einfach nur allein sein!
»Noch so ein Fake-Weihnachtsmann, einer von denen, die sich verkleiden, um die Kinder zu beglücken«, schnauzt sie den Alten an. Und schämt sich gleich darauf. Verlegen blickt sie zur Seite. Was ist nur los mit ihr? Derart unfreundlich zu sein – das ist doch eigentlich gar nicht ihre Art!
»Und wenn es so wäre?«, fragt der Weihnachtsmann sanft in ihre Gedanken hinein. »Wäre das so schlimm? Wir Weihnachtsmänner bringen Freude in die Welt und ein Leuchten in die Augen der Kinder.«
»Entschuldigung«, murmelt Aurelia und stellt bestürzt fest, dass Tränen in ihr aufsteigen. Sie würde doch wohl nicht vor diesem wildfremden Pseudo-Weihnachtsmann anfangen zu heulen!
Der Fremde sieht sie weiterhin freundlich und voller Güte an. »Es ist unübersehbar, dass es dir nicht gut geht«, sagt er und fügt dann hinzu: »Wir Weihnachtsmänner sind nicht nur für kleine, sondern auch für große Menschen da. Vielleicht brauchen uns die Großen manchmal sogar noch mehr als die Kleinen, wenn es darum geht, den Zauber der Weihnachtszeit zurückzubringen.«
Und plötzlich beginnt Aurelia zu erzählen. Davon, dass sie Weihnachten liebt und es allen schön machen will, aber dass sie das Gefühl hat, es einfach nicht zu schaffen. Ihrem eigenen Anspruch nicht zu genügen. Und dass die Vorweihnachtszeit irgendwie zum Gipfel der Hetzjagd geworden ist, die sie das ganze Jahr über umtreibt. Zum Beispiel bastle sie alljährlich mehrere Adventskalender, selbst habe sie aber noch nie einen bekommen.
»Dann bekommst du jetzt einen von mir«, sagt der Weihnachtsmann.
»Aber das ist doch nicht nötig!«, wehrt Aurelia heftig ab. Auf keinen Fall will sie den Eindruck vermitteln, sie würde um Geschenke betteln!
Doch er sieht sie streng an und erklärt: »Deine Wünsche sind genauso wichtig wie die der anderen.« Sie solle am Folgetag um acht Uhr abends wiederkommen, dann werde eine Überraschung auf sie warten.
Aurelia will gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als sie feststellt, dass der seltsame Mann verschwunden ist. Erstaunt und suchend steht sie auf. Umrundet die Hecke, schaut nach rechts und nach links. Niemand ist zu sehen. »Hallo?«, ruft sie in die Nacht.
Keine Antwort.
Doch vom See her ertönt ein leises Klingeln. Sie wendet den Kopf und sieht ein seltsames Funkeln über der Wasserfläche. Wie Sternenstaub, denkt sie.
Aurelia blinzelt. Hat sie geträumt? Wird sie langsam verrückt vor lauter Stress?
Verwirrt, aber dennoch von einer unerklärlichen inneren Ruhe erfüllt, tritt sie den Heimweg an.
Als sie am Supermarkt ankommt, zögert sie. Sie könnten am nächsten Morgen auch einen Kuchen kaufen, hat Michael gesagt. Das hat sich nicht gut angefühlt, ein revolutionärer Vorschlag geradezu, einfach unmöglich. Sie kann ihr Kind doch nicht mit einem gekauften Kuchen in die Schule schicken! Und Marzipankartoffeln braucht sie ja auch noch … Sie will das Gefühl haben, dass der Adventskalender fertig ist.
Also stürzt sie sich ins abendliche Getümmel und stellt erstaunt fest, dass sie weder genervt noch gehetzt ist. Sie wird die noch benötigten Zutaten einkaufen, nach Hause gehen, Kuchen backen und den Adventskalender zu Ende befüllen. Dann bleibt es eben bei den zehn Plätzchensorten. Sie muss schließlich Prioritäten setzen, um all der Anforderungen Herr zu werden. Morgen, am ersten Dezember, wird sie sich an den leuchtenden Augen der Kinder freuen, denen es vermutlich sowieso egal ist, ob nun zehn oder zwölf Sorten zum Naschen bereitliegen. Und am Abend wird sie einen Spaziergang machen – und vielleicht eine magische Begegnung haben!
Als sie, etwas atemlos, wieder am oberen Ende der Treppe ankommt und ihr Haus still und friedlich dastehen sieht, denkt sie: O nein! Wir haben ja die Weihnachtsbeleuchtung außen noch gar nicht angebracht. Und auch nicht die riesigen Weihnachtskugeln in die Bäume gehängt. Ein weiterer Punkt auf ihrer Liste, der erledigt werden muss. Die Ruhe, die sie für einen kurzen Moment empfunden hatte, ist schon wieder fort. Wie weggeblasen.
Was man mit absoluter Hingabe tut, wird auch ein Erfolg.
