Melusinas wundersame Reise - Sophia Verena - E-Book

Melusinas wundersame Reise E-Book

Sophia Verena

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Beschreibung

Fassen Sie sich ein Herz, setzen Sie sich auf den rumpelnden Wagen und lassen Sie sich Melusinas märchenhafte Geschichte von Feen und Mäusen erzählen »Meine Mutter war eine verzauberte Prinzessin. Die Trolle haben sie meiner Großmutter geschenkt, weil sie sich so sehr ein Mädchen gewünscht hat.« Es war einmal ... ein junges Waisenmädchen namens Melusina im Jahre 1890, dessen Schicksal vorbestimmt scheint: Sie soll eine Ehe mit ihrem gewalttätigen Cousin eingehen. Melusina schafft es diesem Grauen zu entkommen und schließt sich dem verwegenen Schausteller Erik an, der mit seinem Mäusezirkus durch das Land zieht und zusätzlich Wahrsagerei betreibt. Zusammen begeben sie sich auf eine Reise, bei der Melusina nicht nur die sagenumwobenen Landschaften Islands durchstreift, sondern auch ihre eigenen hellseherischen Fähigkeiten entdeckt ... »Volle Leseempfehlung!!! Einfach abtauchen in eine magische Welt.« ((Leserstimme auf Netgalley))   »Es waren verträumte magische Lesestunden, die mir gut gefallen haben.« ((Leserstimme auf Netgalley)) 

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Redaktion: Julia Feldbaum

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Yaroslav Shuraev/Pexels

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Steingesicht

Tommelise

Neue Wege

Erik

Verslun

Trollblut

Liebespfand

Der schwarze Strand

Die Königin

Flüche und Zaubersprüche

Herr Frucht und Frau Zucker

Nach Golde drängt

Wasserworte

Lagarfljótsormur

Schach

Danksagung

Für Mama und Papa in Liebe

Steingesicht

»Mäuseblut ist ebenso gut wie Menschenblut, also darfst du ihnen nichts antun, was du nicht auch einem Menschen antun würdest«, pflegte die Großmutter zu sagen.

Meist oblag es dann Melusina, die kleinen, knopfäugigen Wollknäuel zu fangen und aus dem Häuschen zu schaffen. Manchmal nahm sie dafür den Besen und kehrte sie auf die Wiese hinaus. Öfters aber, besonders an den warmen Tagen, sammelte sie sie in ihre bunt geflickte Schürze und nahm sie mit auf Schatzsuche.

Die schönsten Schätze ließen sich freilich am Drekafjall, am Drachenberg, finden. Dieser Berg, eigentlich ein fast winziger Vulkan, stand schon immer an diesem Fleck. Groß und rund mit einer fast pyramidenähnlichen Spitze schien er sich wie ein Kind dem Himmel entgegenzustrecken. Ob er noch lebte oder sich schon zur ewigen Ruhe zurückgezogen hatte, das wusste niemand so recht. Mit dem Wissen um ihre Unsterblichkeit meinten die Jungen, das alte Ding sei schon längst erloschen und man hätte nichts zu befürchten. Die Alten wiegten jedoch nur die Köpfe und murmelten, dass man die ruhende brodelnde Kraft des alten Felsens nicht unterschätzen sollte. Eines Tages könnte er wieder erwachen und sich schnaufend und sprudelnd zu seiner volle Größe aufrichten.

Melusina liebte diesen Vulkan von allen in der Gegend am meisten. Besonders im Sommer, wenn dieser über und über mit den zart duftenden lila Lupinen bewachsen war, sodass der große steinige Fels wie der reich verzierte Kopfschmuck einer Riesin wirkte. Und vielleicht war er das auch. Das schlafende Haupt einer riesigen Traumgestalt, die über die Gegend wachte.

Wie dieser Vulkan zu seinem Namen gekommen war, wusste selbst die Großmutter nicht. Was umso schöner war, da Melusina sich so all die Abenteuer ausdenken konnte, die sich um diesen magischen Hügel herum ereignet haben mochten.

