Der große Ausverkauf - Vicki Baum - E-Book

Der große Ausverkauf E-Book

Vicki Baum

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Beschreibung

Eine fantastische Wiederentdeckung der legendären Grande Dame des Gesellschaftsromans: Vicki Baums »Der große Ausverkauf« erstmals als E-Book. Liebe und Intrigen im New York der 1930er: Nina und Erik arbeiten in einem großen Kaufhaus und schmieden Hochzeitspläne, als die ruchlose Lilian Erik verführt und in die Unterwelt zieht. Als Erik nach einem Einbruch im Gefängnis landet, reicht es selbst der sonst so sanftmütigen Nina. In der Konfektionsabteilung des Zentral-Warenhauses kommt es zum Showdown zwischen den beiden so unterschiedlichen Frauen …

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Seitenzahl: 275

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Vicky Baum

Der große Ausverkauf

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Vicky Baum

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Textbeginn

Inhaltsverzeichnis

Wir weisen darauf hin, dass in diesem Roman stellenweise eine rassistisch geprägte historische Sprache verwendet wird.

Inhaltsverzeichnis

Du lieber Gott, da ist die Frau wieder!«, dachte Nina und schaute der Gestalt entgegen, die fünf Minuten vor sechs Uhr bei der Glastüre hereinkam, die das neue Gebäude vom alten und die Lebensmittelabteilung von den Porzellanwaren trennte. Was die Lebensmittel betraf, so war dort heute Fischtag gewesen, Einheitspreis, jede Sorte das Pfund zu zwanzig Cent; man roch es durch das ganze Stockwerk. Was die Frau anbelangt, so kam sie schon zum vierten Mal und immer gerade vor Geschäftsschluss. Es war jene Sorte Frau, die immer zu spät kommt; obwohl die fünf Stufen bei der Glastüre mit der Leuchtschrift »Achtung! Stufen!« versehen waren, stolperte sie herunter, verlor ein Paket, presste die Handtasche an ihren haltlosen Busen, ihr Hut saß etwas schief, ihre Wangen waren erhitzt. Es war jene Sorte Kundschaft, die immer auf der Suche nach etwas noch Billigerem ist. Angeschmutzte Blusen, gesprungene Kaffeekannen, sonnengebleichte Ledertaschen, Ausverkauf in Kunstseidenersatzstrümpfen – das ist ihr Feld. Es sind die kleinen Beamtenfrauen, abgesorgt, abgehetzt, die Frauen, die nie im Leben etwas kriegen, das den vollen Preis wert wäre.

Dieser Frau nun hatte es das Porzellanservice mit dem Rosenmuster für zwölf Personen angetan. Es war auf dem zweiten Tisch ausgestellt, Schüsseln, Teller, Kaffeetassen und alles. Nicht ganz weißes Porzellan mit sehr rosa Rosen und sehr grünen Blättern. Die Ränder waren sanft gezackt und leicht vergoldet. $ 39.80 besagte das Preistäfelchen. Dieser Preis war ein Kunstwerk für sich. Es ging eine Suggestion von ihm aus, die das Service viel billiger erscheinen ließ als vierzig Dollar. Von der Fabrik an bis zu diesem Warenhaustisch waren Hunderte von Leuten in ihrem Arbeitslohn gedrückt worden, damit dieses Service zwanzig Cent unter vierzig Dollar auskalkuliert werden konnte. Da stand es nun mit allen seinen Rosen und seinem zweitklassigen Glanz und angelte Käufer heran.

Die Frau hielt vor dem Service an und man sah, wie sie überlegte und rechnete, während sie mit Blicken schon nach einer Verkäuferin angelte.

Nicht mich, lieber Gott, nicht mich – dachte Nina inständig und versuchte, unangenehm auszusehen. Soll Miss Drivot auch mal die letzte Kundschaft bedienen, dachte sie zornig. Drei Falten erschienen auf ihrer kleinen Stirn. Ihr Freund Erik behauptete, dass sie wie ein junger Dackel aussah, wenn sie Kummer hatte; er behauptete auch, sie sei so klein und jung, dass sie erst in ihre Haut hineinwachsen müsse, in diese lockere, glänzende und samtige Haut eines neunzehnjährigen Mädchens. Wenn Nina sich an solche Sachen erinnerte, die ihr Freund sagte, Sachen, die kein einziger anderer Mensch in der Welt aufbringen konnte, dann spürte sie immer ein kleines, saugendes, glückliches Ziehen in der Herzgrube; auch jetzt, mitten im Geschäft, fünf – nein, zweieinhalb Minuten vor Schluss und mit einer unangenehmen Kundschaft in Sicht, spürte sie es.

»Fräulein, sind sie frei?«, fragte die Frau vor dem Porzellanservice, und Nina ergab sich in ihr Schicksal.

Es war nämlich wirklich ihr Schicksal, dass alle unangenehme Kundschaft an ihr hängen blieb. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist – auf mich gehen sie wie die Fliegen«, klagte sie ihrem Freund Erik und ihrer Freundin Lilian.

»Ja, mit dir ist etwas los, Spatz, Spätzchen, Spätzlein«, sagte ihr Freund.