Es schneit! Aurelia ist wie verzaubert, als sie am Abend des ersten Dezember aus dem Fenster blickt. Gerade hat sie darüber nachgedacht, ob sie wirklich noch einmal zum See gehen soll, um zu überprüfen, ob der »Weihnachtsmann« wiedergekommen ist – während des Tages hat sie mehrfach an die gestrige Szene gedacht und überlegt, dass sich da jemand einen Scherz mit ihr erlaubt hat. Doch wenn es nun schneit, dann muss sie ja hinausgehen, um dieses Wintermärchen mitzuerleben. Und wenn sie ihr Weg dann zufällig an der Bank vorbeiführen sollte … Verdient hat sie sich den Spaziergang jedenfalls: Zwar ist die Außendeko immer noch nicht angebracht, aber den Kuchen für Noelle hat sie gestern Abend noch gebacken, die Adventskalender sind gefüllt, und die Kinder liegen friedlich in ihren Betten. Michael hat es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und liest ein Buch. Doch, denkt Aurelia, sie wird gehen. Wenn sie es nicht tut, wird sie es bereuen und sich die ganze Zeit fragen, ob der merkwürdige Fremde vielleicht tatsächlich auf sie gewartet hat.
Sie tritt zu ihrem Mann und gibt ihm einen Kuss. »Es schneit«, sagt sie leise.
»Hm?« Er schreckt aus seiner Lektüre hoch.
»Es schneit«, wiederholt sie. »Ich würde gern einen kleinen Spaziergang machen. Das hat mir gestern so gutgetan.«
»Tu das«, erwidert er und lächelt ihr zu. »Den hast du dir redlich verdient. Und wenn wir Glück haben und der Schnee liegen bleibt, werden die Kinder morgen ihre helle Freude haben.«
Aurelia nickt. »Bis später«, sagt sie und zieht sich im Flur ihre dicken Schneestiefel und ihre Daunenjacke an. Dann verlässt sie leise das Haus – um vor der Haustür wie verzaubert stehen zu bleiben. Wie wundervoll die Stimmung ist. Und wie klar die Nachtluft! Sehnsüchtig hebt sie ihr Gesicht dem weißen Zauber entgegen, zart streifen diese Engelsküsse ihr Gesicht. Schneemomente, denkt sie, Schneemomente sind jene Augenblicke, denen ein stiller Zauber innewohnt und die ihre Faszination nie verlieren – egal wie oft man sie schon erlebt hat. Vielleicht auch deshalb, weil Schnee nichts ist, das man in irgendeiner Weise beeinflussen kann. Vielleicht ist es auch das, was sie am Weihnachtsfest in letzter Zeit zunehmend stört. Dass so viel im Außen stattfindet und so wenig im Innen. Das Innen geht immer mehr verloren, während sich der Fokus mehr und mehr auf das Außen richtet, wo alles immer vermeintlich schöner, größer und besser wird. Jedes Jahr ist ihr Haus noch ein bisschen mehr geschmückt, jedes Jahr ist das Weihnachtsmenü noch ein wenig aufwendiger, die Geschenke noch ein bisschen origineller. Schnee jedoch ist einfach, wie er ist. So fraglos. So … selbstverständlich. Ein echtes Geschenk. Ein Geschenk des Himmels.
Dort hinten, vor den hohen Hecken, sieht Aurelia schemenhaft die Bank auftauchen. Unwillkürlich hält sie den Atem an – und verspürt einen enttäuschten Stich in der Magengrube, als sie niemanden hier vorfindet. Hat sie es doch geahnt! Wer glaubt schon an den Weihnachtsmann! Aber wenn es nicht der echte Weihnachtsmann ist, wie kommt es dann, dass er gestern Abend so plötzlich verschwunden ist und sie nur noch ein Glitzern über dem See wahrgenommen hat? Ein Glitzern wie Sternenstaub? Wahrscheinlich werde ich doch langsam verrückt bei all dem Stress, denkt Aurelia, lässt sich mit einem tiefen Seufzen auf die Bank sinken und schließt für einen Moment erschöpft die Augen. Wenn sie schon nicht dem Weihnachtsmann begegnen wird, dann wird sie wenigstens ihre Momente der Ruhe genießen. Sie atmet tief ein und aus, so, wie sie es in ihrer Morgenmeditation – die sie allerdings so gut wie nie macht, weil meistens noch vor dem Wecker ein Kind nach ihr ruft – praktiziert: Mit dem Einatmen den ganzen Körper mit frischer, positiver Energie füllen. Mit dem Ausatmen jegliche Anspannung und jeglichen Ärger loslassen. Sie atmet tief, nimmt ihren Herzschlag wahr und spürt, wie sie sich nach und nach beruhigt. Mit einem Lächeln schlägt sie die Augen wieder auf – und stellt fest, dass sie nicht mehr allein ist!
Verblüfft wendet sie den Kopf – und blickt in das Gesicht des Weihnachtsmannes. Er ist gekommen! Und nicht nur das: Die Bank, auf der sie Platz genommen hat, hat sich verändert. Staunend sieht Aurelia sich um und stellt fest, dass die Bank keine Parkbank mehr ist, sondern Teil eines Schlittens! Eines wunderschönen Schlittens mit goldenen Kufen und dicken, gepolsterten Sitzen, auf denen flauschige Schaffelle liegen und dem … Aurelia blinzelt verwundert, neun Rentiere vorgespannt sind.
»Bereit?«, fragt der Weihnachtsmann neben ihr.
»Wo… wozu?«, stammelt Aurelia.
»Ich dachte, es ist langweilig, wenn ich dir das alles erzähle. Besser ist, wenn du es erlebst. Wir reisen zur Entstehung des Adventskalenders. Das ist das erste Türchen deines Adventskalenders.«
»Aber … meine Familie. Mein Mann wird sich Sorgen machen.«
»Du bist bald zurück«, versichert ihr der Weihnachtsmann. »So eine Reise in die Vergangenheit hebelt die Gesetze der Zeit aus. In genau einer Stunde sitzt du wieder in deinem Wohnzimmer.«
»Also gut«, gibt Aurelia nach.