Und im Winter, wenn der Vulkan ganz und gar in Schnee getaucht wurde, die Felsen und Steine, Lavabrocken und Erhebungen sich ebenfalls unter die Schneedecke schmiegten, dann wirkte es, als würde ein riesiger buckliger und höckeriger Drache friedlich dort auf der unendlichen Weite liegen. Ein Drache, der sich mit dem Schnee auflöste und, wenn der Frühling kam, Dutzende und Aberdutzende winziger Geschenke zurücklies. Das waren die Schätze – die Schätze, die man finden konnte. Die einen riefen und lockten. Die funkelten und blitzten. Raunten und murmelten.

Natürlich konnte man nicht erwarten, jeden Tag einen Schatz zu finden. Außer man hatte ein Piratenherz. Aber doch einmal die Woche, manchmal sogar zwei oder dreimal, war durchaus möglich. Und wie ungeduldig wartete Melusina oft im Winter, wenn alles unter der weiß blühenden Schneedecke verborgen lag. Wenn der Frühling sich einfach nicht einstellen wollte. Das Heu knapp wurde und die Sonne niemals zu erwachen schien. Aber genau dann, wenn man sicher war, die ewige graue Dunkelheit nicht mehr zu ertragen, dann wurde es Frühling. Dann erwachten die Zwerge und Mummelwesen aus ihrem Winterschlaf. Eine Zeit, in der die Erde sich reckte und streckte, die Wurzeln an die Oberfläche tauchten und das Gras sich dünn und fein wie Neugeborenenflaum erhob. Hatte man das abgewartet, fand man auch die Schätze. Funkelnde Edelsteine in Blau und Grün, versteinerte Käfer und Schneckenhäuser. Angeschwemmte Muscheln, Stöcke und Äste mit geheimen Mustern und Zeichen einer fremden Welt beschriftet.

Wenn Melusina nach Hause kam und ihre Schätze auf dem Tisch ausbreitete, lachte die Großmutter. Dann legte sich ihr Gesicht in tausend Jahre alte Falten, und ihre Augen funkelten mit den Steinen und Lavabrocken um die Wette. Gern nahm sie dann die wie Zauberstäbe und Wünschelruten geformten Zweige in die Hand und betrachtete lächelnd das wurmstichige Holz. Manchmal war es sie, manchmal Melusina, die eine Geschichte dazu erzählte. Eine Geschichte von einer wunderschönen Zauberin, welche bei einem schrecklichen Sturm, den sie selbst heraufbeschworen hatte, ihren Zauberstab verlor. Und seit jenem Tag irrte sie verzweifelt auf der Suche nach ihrem Schatz durch die Welt. Blickte und suchte in jedem Wind, in jedem Sturm, in jedem Sausen und Brausen nach ihm.

»Und deswegen hörst du auch immer ein Flüstern und Wispern im Wind. Das ist sie, die vergeblich nach ihrem Zauberstab ruft.«

»Und wird sie ihn jemals finden?«

Dann zuckte die Großmutter nur mit ihren dünnen Schultern. »Wenn der Wind eines Tages nicht mehr flüstert und tuschelt, brüllt und schreit, dann weißt du, dass sie ihn gefunden hat.«

Doch natürlich hörte der Wind nie auf zu reden – genauso wenig wie die Berge und die Fjorde, die Steine und Felsbrocken, das raschelnde Gras und die knarrenden Fensterläden. Ein jeder sprach, flüsterte, wisperte, tuschelte und rief in seiner Sprache.