»Sie kotzt mich an, die Kundschaft«, sagte Lilian, ohne auf Ninas Rat suchende Klage einzugehen. »Ja – das tut sie«, sagte Nina ohne rechte Überzeugung.

Da stand sie in ihrer Abteilung, mit dem glänzenden Haselnusshaar und der ernsthaften Erwartung im Blick, und alles an ihr sah so sauber und menschenfreundlich aus, dass wenig Psychologie dazu gehörte, um sich beim Kauf eines Porzellanservices oder einer Fruchtschale aus Kristallglas lieber an sie zu wenden als an die säuerliche, eingetrocknete Miss Drivot.

»Neununddreißig Dollar?«, sagte die Frau vor dem Rosenservice und es war indessen eine Minute über sechs geworden; die Glocke hatte schon zu schrillen aufgehört.

»Neununddreißig Dollar achtzig«, sagte Fanny höflich und holte mit dem Fingerknöchel einen feinen Ton aus der Porzellantasse heraus. »Feinstes Porzellan! Wirklich erstklassige Ware.«

Zwei Minuten nach sechs. Erik wartete schon bei Treppe fünf. Die Drivot natürlich war schon längst fertig, sie legte schon Tücher über die Tiere aus gesponnenem Glas und machte sich zum Abmarsch bereit.

»Aber so teuer. Kann man nicht – gibt es keinen Rabatt?«

»Nein, leider. Es ist handgemalt, wunderbare Ware.«

»Aber ich kann nicht so viel ausgeben. Handgemalt? Wenn dann ein Stück kaputtgeht, kann man es nicht nachbekommen.«

»Doch, doch, gnädige Frau«, sagte Nina. Sie führte dieses Gespräch nun doch zum vierten Mal, die Frau war versessen auf das Service und hatte einfach das Geld nicht. Vier Minuten nach sechs. Mitten in ihrer Wut und Ungeduld verspürte Nina etwas wie ein verständnisvolles Gefühl für die Frau, das Mitleid war, obwohl sie es nicht als Mitleid erkannte.

»Ich habe nämlich nächstens silberne Hochzeit«, teilte die Frau mit.

»Ach?«, sagte Nina höflich. Ich heirate auch sehr bald, hätte sie gern erzählt, aber man war schließlich kein Privatmensch. Fünf nach sechs, die Uhr über der Glastür zeigte es an. Das letzte Grammofon in der Musikabteilung nebenan war verstummt. Erik wartete. Fräulein Drivot natürlich war abgezogen. Nur hinten bei der Ausgabe von Kasse 24 arbeiteten sie noch. Dort packte Mrs. Bradley Pakete ein, mechanisch wie eine Maschine. Frau Bradley war auch so ein Opfer, das immer als Letztes aus der Bude rauskam.

»Sie sollten sich wirklich entschließen«, sagte Nina. »Es ist eine große Gelegenheit –.« Mr. Berg ging abschließend seine Abteilung durch, der Rayonchef. Nina warf ihm einen respektvoll flehenden Blick zu, ohne dass sie es wusste. Sie hatte für Herrn Berg ein Gefühl der Verehrung, wie ein junger Schriftsteller es für einen Nobelpreisdichter empfinden mag. Herr Berg hatte Herz, das hatte er. Seine Abteilung war sich einig darüber, Herz und Courage. Er kam ihr zu Hilfe.

»Der Lift ist schon eingestellt, Madame«, sagte er, höflich umschreibend. »Wir schließen um sechs. Madame wird sich gütigst über die Treppe bemühen müssen, wenn Madame ihren Kauf erledigt hat.«

»Ich kann mich heute nicht entschließen«, sagte die Dame. »Ich komme wieder«, sagte sie und stolperte von dannen. Nina musste noch aufräumen, das Porzellan klirrte in ihrer Hand, so nervös war sie. Erik unten an Treppe fünf! Der Personallift ging auch nicht mehr. Ab über Treppe acht und hinunter in den langen Korridor im Souterrain, wo die Garderobenschränke standen, schmal und grade jeder, wie ein ausgerichtetes Regiment Soldaten. Nina schob sich nur für eine Sekunde vor den Spiegel in der Toilette, Händewaschen, ein Hauch Puder übers Gesicht, ein Strich Rot über die Lippen.

»Na, bei dir brennt’s wieder«, sagte Lilian, die nebenan manikürte und an den Augenbrauen strichelte und sich Zeit ließ.

»Jawohl brennt es«, sagte Nina schon mit einem Arm in ihrem Mantel. »Mrs. Bradley schon fort?«

»Nicht gesehen«, erwiderte Lilian und malte aufmerksam ihre Lippen.

»Na, ich kann nicht warten«, sagte Nina und schob wieder hinaus.

»Warte, ich komme mit!«, rief Lilian hinterher; aber Nina draußen bekam ihre drei Falten in die Stirn und tat, als hätte sie es nicht mehr gehört. Sie wollte Lilian nicht jeden Abend anhängen haben, wenn Lilian auch ihre Freundin war. Manchmal machte Lilian Späße mit Erik, über die Nina beim besten Willen nicht lachen konnte.