»Hüa«, ruft der Weihnachtsmann, und die Rentiere fliegen über den vor Lichtern glitzernden Bodensee hinauf zu den Sternen.
Aurelia schreit leise auf und klammert sich an die Außenlehne des Schlittens. Sie kann gar nicht glauben, was da gerade passiert!
»Keine Sorge!« Der Weihnachtsmann zwinkert ihr zu. »Autofahren ist viel gefährlicher.«
»W… w… wenn du meinst«, stottert Aurelia, und in der Tat vergisst sie kurz darauf ihre Angst. Während sie so mit dem Weihnachtsmann durch den Sternenhimmel über den Bodensee fliegt, da staunt sie einfach nur. Wie wunderschön von hier oben alles aussieht! Und die Sterne – so nah und so groß, als könne sie nach ihnen greifen. Wie eine Blumenwiese liegen sie da. Eine Blumenwiese voller Sterne.
»Heute ist die Reise nicht lang«, sagt der Weihnachtsmann, der schon wieder zum Landeanflug ansetzt. »Wir müssen nur nach Maulbronn ins späte 19. Jahrhundert und dann noch einen Katzensprung ein paar Jahrzehnte wieder vor, ins 20. Jahrhundert nach München.«
»Aber … das gibt es doch gar nicht.«
»Es gibt viel mehr zwischen Himmel und Erde, als wir erfassen können«, sagt der Weihnachtsmann ernst. »Du musst nur daran glauben.«
»Es scheint tatsächlich so«, sagt Aurelia langsam. »Denn ich bin mir sicher, dass ich nicht träume. Und eigentlich bin ich mir auch sicher, dass ich nicht verrückt werde.«
»Natürlich wirst du nicht verrückt«, bestätigt der Weihnachtsmann. »Zumindest dann nicht, wenn du lernst, dich selbst und deine Wünsche ernst zu nehmen. Ansonsten besteht die Gefahr durchaus.«
»Ja«, sagt Aurelia leise. »Ich weiß.«
Gleich darauf landen die Rentiere samt Schlitten im großen Garten eines schmucken, aber einfachen Hauses.
»Das ist das Pfarrhaus von Maulbronn«, erklärt der Weihnachtsmann. »Hier wohnt der kleine Gerhard mit seinen Eltern. Sein Vater ist Pfarrer.«
»Gerhard? Was für ein Gerhard?«, fragt Aurelia verwundert.
»Dieser hier.« Der Weihnachtsmann hat den Schlitten mit einem kraftvollen Satz verlassen und äugt durch ein Fenster, dann winkt er Aurelia heran. Sie stellt sich neben ihn, legt ihre Hände rechts und links ihres Gesichts, um besser sehen zu können. Hinter dem Fenster liegt ein etwa sechsjähriger Junge in seinem Bettchen. Er schlummert und sieht rein und zart und friedlich aus. Aurelia betrachtet ihn gerührt, während ihr ganz warm ums Herz wird. Auf einmal verspürt sie große Sehnsucht nach ihren beiden Kindern, die jetzt ebenfalls in ihren Bettchen liegen und schlafen. Plötzlich fährt es ihr in den Magen. Momentan ist sie mehr als ein Jahrhundert von ihren Kindern getrennt!
Der Weihnachtsmann legt ihr einen Arm um die Schulter und sieht sie freundlich an. »Ich bringe dich nachher wieder zu deinen Lieben zurück«, verspricht er. Offensichtlich, denkt Aurelia, kann er Gedanken lesen. Aber er ist ja auch der Weihnachtsmann. Auch wenn ihre Vernunft immer noch damit hadert.
»Gerhard kann es kaum erwarten, bis endlich Weihnachten wird. Komm.« Er stapft Aurelia voraus und blickt durch ein zweites Fenster. Eine Frau sitzt am Küchentisch und näht. Aber der Stoff, den sie in der Hand hält und auf den sie etwas aufzusticken im Begriff ist, ist nicht biegsam, sondern hart.
»Was tut sie da?«, fragt Aurelia.
Der Weihnachtsmann lächelt. »Gehen wir hinein und lassen es uns erklären.«
»Aber wird sie denn nicht erschrecken, wenn mitten in der Nacht zwei Fremde in ihrer Küche stehen?«
»Ich bin kein Fremder«, sagt der Weihnachtsmann. »Ich bin der Weihnachtsmann. Und über den freut sich jeder.«
Er klopft ans Fenster, die Frau zuckt zusammen, doch als sie den Weihnachtsmann erkennt, schleicht sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie steht auf, kommt zum Fenster und öffnet es. »Der Weihnachtsmann!«, sagt sie. »Das ist aber schön. Kommen Sie doch herein.«
Sie lächelt auch Aurelia freundlich zu und scheint sich weder über deren Anwesenheit zu wundern noch darüber, dass da ein leibhaftiger Weihnachtsmann vor ihrem Fenster steht. »Ich mache Ihnen eben die Haustür auf. Aber bitte seien Sie leise. Mein Gerhard schläft.«
»Natürlich«, verspricht der Weihnachtsmann. »Wir ziehen uns sogar die Schuhe aus.«
»Das ist doch wirklich nicht nötig.« Die Frau wirkt etwas verlegen.