Wenn die Großmutter des Nachts die Kerze ausblies und nur noch der glimmende Schein des Feuers durch den Türspalt flirrte, dann konnte Melusina es deutlich hören. Das Tuscheln und Raunen der Steine. Ihrer Schätze, welche überall im Zimmer lagen und hingen. Ein Kranz aus Vogelfedern, mit handgesponnenen Wollfäden umwickelt, begann meist als Erstes. Sacht und leise, sanft vor sich hin schwingend eröffnete er den Ball. Die Federn raschelten. Erst eine, dann zwei. Erst rechts herum, dann links herum. Ein geheimer Tanz, ein Umschauen. Vielleicht sehnten sich die Federn danach, wieder zu fliegen. Der Federkranz war der Anführer. Begann er zu tanzen, dauerte es nicht mehr lange, dann setzten auch die anderen Geräusche ein. Tip, tap, tip, tap, kleine Mäusepfötchen, die über den Boden tappten. Stehen blieben, weiterliefen. Schnupperten. Kratzten. Tip, tap, tip, tap. Dann kamen die Hölzer. Ein leises Ächzen, der Ruf eines Kindes, das sich vergewisserte, dass seine Geschwister in der Nähe waren. Knack. Und kurz darauf die Antwort eines anderen Zweiges. Knack. Die Steine kamen immer zum Schluss. Vermutlich, weil sie schon so alt waren. Jahrhunderte. Jahrtausende. Ewig. Wie die Großmutter. Die Steine waren am lautesten. Doch verstand man nie, was sie sagten. Sie hatten die geheimste Sprache. Eine Sprache älter als sie selbst. Und wenn das Mondlicht auf die versteinerten Formen fiel, konnte man unter den gesenkten Wimpern hindurch die runzeligen Gesichter, versteinerten Augen und Münder sehen. Wenn die Steine glaubten, man schlief, bewegten sie sich sogar. Freilich konnte man es nie sehen. Aber wenn man aufstand und nachsah, lagen sie oft an einem anderen Platz als zuvor. Als hätten sie eine kleine Wanderung unternommen.

Vermutlich wollen sie ihre Freunde und Familien besuchen. Die Steine in der Truhe mögen sich vielleicht nicht so gern wie jene auf dem Tisch oder dem Fensterbrett, dachte Melusina oft.

Wenn sie der Großmutter von den herumirrenden Schätzen in ihrem Zimmer berichtete, schüttelte diese meist den Kopf, drohte damit, alle Steine aus dem Haus zu werfen, oder aber sie strich ihrer Enkelin über das helle Haar. Man wusste nie genau, was sie tun würde. Und war man sich sicher, tat sie mit Sicherheit das Gegenteil.

»In einem Land, das einen zu Eis erstarren lässt oder in Lava einäschert, muss man so wandelbar wie die Jahreszeiten sein«, pflegte sie zu sagen. Meist, wenn sie schlecht gelaunt war. Wenn ihre Finger und Beine durch die Kälte schmerzten oder ihr Kopf von glühenden Nadeln malträtiert wurde. Dann war es klug, sie nicht zu ärgern und nicht zu laut und zu beharrlich eine Geschichte zu verlangen. Tat man es aber doch und erzählte sie tatsächlich eine, so waren es an diesen Tagen immer die besten. Die spannendsten und geheimsten. Die Geschichten, welche sonst nicht erzählt wurden. Die Geschichten über Melusinas Mutter. Die so wunderschön gewesen war, dass Prinzen und Edelmänner aus Norwegen und Dänemark auf die Insel gekommen waren, um sie zu freien.

»Haar wie aus Erde, Haut so bläulich und kalt wie das Eis auf den Gipfeln, Augen so grün wie das Moos in den Hängen und Lippen so rot wie ein tosender Vulkan. Schöner als alles, was es je gegeben hat. Schöner als alle Göttinnen, Feen und Prinzessinnen zusammen.«

Bei diesen Worten wurde der Mund der Großmutter klein, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihre Stimme wurde leiser und leiser, bis Melusina sie nicht mehr verstand. Immer an derselben Stelle. Jedes Mal. Stille. Atemlose, knisternde Stille. Und dann, gerade wenn man glaubte, die Großmutter habe aufgehört zu erzählen, erscholl plötzlich ihre Stimme. Fest und stark. Unerschütterlich, als wäre sie nie weg gewesen. Und dann redete sie. Schnell und zusammenhanglos. Geschichten, Erlebnisse, Fantastereien und Wetterprognosen. Alles vermischte sie zu einem brodelnden Eintopf aus Unsinnigem.