Sie galoppierte durch die Souterraingänge, schob sich in dem Rudel von Mädchen wieder hinauf; an der Kontrolle im alten Hof staute sich alles, im Durchgang zog es wie immer, jedes Mal kriegte man hier eine Handvoll Staub gegen Augen und Gesicht, dass es tränte. Nina war ein bisschen blind, als sie an der Treppe fünf anlangte, aber da stand doch Erik und sah aus wie ein richtiger Herr, mit einem seidenen Schal und steifen Hut; neuerdings versuchte er, sich einen kleinen Schnurrbart wachsen zu lassen. Der Arm, mit dem er Nina unterfasste, war ganz warm.

»Na, Spurv? Lille Spurv?«, sagte er, und sie setzten sich in Bewegung. Das war dänisch und hieß: Spatz – Spätzchen. Erik war eigentlich Däne – Erik Bengtson. Er war als Junge nach Amerika gekommen, und manchmal erinnerte er sich noch an die Birkenwälder und flachen Buchten seiner Heimat. Er war in vielen Dingen anders als die Sorte von jungen Männern, die ein Mädchen wie Nina sonst kennenlernte. Er kam ihr noch immer wie ein Fremder vor, wie einer, der eben erst mit dem letzten Dampfer in Amerika angekommen war und nicht ganz verstand, was New York bedeutete. Er war viel zu groß für Nina und hatte einen impertinenten Ausdruck im Gesicht, so als ob ihn alles, was er sah, übermäßig amüsieren würde.

Nina klemmte seinen Arm ein wenig fester unter ihren Ellbogen und sagte gar nichts. Es ließ sich einfach nicht ausdrücken, wie glücklich sie war, sooft dieser Erik mit seinem Arm bei ihrem Arm war, mit seiner Schulter bei ihrer Schläfe. Sie passte ihren Schritt seinem an, so gut es ging, und hob das Gesicht zu ihm hinauf.

Es war das Abendgesicht all dieser Großstadtmädchen, das kleine, junge Gesicht, mit der überzarten Haut der Menschen, die zu wenig Luft und Sonne bekommen. Sehr jung, sehr süß, ein bisschen Übermut, ein bisschen Skepsis. Müde sein, aber nie zugeben, dass man müde ist. Ein bisschen Schatten um die Augen und das grelle Licht der Bogenlampen und Lichtreklamen voll auf den Flächen der Wangen und dem geöffneten Mund.

»Bisschen spät geworden, was?«, sagte er.

»Da ist doch im letzten Augenblick noch so eine Ziege rangekommen –«

»Na, lass mal, wir können noch zehn Minuten zu Rivoldi’s gehen«, sagte er und machte größere Schritte.

Man konnte nicht vorankommen; es war die Stunde, in der jede Großstadt irrsinnig wird, Menschen aus allen Geschäften, Menschen, Menschen, Jagd auf Autos, Untergrundbahnen, Straßenbahnen, gestoppte Autos, weiße Handschuhhände von Polizisten, Bettler, Blumenfrauen, die ihre letzten Blumensträuße zu verkaufen suchen, heimkehrende Obstkarren, Männer, die ein Mädchen für den Abend einfangen wollen, Mädchen, die einen Mann für den Abend einfangen wollen, Verheiratete, die nach Hause rasen, Verheiratete, die herumtrödeln, um nicht nach Hause zu müssen, Einsame, die an den Ecken stehen und den Verliebten nachstarren.

»Zu Rivoldi? Nicht nach Hause? Schade –«, sagte Nina und senkte das Gesicht schnell in den Schatten.

»Jawohl, Essig mit nach Hause. Ich will froh sein, wenn ich morgen früh um sechs fertig bin.«

»Überstunden? Was musst du denn machen?«, fragte Nina.

»Eier legen. Die ganze Nacht lang Eier legen«, sagte Erik nicht ohne Würde. Er öffnete die Tür zu dem kleinen italienischen Restaurant. Drinnen roch es nach Zwiebeln und billigen Zigaretten, und die Luft war blau. Erik hatte eine Schwäche für dieses dunstige Lokal, er war einmal in Italien gewesen – das war, als er noch hoffte, ein berühmter Maler zu werden – und er konnte Italienisch sprechen.

»Eier legen? Wofür denn?«, fragte Nina lachend. »Für die Osterdekoration«, sagte Erik und schob sie in eine Ecke. Sie klemmte sich hinter das kleine Marmortischchen und schaute ihn entzückt an. »Gib mir mal ’ne Zigarette«, sagte sie, um ihr Entzücken nicht offenkundig werden zu lassen. »Lass mein Knie in Ruhe«, sagte sie. »Mach hier kein Aufsehen«, sagte sie. Erik, dieser verrückte Bursche, benahm sich nämlich nicht. Alle Welt war sich darüber einig, dass Erik ein verrückter Bursche sei. »Raviolis, Kaffee, Aprikosentorte«, sagte er zum Kellner. »Auch«, sagte Nina, die nichts verstanden hatte. Erik hatte wieder mal einen Bleistift in der Hand und zeichnete etwas auf die Marmorplatte, mitten zwischen die nassen Kringel, die frühere Kaffeetassen zurückgelassen hatten.

»Was ist das?«, fragte Nina und zog ihren ersten Zug Zigarettenrauch tief in die Lunge; Erik schaute für einen Augenblick auf, als der Rauch wieder aus ihren geblähten, dünnen Nasenflügeln hervorkam. Er hatte sie entsetzlich gern. »Mach mal Ringe«, befahl er. Nina zog Rauch und machte Ringe. Erik betrachtete die Sache wie eine gelungene Theatervorstellung, dann fuhr er fort, zu zeichnen. »Ich hab da so eine Idee –«, sagte er zerstreut.