»Ich bestehe darauf!« Der Weihnachtsmann bückt sich mit einem Ächzen, um die dicken braunen Stiefel von den Füßen zu streifen. Zu ihrer Erheiterung sieht Aurelia, die es ihm eilig nachtut, dass er darunter quietschgelbe Socken trägt. »Sonst können Sie Ihre schöne Stube nachher gerade wieder putzen«, sagt er, während er der Frau in die Küche folgt.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten?«, fragt Gerhards Mutter und ergänzt dann: »Ich bin übrigens Frau Lang. Aber das wissen Sie sicher.«
Der Weihnachtsmann nickt, doch Aurelia schüttelt den Kopf. »Ich wusste es nicht«, sagt sie rasch. »Und ich bin Aurelia.«
Die Frau lächelt. »Darf ich Ihnen denn nun etwas anbieten?«, wiederholt sie ihre Frage.
»Wir wollen keine Umstände bereiten«, versichert der Weihnachtsmann. »Uns interessiert nur, was Sie da machen.«
Jetzt sieht Aurelia, dass das, was Frau Lang vorhin in der Hand gehalten hat, ein Pappstück ist, auf das die Ziffern 1 bis 24 geschrieben sind und auf das sie winzige Gebäckstücke näht.
»Mein Gerhard fragt mich jeden Tag ungeduldig, wann endlich Weihnachten ist«, erklärt sie. »Und weil in wenigen Stunden«, sie wirft einen raschen Blick auf die Uhr, »der erste Dezember ist, denke ich, ich könnte ihm damit ein wenig die Zeit verkürzen. Und ihm auf diese Weise gleich die Zahlen beibringen.«
»Das ist eine hervorragende Idee!«, ruft Aurelia begeistert und deutet dann auf die winzigen, hell glänzenden Gebäckstücke, die aussehen wie kleine Busen. »Und was ist das? Ich backe für mein Leben gern, müssen Sie wissen. Aber solche Kekse habe ich noch nie gesehen.«
Die Frau nickt. »Das sind Wibele«, erklärt sie.
»Wibele?«, erkundigt sich Aurelia neugierig und überlegt, ob man das mit »Weibele«, also »Weibchen« übersetzen könnte – und der Name von der Busenform abgeleitet ist. Sie fragt aber nicht.
»Probieren Sie ruhig«, fordert die Pfarrersfrau sie auf. »Das ist Hohenloher Biskuitgebäck.«
»Danke!« Sowohl Aurelia als auch der Weihnachtsmann kommen der Aufforderung nach, greifen nach den glänzenden Winzigkeiten, die hübsch in einer blau lasierten tönernen Schüssel angerichtet sind, und schieben sich je eines in den Mund. Aurelia schließt die Augen, schmeckt, fühlt. »Mhm«, sagt sie dann anerkennend. »Köstlich. So … knusprig. Vielleicht sollte ich die auch mal backen.«
Die Pfarrersfrau lächelt ihr ermutigend zu. »Sie benötigen gar nicht viel dafür. Zumindest, was die Zutaten angeht. Aber Sie brauchen Zeit, der zweite Name dieser Gebäckstücke ist: Geduldszeltle.«
Vermutlich, weil es dauert, diese winzigen Plätzchen zu formen, überlegt Aurelia. Und um sie trocknen zu lassen. Dann fragt sie doch: »Und der erste Name? Wibele? Wie ist der entstanden?«
Frau Lang zuckt die Achseln. »Weil wohl ein Konditormeister Namens Wibel sie Mitte des 18. Jahrhunderts erfunden hat.«
»Ach so«, murmelt Aurelia.
Der Weihnachtsmann schickt sich an, sich zu erheben.
»Sie gehen schon?« Die Frau klingt ein wenig enttäuscht. »Und ich hatte gehofft, dass Sie mir noch ein wenig Gesellschaft leisten. Wie Sie sehen, habe ich noch einiges zu tun.« Sie deutet auf das Pappstück, auf das sie erst sieben Wibele aufgenäht hat.
»Wir würden nur zu gern noch bleiben«, sagt der Weihnachtsmann freundlich. »Aber Sie können sich sicher vorstellen: Gerade vor Weihnachten habe ich viel zu tun.«
»Und ob ich mir das vorstellen kann.« Die Frau lächelt, und Aurelia bemerkt erst jetzt, wie hübsch sie ist. Sie hat rosige Wangen, gütige dunkle Augen und wirkt irgendwie … beseelt in dem, was sie tut, so müde sie auch sein mag. Es macht sie glücklich, ihrem Sohn eine Freude zu bereiten. Und der Gedanke daran, wie überrascht er am nächsten Morgen sein dürfte, wird sie zweifellos die ganze Nacht über wachhalten. Sie lächelt in sich hinein. Genau so hat sie sich letzte Nacht gefühlt, als sie Noelle einen Kuchen gebacken und den restlichen Kalender aufgefüllt hat.
»Jetzt geht’s nach München, in die Hofmannstraße 37, und ins Jahr 1903«, verkündet der Weihnachtsmann, als sie wieder im Schlitten sitzen.
»Und in welchem Jahr waren wir gerade eben?«, fragt Aurelia.
»1887«, erwidert der Weihnachtsmann gut gelaunt.
»Wir fliegen also sechzehn Jahre in die Zukunft«, stellt Aurelia fest.