»Die Zwerge, welchen ich das Gold geklaut habe, haben mich verflucht. Sie sagten, ich würde die schönste Tochter auf Erden bekommen. Doch wenn ich nicht die Wäsche aufhänge, dann wird sie heute nicht mehr trocken. Und morgen wird es regnen und stürmen, also muss ich mich beeilen. Denn wenn die Trolle mich holen, dann will ich saubere Wäsche haben.«

Wer versuchte, sie in solchen Momenten zu unterbrechen, war selbst schuld, wenn er sich eine Ohrfeige einfing. Egal ob jung oder alt, ihre erwachsenen Söhne, die verständnisvollen Schwiegertöchter, die Nachbarn oder Enkel. Niemand drang in diesen Momenten zu ihr durch. Das Beste war, man ließ sie in Ruhe wie ein kaputtes Uhrwerk reden, bis … bis sie wieder aufhörte. Ebenso plötzlich und ruckartig, wie sie angefangen hatte. Meist schlief sie dann ein. Den Kopf auf die Lehne ihres Schaukelstuhls gelegt. Die dünnen Beine von sich gestreckt. Das Gesicht zerknittert und zerfurcht wie ein zerdrücktes Blatt Papier.

Die schönste Mutter der Welt«, flüsterte Melusina manchmal leise im Dunkeln. Und dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. Nicht weil sie keine Mutter hatte. Man konnte nicht vermissen, was man nicht kannte. Sondern weil sie nichts von ihr hatte. Kein Haar wie Erde, keine Haut wie Eis oder Lippen wie Lava. Bei ihr war es schiefgelaufen, war der Würfel falsch gefallen.

»Du bist eben nur ein Menschlein«, murmelte die Großmutter, wenn Melusina sie mit geröteten Augen und schniefender Nase um eine Antwort bat, warum sie nicht auch wunderschön war.

Das war ungerecht. Ungerecht und gemein.

Ebenso wie ihre Cousins. Frode, Kjartan, Ryke, und der Schlimmste von allen war Flemming. Ein widerlicher Kerl fürchterlicher als Gnome, Unwetter und Haifischpudding zusammen. Davon war Melusina überzeugt. Waren die anderen Kinder ihrer Onkel und Tanten uninteressant oder nervig, so war doch Flemming eine wahre Ausgeburt der Lava. Und Melusina war sich sicher, dass kein Mensch auf Erden, egal ob alt oder jung, reich oder arm, schwarz oder weiß, heidnisch oder christlich es mit der Bösartigkeit ihres Cousins aufnehmen konnte. Wann immer er ihr begegnete, packte seine schmutzige Faust einen ihrer Zöpfe und riss daran, dabei brüllte er in einer Lautstärke, dass man es bis nach Reykjavík hören musste, »Drachenei« in ihr Ohr. Drachenei, so nannte er Melusina nämlich. Mit der grausamen Genugtuung, mit der Kinder einander quälten. Und Flemming liebte es, Melusina zu quälen. An ihren Haaren zu reißen und so lange »Drachenei« zu schreien, bis sie weinte oder ihn anflehte, sie loszulassen. Das waren die einzigen Möglichkeiten, die Melusina hatte. Eine weitere gab es nicht. Nicht gegen einen drei Jahre älteren Jungen, der so stark wie ein Ochse und so stumpf wie ein Fisch war. Die Prügel, die er selbst anschließend von seinen Eltern oder der Großmutter erhielt, schienen ihn nicht zu stören. Ja, oft meinte Melusina sogar, ein befriedigtes Lächeln auf seinem schiefen Mund zu sehen, wenn der Onkel die Rute über seinen Rücken tanzen ließ. Und wenn er schließlich von dannen zog, wirkte er nicht im Mindesten reumütig oder gar beschämt. Vielmehr winkte er vergnügt, als könnte er den nächsten Besuch kaum erwarten.