»Ist es wegen der Eier?«

»Ja – es handelt sich doch um die Osterdekoration.«

»Der Teufel soll sie holen, wenn du jeden Abend in die Bude reinmusst deswegen. Hat der Alte dich rangeholt?«

»Ja, hat mich rangeholt, das alte Rhinozeros. Ihm fällt ja doch nichts anderes ein als ein Osterhäschen und ein Birkenbäumchen in jedes Fenster, die ganze Front lang.«

»Und dir?«

»Mir! Mir wird schon etwas Netteres einfallen.«

»Na eben«, sagte Nina zufrieden. Seit sie diesen Erik kannte, wusste sie erst, was ein Genie ist. Ein Genie in Schaufensterdekoration und allem Möglichen. Reklame und Zeichnen und Luftballons außen am neuen Haus, und Skizzen für die Inserate – überhaupt ein Genie in allem und jedem. Aber so jung ihre Erfahrung mit einem Genie auch war, so hatte sie doch schon herausbekommen, dass es nicht immer ganz leicht war, mit einem Genie zu leben.

»Da bin ich also heute Abend wieder allein. Ich hab mich so auf dich gefreut«, sagte sie schüchtern.

»Geh du in dein Nest, und schlafe, Lille Spurv«, sagte er. »Siehst bisschen müde aus um die Nasenspitze herum. Ich will schnell machen. Vielleicht komm ich dir morgen früh noch Guten Tag sagen, bevor du reinmusst.«

»Feine Ehe wird das werden«, sagte sie. »Wenn ich aus dem Geschäft rauskomme, musst du rein; wenn du rauskommst, muss ich rein.«

»Eine erstklassige Ehe. Garantiert«, sagte er und verließ endlich seine Kritzelei. Nina schaute ihm zu, während er seine Portion Ravioli aß. Er sah wieder einmal aus, als wäre er nicht hier, nicht neben ihr an Rivoldi’s schäbigem Marmortischchen, sondern Gott weiß wo.

»Du bist wohl nicht müde, wie?«, fragte sie.

»Nicht die Bohne«, wurde geantwortet. Nina trank ihren Kaffee und aß ihren Kuchen. Sie war enttäuscht und traurig. Der Abend ohne Erik lag vor ihr weitgestreckt, endlos und leer wie die Wüste. »Ich könnte ja auch in ein Kino gehen –«, sagte sie ungewiss.

»Das tust du nicht«, erklärte Erik. »Ins Kino gehen wir zusammen. Ich will nicht, dass du alle guten Filme ohne mich siehst.«

»Egoist –«, sagte Nina.

»Beträchtlich – wenn es sich um dich handelt –«, stimmte Erik ein. Es war alles nur Spaß. »Wann gehen wir zusammen ins Kino?«, fragte Nina, halb getröstet. »Morgen«, erwiderte er. Er rief den Kellner und rattelte etwas Italienisches daher. Die Rechnung erschien, und Erik bezahlte. Die Tischplatte war vollgekritzelt, aber Nina konnte nicht enträtseln, um was es sich dabei handelte. Jetzt brachte der Kellner ein feuchtes Tuch und wischte alles wieder weg.

»Komm, Kleines, los, ich muss zurück in die Bude«, sagte Erik und schob seinen Arm unter den ihren. Draußen stemmte sie ihren Kopf gegen den Frühlingswind, der um die Ecke kam. Erst jetzt spürte sie, wie müde sie war. Sie begann, sich auf ihr Bett zu freuen. Automatisch wanderte sie der nächsten Untergrundbahnstation zu. Erik hielt sie am Ellbogen fest, bevor sie über die Straße gehen konnte. »Komm«, sagte er, »wir nehmen ein Taxi – ich geb dir einen Taler dafür, und du fährst bis nach Hause.« Er sagte »Taler« und das klang wieder ganz fremd und dänisch.

»Mensch, bist du leichtsinnig! Und so was will heiraten.«

»Los, halten Sie erst beim Zentral-Warenhaus. Die Dame fährt dann weiter«, sagte er und schob sie in das Taxi, das er herbeigebracht hatte.

Von Rivoldi bis zum Zentral-Warenhaus braucht ein Taxi eineinhalb Minuten, zwei Autostopps an den Ecken eingerechnet. Diese eineinhalb Minuten lang lag Eriks Mund auf dem ihren.

»Gute Nacht, Lille Spurv«, sagte er, als er ausstieg. »Da hast du deinen Taler.«

»Grüß die Osterhasen«, sagte sie. »Und lege tüchtig Eier.«

An der nächsten Ecke ließ sie halten, zahlte dem Chauffeur dreißig Cent, steckte den Dollar, der in ihrer Hand warm geworden war, in ihr Täschchen, und dann schluckte die Schlucht der Untergrundbahn sie auf.

