Menschen im Hotel - Vicki Baum - E-Book
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Menschen im Hotel E-Book

Vicki Baum

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Beschreibung

Vicki Baum wiederentdecken – mit ihren besten Romanen! Vicki Baum schrieb von den 20ern bis in die 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zahllose Bestseller und führte das Leben eines Weltstars. Ihr Verlag würdigt sie nun mit einer wegweisenden Biographie und der Neuausgabe ihrer bekanntesten Romane. Menschen im Hotel, erschienen im Jahr 1929, machte Vicki Baum weltberühmt. Der mit leichter Hand, Poesie und subtilem Witz erzählte Roman führt eine Handvoll Menschen im Grand Hotel zusammen, zeigt sie in ihren Krisen, Träumen und Enttäuschungen und liefert ein atmosphärisch dichtes Bild vom Berlin der 20er-Jahre. Am Broadway dramatisiert, in Hollywood mit Greta Garbo, später noch einmal mit Heinz Rühmann verfilmt, begründete der Roman Vicki Baums Weltruf und ebnete ihr den Weg in die USA.

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Seitenzahl: 453

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Sammlungen



Vicki Baum

Menschen im Hotel

Kolportageroman mit Hintergründen

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Vicki Baum

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Inhaltsverzeichnis

Wir weisen darauf hin, dass in diesem Roman eine rassistisch geprägte historische Sprache verwendet wird.

Inhaltsverzeichnis

Als der Portier aus der Telefonzelle 7 herauskam, war er ein wenig weiß um die Nase herum; er suchte seine Mütze, die er im Telefonzimmer auf die Heizung gelegt hatte. »Was war’s denn?«, fragte der Telefonist an seinem Schaltbrett, Hörer vor den Ohren und rote und grüne Stöpsel in den Fingern.

»Ja – sie haben die Frau plötzlich in die Klinik gebracht. Ich weiß gar nicht, was das heißen soll. Sie meint, es geht los. Aber es ist ja noch gar nicht so weit, Herrgott noch mal!«, sagte der Portier.

Der Telefonist hörte nur halb hin, denn er musste eine Verbindung herstellen. »Na, nur mit die Ruhe, Herr Senf«, sagte er dazwischen. »Schließlich haben Sie morgen früh Ihren Jungen –«

»Also schönen Dank auch, dass Sie mich hier ans Telefon geholt haben. Ich kann doch da vorne in der Loge nicht meine Privatgeschichten rumposaunen. Dienst ist Dienst.«

»Eben. Und wenn’s Kind da ist, ruf ich’s Ihnen durch«, sagte der Telefonist zerstreut und schaltete weiter. Der Portier nahm seine Mütze und ging auf den Zehenspitzen davon. Das tat er, ohne es zu wissen, weil seine Frau nun dalag und ein Kind bekommen sollte. Als er den Gang überquerte, an dem die Schreib- und Lesezimmer still mit halb abgedrehten Lampen lagen, schnaufte er tief aus sich heraus und fuhr sich durch die Haare. Er spürte erstaunt, dass seine Hand davon feucht wurde, aber er nahm sich nicht die Zeit, die Hände zu waschen. Schließlich konnte man nicht verlangen, dass der Hotelbetrieb aussetzte, weil der Portier Senf ein Kind bekam. Vom Neubau her hopste die Musik aus dem Tea-Room in Synkopen an den Wandspiegeln entlang. Der butterige Bratenduft der Diner-Zeit fächelte diskret daher, aber hinter den Türen des großen Speisesaales war es noch leer und still. Im kleinen weißen Saal richtete der garde manger Mattoni sein kaltes Büfett. Der Portier, der wunderlich müde in den Knien einen Augenblick an der Tür stehen blieb, starrte benommen die bunten Glühlampen an, die hinter den Eisblöcken spielten. Im Korridor kniete ein Monteur auf dem Boden und reparierte etwas an den elektrischen Leitungen. Seit man die großen Scheinwerfer draußen an der Straßenfront hatte, war immer etwas mit der überlasteten Lichtanlage des Hotels los. Der Portier gab seinen wackligen Beinen ein kleines Kommando und strebte seinem Platz zu. Er hatte die Loge unter der Obhut des kleinen Volontärs Georgi zurückgelassen, Sohn des Besitzers eines großen Hotelkonzerns, der seinen Nachfolger im fremden Betrieb von der Pike auf dienen lassen wollte. Senf trabte etwas beengt quer durch die Halle, die voll und bewegt war. Hier traf die Jazzmusik des Tea-Rooms mit dem Geigenschmachten des Wintergartens zusammen, dazwischen rieselte dünn der illuminierte Springbrunnen in ein unechtes venezianisches Becken, dazwischen klirrten Gläser auf Tischchen, knisterten Korbstühle, und als dünnstes Geräusch schmolz das zarte Sausen, mit dem Frauen in Pelzen und Seidenkleidern sich bewegen, in den Zusammenklang. Bei der Drehtür schraubte sich Märzkühle in kleinen Stößen herein, sooft der Page Gäste ein- und ausließ.

»All right!«, sagte der kleine Georgi, als Portier Senf mit einem Anschwung die Loge erreichte, wie einen Heimathafen. »Die Sieben-Uhr-Post. Achtundsechzig hat Krach gemacht, weil der Chauffeur nicht gleich zu finden war. Bisschen hysterische Dame, was?«

»Achtundsechzig – das ist die Grusinskaja«, sagte der Portier, und dabei begann er schon mit der rechten Hand die Post zu sortieren. »Das ist die Tänzerin, das kennen wir schon. Seit achtzehn Jahren. Vor dem Auftreten kriegt sie jeden Abend ihre Nerven und macht Krach.«

In der Halle erhob sich ein Herr aus seinem Klubstuhl, ein langer Herr, dessen Beine wie ohne Gelenke waren, und kam gesenkten Kopfes zur Portierloge. Er trödelte eine Weile in der Halle umher, bevor er sich dem Vestibül näherte, er gab sich eine betonte Haltung der Erwartungslosigkeit und Langeweile, betrachtete die ausgelegten Magazine an dem kleinen Zeitungsstand, zündete eine Zigarette an, aber schließlich landete er doch beim Portier und fragte zerstreut: »Post für mich gekommen?«

Der Portier seinerseits fand sich auch zu einer kleinen Komödie bereit. Er schaute erst in das Fach Nr. 218, bevor er antwortete: »Diesmal leider nichts, Herr Doktor.« Worauf sich der lange Herr langsam wieder in Bewegung setzte, auf Umwegen zu seinem Klubstuhl gelangte, in den er sich steifbeinig niederließ, um dann mit blindem Gesicht in die Halle zu starren. Dieses Gesicht übrigens bestand nur aus einer Hälfte, einem jesuitenhaft verfeinerten und zugespitzten Profil, das mit einem außerordentlich schön gebauten Ohr unter dünngrauem Schläfenhaar abschloss. Die andere Gesichtshälfte war nicht vorhanden. Es gab da nur einen schiefen, ineinandergeflickten und zusammengelappten Wirrwarr, in dem zwischen Nähten und Narben ein Glasauge blickte. »Souvenir aus Flandern«, pflegte Doktor Otternschlag dieses sein Gesicht zu nennen, wenn er mit sich sprach …

Als er eine Weile so gesessen und die vergoldeten Gipskapitäle der Marmorsäulen betrachtet hatte, die er bis zum Ekel kannte, als er genügend mit seinen unsehenden Augen in die Halle gestiert hatte, die sich jetzt, vor Theaterbeginn, ziemlich rasch leerte, erhob er sich wieder und stelzte mit seinem Marionettengang zur Portierloge hinüber, in der Herr Senf nun eifrig und seinem Privatleben entrückt amtierte.

»Niemand nach mir gefragt?«, erkundigte sich Herr Doktor Otternschlag und schaute die glasbedeckte Mahagoniplatte an, auf die der Portier Zettel und Notizen zu deponieren pflegte.

»Niemand, Herr Doktor.«

»Depesche?«, fragte Doktor Otternschlag nach einer Weile. Herr Senf war so freundlich, wieder das Fach Nr. 218 zu untersuchen, obwohl er wusste, dass nichts darinnen lag.

»Heute nicht, Herr Doktor«, sagte er. Menschenfreundlich fügte er hinzu: »Vielleicht wollen Herr Doktor ins Theater gehen? Ich habe da noch eine Loge zur Grusinskaja, Theater des Westens –«

»Grusinskaja? Nee«, sagte Doktor Otternschlag, stand noch einen Augenblick und wanderte dann durch das Vestibül und rund um die Halle zu seinem Stuhl zurück, jetzt hat nicht einmal die Grusinskaja mehr ausverkauft, dachte er dabei. Nun natürlich. Ich selbst will sie ja nicht mehr sehen. Gramvoll sackte er in den Klubstuhl zurück.