Wenn Melusina erfuhr, dass Flemming kommen würde, versteckte sie sich. Meist im Ziegen- oder Kuhstall. Einmal auch bei den Hühnern. Doch natürlich fand er sie immer. Er war beharrlich. Beharrlich wie ein Bräutigam in der Brautnacht oder ein Henker kurz vor dem Trommelwirbel. Oft lief Melusina einfach fort. Rannte aus der Tür hinaus, hinunter zum Meer oder hoch zu den hügeligen grünen Felsen. So schnell, als ginge es um ihr Leben. Im Winter war es meist das Meer, wo der Wind sie umschloss und ihr tröstend übers Haar fuhr, die eiskalte Gischt ihre Tränen wegwischte. Dort kauerte sie sich winzig klein zwischen den Felsen zusammen. Wartete bibbernd und zitternd so lange, bis ihre Lippen und Finger blau wurden. Dann, wusste sie, war genug Zeit verstrichen, um sicher wieder in die Hütte zurückkehren zu können.

Im Sommer rannte sie hoch zu den Schafen und Blumen auf der Wiese. Versteckte sich zwischen den flockigen Leibern, vergrub das Gesicht in der duftenden Erde und flehte zu den Blumen, Kräutern und Gräsern, sie mögen sie unsichtbar machen.

Einmal geschah es jedoch, dass Flemming ihr folgte. Er stand schon in der Tür. Breitbeinig, den schiefen Mund zu einem hässlichen Grinsen verzerrt. Die kleinen, kahlen Augen tückisch zusammengezogen. Die Großmutter war bei einer der Nachbarinnen. Keiner würde sie hören. Er trat in die Stube. Zwei Schritte, mehr waren bei ihm nicht nötig. Wie erstarrt stand Melusina da, wagte kaum zu atmen. Gerade als er sie packen wollte, stieß er sich am Tisch. Sein Jaulen durchbrach die Spannung. Wie der Blitz schoss Melusina zur Tür hinaus, raus auf die Wiese, den Berg hinauf, wo die Schafe und Ziegen weideten, die Blumen und Gräser sie beschützten. Sie rannte so schnell, als würde der Wind ihr Flügel verleihen, und tauchte luftschnappend zwischen den fragend blökenden Schafen unter. Jetzt war sie in Sicherheit. Sie vergrub die Finger in der feuchten Erde. Liebkoste die Fels- und Lavabrocken, welche sich zärtlich an ihre Finger schmiegten. Atmete den schweren, schützenden Geruch ein. Die Gräser und Blumen kitzelten an ihren Wangen, als wollten sie sie trösten.

Im Nachhinein hatte sie keine Erklärung dafür, wie er es geschafft hatte, so plötzlich über ihr zu stehen. Als wäre er geradewegs aus der Erde gewachsen. Ein Troll, der durch geheime Fels- und Erdgänge gerannt war, um wie ein Dämon plötzlich emporzusteigen. Seine riesigen Füße waren direkt vor ihrem Gesicht. Würde es etwas helfen, wenn sie die Augen schloss? Sie ganz fest zukniff und das Gesicht in die Erde drückte? So lange, bis er sich wieder in Luft auflöste?

Seine Hände grapschten nach ihr, und als wäre sie nur eine Lumpenpuppe, riss er sie empor. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt.

Seine gelben Zähne blitzten in der Sonne. »Drachenei … Drachenei, du darfst nicht weglaufen.« Sein Gesicht kam noch näher heran. Sein fauliger Atem streifte über ihre Wange. »Drachenei … Drachenei … Drachenei.«

Was war anders an diesem Tag? Was war der Unterschied zu den vielen, vielen Malen davor. Zu den Stunden, Tagen, Monaten und Jahren. Es war immer dasselbe Wort. Immer das gleiche Spiel. Warum machte es sie diesmal so wütend? So wütend, als würde ein Feuer in ihrer Brust brennen. Ein Pfeil, getränkt mit Gift, aus ihrem Mund schießen, Dornen aus ihren Händen wachsen und ihr Blut sich in glühende Lava verwandeln.