Inhaltsverzeichnis

Das Zentral-Warenhaus nimmt einen ganzen Häuserblock im Innern der Stadt ein, mit je zwölf riesigen Schaufenstern an jeder der vier Fronten. Zwölf Stockwerke, gefüllt mit Waren und Geschäftigkeit. Im Zentrum ein Wolkenkratzer von achtzehn Stockwerken, in dem die Büros und Verwaltungsräume untergebracht sind.

Als Erik sich von der Ostseite dem Gebäude näherte, waren alle Schaufenster beleuchtet. In den Fenstern Nr. 1 bis 6 der Nordfront waren Vorhänge heruntergezogen, hinter denen sich Schatten bewegten, denn dort sollte während der Nacht dekoriert werden. Die riesige Leuchtuhr am Mittelgebäude zeigte auf zehn Minuten vor sieben. »Hallo, Joe«, sagte er, als er an der Loge des Nachtwächters vorbeikam, die sich im Personaleingang vier befand. »Nachtarbeit, Herr Bengtson?«, fragte Joe und trat auf den Gang heraus. Er hatte ein Glasauge. Nach dem Krieg war es eine fixe Idee von Mr. Crosby gewesen, dem unsichtbaren Gott, der über dem Warenhaus thronte, fünfzig Kriegsverletzte anzustellen. Die Zeitungen hatten viel darüber geschrieben und Mr. Crosby einen Mann genannt, der sich seiner patriotischen Pflicht bewusst war. Sieben oder acht dieser Veteranen hatten noch immer ihre Stellungen inne, man konnte sie da und dort im Haus herumschleichen sehen. Ein einarmiger Neger bediente den Personallift auf der Nordseite, ein apoplektischer Irländer mit einem künstlichen Bein war dafür verantwortlich, dass alle Bleistifte in den Büros gespitzt wurden.

»Osterdekoration«, sagte Bengtson, hielt dem Wächter sein Paketchen Zigaretten hin und wartete, bis er sich eine genommen hatte. »Bin so frei«, sagte Joe und steckte die Zigarette in seine Brusttasche. »Ist der Alte schon gekommen?«, fragte Bengtson noch. »Habe Mr. Sprague nicht gesehen«, antwortete Joe. Bengtson marschierte pfeifend davon. Er klapperte mit seinen Schlüsseln wie mit Kastagnetten, während er zum Aufzug ging. Die leeren Verkaufsräume lagen in einem halben Licht, und weiße Tücher waren über diejenigen Waren gebreitet, die offen auflagen. Da und dort stand eine Puppe, großartig angezogen und mit steifem Gesicht lächelnd. Bengtson klapste eine davon auf die wächserne Backe. Er war vergnügt. Ninas Kuss sang noch in seinem Blut. Er liebte das Warenhaus bei Nacht. Die Fülle der Welt – dachte er vage. Er dachte es auf Dänisch.

Er öffnete den Lift mit seinem Schlüssel und war gerade daran hinaufzufahren, als Pusch atemlos erschien und mit einstieg. Pusch war der Lehrjunge im Atelier der Dekorateure, ein unausgewachsenes Geschöpf von achtzehn Jahren. Niemand wusste, wie er zu seinem Spitznamen gekommen war. Er hatte eine Säule von Chintzpaketen auf seinem Arm aufgebaut und schwankte unter der Last. »Mr. Sprague will die Farben sehen –«, keuchte er atemlos, als der Lift mit ihnen hochfuhr. Erik pfiff ein wenig lauter. Es war seine feste Überzeugung, dass der Alte, Mr. Sprague, der Chef der Dekorateure, farbenblind geboren war. Pfeifend deutete er auf einen hellgrünen Chintz, brach ab, sagte: »Den nehmen wir –« und fuhr fort zu pfeifen. So erreichten sie das zwölfte Stockwerk, in dem das Atelier lag.

»Sag mal, ist es wahr, dass du dir eigentlich dein Haar färbst, Pusch?«, fragte er, bevor er ausstieg. »Nein – wieso?«, stotterte der Lehrling. Seine abstehenden Ohren wurden feuerrot. Er hatte so helles Haar wie Jean Harlow vor dem Protest der Zensoren. Er stand noch da mit seinem Paket Chintz und den roten Ohren, als Bengtson schon die Tür zum Atelier öffnete.

Gerade als Bengtson eintreten wollte, erblickte er eine Gestalt, die aus dem Büro des Hausdetektivs Philipp heraustrat. »Nanu –?«, sagte er und nahm seine Hand von der Klinke. Das Mädchen, das auf ihn zukam, war Lilian, Ninas Freundin. »Nanu – Lilian –?«, sagte er nochmals.

Lilian hatte ihren Mantel über dem Arm, und sie war damit beschäftigt, ihr Kleid zuzuknöpfen. »Hallo, Bengtson –«, sagte sie mit ihrer etwas heiseren Stimme. »Können Sie mir schnell eine Zigarette geben?«

Er hielt ihr rasch sein Paketchen hin und zündete indessen schon das Streichholz an. Sie beobachtete die kleine höfliche Gebärde mit gehobenen Brauen. »Ist etwas passiert?«, fragte er. »Warum?«, fragte sie zurück. »Sehe ich aus, als ob der alte Philipp mich vergewaltigt hätte? Beruhigen Sie sich – es ist nichts passiert.«

»Es täte mir auch leid – um den alten Philipp –«, sagte Bengtson unverschämt. Lilian stand vor ihm, ihr Kleid war jetzt zugeknöpft, aber ihre Hände zitterten. Sie rauchte heftig. Sie raucht ganz anders als Nina, dachte Erik. »Ich glaubte, Sie wären längst davon«, sagte er, nur um etwas zu sagen. Er konnte Lilian nicht leiden. Sie war immer da, wenn man sie nicht brauchen konnte. Sie stand jetzt dicht vor ihm und schaute ihn an mit einem spöttischen Lächeln.