»So ist es. Und dort wirst du jemandem begegnen, den du schon einmal gesehen, mit dem du aber noch nie gesprochen hast. Und wiedererkennen wirst du ihn vermutlich auch nicht.«
»Du sprichst in Rätseln.«
Der Weihnachtsmann stößt ein Kichern aus. Es ist unverkennbar, dass ihm die ganze Sache Vergnügen bereitet.
Diesmal hält er seinen Schlitten vor einem mächtigen Gebäude. »Normalerweise parke ich in solch großen Städten auf dem Dach«, wendet er sich erklärend an Aurelia. »Aber dann müssten wir durch den Kamin rutschen, und das will ich dir ersparen.«
»Das ist sehr freundlich«, bedankt sich Aurelia. »Aber warum ist es denn so warm? Wie im Sommer?«
Wieder kichert der Weihnachtsmann. »Weil es Sommer ist! Wir sind nicht in den Winter, sondern in den Sommer des Jahres 1903 gereist. Und du wirst auch gleich erfahren, warum.«
Der Weihnachtsmann geht ihr voraus durch das großzügige Treppenhaus nach oben und klopft an eine Tür.
Ein hochgewachsener, schlanker Herr, er muss Anfang zwanzig sein, öffnet ihnen. »Der Weihnachtsmann nebst Begleitung, und das mitten im Sommer«, freut er sich, und Aurelia denkt, dass sie diese Augen schon einmal gesehen hat. Ist das der Mann, den der Weihnachtsmann angekündigt hat?
»Gar nicht verwunderlich, weil es so genau passt«, fährt der Herr fort. »Kommen Sie herein, kommen Sie herein.«
Aurelias Verwunderung wächst. Was in aller Welt ist passend an einem Weihnachtsmann im Sommer? Sie folgt den beiden nach drinnen. Es riecht nach Druckerschwärze und frischem Papier. Überall liegen Drucksachen herum. Offenbar sind sie in einer Art Verlagsanstalt gelandet.
Der Mann führt sie in einen Konferenzraum, dessen Mitte von einem enormen Tisch eingenommen wird, auf dem große, bedruckte Bögen liegen. Und neben diesem Tisch stehen zwei Männer, die die Bögen aufmerksam betrachten. Über die Anwesenheit des Weihnachtsmannes scheinen sie sich nicht zu wundern, sondern nicken ihm und Aurelia nur kurz zu, widmen sich dann wieder ihren Betrachtungen und teilen ihre Eindrücke dazu dem Mann, der ihnen soeben die Tür geöffnet hat, wortreich mit.
»Erkennen Sie ihn?«, fragt der Weihnachtsmann leise.
»Welchen der drei?«, fragt Aurelia. »Die Augen des Mannes, der uns die Tür öffnete, kamen mir bekannt vor, aber …«
»Den meine ich auch«, unterbricht der Weihnachtsmann. »Das ist der kleine Junge, den wir eben durch das Fenster gesehen haben.«
»Das ist Gerhard?«, flüstert Aurelia fassungslos. »Das gibt es doch nicht.« Dann fügt sie hinzu. »Jetzt weiß ich auch, woher ich die Augen kenne. Er hat die Augen seiner Mutter.«
Der Weihnachtsmann nickt bestätigend.
»Er hat inzwischen eine Buchhändlerlehre in Maulbronn absolviert«, klärt er Aurelia im Flüsterton auf. »Vorletztes Jahr kam er dann nach München, ohne seine Mutter und folglich auch ohne Adventskalender. Solange er noch in Maulbronn gelebt hat, hat die Mutter es sich nicht nehmen lassen, ihrem Sohn alljährlich einen Adventskalender zu basteln.«
Vom Weihnachtsmann und Aurelia unbemerkt, sind die drei Männer am Tisch inzwischen verstummt und verfolgen ihr Gespräch. »Genau«, mischt sich Gerhard nun ein. »Aber ich hatte Glück. Just in dem Jahr, in dem meine Mutter mir meinen ersten Weihnachtskalender bastelte, gründete Friedrich Reichhold hier«, er deutet auf einen der neben ihm stehenden Männer, den ältesten im Bunde, »die Lithographische Kunstanstalt Reichhold.«
»1887«, murmelt Aurelia. »Das ist das Jahr, in dem wir gerade waren und Gerhard beim Schlafen zugesehen haben.« Wie merkwürdig sich alles anfühlt.
»Genau«, bestätigt der Weihnachtsmann flüsternd. Gerhard hat ihren Einwurf nicht gehört, sondern fährt, mit eifrig geröteten Wangen, fort: »Tagtäglich vervielfältigen wir hier Dinge«, sagt er und macht eine weit ausholende Bewegung. »Plakate, Verpackungen, Etiketten … Und da kam mir die Idee, dass wir auch Adventskalender drucken könnten.«
Er greift nach einem Karton, der auf dem Tisch liegt, und hebt ihn in die Höhe. Vierundzwanzig Felder mit den Ziffern 1 bis 24 sind darauf eingezeichnet. Er sieht dem Karton, den Gerhards Mutter für ihren Sohn gemacht hatte, sehr ähnlich. Gerhard deutet auf die Bilder, die ausgebreitet auf dem Tisch liegen. »Hier«, sagt er. »Das sind alles Werke unseres geschätzten Herrn Kepler.« Er zeigt auf einen Mann Anfang fünfzig, der leicht verlegen eine Verbeugung andeutet und Aurelia sofort sympathisch ist. »Unser Gedanke ist, diese wunderbaren Bilder nun stark zu verkleinern. Diese Miniaturen wollen wir dann auf einen zweiten Bildbogen drucken, und die Kinder können jeden Tag ein Bild ausschneiden und auf die Pappe aufkleben.«
So ist also der Bilder-Adventskalender entstanden!, denkt Aurelia fasziniert.