»Hör auf, mich so zu nennen!«, schrie sie. So laut. So laut, dass die Schafe ängstlich auseinanderfuhren. Sie riss sich los. »Ich bin kein Drachenei. Meine Mutter ist eine Prinzessin und du … du Nichtsnutz wirst es bereuen, wenn du mich noch einmal eine Drachenbrut nennst.«

Totenstille. Selbst die Schafe schienen verstummt. Wie ein Ölgötze stand Flemming da. Den dummen Mund offen vor Unverständnis, die Augen weit aufgerissen. Ein Schubs mit dem kleinen Finger, und er wäre zu Boden gegangen. Seine Welt war in diesem Augenblick aus dem Gleichgewicht geraten und hatte alles um ihn herum mitgerissen. Selbst der Wind hatte aufgehört zu rufen. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sich Melusina, ob die Zauberin nun ihren Zauberstab gefunden hatte.

Dieser Moment der Unaufmerksamkeit holte Flemming aus seiner Starre. Mit einem Gebrüll, wie es nur die Jäger in der Savanne hörten, stürzte er sich auf Melusina und riss sie zu Boden. Seine Hände umklammerten ihren Kopf und schlugen ihn auf die Erde, dabei brüllte er nach Atem ringend: »Du dreckiges Stück, Tochter einer Irren, einer Sünderin und einer Hure. Dankbar solltest du sein, dass ich dich Drachenei nenne. Eine Schande bist du, die Missgeburt einer Missgeburt. Ins Wasser solltest du gehen … wie sie … jawohl ins Wasser!«

Er schrie und brüllte. Seine Hände lagen wie Schraubstöcke um ihren Kopf. Sein Gesicht war hochrot vor Zorn. Während die Worte wie Säure aus seinem Schlund spritzten. Wieder und wieder rammte er ihren Kopf auf den Boden. Doch Melusina spürte den Schmerz nicht. Die Wiese war ihr Freund, das Moos schützte sie, die Blumen betteten sie, und die Steine gaben ihr halt. Und da war auch das Flüstern, das wiederkehrende Flüstern, das immer lauter wurde. Sich zu einem wütenden Fauchen erhob.

Später war es schwierig zu beschreiben, was genau in diesem Moment geschehen war. Wie es geschehen konnte, dass Flemming von ihr fortgerissen wurde. Durch die Luft flog und mit einem unschönen Knirschen und Krachen gegen einen der Felsen schlug. War es die Zauberin selbst, welche im Wind umherirrte und in dem bösen ungeschlachten Jungen einen Feind sah? War es der Gott der Felsen, der den Wind, der sonst so friedlich an ihm entlangstreifte, wie einen tosenden Ball nach Flemming schleuderte? Oder waren es am Ende gar unsichtbare Riesen, welche mit langen, weit ausholenden Schritten über die Ebene liefen. Fortschleuderten, was ihnen im Weg war?

Man brachte ihn unter viel Klagen seitens seiner Mutter zum weit entfernten Doktor. Es sollten viele Monate vergehen, bis die Großmutter die Nachricht erreichte, dass ihr Enkel wieder genesen sei, aber nie wieder auf dem linken Ohr hören würde.

Die Umstände, welche zu dem Unfall geführt hatten, sprachen sich schnell herum, wurden ausgeschmückt, umgedichtet, verharmlost oder wie ein Schreckensgespenst aufgebauscht. Freilich sorgte diese Geschichte mehr denn je dafür, dass Melusina von den Verwandten nur noch skeptisch, ja beinahe mit Furcht betrachtet wurde. Und es dauerte nicht lang, da sprach man von ihr nur noch von »der Hexe«, von »der, die den Wind beherrscht«, »die man lieber nicht anspricht«, von »dem Mädchen mit dem bösen Blick«.