»Der Mensch kann einen schwächen«, sagte der Portier zum kleinen Georgi. »Ewig das Gefrage wegen der Post. Seit zehn Jahren wohnt er jedes Jahr ein paar Monate bei uns, und noch nie ist ein Brief gekommen, und kein Hund hat nach ihm gefragt. Da sitzt so ein Mensch nun egal da herum und wartet –«

»Wer wartet?«, fragte nebenan in der Rezeption der Empfangschef Rohna und steckte seinen hellrötlichen Schädel über die niedrige Glaswand. Aber der Portier gab nicht gleich Antwort; es war ihm gerade so, als wenn er eben seine Frau schreien gehört hätte – er horchte aus sich heraus. Gleich darauf versank das Private in ihm, denn er musste dem kleinen Georgi helfen, dem mexikanischen Herrn von 117 auf Spanisch eine komplizierte Zugverbindung zu erklären. Der Page Nr. 24 schoss rotwangig und wassergekämmt vom Lift herüber und rief – zu laut für die vornehme Halle – freudig erregt: »Der Chauffeur von Herrn Baron Gaigern soll bestellt werden!« Rohna hob eine strafende und dämpfende Hand, wie ein Dirigent. Der Portier gab den Ruf nach dem Chauffeur telefonisch weiter. Georgi machte erwartungsvolle Jungenaugen. Es roch nach Lavendel und guter Zigarette. Knapp hinter dem Geruch her kam ein Mensch durch die Halle, der so beschaffen war, dass sich viele nach ihm umsahen. Die Klub- und Korbstühle in seinem Fahrwasser belebten sich. Das wächserne Fräulein am Zeitungsstand lächelte. Der Mensch lächelte auch, ohne erkennbaren Grund, nur einfach aus Vergnügen an sich selber, so schien es. Er war außergewöhnlich groß, außergewöhnlich gut angezogen, er federte beim Gehen wie ein Katzentier oder ein Tenniscrack. Er trug zum Smoking keinen Abendmantel, sondern einen dunkelblauen Trenchcoat, was unpassend war, aber der ganzen Gestalt etwas liebenwürdig Saloppes gab. Er klapste den Pagen Nr. 24 auf den Wasserscheitel, streckte, ohne hinzusehen, einen Arm über den Tisch des Portiers und empfing eine Handvoll Briefe, die er einfach in die Tasche stopfte, der er zugleich seine gesteppten Wildlederhandschuhe entnahm. Dem Empfangschef nickte er zu wie einem Kameraden. Er setzte seinen dunklen, weichen Hut auf, nahm ein Zigarettenetui heraus und steckte eine Zigarette zwischen die Lippen, ohne sie anzuzünden. Gleich darauf nahm er den Hut wieder ab, um beiseitetretend zwei Damen die Drehtür freizugeben. Es war die Grusinskaja, schmal und klein, bis zur Nase in einem Pelz versteckt und gefolgt von einem schattenhaft verwischten Wesen mit Koffern in den Händen. Als der Wagenmeister draußen die beiden im Auto verstaut hatte, zündete der sympathische Herr im blauen Regenmantel eine Zigarette an, griff wieder in die Tasche, steckte dem Boy Nr. 11, der die Drehtür bediente, eine Münze zu und verschwand durch die schaukelnden Spiegelscheiben mit der beglückten Miene eines kleinen Jungen, der Karussell fahren darf.

Als dieser Herr, dieser Mensch, dieser hübsche Baron Gaigern die Halle verlassen hatte, wurde es mit einem Male sehr still, und man hörte den illuminierten Springbrunnen mit einem kühlen, zarten Geräusch in die venezianische Schale fallen. Das kam daher, dass nun die Halle leer geworden war; die Jazzband im Tea-Room hatte aufgehört, die Musik im Speisesaal noch nicht begonnen, und das Wiener Salontrio des Wintergartens pausierte. In die plötzliche Stille kam das aufgeregte, ununterbrochene Autohupen der Stadt, die draußen vor dem Hoteleingang ihr Abendleben vorübertrieb. Drinnen in der Halle aber ließ sich die Stille so an, als hätte der Baron die Musik, den Lärm und das Menschenrauschen mit sich fortgenommen.

Der kleine Georgi nickte zur Drehtür hin und sagte: »Der ist gut. Der kann so bleiben.« Der Portier zuckte die Schultern des Menschenkenners. »Ob der gut ist, das ist noch die Frage. Der hat so was – ich weiß nicht. Der ist mir zu flott. Wie der auftritt und die großen Trinkgelder – das hat so was von Kintopp. Wer reist denn heutzutage mit so einem Aufwand – wenn’s nicht ein Hochstapler ist? Wenn ich Pilzheim wäre, ich täte die Augen aufmachen.«

Rohna, der Empfangschef, der seine Ohren überall hatte, streckte wieder den Kopf über die Glasbarriere; unter dem dünnen rötlichen Haar schimmerte die blauweiße Kopfhaut. »Lassen Sie nur, Senf«, sagte er. »Der Gaigern ist gut; den kenne ich. Der ist mit meinem Bruder in Feldkirch erzogen worden. Für den brauchen wir Pilzheim nicht bemühen.« Pilzheim war der Detektiv des Grand Hôtels.

Senf salutierte und schwieg respektvoll. Rohna wusste Bescheid. Rohna war selber Graf, einer von den schlesischen Rohnas, ein umgestellter Offizier, ein tüchtiger Kerl. Senf salutierte noch einmal, während Rohnas Windhundgestalt sich zurückzog und nur mehr als Schatten hinter der Milchglaswand ihr Wesen trieb.

Doktor Otternschlag in seinem Winkel da rückwärts hatte sich ein wenig aufgerichtet, solange der Baron in der Halle zu sehen war; nun schrumpfte er wieder ein, trübsinniger als zuvor. Er warf sein halb volles Kognakglas mit dem Ellbogen um, ohne deshalb hinzublicken. Die dünnen, gelb gerauchten Hände hingen ihm zwischen den gespreizten Knien herab und waren so schwer, als ob sie in bleiernen Handschuhen steckten. Zwischen seinen langen Lackstiefeln sah er den Teppich, der die Halle bedeckte, der alle Treppen, Gänge, Korridore des Grand Hôtels bedeckte; sein Rankenmuster mit den grüngelben Ananas zwischen bräunlichen Blättern auf himbeerrotem Grund war ihm ein Überdruss. Alles war so tot. Die Stunde war tot. Die Halle war tot. Die Leute waren fortgegangen zu ihren Geschäften, ihren Vergnügen, ihren Lastern und hatten ihn allein hier sitzen lassen. Die Garderobenfrau wurde in der Leere mit einem Mal sichtbar, wie sie in der Vorhalle hinter den unbewohnten Kleiderständern stand und mit einem schwarzen Kamm das dünne Haar auf ihrem alten Kopf zurechtstrich. Der Portier verließ seinen Verschlag und schoss in unziemlicher Eile quer durch die Halle zum Telefonzimmer hin. Er sah aus, als erlebe er etwas, dieser Portier. Doktor Otternschlag suchte seinen Kognak, fand ihn nicht. Wollen wir jetzt aufs Zimmer gehen, uns hinlegen? fragte er sich. Eine kleine Flackerröte trat auf seine Wangen und verschwand wieder, als hätte er zwischen sich und sich ein Geheimnis verraten. Ja, antwortete er sich. Aber er stand nicht auf, er war sogar dafür zu gleichgültig. Er streckte seinen gelben Zeigefinger aus, Rohna, ganz am anderen Ende der Halle, bemerkte es, und ein unsichtbarer Wink wehte einen Pagen vor den Doktor.

»Zigaretten, Zeitungen«, sagte er eingerostet. Der Page flitzte zu dem kataleptischen Fräulein am Zeitungsstand – Rohna besah missbilligend diese lebhafte Jungenschlaksigkeit – und dann nahm Otternschlag die Zeitungen und die Zigarettensorte entgegen, die der Page ihm ausgesucht hatte. Otternschlag bezahlte, er legte Geld auf die kleine Tischplatte, nicht in die Hand des Pagen; immer schuf er eine Entfernung zwischen sich und den anderen, aber das wusste er nicht. Seine intakte Mundhälfte gab sogar eine Art von Lächeln her, als er die Zeitungen aufschlug und zu lesen begann; er erwartete etwas von ihnen, das nicht eintraf, so wie kein Brief, kein Telegramm, kein Ruf zu ihm kam. Er war auf eine grauenhafte Weise allein, leer und vom Leben abgeschnitten. Zuweilen, wenn er mit sich sprach, teilte er sich dies ganz laut mit. »Grauenhaft«, sagte er manchmal zu sich, auf dem himbeerroten Teppichläufer innehaltend und vor sich selbst erschreckend. »Grauenhaft ist es. Kein Leben. Gar kein Leben. Aber wo ist es? Nichts geschieht. Es geht nichts vor. Langweilig. Alt. Tot. Grauenhaft.« Die Dinge standen um ihn herum wie Attrappen. Was er zur Hand nahm, zerrann zu Staub. Die Welt war eine bröcklige Angelegenheit, nicht zu fassen, nicht zu halten. Man fiel von Leere zu Leere. Man trug einen Sack voll Finsternis in sich herum. Dieser Doktor Otternschlag wohnt in der tiefsten Einsamkeit, obwohl die Erde voll ist von seinesgleichen …