Gerhard sieht sie fragend an, und in seinem Blick liegt ein gewisser Stolz. »Was sagen Sie?«
»Ich finde, das ist eine ganz wunderbare Idee«, erwidert sie, und der Weihnachtsmann nickt bestätigend.
Gerhard lächelt. »Meine Mutter hat sich jedes Jahr so viel Arbeit gemacht«, sagt er. »Und wissen Sie was? Den ersten Adventskalender werde ich meiner Mutter schenken.«
Aurelia muss gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. Sie ist gerührt.
»Wissen Sie«, fährt Gerhard fort, »ich habe meine Mutter, als ich älter wurde, oft heimlich beobachtet, mit wie viel Hingabe sie den Adventskalender für mich gefertigt hat. Ich glaube, es war weniger das Wibele, das ich jeden Tag essen durfte, als vielmehr das Wissen, wie viel Mühe sie sich meinetwegen gemacht hat. Und so viel Leidenschaft bedarf es auch für unseren gedruckten Kalender. Herr Kepler hat sehr lange gearbeitet, bis die Bilder ganz und gar perfekt waren. Jetzt können wir an die Verkleinerung der Bilder und dann an den Druck gehen, sodass bis spätestens November alles fertig ist.«
»Dann wird der Kalender auch ein Erfolg werden«, bestätigt der Weihnachtsmann. »Was man mit absoluter Hingabe tut, wird auch ein Erfolg. Die anderen spüren die Liebe, die darin steckt. Das gilt für einen liebevoll gestalteten Kalender ebenso wie für einen schön gedeckten Tisch.«
»Bitte«, mischt der Künstler sich da ins Gespräch. »Würden Sie mir die Freude machen, die Bilder zu betrachten? Ganz aufmerksam. Und sparen Sie nicht mit Kritik. Es ist wirklich von Belang, dass es regelrechte Meisterwerke werden. Vielleicht muss ich doch noch etwas verbessern.«
»Gern.« Der Weihnachtsmann und Aurelia treten an den Tisch heran, und Aurelia lässt ihren Blick schweifen. Ein Bild nach dem anderen, sie betrachtet die Miniaturen ganz genau. Still. Und dann hebt sie den Kopf und sagt: »Sie sind wundervoll. Man spürt die Liebe und die Hingabe. In jedem einzelnen Bild.«
»Ich war gerade wirklich bei der Entstehung des Adventskalenders dabei«, flüstert Aurelia ergriffen, als sie wenig später wieder mit dem Weihnachtsmann im Schlitten sitzt. »Ich kann es gar nicht glauben.«
»Na ja«, der Weihnachtsmann wirkt etwas verlegen.
»Wie – na ja?«, fragt Aurelia.
»Herr Gerhard Lang hat den ersten verkäuflichen Adventskalender erfunden, aber den Adventskalender als solchen gibt es schon länger. Er hat sich nach und nach entwickelt und lässt sich bis in die Zeit um 1850 zurückverfolgen.« Er schnippt mit den Fingern, und gleich darauf segelt ein wunderschön illustriertes Buch zwischen den Sternen herab und direkt in seine Hände. »Eine gewisse Elise Averdieck hat es geschrieben«, erklärt der Weihnachtsmann und beginnt vorzulesen: »Abends, wenn die kleine Elisabeth zu Bette ist, dann erzählt die Mutter immer etwas von der Weihnachtsgeschichte, und sie lernen und singen viele Weihnachtslieder. Jeden Abend kommt ein neues Bild an die Tapete, und die Kinder wissen es schon, wenn alle vierundzwanzig Bilder an der Tapete hängen, dann ist Weihnacht da. Da sehen sie auf den Bildern das Christkindlein … und den Engel Gabriel … und Joseph und Maria …«
»Zauberhaft«, flüstert Aurelia.
»Nicht wahr?«, fragt der Weihnachtsmann. »Die Tradition mit den vierundzwanzig Bildern, die an die Wand gehängt werden, war keine Neuerung. Manchmal zeichneten die Eltern auch einfach vierundzwanzig Kreidestriche an die Wand oder auf die Innenseite eines Schranks, und jeden Tag durften die Kinder einen dieser Striche fortwischen. Es ging um genau das, um was es auch heute noch so oft geht: den Kindern ein Gefühl für die Zeit zu vermitteln und sie in ihrer Vorfreude zu bestärken.«
»Die Tradition mit den Bildern, die an die Wand gehängt werden, ist besonders schön«, murmelt Aurelia.
»Das finde ich auch«, sagt der Weihnachtsmann. »Aber noch besser gefällt mir dies hier: Die Kinder legten jeden Tag einen Strohhalm in die Krippe, sodass es das Christkind an Weihnachten schön weich hatte.«
»Das ist wirklich eine wundervolle Idee«, bekräftigt Aurelia. »Ich glaube, das will ich bei uns zu Hause auch einführen. Jedes der Kinder darf jeden Tag einen Strohhalm in die Krippe legen. Dann hat es das Jesuskind an Weihnachten besonders bequem.«
»Das wird ihnen bestimmt gefallen«, ist sich der Weihnachtsmann sicher. »Vielleicht kannst du ihnen sogar den tieferen Sinn dahinter vermitteln. Diesen Brauch kannte man nämlich wohl schon im Mittelalter: Damals wurden die Nonnen dazu angehalten, in ihrem Herzen eine Krippe zu bauen – durch gute Taten, wohlwollende Gedanken und Verzicht.«
»Aber was hat das mit dem Stroh zu tun?«, fragt Aurelia.