Am Abend des Vorfalls legte sich die Großmutter zu Melusina in das schmale Bett, und ihre Enkelin fest im Arm haltend erzählte sie ihr eine Geschichte. Eine Geschichte, die anders war als die übrigen. Eine geheime, nur unter den weisen Frauen von Generation zu Generation weitergegebene Geschichte.

Es war die Geschichte von Blut und Tränen. »Im Blut ist das Leben und in den Tränen die Seele. Beides ist also unerhört kostbar. Tropft Blut auf die Erde, Blut, das durch Wut und Hass entstand, so fließt dieses Blut bis ins Innerste. Ganz tief hinunter, wo der Teufel und die Dämonen in der Hölle sitzen. Diese weben dann aus dem Blut Fäden, und diese Fäden verknüpfen sie dann zu Schicksalen. Dein Schicksal mit dem eines völlig Fremden. Zusammengefügt zu einer unheiligen Allianz. Also hüte dich davor, jemals böses Blut in die Erde tropfen zu lassen.«

Es war still im Zimmer. Nur das Knistern und Knacken des lauschenden Feuers waren zu hören. Melusina schluckte. Schmiegte sich noch näher an die Großmutter. Atmete den tröstenden Geruch nach Heu, Erde und Wärme.

Die Großmutter fuhr fort: »Die Tränen sind wieder so eine Sache für sich, denn wenn Tränen aus einem reinen Herzen kommen, du also Tränen vor lauter Glück oder aus tiefstem Mitleid oder auch Reue vergießt, so steigen diese Tränen zum Himmel auf. Da, wo die Engel und Gott und die Feen und Odin sitzen. Und diese Tränen werden dort ebenfalls verwebt. Und die können die Blutfäden dann zerreißen oder auch Menschenschicksale neu verknüpfen …« Sie schwieg einen Augenblick. Dann griff ihre dünne Hand nach Melusinas Kinn. Zwang ihre Enkelin, sie anzusehen. Ihre Stimme war weich. »So manches Menschenschicksal wurde schon da unten oder dort oben verwebt. Auch meines und das deiner Mutter. Also gib acht, mein Kind. Gib gut auf dich acht.«

Und mit diesen Worten verstummte sie für den restlichen Abend.

Wusste oder ahnte sie das Schicksal ihrer Enkelin? Sah sie vor sich das Bild eines blassen, schwarzhaarigen Jungen, der einem anderen die Faust ins Gesicht schlug? Hörte sie das Wort Trollblut und wusste sie, was dieses einmal für das Schicksal Melusinas bedeuten würden?

Tommelise

Flemming erschien nie wieder auf dem großmütterlichen Hof. Auch die übrigen Cousins und Cousinen schienen einen Besuch zu vermeiden. Zwar fanden sich an Weihnachten und anderen großen Festtagen die Söhne mitsamt ihren Frauen pflichtschuldig bei der Großmutter ein. Stapften und schlugen sich durch die Schneeberge. Folgten dem flackernden Licht in den winzigen Fenstern. Bis sie schließlich mit dampfenden Schuhen, gefrorenen Bärten und glühenden Wangen in der vertrauten Stube standen. Pflichtschuldig brachten sie Aniskekse und Marzipan sowie süßes Lavabrot und Vanillekuchen, doch vermieden sie es alle, näher als unbedingt nötig in Melusinas Nähe zu sein, und verabschiedeten sich wieder, so schnell wie es ihr Verständnis von Anstand erlaubte. Die Großmutter selbst sagte nie etwas über das scheinbar merkwürdige Verhalten ihrer Söhne oder über das Ausbleiben der Enkelkinder. Sie schien es nicht weiter zu bemerken. Vielleicht war es ihr sogar ganz recht so. Jedenfalls wirkte sie nie einsam oder bedrückt, wenn sie vor der Hütte saß und strickte, während die Hühner und Gänse um ihre Beine strichen. Die weichen Hälse an ihren Beinen rieben und zufrieden gackerten und quakten, wenn die Großmutter ihnen über die Köpfe strich.