In den Zeitungen fand er nichts, das ihn sättigte. Ein Taifun, ein Erdbeben, ein mittelgroßer Krieg zwischen Schwarzen und Weißen. Brände, Morde, politische Kämpfe. Nichts. Zu wenig. Skandale, Panik an der Börse, Verluste von Riesenvermögen. Was ging es ihn an? Was spürte er davon? Ozeanflug, Schnelligkeitsrekorde, zollgroße Sensationstitel. Ein Blatt schrie lauter als das andere, und zuletzt hörte man kein einziges mehr, wurde blind und taub und fühllos durch den lauten Betrieb des Jahrhunderts. Bilder von nackten Frauen, Schenkel, Brüste, Hände, Zähne, sie boten sich an in hellen Haufen. Doktor Otternschlag hatte früher auch Frauen gehabt, er erinnerte sich noch daran, ohne Gefühl, mit einer leisen, kriechenden Kühle im Rückenmark. Er ließ die Blätter einfach aus der gelb gerauchten Hand auf den Ananasteppich fallen, so langweilig und grundgleichgültig waren sie ihm. Nein, es geschieht nichts, ganz und gar nichts, teilte er sich halblaut mit. Er hatte einmal eine kleine persische Katze besessen, Gurbä mit Namen; seit die mit einem gewöhnlichen Dachkater davongegangen war, sah er sich darauf angewiesen, seine Dialoge mit sich selber zu erledigen.

Gerade als er in einigen Bogenlinien auf die Portierloge zusteuerte, stieß die Drehtür ein merkwürdiges Individuum in die Vorhalle.

»Herr du mein Gott, da ist der Mann schon wieder!«, sagte der Portier zum kleinen Georgi und schaute mit seinem strammen Feldwebelblick dem Individuum entgegen. Dieses Individuum, dieser Mann, dieser Mensch passte schlecht genug in die Halle des Grand Hôtels. Er trug einen billigen, neuen runden Filzhut, der ihm etwas zu weit war und durch abstehende Ohren gehindert wurde, noch tiefer ins Gesicht zu rutschen. Er hatte ein gelbliches Gesicht, eine dünne und schüchterne Nase, die kompensiert wurde durch einen Schnurrbart von jener forschen Form, wie Vereinsvorstände sie lieben. Er war bekleidet mit einem engen grüngrauen, alten und traurig unmodernen Überzieher, schwarz gewichsten Stiefeln, die zu groß für seine kleine Gestalt schienen und deren Schäfte unter zu kurzen schwarzen Hosenbeinen hervorsahen. An den Händen trug der Mann graue Zwirnhandschuhe, mit denen er einen Koffergriff umklammerte. Er hielt seinen Koffer, der viel zu schwer für ihn schien, wunderlich in beiden Fäusten vor den Magen gepresst, und unter dem Arm hatte er überdies ein fettiges Paket in braunem Papier eingeklemmt. Als Ganzes sah dieser Mann komisch, armselig und überanstrengt in hohem Grade aus. Zwar machte der Page 24 den Versuch, ihm den Koffer abzunehmen, aber der Mann gab sein Gepäck nicht her, sondern schien durch diese Boy-Höflichkeit in neue Verlegenheit gebracht. Erst vor Herrn Senfs Vorschlag setzte er sein imitiertes Ledergepäck ab, rang ein wenig nach Atem, machte eine Art Verbeugung und sagte mit einer hohen und angenehmen Stimme: »Mein Name ist Kringelein. Ich war schon zweimal hier. Ich möchte nochmals fragen.«

»Bitte sich nebenan zu bemühen; ich glaube allerdings nicht, dass inzwischen etwas frei geworden ist«, sagte der Portier und machte eine korrekte Handbewegung zu Rohna hin. »Der Herr wartet seit zwei Tagen auf ein freies Zimmer bei uns«, sagte er erklärend über die Glasbarriere hinüber. Rohna, der die ganze Erscheinung erfasst hatte, ohne hinzusehen, tat höflichkeitshalber flüchtig so, als blättere er sein Buch durch, und sagte: »Leider ist momentan alles besetzt. Bedauere außerordentlich –«

»Noch immer besetzt, so. Ja, wo soll ich denn wohnen?«, frage das Individuum.

»Vielleicht sehen Sie in der Nähe von Bahnhof Friedrichstraße zu, da gibt es eine Menge Hotels –«

»Nee, danke«, sagte das Individuum, holte sein Taschentuch aus dem Überzieher und fuhr sich rasch über die verschwitzte Stirn. »Ich bin in so einem Hotel abgestiegen; das gefällt mir nicht. Ich will vornehm wohnen.« Er holte unter dem linken Arm einen feuchten Regenschirm hervor, wobei ihm das fette Paket unter dem rechten Arm entglitt, herunterfiel und ein paar Butterstullen – krumm vor Trockenheit – enthüllte. Graf Rohna vermied es zu lächeln; der Volontär Georgi drehte sich zum Schlüsselbrett. Der Page 17 sammelte in tadelloser Haltung die verdorrten Stullen auf, die der Mann mit zitternden Fingern in die Tasche stopfte. Er nahm den Hut ab und legte ihn vor Rohna hin auf die Tischplatte. Er hatte eine hohe runzlige Stirn mit eingedrückten Schläfen. Er schielte ein wenig mit blauen, sehr hellen Augen hinter einem Kneifer hervor, der die Tendenz zeigte, die dünne Nase hinunterzurutschen. »Ich möchte hier wohnen. Mal muss doch hier auch was frei werden. Ich bitte, mich für das nächste freie Zimmer vorzumerken. Ich komme schon zum dritten Mal, glauben Sie, das ist ein Vergnügen? Es kann doch nicht ewig alles besetzt bleiben?«

Rohna zuckte bedauernd die Achseln. Einen Augenblick schwiegen alle, und man hörte die Musik aus dem roten Speisesaal und die Jazzband, die jetzt im gelben Pavillon platziert war. Es saßen auch schon wieder ein paar Herrschaften in der Halle, und einige schauten halb amüsiert und halb verwundert zu dem Individuum herüber.

»Kennen Sie Herrn Generaldirektor Preysing? Der wohnt doch auch immer bei Ihnen, wenn er nach Berlin kommt, nicht wahr? Nun sehen Sie. Ich will auch hier wohnen. Ich habe etwas Wichtiges – eine wichtige Unterredung mit – mit Preysing. Er hat mich hierherbestellt, jawohl. Er hat mir ausdrücklich empfohlen, hier zu wohnen. Ich soll mich auf ihn berufen. Ich berufe mich auf Herrn Generaldirektor Preysing. Also bitte. Wann wird ein Zimmer frei?«

»Preysing? Generaldirektor Preysing?«, fragte Rohna zu Senf hinüber.

»Aus Fredersdorf; von der Saxonia Baumwoll A.-G. Ich bin auch aus Fredersdorf«, sagte das Individuum.

»Jawohl«, erinnerte sich der Portier, »ein Herr Preysing ist schon ein paarmal hier gewesen.«

»Ich glaube, es ist ein Zimmer für ihn bestellt worden, zu morgen oder übermorgen«, flüsterte Georgi strebsam.

»Vielleicht bemühen Sie sich morgen nochmals her, wenn Herr Preysing hier ist. Er kommt heute noch an«, sagte Rohna, nachdem er seine Bücher durchgeblättert und die Vormerkung gefunden hatte.

Sonderbarerweise schien diese Auskunft den Mann zu erschrecken.

»Kommt an?«, sagte er, er stieß es hervor in Angst und schielte stärker. »Schön – kommt also schon heute an. Gut. Und der bekommt ein Zimmer? Also sind Zimmer frei? Ja, mein Gott, warum bekommt der Herr Generaldirektor ein Zimmer und ich nicht? Was soll das heißen? Ich will mir das nicht gefallen lassen? Wie? Er ist vorgemerkt? Bitte, ich bin auch vorgemerkt. Ich komme zum dritten Mal, ich schleppe zum dritten Mal den schweren Koffer hierher – bitte. Es regnet, alle Omnibusse sind überfüllt, ich bin nicht ganz gesund, ja, wie oft soll ich denn noch diese Tour machen? Wie? Warum? Das ist keine Art. Ist dies das beste Hotel in Berlin? Was? Ja? Also gut, ich will im besten Hotel wohnen. Ist das vielleicht verboten?« Er schaute alle der Reihe nach an. »Ich bin müde«, setzte er noch hinzu; »ich bin äußerst ermüdet«, sagte er, man merkte ihm die Müdigkeit an und die lächerliche Bemühung, sich gewählt auszudrücken.

Plötzlich mischte sich Herr Doktor Otternschlag in das Gespräch, der während der ganzen Unterredung dagestanden hatte, seinen Zimmerschlüssel mit der großen Holzkugel in der Hand und die spitzen Ellbogen in die Tischplatte der Portierloge gebohrt.