»Nun, die Kinder durften früher immer nur dann einen Strohhalm in die Krippe legen, wenn sie fromm und brav gewesen sind.«
»Ich weiß nicht«, murmelt Aurelia. »Dann wäre ja ein Kind, das sich nicht gut verhält, daran schuld, dass das Jesuskind nach seiner Geburt leiden muss. Wäre das nicht schlimm für das Kind?«
»Einerseits ja«, bestätigt der Weihnachtsmann. »Andererseits ist es auch zutiefst wahr: Wenn man sich schlecht verhält, schadet man einem anderen. Und das prägt sich auf diese Weise vielleicht besser ein, zumal es ja sehr spielerisch ist.«
Aurelia nickt. »Was Gerhard Lang wohl gesagt hätte, wenn er wüsste, was aus seiner Idee wurde?«, fragt sie schließlich. »Adventskalender werden einem heute ja regelrecht nachgeworfen.«
Der Weihnachtsmann nickt. »Oh, das hat er sogar selbst miterlebt. Adventskalender als Werbegeschenke folgten schon ein Jahr, nachdem Friedrich Reichhold und Gerhard Lang ihren auf den Markt brachten. Er erschien als Beilage der Zeitung Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg. Und kurz darauf gab es dann auch schon den Schokoladenadventskalender.«
»Was für eine Errungenschaft«, sagt Aurelia. »Aber was ich interessant finde, ist, dass ich sozusagen zu den Wurzeln zurückgekehrt bin – ich mache den Kindern jedes Jahr selbst einen Adventskalender. Mit vielen kleinen Überraschungen.«
»Und tust du das gern?«
Aurelia muss keine Sekunde überlegen. »Ja«, sagt sie. »Es macht mir zwar viel Arbeit, aber noch viel mehr Freude. Das ganze Jahr über sammle ich kleine Überraschungen für die Kinder, die ich ihnen dann in den Adventskalender stecke …«
»Dann machst du es wirklich so wie die Menschen früher. Sie verwendeten viel Zeit und Liebe auf diesen Kalender – und das war oft schwer: Materialien waren teuer und die Herstellung auch recht zeitaufwendig. In kinderreichen Familien war dies kein leichtes Unterfangen.«
Nachdenklich blickt Aurelia vor sich hin.
»Bedrückt dich etwas?«, fragt der Weihnachtsmann.
»Ach«, sagt Aurelia, »ich habe nur darüber nachgedacht, dass es ja so viele Möglichkeiten gäbe, einem anderen Menschen einen Adventskalender zu basteln, auch wenn man kein Geld und wenig Zeit hat. Man könnte vierundzwanzig kleine Zettel machen und auf jeden etwas Nettes schreiben.«
»Eine schöne Idee«, pflichtet der Weihnachtsmann ihr bei. »Und noch schöner ist, wenn man das nicht nur auf den Advent beschränkt.«
»Aber die Kinder wären vielleicht enttäuscht«, murmelt Aurelia. »Sie sind täglich so vielen Konsumgütern ausgeliefert und haben sich daran gewöhnt, alles zu haben und alles zu bekommen.«
»Die Frage ist nur: Wo ist dann ein Ende in Sicht? Jedes Jahr noch ein bisschen mehr?«
»Das ist völlig übertrieben«, sagt Aurelia. »Und ich muss dir etwas gestehen.«
»Ich weiß«, sagt der Weihnachtsmann. »Du hast früher nur einen Kalender mit Bildchen bekommen – die Fortentwicklung von Herrn Langs Idee. Und du hast immer deine Freundinnen beneidet, die einen aus Schokolade hatten.«
»Woher weißt du das?«, fragt Aurelia erstaunt.
»Ich bin der Weihnachtsmann«, sagt er. »Ich habe dich damals gesehen. Und eines Tages hattest du einen Adventskalender aus Schokolade, und deine Mutter wollte wissen, wo du den herhast.«
»Das warst du?«, begreift Aurelia verblüfft.
Der Weihnachtsmann schmunzelt und nickt. »Das will ich meinen.«
»Ab diesem Jahr bekam ich dann immer einen aus Schokolade«, erinnert sich Aurelia.