»Ich wusste gar nicht, dass Nina einen Lippenstift hat –«, sagte sie. Pusch, der Lehrling, war inzwischen herangekommen und stellte sich dazu. »Wieso – Nina –«, fragte Erik unbehaglich. Lilian lachte und wendete sich zum Gehen. »Sie hat immer blasse Lippen und sie predigt, dass ich mich zu sehr herrichte –«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte Erik und kam sich dumm vor. Pusch grinste und fuhr sich mit der Hand über die Backe. Erik nahm schnell sein Taschentuch heraus und wischte sich über die Wange, wischte schnell und verlegen Ninas Abschiedskuss fort. »Gute Nacht, also –«, sagte Lilian. »Ich muss gehen.«

»Wer wartet denn?«, fragte Erik. »Vanderbilt«, sagte Lilian und ging. Erik sah ihr nach. Sie hatte die schönsten Hüften im ganzen Warenhaus. »Ich fahre Sie hinunter – es ist niemand mehr beim Lift –«, rief er hinter ihr her. Er hatte die Schlüssel zu allen Türen, weil er oft nachts arbeiten musste. »Einmal ein Gentleman, immer ein Gentleman«, sagte Lilian, als er sie einstiegen ließ. Es ärgerte ihn. Sie hatte eine Art, ihn nervös zu machen wie ein Moskito, den man nicht fangen kann. Gleich war der Lift auch voll mit ihrem Parfum, billig, laut. »Wissen Sie, was ich jetzt möchte?«, sagte sie, kurz bevor der Lift unten ankam. »Tanzen, bummeln, saufen – mit Ihnen –«, sagte sie, als er sie anschaute. »Eine kleine Bombe in die Bude schmeißen –«

»Sie weinen ja –«, sagte er, leicht erschreckt, als er ihre Augen ansah. »Das sieht nur so aus –«, sagte sie. »Danke fürs Bringen –« Ihr Parfum hing noch immer da, als Bengtson wieder oben ankam und den Lift verließ.

Der Alte, Mr. Sprague, sah ungeduldig aus, als Erik eintrat. »Wenn Sie genug mit den Mädchen poussiert haben, dann können wir ja vielleicht auch bisschen an die Fenster denken –«, sagte er sofort. Bengtson lachte nur. Mr. Sprague sah aus wie Mark Twain, altmodisch und schön, und er war stolz darauf. Er hatte ein Gehirn aus Kalk und ein Herz aus Gold.

»Eines von den Mannequins hat geheult – ich habe sie hinuntergebracht –«, sagte Erik nebenbei.

»Sie Ritter der Damen«, sagte Mr. Sprague neidvoll. »Körperuntersuchung ist kein Spaß –«

»Wieso?«, fragte Bengtson. »Was heißt das: Körperuntersuchung?«

»Haben Sie nichts davon gehört? Es ist etwas gestohlen worden, und Philipp hat so und so viele Mädels untersucht.«

»Es wird bisschen viel gestohlen in letzter Zeit, finden Sie nicht, Mr. Sprague?«, sagte Bengtson und spielte mit dem Chintz. Das Licht holte einen starken Glanz aus dem billigen Material. »Genau was Mr. Crosby gesagt hat: Es wird bisschen viel gestohlen in letzter Zeit. Diesmal wird es dem alten Philipp den Hals kosten.«

»Was ist denn passiert?«, fragte Erik und verließ den Chintz.

»Die haben doch in der Kunstabteilung die Ausstellung von russischen Schätzen aus Privatbesitz, erinnern Sie sich?«

Bengtson erinnerte sich. Er hatte mit dem Alten einen erstklassigen Kampf wegen der Ausstattung gehabt und zuletzt gesiegt. Der Alte hatte etwas Buntes und Übertriebenes machen wollen, wie im russischen Ballett. Erik hatte Möbel aus dem Antiquitäten-Departement angefordert, hatte ein paar Wohnräume im Empire eingerichtet und die Schätze aus russischem Privatbesitz darin verteilt. »Was ist denn gemaust worden?«, fragte er, mehr um den Alten zu erfreuen als aus Interesse.

»Eine kleine Ikone, ganz mit Edelsteinen besetzt. Zweitausend Dollar wert.«

»Versichert?«, fragte Bengtson. »Na also. Da verliert doch niemand etwas.«

Plötzlich erinnerte er sich an Lilians brennende Augen, die ohne Tränen geweint hatten, und wurde ärgerlich. »Wie die Mädels aus dem Kleiderdepartement dazu kommen sollen, das verstehe ich nicht. Der alte Philipp wird langsam idiotisch.«

Der Alte lachte in sich hinein. »Das werden wir alle, wenn wir nur lange genug hier angestellt sind«, sagte er. »Sie wissen es nur noch nicht, Sie junger Hund.«

Bengtson erhitzte sich erst jetzt. Er stellte sich vor, wie der alte Philipp Lilian durchsuchte. »Ich würde jeden niederschlagen, der versuchen sollte Nina zu durchsuchen«, sagte er heftig.