»Wenn dem Herrn so viel dran liegt, kann er mein Zimmer haben«, sagte Otternschlag. »Mir ist es völlig gleich, wo ich wohne. Lassen Sie doch sein Gepäck heraufschaffen. Ich kann ausziehen. Meine Koffer sind gepackt. Meine Koffer sind immer gepackt. Bitte, man sieht doch, dass der Mann erschöpft ist, leidend –«, setzte er hinzu und schnitt einen Einwand ab, den Graf Rohna, mit beredten Dirigentenhänden beschwichtigend, vorbringen wollte.

»Aber, Herr Doktor«, sagte Rohna schnell, »es kann nicht die Rede davon sein, dass Sie Ihr Zimmer aufgeben. Wir werden versuchen – wir wollen sehen. Wenn der Herr freundlichst seinen Namen eintragen will – so, danke sehr – also Nr. 216 –«, sagte Rohna zum Portier. Der Portier gab dem Pagen Nr. 11 den Schlüssel von 216, das Individuum ergriff den Tintenstift, der ihm hingehalten wurde, und schrieb mit auffallend zügiger Schrift seinen Namen ins Anmeldebuch.

Otto Kringelein, Buchhalter aus Fredersdorf, Sachsen, geboren in Fredersdorf am 14.7.1882.

»So«, sagte er hernach aufatmend, drehte sich um und schielte mit weit aufgeschlagenen Augen in die Halle hinein.

 

Da stand er nun in der Halle des Grand Hôtels, der Buchhalter Otto Kringelein, geboren in Fredersdorf, wohnhaft in Fredersdorf, da stand er in seinem alten Überzieher, und die hungrigen Gläser seines Kneifers schluckten alles auf einmal. Er war erschöpft wie ein Läufer, dessen Brust das weiße Band berührt (und mit dieser Erschöpfung hatte es seine besondere Bewandtnis), aber er sah: die Marmorsäulen mit den Gipsornamenten, die illuminierten Springbrunnen, die Klubstühle. Er sah Herren in Fräcken, Herren in Smokings, elegante, weitläufige Herren. Damen mit nackten Armen, mit Glitzerkleidern, mit Schmuck, Pelz, ausnehmend schöne und kunstvolle Damen. Er hörte entfernte Musik. Er roch Kaffee, Zigaretten, Parfüme, Spargelduft vom Speisesaal und Blumen, die an einem Tisch zum Verkauf aus Vasen strotzten. Er spürte den dicken roten Teppich unter seinen gewichsten Stiefeln, und dieser Teppich machte ihm zunächst den stärksten Eindruck. Kringelein schliff vorsichtig mit der Sohle über diesen Teppich und blinzelte. Es war sehr hell in der Halle, angenehm gelblich hell, dazu brannten hellrote beschirmte Lämpchen an den Wänden, dazu strahlten grüne Fontänen in das venezianische Becken. Ein Kellner flitzte vorbei, trug ein silbernes Tablett, darauf standen breite, flache Gläser, in jedem Glas war nur ein bisschen goldbrauner Kognak, in dem Kognak schwamm Eis – aber warum wurden im besten Hotel Berlins die Gläser nicht voll gefüllt?

Der Hausdiener mit dem Jammerkoffer weckte den schielenden, blinzelnden, halb schlafwandelnden Kringelein, der Page Nr. 11 brachte ihn an dem mürrischen Einarmigen, der den Lift bediente, vorbei und transportierte ihn aufwärts.

Die Zimmer 216 und 218 waren die schlechtesten im Hotel; auf 218 wohnte Doktor Otternschlag, weil er Dauergast war, weil er nur begrenzte Geldmittel besaß, hauptsächlich aber, weil er zu gleichgültig war, um ein anderes zu verlangen. 216 stieß im rechten Winkel dagegen, die beiden Kammern waren eingeklemmt zwischen dem Dienerschaftslift an der Küchentreppe vier und dem Badezimmer der dritten Etage. In der Wand kullerte und gluckste die Wasserleitung. Kringelein, der an Palmenarrangements, Bronzelüstern und Jagdstilleben vorbei in immer tristere Bezirke des Hotels geführt wurde, kroch langsam und enttäuscht in das Zimmer, das ihm ein altes, unhübsches Stubenmädchen aufschloss. »Nr. 216!«, sagte der Page, stellte den Koffer ab, wartete auf Trinkgeld, bekam keins und verließ den stummen Kringelein. Kringelein setzte sich auf den Bettrand und besah das Zimmer.

Das Zimmer war lang, schmal, hatte ein Fenster, roch nach kalter Zigarre und feucht ausgewischten Schränken. Der Teppich war dünn und abgenutzt. Die Möbel – Kringelein befühlte sie – waren aus poliertem Nussholz. Solche Möbel gab es in Fredersdorf auch. Ein Bismarckbild hing über dem Bett. Kringelein schüttelte den Kopf. Er hatte nichts gegen Bismarck, aber der hing auch zu Hause. Dunkel erwartete er im Grand Hôtel andere Bilder über den Betten, üppige, bunte, außergewöhnliche Bilder, die Vergnügen machten. Kringelein ging ans Fenster und sah hinaus. Unten war es ganz hell, das beleuchtete Glasdach des Wintergartens überspannte den Hof. Gegenüber stand nackt und ohne Ende eine Feuermauer. Es roch nach Küche, lau und unerfreulich dampfte es herauf. Kringelein spürte dabei eine heftige Übelkeit und stützte sich auf die Waschtischplatte. Ich bin eben nicht ganz gesund, dachte er traurig.

Er setzte sich wieder auf die verwelkte Bettdecke, und sein Kummer wuchs von Sekunde zu Sekunde. Hier bleibe ich nicht, dachte er. Nein, hier bleibe ich keinesfalls. Dazu bin ich nicht hergefahren. Dazu lohnt es nicht, dass ich es getan habe. So darf ich es nicht anfangen. In solchen Zimmern darf ich meine Zeit nicht verlieren. Aber man betrügt mich ja. Gewiss haben sie noch ganz andere Zimmer in ihrem Hotel. Preysing wohnt in ganz anderen Zimmern. Preysing würde sich das nicht gefallen lassen. Preysing würde Krach machen – oho – da sollt ihr euch wundern. Wenn Preysing so ein Zimmer bekäme – nein. Hier bleibe ich nicht.

Kringelein schloss seine Gedanken ab. Er sammelte sich. Er brauchte ein paar Minuten, und dann klingelte er das Stubenmädchen herbei und machte Krach.

Wenn man in Betracht zieht, dass Kringelein zum ersten Male in seinem Leben Krach machte, so kann man zugeben, dass es nicht ganz so übel ausfiel. Das Stubenmädchen in der weißen Schürze holte erschreckt eine Würdenträgerin ohne Schürze; der Hausdiener zeigte sich von Weitem, der Zimmerkellner, eine kalte Platte auf der Handfläche schwingend, blieb vor 216 horchend stehen. Man telefonierte Rohna an; Rohna ließ Herrn Kringelein in ein kleines Kontor bitten; man musste den Hoteldirektor, einen der vier Direktoren, holen. Kringelein, hartnäckig wie ein Amokläufer, bestand darauf, dass er ein schönes, vornehmes, teures Zimmer haben wolle, mindestens ein Zimmer wie Preysing. Er schien den Namen Preysing für ein magisches Wort zu halten. Er hatte seinen Überzieher noch nicht ausgezogen, er hielt die bebenden Hände in den Taschen über den alten zerbröckelnden Butterstullen geballt, schielte und verlangte ein teures Zimmer. Ihm war müde und schlecht bis zum Weinen. Er weinte sehr leicht in den letzten Wochen, aus ganz bestimmten Gründen, die seine Gesundheit betrafen. Plötzlich, gerade als er es aufgeben wollte, hatte er gesiegt. Er bekam Nr. 70, einen Salon mit Alkoven und Bad, fünfzig Mark täglich. Er blinzelte ein wenig, als er den Preis vernahm. Aber er sagte: »Gut. Mit Bad? Heißt das – kann ich da jederzeit baden, sooft ich Lust habe?« Graf Rohna bejahte mit unerschütterlicher Miene. Kringelein hielt seinen zweiten Einzug.

Zimmer Nr. 70 war richtig. Hier gab es Mahagonimöbel. Ankleidespiegel, Seidenstühle und geschnitzten Schreibtisch, Spitzengardinen, Stilleben mit toten Fasanen an der Wand, eine seidene Daunendecke im Bett – Kringelein befühlte dreimal hintereinander ungläubig ihre leichte Wärme und Glätte. Auf dem Schreibtisch stand ein imponierendes Schreibzeug aus Bronze, einen Adler darstellend, der mit zackig ausgebreiteten Flügeln zwei leere Tintenfässer beschützte.