»Aber schon nach kurzer Zeit warst du damit auch nicht mehr zufrieden«, weiß der Weihnachtsmann. »Weil deine Freundinnen nun solche hatten, wie du sie deinen Kindern machst. Säckchen mit kleinen Überraschungen drin.«
»Ja«, bestätigt Aurelia beschämt. »Genau das meinte ich vorhin. Ist es nicht furchtbar, dass man nie zufrieden ist mit dem, was man hat?«
»Das liegt in der Natur des Menschseins«, antwortet der Weihnachtsmann weise. »Und es geht immer noch mehr und mehr: Im Londoner Kaufhaus Harrods gab es 2010 den Eine-Millionen-Dollar-Adventskalender. Es gab zum Beispiel eine Sonnenbrille aus 18 Karat Gold, ein Motorboot und eine Designerküche.«
»Ob der Beschenkte damit glücklich geworden ist?«, zweifelt Aurelia. »Ich habe da schon gestern darüber nachgedacht. Irgendwie muss es immer mehr sein. Immer mehr Glanz und Schmuck und Glitzern. Doch eigentlich geht es darum doch gar nicht an Weihnachten, das kann doch nicht sein Sinn sein.«
»Der Beschenkte des Millionenkalenders wurde auch nicht wegen des materiellen Werts glücklich. Er wurde glücklich, weil der Schenkende damit zum Ausdruck brachte, wie viel der Beschenkte ihm wert ist. Ob das Glück dann von Dauer war, ist eine andere Sache«, sagt der Weihnachtsmann. »Aber um das zu zeigen, hätte man nicht so viel Geld ausgeben müssen. Wichtig ist bei Geschenken nur, dass man wirklich den Beschenkten meint und nicht sich selbst.«
»Wie meinst du das?«
»Wenn der Schenkende das teure Geschenk nur machen würde, um aller Welt zu zeigen, wie viel er sich leisten kann, dann täte er es aus dem falschen Grund. Konkret auf dich bezogen meine ich, dass du dich ehrlich fragen musst: Füllst du den Adventskalender und machst dir all die Mühe, weil du deinen Kindern eine Freude machen willst? Oder um dir zu beweisen, dass du eine gute Mutter bist?«
»Das …«, setzt Aurelia an und schließt den Mund dann wieder. Sie denkt nach. In gewisser Weise hat der Weihnachtsmann recht: Sie will es besser machen als ihre Mutter früher. Sie will, dass ihre Kinder die mit den schönsten Adventskalendern sind. Sie tut es nicht nur für ihre Kinder, sondern auch, um die Gewissheit zu haben: Ich bin eine gute Mutter. Also aus demselben Grund, aus dem sie es niemals wagen würde, ihre Tochter mit einem gekauften Kuchen in die Schule zu schicken. Obwohl Noelle es vermutlich nicht mal bemerken würde.
»Siehst du?« Der Weihnachtsmann hat mal wieder ihre Gedanken gelesen. »Nimm das als Übung. Geh deinen Handlungen wirklich auf den Grund. Tu niemals etwas, um dir oder anderen etwas zu beweisen. Niemand verlangt von dir, zehn oder zwölf Sorten Plätzchen zu backen. Eine reicht auch.«
Inzwischen ist der Schlitten vor Aurelias Haus gelandet, und Aurelia überkommt ein warmes Gefühl. Dort drin schlafen sie, ihre Lieben und Süßen, und können es nicht erwarten, dass Weihnachten wird. Sie lächelt, verabschiedet sich vom Weihnachtsmann und geht hinein.
Kaum hat sie die Tür geöffnet, fliegen ihr zwei Kinder entgegen. »Mama«, ruft Gabriel aufgeregt. »Wo warst du denn?«
»Ich habe noch einen Spaziergang gemacht«, sagt sie überrascht. »Aber warum seid ihr denn schon wieder wach?«
Noelle schiebt sich vor und lächelt ihr so typisches, etwas schüchternes Lächeln. »Wir wollten dir noch etwas geben.«
»Ich konnte sie kaum bändigen«, kommt da eine Stimme von der Tür her. »Sie sind ganz aufgeregt.«
Lächelnd blickt Aurelia auf. »Michael! Das tut mir leid. Ich dachte, du hast einen ruhigen Abend, während ich durch die Jahrhunderte fliege.«
Irritiert sieht Michael sie an. »Während du durch die Jahrhunderte fliegst?« Misstrauisch kommt er näher und schnuppert. »Hast du getrunken?«
Wieder muss Aurelia lachen. Wie leicht mit einem Mal alles ist. »Ach, du kennst mich doch«, sagt sie. »Ich habe beim Spazierengehen ein bisschen vor mich hingeträumt.«
Gabriel zerrt an ihrer Hand. »Mami! Komm jetzt!«
Aurelia lässt sich ins Wohnzimmer führen. Auf dem Sofatisch liegt ein großes, dickes Brett, auf dem vierundzwanzig Schachteln kleben, wie man sie aus Papier falten kann. Jede ist mit einer Nummer versehen, geschrieben in ungelenker Kinderschrift. »Das haben wir für dich gemacht, Mama!«, ruft Noelle feierlich. »Weil du dir doch jedes Jahr so viel Mühe machst mit unseren Kalendern und selbst nie einen bekommst. Wir wollten ihn dir eigentlich schon heute Morgen geben, aber ein Türchen war noch nicht fertig. Aber wir haben es noch fertig gemacht, gerade eben. Wir haben nur so getan, als würden wir ins Bett gehen.«
Aurelia schlägt die Hände vor den Mund und starrt zwischen ihren Kindern und dem Kalender hin und her.
»Freust du dich denn gar nicht?«, fragt Gabriel schüchtern. Da geht Aurelia in die Knie und umschlingt ihre beiden je mit einem Arm. »Und wie ich mich freue, ihr Süßen«, sagt sie. »Ich bin ganz sprachlos. Und ich kann es gar nicht erwarten, das erste Türchen aufzumachen.«
Ihre Kinder schmiegen sich enger an sie. Aurelia schließt die Augen. Manchmal muss man einfach loslassen, dann geschieht alles von ganz allein.