»Wer ist Nina?«, fragte der Alte.

»Wir wollen am Ostersonntag heiraten – ich habe es Ihnen erzählt«, sagte Erik. Der Alte lachte wieder. »Es ist Zeit, dass man Sie an die Kette legt«, sagte er. Es war Bewunderung und Neid darin.

Plötzlich ließ Erik seine Privatangelegenheiten fallen und wandte sich dem Chintz zu. Pusch stand noch neben dem langen Zeichentisch, auf den er das Material deponiert hatte, und hielt ein Stück davon in der Hand. Er hatte eine fast weibliche Zuneigung zu Farben, Seiden, glänzenden Stoffen und schämte sich dessen in der Tiefe seiner Seele.

»Geh schlafen, Pusch«, sagte Bengtson. »Hier kann man keine Kinder brauchen.«

Der Alte kam jetzt auch zu dem Tisch und schaute aus seinen Augengläsern auf den Chintz.

»Wir brauchen 36 Yard pro Fenster«, sagte Erik geschäftsmäßig und steckte einen Zettel mit Zahlen und Notizen in Mr. Spragues Hand. »Sie wollten den grünen Chintz nehmen, aber ich bin für den gelben.«

Der Alte besah die beiden Farben, die Bengtson ihm unter die Augengläser hielt. »Sie verstehen das nicht, junger Mann«, sagte er. »Es bleibt beim grünen.«

Bengtson machte ein beleidigtes Gesicht, während sein Herz lachte. »Ich gehe dann gleich hinunter und wir fangen bei Fenster sieben an –«, sagte er noch und raffte den grünen Chintz an sich. Seine Methode, den Alten tun zu machen, was er selber wollte, hatte sich als beinahe unfehlbar erwiesen.

»Sie fangen bei Fenster eins an, so wie ich es gesagt habe«, befahl der Alte denn auch mit Strenge.

Bengtson machte ein scheinheilig gekränktes Gesicht. »Herr, dein Wille geschehe –«, sagte er, ergriff den Chintz und zog ab.

Im Lift war noch immer Lilians Parfum.

Inhaltsverzeichnis

Lilian, das ist das Mädchen in dem französischen Salon der Kleiderabteilung, Lilian Smith. Sie heißt Smith, weil sie die Tochter des Kanalarbeiters Smith ist, und sie heißt Lilian, weil sie die Vulgarität ihrer Herkunft und ihres Namens auszubalancieren wünscht. Ihr schwebt unklar so etwas vor, als könnte dieser Name auf Plakate kommen: die Filmschauspielerin Lilian Smith, der Revuestar, die Schönheitskönigin Lilian Smith. Sie würde das »Lilian« dann beibehalten und das Smith ganz fallen lassen. Es ist ein Hass in ihr gegen alles das da unten, sie hasst den Küchengeruch, die Souterrainwohnung, an deren Fenster man immer nur Beine vorübergehen sieht, die Schwaben, die nachts über die Dielen ziehen, den Sprung in ihrem Spiegel aus schlechtem Glas, sie hasst ihr Bett, ihr Kleid, ihre eigenen Eltern, ihre eigenen Hände, die zu viel gearbeitet haben, um jemals noch die Hände einer Dame zu werden. Lilian hasst auch die Kundschaft, sie tat das ein für alle Mal. Sie hasste diese vermögenden Frauen, die mit ihren Autos ankamen, mit Checks in den Brieftaschen, oder mit Männern, die für sie bezahlten. Sie lächelt ihnen ihr eingelerntes Mannequinlächeln über die Schulter hinweg zu und hasst sie dabei aus vollem Herzen.

Sie war ein Kind in den Slums gewesen, sie hatte in den großen Gasröhren Verstecken gespielt, die zutage kamen, als man die übelsten Häuser da draußen niederriss. Sie war ein kleines Lehrmädchen gewesen, zuerst in einem winzigen stickigen Schneiderladen, dann in einem Geschäft am Union Square und zuletzt im Zentral-Warenhaus. Mit ehrgeizigen Augen war sie in den Klassen der Schule gesessen, in denen das Warenhaus seine Verkäuferinnen ausbildete. Sie war vom Kurzwarenlager in die Wäscheabteilung gekommen, und dann hatte sie sich durchgedient und gestrebert bis in die verfeinerten Gebiete des Maßsalons.

Hier war alles leise, die Lichter, die Stimmen, die Farben. Dicke Teppiche – das Mädchen Lilian liebte es, wenn ihr Fuß darin einsank. Dicke graurosa Teppiche, graurosa Wände, Lampen, die aus Chromiumschalen ihr Licht gegen die Decke warfen. Madame Chalon, die französische Direktrice, herrschte in diesen Gefilden. Sie war launenhaft und unberechenbar, und in sentimentalen Stunden erzählte sie den Verkäuferinnen von ihrer unglücklichen Liebe zu einem berühmten Modezeichner in Paris. Lilian ließ sich viel von Madame Chalon gefallen, denn sie wollte vorwärtskommen, weiter, hinauf. Seit zwei Monaten durfte sie nicht nur verkaufen, sondern zuweilen auch Kleider vorführen. Sie war im Übergang von der Sechzehn-Dollar-Stufe zum höhergestellten, höherbezahlten Stand der Mannequins.