Vor dem Fenster war kühler Märzregen, Benzinluft, Autoschrei, gegenüber rannte eine Laufreklame mit roten, blauen, weißen Lettern eine Häuserfront entlang; wenn sie hinten zu Ende war, fing sie· vorn wieder an: Kringelein schaute sechs Minuten lang zu. Unten wimmelten schwarze Regenschirme und helle Frauenbeine, gelbe Autobusse, Bogenlampen. Sogar ein Baum war da, er streckte Zweige, nicht allzu weit vom Hotel, andere Zweige als die Bäume in Fredersdorf. Er hatte ein Inselchen von Erde mitten im Asphalt, dieser Berliner Baum, und rund um die Erde einen Zaun, ein Gitter, als müsse er gegen die Stadt geschützt werden. Kringelein, von so viel Fremdem und Überwältigendem umgeben, freundete sich ein wenig mit diesem Baum an. Hernach stand er eine Weile verwirrt und ohne Rat vor dem unbekannten Nickelmechanismus der Badewanne, aber auf einmal klappte es, warmes Wasser schoss ihm über die Hände, und er zog sich aus. Es war ihm etwas peinlich, seinen zierlichen, abgezehrten Körper in dem hellen Kachelraum nackt zu machen. Aber zuletzt saß er länger als eine Viertelstunde im Wasser und hatte keine Schmerzen, nein, die Schmerzen, mit denen er seit Wochen umging, hatten ihn plötzlich verlassen. Und er wollte ja auch in der nächsten Zeit keine Schmerzen mehr haben …

Gegen zehn Uhr abends irrte Kringelein in der Halle umher, hübsch angetan mit einem Schwalbenschwanz, hohem steifem Kragen und schwarzer genähter Krawatte. Er war jetzt gar nicht müde, im Gegenteil, eine fieberhafte Aufgekratztheit und Ungeduld hatte sich seiner bemächtigt. Jetzt fängt es an, dachte er immerfort, und seine mageren Schultern zitterten dazu wie bei einem nervösen Hund. Er kaufte eine Blume und steckte sie ins Knopfloch, schleifte genussvoll über den Himbeerroten, beklagte sich beim Portier, dass keine Tinte in seinem Zimmer sei. Ein Page transportierte ihn in den Schreibraum. Kaum befand Kringelein sich vor den vielen leeren Schreibpulten, im vertrauten Licht der grünen Lampenschirme, da verschwand seine sichere Haltung, er nahm die Hand aus der Hosentasche und sah geduckt aus. Er schob seine weißen Manschetten mit einer Gewohnheitsbewegung in den Rockärmel, bevor er sich niedersetzte, und dann begann er mit den großen Schlingen seiner Buchhalterschrift zu schreiben:

»An die Personalverwaltung der Saxonia Baumwoll A.-G. in Fredersdorf. Sehr geehrte Herren«, schrieb Kringelein. »Unterzeichneter gestattet sich, ergebenst mitzuteilen, dass er laut beigefügtem ärztlichem Attest (Beilage A) für vorläufig vier Wochen dienstunfähig ist. Das am Ultimo fällig gewesene Monatsgehalt für März bittet Unterzeichneter laut Vollmacht (Beilage B) an Frau Anna Kringelein, Bahnstraße 4, auszahlen zu wollen. Sollte es dem Unterzeichneten nicht möglich sein, seinen Dienst nach vier Wochen wieder aufzunehmen, erfolgt weitere Nachricht. Hochachtungsvoll ergebenst Otto Kringelein.«

»An Frau Anna Kringelein, Fredersdorf in Sachsen, Bahnstraße 4.

Liebe Anna«, schrieb Kringelein ferner (und das A hatte einen großen, runden Anschwung). »Liebe Anna, teile Dir mit, dass die Untersuchung durch Herrn Professor Salzmann nicht sehr günstigen Befund ergeben hat. Soll von hier aus direkt in ein Erholungsheim verschickt werden, Kosten hätte die Krankenkasse zu tragen, muss nun nur noch einige Formalitäten regeln. Wohne vorläufig sehr billig hier auf Empfehlung von Herrn Generaldirektor Pr. Werde Dir Näheres in den nächsten Tagen mitteilen, soll nochmals geröntgt werden, bevor Definitives erfolgt. Bestens grüßt Dein Otto.«

»Herrn Notar Kampmann, Fredersdorf in Sachsen, Villa Rosenheim, Mauerstraße.

Lieber Freund und Sangesbruder«, schrieb Kringelein als Drittes in seiner sauberen Schrift und leise, auf die Federspitze schielend, »Du wirst Dich wundern, aus Berlin ein längeres Schreiben von mir zu erhalten, doch muss ich Dir wichtige Veränderungen mitteilen und zähle auf Dein Verständnis und Deine berufliche Verschwiegenheit. Es fällt mir leider schwer, mich schriftlich auszudrücken, doch hoffe ich, bei Deiner umfassenden Bildung und Menschenkenntnis, dass Du meinen Brief richtig auffassen wirst. Wie Du weißt, habe ich mich nach der Operation im letzten Sommer nie mehr richtig gut gefühlt, und traute ich unserm Krankenhaus und Doktor gleich nicht viel zu. Habe deshalb die Gelegenheit der Erbschaft von meinem Vater benützt und bin mit dem Geld hierher gefahren, um untersuchen zu lassen, was los ist. Leider, lieber Freund, ist nichts Gutes los, und habe ich nach Meinung des Professors nur noch kurze Zeit zu leben.«

Kringelein hielt die Feder in die Luft, vielleicht eine Minute lang; er vergaß, einen Punkt zu machen nach dem Satz. Sein Schnurrbart, der stattliche Schnurrbart eines Vereinsvorstandes, zitterte leicht, aber er fuhr tapfer fort zu schreiben:

»Es geht einem natürlich bei solcher Mitteilung manches durch den Kopf, und ich habe mehrere Nächte nicht geschlafen, nur nachgedacht. Bin dabei zu dem Entschluss gekommen, dass ich nicht mehr nach Fredersdorf zurück will, sondern dass ich die wenigen Wochen, die ich mich noch auf den Beinen halten kann, etwas vom Leben haben möchte. Wenn man nie was vom Leben gehabt hat und soll dann mit 46 Jahren in die Grube fahren, das ist nicht schön, nur immer gesorgt und gespart und herumgeärgert mit Herrn Pr. in der Fabrik und mit der Frau zu Hause. Das ist ungerecht und falsch, dass es mit einem aus sein soll, und man hat noch nie eine richtige Freude erlebt. Leider, lieber Freund und Sangesbruder, kann ich mich nicht richtig ausdrücken. Möchte Dir deshalb nur mitteilen, dass mein Testament, das ich im Sommer vor der Operation gemacht habe, zwar in Kraft bleibt, dass aber andere Voraussetzungen eingetreten sind. Ich habe nämlich meine gesamten Ersparnisse von der Bank hierher überweisen lassen, desgleichen auf die Lebensversicherungspolice eine größere Anleihe aufgenommen, desgleichen die 3500 Mark Erbteil von meinem Vater in bar mitgenommen. So kann ich ein paar Wochen lang wie ein reicher Mann leben, und das ist meine Absicht. Warum sollen nur die Preysings etwas vom Leben haben, und unsereiner ist der Dumme mit dem Sparen und Auf-die-Kante-Legen? Ich habe in summa 8540 Mark an mich genommen. Was davon übrig bleibt, kann Ann dann erben, mehr bin ich ihr meiner Meinung nach nicht schuldig, sie hat mir mit ihrem Gezänke das Leben schwer genug gemacht, und nicht einmal ein Kind da. Werde Dich über mein weiteres Verbleiben und Befinden auf dem Laufenden halten, aber es ist Berufsgeheimnis, muss ich Dich bitten. Berlin ist eine sehr schöne Stadt und mächtig groß geworden, wenn man lange Jahre nicht hier war; beabsichtige, auch nach Paris zu fahren, da ich von der Korrespondenz her gut Französisch kann. Wie Du bemerkst, halte ich das Banner hoch und befinde mich wohler als seit Langem.

Es grüßt Dich innig Dein getreuer Moribundus Otto Kringelein.

PS. Sage dem Vereinsvorstand nur, dass ich in ein Beamten-Erholungsheim musste.«

Kringelein überlas die Briefe, deren Wortlaut er in zwei verwachten Nächten zusammengestellt hatte – er war nicht ganz zufrieden; es schien ihm in dem Brief an den Notar etwas Wesentliches ungesagt, aber er fand nicht heraus, woran das lag. Kringelein, obwohl unbeholfener und bescheidener Natur, war nicht eben dumm, er besaß Idealismus und Bildungsstreben. Dass er sich selber scherzhaft als Moribundus bezeichnete, bezog sich beispielsweise auf einen Ausdruck, der ihm in einem Buch aus der Leihbibliothek begegnet war, das er unter ziemlichen Mühen gelesen und in schwierigen Gesprächen mit dem Notar durchgekaut hatte. Kringelein hatte von Geburt an das normale Leben des Kleinbürgers geführt, das etwas verdrossene, aufschwunglose und verzettelte Leben des kleinen Beamten in der kleinen Stadt. Er hatte früh und ohne starken Antrieb geheiratet, ein Fräulein Anna Sauerkatz, Tochter des Kolonialwarenladens Sauerkatz, eine Person, die ihm von der Verlobung bis zur Hochzeit sehr hübsch vorkam, aber kurz nach der Heirat hässlich wurde, unfreundlich, geizig und voll kleinlich-wichtiger Schwierigkeiten. Kringelein bezog ein fixes Gehalt, das von fünf zu fünf Jahren ein wenig aufgebessert wurde, und da seine Gesundheit nicht die beste war, verhielt ihn Ehefrau und Familie vom ersten Tag an zu gepresster Sparsamkeit, in Rücksicht auf ein nebelhaftes »Versorgtsein« späterhin. Ein Klavier, das er sich zeitlebens heftig wünschte, blieb ihm beispielsweise versagt; auch den kleinen Teckel namens Zipfel musste er verkaufen, als die Hundesteuer heraufgesetzt wurde. Am Hals hatte er immer eine wunde Stelle, weil seine dünne, blutarme Haut die aufgerauten Ränder der alten, abgetragenen Hemdkragen nicht vertrug. Zuweilen schien diesem Kringelein etwas mit seinem Leben nicht ganz richtig zu sein, aber er fand nicht, was es war. Manchmal, im Gesangverein, wenn sein hoher tremolierender und zarter Tenor über die andern Stimmen hinaufstieg, kam ein schwebendes und genussvolles Gefühl über ihn, so, als fliege er sich selber davon. Manchmal ging er abends die Chaussee hinaus gegen Mickenau zu, bog von der Straße ab, überkletterte den feuchten Straßengraben und wanderte den Rain zwischen zwei Feldern hinein. Es sauste still zwischen den Halmen, und wenn die Ähren seine Hand streiften, freute er sich auf unerklärliche Weise. Auch während der Narkose im Krankenhaus war etwas Merkwürdiges und Gutes mit ihm los gewesen, er hatte nur vergessen, was. Es waren nur winzige Dinge, in denen der Buchhalter Otto Kringelein sich vom Durchschnitt unterschied. Aber diese winzigen Dinge (zusammen mit den berauschenden Todesgiften seines Körpers vielleicht) hatten den Moribundus hierher geführt, in das teuerste Hotel Berlins und vor diese Briefbogen, die einen unerhörten und nur kläglich motivierten Entschluss enthielten …

Als Kringelein sich etwas taumelig erhob und mit seinen drei Briefkuverts den Weg durch das Lesezimmer nahm, traf er auf Herrn Doktor Otternschlag, der ihm die zerschossene Seite seines Gesichtes fragend zuwandte und Kringelein dadurch heftig erschreckte.

»Nun? Untergebracht?«, fragte Otternschlag träge, er war jetzt im Smoking und schaute seine lackierten Schuhspitzen an.

»Ja, jawohl. Prima«, antwortete Kringelein befangen. »Danke. Ich muss dem Herrn vielmals danken. Der Herr waren so gütig zu mir –«

»Gütig? Ich? Gar nicht. Ach so, wegen des Zimmers? Nee. Sehense, ich wollte schon längst hier ausziehen, bin nur zu faul. Ist ja ein miserables Kaff, das Hotel hier. Hättense mein Zimmer genommen, säße ich jetzt im FD-Zug nach Mailand oder so – wäre nett gewesen. Na, ist gleich. Im März ist auf der ganzen Welt scheußliches Wetter. Ganz egal, wo man sich da aufhält. Kann ebenso gut hierbleiben.«

»Der Herr reist wohl viel?«, fragte Kringelein schüchtern; er war geneigt, jeden Insassen dieses Hotels für einen Geldmagnaten oder Adeligen zu halten. »Gestatten: Kringelein –«, fügte er bescheiden hinzu, mit einer Verbeugung von Fredersdorfer Eleganz. »Der Herr kennen die große Welt –«

Otternschlag verzog das »Souvenir aus Flandern«. »Es geht«, sagte er. »Das Übliche kenne ich, so die Allerweltsroute. Indien und dann drüben einiges.« Er lächelte schwach über den ungeheuren Hunger, der in Kringeleins blau schielenden Kneiferaugen aufstand. »Ich beabsichtige auch zu reisen«, sagte Kringelein. »Unser Generaldirektor Preysing zum Beispiel reist jedes Jahr. Erst vor Kurzem war er in Sankt Moritz. Vorige Ostern war er mit seiner ganzen Familie in Capri. So etwas denke ich mir wundervoll –«

»Haben Sie Familie?«, fragte Doktor Otternschlag und legte seine Zeitung beiseite. Kringelein überlegte fünf Sekunden, bevor er antwortete:

»Nein.«

»Nein«, wiederholte Otternschlag, und in seinem Mund nahm das Wort etwas Unwiderrufliches an.

»Ich möchte zuerst nach Paris reisen«, sagte Kringelein, »Paris soll sehr schön sein?«

Doktor Otternschlag, der eben noch einen Schimmer von Wärme und Interesse gezeigt hatte, schien am Einschlafen zu sein. Er hatte mehrmals am Tag solche Zustände des Erschlaffens, denen er nur auf verheimlichte und bösartige Weise Abhilfe schaffen konnte. »Nach Paris müssen Sie im Mai«, murmelte er. Kringelein sagte schnell: »So viel Zeit habe ich nicht …«

Plötzlich ließ Doktor Otternschlag ihn stehen. »Ich gehe mal auf mein Zimmer, muss mich mal hinlegen«, sagte er, zu sich viel mehr als zu Kringelein, der mit seinen drei Briefen in der Hand im Lesezimmer zurückblieb. Die Zeitung, in der Otternschlag geblättert hatte, fiel zu Boden, sie war voll gezeichnet mit kleinen Männchen. Über jedes Männchen war ein dickes Kreuz gemalt. Kringelein, leise verschattet, verließ auf dem Teppich gleitend das Lesezimmer und strebte mit befangener Miene dem Speisesaal zu, aus dem leise, aber deutlich eine ziehende und klopfende Musik durch alle Wände des großen Hotels herüberklang.

Inhaltsverzeichnis

Der Vorhang fiel, er berührte mit dem dumpfen Aufschlag schweren Eisens den Bühnenboden. Die Grusinskaja, die eben noch blumenleicht zwischen den Mädchen hingewirbelt war, kroch keuchend hinter die erste Kulisse. Sie hielt sich ganz sinnlos mit ihrer zitternden Hand an dem Muskelarm eines Bühnenarbeiters fest und zog den Atem aus sich heraus, wie eine Verwundete. Schweiß rann die gekerbten Furchen unter ihren Augen entlang. Der Applaus war schwach wie ferner Regen und kam dann mit einem Schlag sehr nah, als ein Zeichen, dass der Vorhang sich wieder hob. Ein angestrengter Mann in der Kulisse gegenüber drehte ihn in großen Kurbelschwüngen hoch. Die Grusinskaja setzte ihr Lächeln auf wie eine Papplarve und tanzte an die Rampe zur Verbeugung.

Gaigern, der sich maßlos gelangweilt hatte, schlug aus purer Liebenswürdigkeit dreimal schwach die Hände gegeneinander und schob sich aus seiner Parkett-Reihe zu einem der verstopften Ausgänge. In den vorderen Reihen und auf der Galerie schrien und klatschten ein paar Unentwegte; weiter rückwärts drängte und schob alles garderobenwärts. Für die Grusinskaja auf der Bühne sah es aus wie eine Flucht, eine kleine Panik, dieses Fortströmen der weißen Hemdbrüste, der schwarzen Herrenrücken, der Brokatmäntel – alle in einer Richtung. Sie lächelte, warf den Kopf auf dem stengelschmalen Hals zurück, hüpfte nach rechts, nach links, warf ihre Arme grüßend gegen das abmarschbereite Publikum. Der Vorhang kam herunter, schlug auf. Das Ballett stand noch in starren Posen da, es hatte Disziplin. »Vorhang! Vorhang!«, schrie hysterisch der Ballettmeister Pimenoff, der die Erfolgzeremonien zu regeln hatte. Es ging langsam, der Mann an der Kurbel arbeitete verzweifelt. Ein paar Leute im Parkett, die schon an den Türen waren, blieben nochmals stehen, lächelten leer und klatschten. Auch in einer Loge wurde applaudiert. Die Grusinskaja deutete auf die Mädchen, die als Nymphen in Tarlatan um sie herum gruppiert waren, sie schob mit allen Zeichen der Bescheidenheit das bisschen Applaus von sich ab und diesen unbedeutenden jungen Wesen zu. Es kamen noch ein paar Leute mehr unter die Türen, solche, die ihre Mäntel schon angezogen hatten und nun mit amüsierter Miene den Rummel betrachteten. Witte, der alte deutsche Kapellmeister unten im Orchester, heischte mit beschwörenden Gebärden Gehorsam von den Musikern, die ihre Instrumente einpackten. »Niemand darf weggehen!«, flüsterte er angstvoll, auch er zitterte und war schweißüberströmt. »Niemand weggehen, bitte, meine Herren. Vielleicht muss der Frühlingswalzer wiederholt werden.«

»Nur keene Bange nich«, sagte ein Fagott. »Heut jibts keene Drufjaben. Det is erledicht for heute. Na, wat ha’ch jesacht?«

Wirklich vertröpfelte der Applaus. Die Grusinskaja sah gerade noch den großen, schwarzen, aufgerissenen Mund des lachenden Musikers unten, bevor der Vorhang sie vom Haus trennte. Plötzlich war der Applaus vorbei, erschreckend klaffte das plötzliche Verstummen draußen, und in der Stille hörte man die Tarlatanmädchen mit ihren seidenen Fußspitzen scharren. »Dürfen wir abgehen?«, flüsterte Lucille Lafite, die erste Tänzerin, französisch zu dem zitternden, weiß geschminkten Rücken der Grusinskaja.

»Ja. Ab. Alles ab. Geht zum Teufel!«, antwortete die Grusinskaja russisch. Sie wollte es schreien, aber es klang halb gehustet und halb geschluchzt. Aufgescheucht drängte der Tarlatan hinaus. In den Rampen erlosch das Licht, und ein paar Sekunden lang stand die Grusinskaja allein auf der Bühne, frierend in der grauen Probenbeleuchtung.

Plötzlich war etwas zu hören, wie das Knacken eines Zweiges, wie das Trappen eines Pferdes, unverkennbar – draußen im geleerten Haus applaudierte ein Mensch ganz allein. Nicht etwa, dass ein Wunder geschehen wäre; es war nur der Impresario Meyerheim, der verzweifelt und tollkühn den Abend zu retten versuchte. Er schlug seine gut akustischen Hände mit aller Gewalt und dem Ausdruck eines frenetischen Entzückens ineinander und warf dabei wütende Blicke zu den Rängen hinauf, wo eine pflichtvergessene Claque zu früh ihre Posten verlassen hatte. Baron Gaigern war es zunächst, der das einsame Geräusch gehört hatte und noch einmal hereinkam, neugierig und zu Spaß aufgelegt. Er zog rasch seine Handschuhe aus und stimmte heftig in den Applaus mit ein, ja, als einige Claqueure und ein paar Neugierige aus der Garderobe zurückgelaufen kamen, trampelte er sogar mit den Füßen wie ein erfreuter Student. Ein paar Vergnügte schlossen sich an, es wurde ein kleines, lustiges Justament draus, und schließlich waren da etwa sechzig Personen, die in die Hände schlugen und nach der Grusinskaja riefen.

»Vorhang! Vorhang!«, schrie Pimenoff mit überschlagender Stimme; die Grusinskaja tanzte hysterisch auf und ab. »Michael! Wo ist Michael! Michael soll mitkommen –«, schrie sie lachend und die Wimpern voll blauer Schminke, voll Schweiß und Tränen. Witte stieß den Tänzer Michael vor die Kulissen; ohne hinzuschauen, empfing die Grusinskaja seine Hand, die so gleitend nass war, dass es Mühe gab, sie festzuhalten, und mitten vor dem Souffleurkasten stehend machten sie ihre Verbeugungen, mit der schönen Harmonie zusammengearbeiteter Körper. Kaum war der Vorhang unten, begann die Grusinskaja ihre Erregung in einer Szene zu lösen. »Du hast alles verpatzt! Du bist an allem schuld! Du hast die dritte Arabeske verwackelt! Nie wäre mir mit Pimenoff so etwas passiert –«

»Erbarmung, ich? Aber Gru!«, flüsterte Michael in seinem komischen Baltisch, es klang hilflos. Witte schleppte ihn schnell ab in die dritte Kulisse, er legte ihm die alte Hand auf den Mund. »Um Gottes willen – keinen Widerspruch – lass sie –!«, flüsterte er. Die Grusinskaja nahm allein den Applaus entgegen. Zwischendurch und solange der Vorhang unten war, tobte sie sich aus. Sie belegte alle mit furchtbaren Flüchen, sie nannte sie Schweine, Hunde, verbummelte Saubande, alle miteinander, sie warf Michael Trunksucht vor und Pimenoff noch Schlimmeres, sie drohte dem abwesenden Ballett mit Entlassung und dem anwesenden, schweigenden und betrübten Kapellmeister Witte mit Selbstmord wegen ruinierter Tempi. Dabei flog ihr das Herz in der Brust wie ein müder, verirrter Vogel, und die Tränen liefen ihr über das Lächeln aus Wachs und Schminke. Schließlich machte der Oberbeleuchter ein Ende, indem er einen großen Hebel niederdrückte, es wurde dunkel im Haus, ein ungeduldiger Mann breitete graue Tücher über die Stuhlreihen. Der Vorhang blieb unten, der Mann von der Kurbel ging heim.

»Wie viel Vorhänge, Suzette?«, fragte die Grusinskaja die ältliche Person, die ihr in der Kulisse einen verblichenen, unmodernen Wollmantel umhängte und die eiserne Bühnentür vor ihr aufstieß. »Sieben? Ich habe acht gezählt. Sieben meinen Sie? Das ist auch ganz schön, nicht? Aber war es ein Erfolg?«

Ungeduldig hörte sie die Beteuerungen Suzettes an, wonach es ein riesiger Erfolg gewesen sei, beinahe so wie in Brüssel vor drei Jahren. Madame erinnerte sich? Madame erinnerte sich. Als ob man einen großen Erfolg vergessen konnte! Madame saß in der kleinen Garderobe, starrte in die Glühlampe, die in einem Drahtgitter über dem Spiegel hing, und erinnerte sich. Nein, so wie in Brüssel ist es nicht gewesen, dachte sie verdüstert und zum Sterben müde. Sie streckte ihre schweißnassen Glieder von sich; wie ein Boxer, der nach einer schweren Runde in seiner Ecke liegt, saß sie da und ließ sich von Suzette abreiben, frottieren und mit Abschminke behandeln. Die Garderobe war ein trübsinniger Aufenthalt, überheizt, unsauber, klein; es roch nach alten Kostümen, nach bitterem Mastix, nach Schminke, nach hundert überanstrengten Körpern. Vielleicht schlief die Grusinskaja ein paar Sekunden, denn sie ging durch die steinbelegte Vorhalle ihres Landsitzes am Comer See – aber gleich darauf war sie wieder bei Suzette und der nagenden, brennenden Unzufriedenheit mit dem Abend. Es war kein großer Erfolg gewesen, nein, es war kein großer Erfolg gewesen. Und was war das für eine grausame und unbegreifliche Welt, die einer Grusinskaja den großen Erfolg vorzuenthalten begann?

Niemand wusste, wie alt die Grusinskaja war. Es gab alte russische Herren, emigrierte Aristokraten, die in den möblierten Zimmern Wilmersdorfs wohnten und vorgaben, die Grusinskaja schon vierzig Jahre zu kennen – was sicherlich eine Übertreibung war. Aber einen zwanzigjährigen internationalen Ruhm konnte man ihr ohne Weiteres nachrechnen, und zwanzig Jahre Erfolg und Berühmtheit sind eine endlose Zeit. Manchmal sagte die Grusinskaja zum alten Witte, der ihr Freund und Begleiter seit den Anfängen ihrer Karriere war: »Witte, ich bin ein Mensch, der ein viel zu schweres Gewicht stemmen muss, immerfort, immerfort, das ganze Leben lang.« Und Witte antwortete ernsthaft: »Lassen Sie das, bitte, niemanden merken, Elisaweta Alexandrowna,· sprechen Sie nicht von Schwere. Die ganze Welt ist schwer geworden. Ihre Mission ist es, erlauben Sie, Elisaweta, das Leichte zu sein. Verändern Sie sich gütigst nicht, es wäre ein Weltunglück –«

Die Grusinskaja veränderte sich nicht. Sie wog 96 Pfund seit ihrem achtzehnten Jahr, das war ein Teil ihres Erfolges und ihrer Möglichkeiten. Ihre Partner, auf diese Leichtigkeit eingestellt, konnten mit keiner andern mehr tanzen. Ihr Nacken, ihre Gestalt, die nur aus Gelenken zu bestehen schien, das Herzoval ihres Gesichtes blieben immer gleich. Ihre Arme bewegten sich wie zuchtvolle Flügel. Ihr Lächeln unter den länglichen Lidern hervor war ein Kunstwerk für sich. Die ganze Kraft der Grusinskaja war nur auf eines gerichtet: sich gleich zu bleiben. Und sie bemerkte nicht, dass gerade dies die Welt zu langweilen begann …

Vielleicht hätte diese Welt sie geliebt, so wie sie in Wirklichkeit aussah, so, wie sie jetzt in ihrer Garderobe saß: eine arme, zarte, erschöpfte alte Frau mit Gramaugen, mit einem kleinen, qualerfüllten Menschengesicht. Wenn die Grusinskaja keinen Erfolg hatte – und das trat jetzt zuweilen ein –, dann schrumpfte sie zusammen und wurde ganz schnell uralt, siebzig Jahre alt, hundert Jahre alt, noch mehr. Im Hintergrund jammerte die Suzette leise französische Klagen, sie stand an dem grau angeschlagenen Waschbecken, und die Heißwasserleitung funktionierte nicht richtig. Aber schließlich kamen die dampfenden Gesichtskompressen doch zustande, und die Grusinskaja überließ sich ihrem Prickeln, während die Suzette ihr die Perlen vom Hals löste, diese weltberühmten, unwahrscheinlich schönen Perlen aus der Großfürstenzeit.

»Sie können die Perlen wegpacken, ich will sie heute nicht mehr tragen«, sagte die Grusinskaja, die unter fast geschlossenen Lidern das rosa Schimmern gesehen hatte.

»Nicht die Perlen? Aber Madame sollte sich recht schön machen für das Bankett –«

»Nein. Nicht. Genug. Machen Sie mich ohne Perlen schön, Suzette«, sagte die Grusinskaja und überließ sich mit gesammelter Miene den Fingerspitzen, den Kampferessenzen und den Schminken ihres schattenhaften Faktotums. Sie musste noch zu einem Souper, das der Bühnenklub ihr zu Ehren gab, und sie ließ sich dafür mit einem so gefassten Ernst bemalen wie ein altmexikanischer Krieger, bevor er seinen Feinden entgegenging.

Draußen im Gang vor den Garderoben wanderte Witte auf und ab wie eine geduldige Schildwache, er kratzte auf dem Deckel seiner Uhr, die er unmodernerweise in der Tasche der Frackweste trug. Sein altes Musikergesicht zeigte Sorge und Betrübnis. Nach einer Weile gesellte sich Pimenoff dazu, der Ballettmeister, und zuletzt kam Michael daher, die Wimpern glänzend von Vaseline und stark gepudert. »Warten wir auf Gru? Gehen wir alle zusammen?«, fragte er munter.

»Ich würde dir raten zu verduften, mein Junge«, sagte Witte. »Und wenn du hundertmal nicht gewackelt hättest.«

»Aber ich habe nicht gewackelt. Pimenoff? Habe ich gewackelt?«, rief er fast weinend. Pimenoff zuckte nur die Achseln. Auch er war ein alter Mann, er hatte eine große, charaktervolle Nase und eine Vorliebe für altmodische Plastronkrawatten aus der Zeit Eduards VII. Er tanzte selber nicht mehr, leitete nur die Proben und verfasste die Divertissements für die Grusinskaja. Schwere klassische Choreografie voll spitzengetanzter Vögel, Blumen und Allegorien. »Geh in dein Bett, weiche Gru heute aus. Lucille ist auch schon verschwunden«, sagte er weise. Michaels Jungengesicht empörte sich, er klopfte an die Garderobentür. »Gute Nacht, Madame!«, rief er. »Ich geh nicht mit. Wann ist morgen Probe?«

»Natürlich gehst du mit. Du musst neben mir bei Tisch sitzen!«, rief drinnen die Grusinskaja. »Mach mich nicht unglücklich, Sweetheart! Die Probe besprechen wir noch. Wartet auf mich, ich bin gleich fertig.«

»Tiens – sie hat sich ausgeheult«, flüsterte Witte mit Verschwörergebärde.

»Larmes, oh douces larmes –«, deklamierte Pimenoff, das Kinn in den Mantelkragen gedrückt. »Mit Gru pas de deux tanzen, das wünsche ich meinem schlimmsten Feind nicht! Erbarmung, mein Lieber!«, beschloss Michael in seinem komischen Baltisch-Deutsch. Die Grusinskaja drinnen vor dem grellen Licht des Garderobenspiegels tupfte Parfüm hinter ihre Ohrläppchen. ›Michael muss dabei sein‹, dachte sie. ›Immer habe ich alte Leute um mich: Pimenoff, Witte, die Lucille, die Suzette.‹ Sie hasste plötzlich intensiv das abgetragene Hütchen, das die Suzette im Hintergrund auf ihre Aschenhaare setzte. Mit einer brüsken Bewegung lehnte sie ihre Hilfe ab und trat auf den Gang hinaus, den Abendmantel aus Schwarz und Gold und Hermelin über dem Arm. Sie hielt ihre Schultern Michael hin und ließ sich von ihm den Mantel umlegen. Er tat es, zärtlich und feminin, wie er alles tat. Es war eine kleine Zeremonie der Versöhnung, aber es war noch etwas mehr. Es war eine kleine, verheimlichte Bitte der Grusinskaja um Gemeinschaft mit dem Jungen. Michael war jung, weil die Grusinskaja oft ihre ersten Tänzer wechselte, nervös und anspruchsvoll, wie sie gegen ihre persönlichen Partner war. Das andere Personal war mit ihr zusammen alt geworden.

Übrigens sah sie jetzt blendend aus, schön, merkwürdig, blumenhaft und elastisch. »Elisaweta sieht bezaubernd aus«, sagte Witte mit einer Verbeugung aus einem anderen Jahrhundert. Er hatte sich eine verwickelte Ausdrucksweise angewöhnt, erstens um seine Liebe zu dieser Gru zu verbergen, der er seit seiner Jugend anhing, dann in dem Zwang, seine Sätze aus dem Deutschen bald ins Russische, bald ins Französische zu übersetzen. Die Grusinskaja selbst glitt immerfort aus einer Sprache in die andere, aus dem russischen Du ins französische und englische Sie, auch Deutsch konnte sie: Die wichtigsten Grobheiten und Liebenswürdigkeiten waren ihr in jeder Übersetzung geläufig. Es war nicht immer leicht, ihr zu folgen. Gerade als sie ins Auto stieg, fragte sie beispielsweise: »Glaubst du, Witte, dass die Perlen schuld sind?«

»Wieso die Perlen? Und woran schuld?«, fragte Witte aufgestört – die zweite Frage geschah aus reinem Zartgefühl, denn er wusste genau, was die Grusinskaja meinte. »Mon dieu, wieso die Perlen?«, fragte auch Pimenoff.

»Jawohl, die Perlen. Sie bringen mir Pech, diese Perlen«, sagte sie, nachdrücklich wie ein Kind. Witte schlug seine altmodischen Glacéhandschuhe ineinander. »Aber, Teure –«, sagte er fassungslos. »Wie?«, fragte Pimenoff; »dein ganzes Leben haben dir die Perlen Glück gebracht, sie waren deine Mascotte, dein Talisman? Du konntest nicht tanzen ohne sie! Und jetzt auf einmal sollen sie Pech bringen? Welche Einbildungen, Gru!«

»Doch. Sie bringen Pech. Ich beobachte das«, sagte Gru mit einer eigensinnigen Falte zwischen den nachgezeichneten Brauen. »Ich kann dir das nicht so erklären, aber ich habe viel darüber nachgedacht. Solange Großfürst Sergej lebte, so lange haben sie mir Glück gebracht. Voilà. Seit man ihn umgebracht hat – Pech, Pech, Pech. Der Sehnenriss am Knöchel in London voriges Jahr. Defizit in Nizza. Und überhaupt. Pech. Ich werde sie nicht mehr tragen, wenn ich tanze. Dass ihr es wisst.«

»Nicht mehr tragen! Aber liebe, liebste Gru, Sie können gar nicht auftreten ohne die Perlen. Sie haben Ihr Leben lang fest daran geglaubt, dass Sie nicht ohne die Perlen auftreten können, und nun auf einmal –«

»Ja –«, sagte die Grusinskaja, »das war eben Aberglaube.« Witte begann zu lachen. »Lisa«, rief er. »Täubchen, meine teure Kleine, aber Sie sind ja ein Kind!«

»Ihr versteht mich nicht. Du verstehst mich durchaus falsch. Witte. Die Perlen passen nicht mehr. Ich soll sie nicht mehr tragen. Früher war das anders. Früher – in Petersburg, in Paris, in Wien – man musste Schmuck tragen. Eine Tänzerin musste Schmuck besitzen und zeigen. Jetzt – wer trägt heute noch echte Perlen? Ich bin eine Frau, ich spüre das besser, ich habe den Flair dafür – Michael, schläfst du? Sage auch etwas.«

Michael, ohne seine zierliche Gestalt zu bewegen, sagte in schwerfälligem Französisch: »Wenn Sie es wissen wollen, Madame: Sie sollten Ihre Perlen hingeben, für arme Kinder, für Krüppel, für irgendetwas hingeben, Madame –«

»Was meinst du? Die Perlen? Hingeben?«, rief die Grusinskaja russisch, und das Wort pozertwowatj klang wie aus einem Lied herauf.

»Da sind wir«, sagte Pimenoff in einen plötzlichen Ruck der Bremsen hinein.

»En avant«, befahl die Grusinskaja. »Wir müssen schön sein! Wir müssen vergnügt sein!«

Ein Haustor wurde geöffnet. Witte, hinter der Tänzerin die Treppen hinaufsteigend, äußerte: »Elisaweta Alexandrowna hat nur einen Fehler: Sie ist verliebt in den kategorischen Imperativ.«

Die Grusinskaja begann zu lächeln, zu strahlen, wie eine plötzlich aufgedrehte Lampe, und so, strahlend und lächelnd, betrat sie den Klub, in dem dreißig Fräcke stehend ihren Eintritt erwarteten.