Sie kam herein, in einem Hermelinmantel oder in einem Abendkleid – Kopie eines Modells von Patou – oder in einem Dressinggown aus mitternachtsblauer Seide. Sie sah sich selber im Spiegel, sie kam sich entgegen, blieb stehen, drehte sich mit der Bewegung, die man ihr beigebracht hatte, breitete das Kleid um sich aus und blickte über ihre Schulter der Kundschaft entgegen – dieser Kundschaft, die sie hasste.

Das Mädchen Lilian hat eine perfekte Vierzehner-Figur, um es in der Sprache ihrer Branche auszudrücken. Das heißt, dass sie gebaut ist wie eine Königin, zart und lang, mit dünnen Gelenken und langen, sanften Hüften, alles an ihr ist hoch angesetzt und klein, Knie, Schenkel, Brüste. Diese Tochter des Kanalarbeiters Smith sah aus, als wenn ein Züchter nach vielen Bemühungen das Schönste herausgebracht hätte, was sich aus einer Frau machen lässt. Sie hatte einen wunderbaren Körper; sie hatte auch ein Gesicht, aber ihr Gesicht schaute niemand an; alle sehen auf ihre Figur, auf die Kleider, die diese Figur trug. Ihr Gesicht, nicht so schön wie ihr Körper, dazu war zu viel Härte darin, und um Mund und Kinn hatte sie Züge, in denen das Smithsche durchkam, das Von-unten-Stammen, das Nach-oben-Wollen.

Sie war verliebt in die Kleider, die sie trug, in all diese Seiden, Chiffons, Velours, Spitzen; Pelze machten sie verrückt. Ihre Haut war glücklich unter der Berührung von feinem Material. Erik hatte sie unlängst ein »kaltes Stück« genannt. Aber es war Leidenschaft in ihr, manchmal brannte es ganz unerträglich. Das Schlimme nämlich war es, die Kleider nachher wieder auszuziehen und in das eigene armselige Zwölf-Dollar-Kleidchen zu kriechen.

Eineinhalb bis zwei Minuten darf ein gutes Mannequin zum Umkleiden brauchen. Drinnen schwebt sie langsam und königlich vor der Kundschaft auf und ab; draußen, in der Umkleidekabine, zittern ihr die Hände, wenn sie zwischen den drei Spiegeln steht, Kleider abstreift, Kleider überzieht, schnell, schnell, mit der reizbaren Direktrice hinter sich, die hetzt und murrt. Das Schlimmste aber ist es, die Kleider, diese geliebten Kleider, an der Kundschaft zu sehen. Zu sehen, wie ein Modell die Linie verliert, wie alle diese zu Kurzen, zu Dicken, zu Plumpen, zu Alten sich in die Kleider zwängen, wie sie vor den Spiegeln stehen und nörgeln, wie sie Kleider nicht tragen können und die schönsten Pelze vulgär machen – das ist es, was diesen Hass in dem Mädchen Lilian angezündet hat.

»Ja, wenn ich ihre Figur hätte!«, sagt die Kundschaft manchmal, wenn das Mädchen Lilian sich ihr präsentiert.

Ja, wenn du meine Figur hättest! Denkt Lilian dann hochmütig. Na, und wenn du meine Figur hättest? denkt sie weiter, was wäre dann? Mit meiner Figur bekommt man sechzehn Dollar Wochenlohn und wohnt im Souterrain, ganz unten. Mit meiner Figur hat man nicht einmal einen Freund – denn für die meisten ist man sich zu gut, und den, für den man nicht zu gut wäre, den weht kein Wind in das große Warenhaus.

»Der Gürtel ist zu eng«, sagte Mrs. Thorpe mitten in Lilians abwandernde Gedanken. Mrs. Thorpe war eine Frau, die ihre Freunde stattlich nannten. Sie stand, eingezwängt in ein schwarzes Abendkleid, in der Anprobekabine und sah im Spiegel etwas besser aus als in Wirklichkeit. Die Spiegel im Maßsalon schmeichelten alle ein wenig. Man hatte bei ihrem Schliff ein bisschen, nur eine Winzigkeit, nachgeholfen, und nun sehen in den Spiegeln die Damen alle schlanker aus, als sie wirklich waren. – In der Konfektionsabteilung hat man sich diese Mühe nicht gemacht, da stehen die Vierziger-Figuren in Massen herum und sind mit sich zufrieden, wie Gott sie geschaffen hat; und wenn sie ihre Einkäufe erledigt haben, dann gehen sie hinauf in den Erfrischungsraum und futtern noch belegte Brote und Apfelkuchen mit Schlagsahne.

»Der Gürtel ist zu eng«, sagte Mrs. Thorpe. »Hier sind mir immer die Gürtel zu eng. Ich habe eine französische Figur. In Paris passen mir alle Kleider.«

Lilian hasste diese Frau, Mrs. Thorpe, noch mehr als alle andern. Sie war der Typus der Frauen, die hierherkamen, weil sie sich langweilten. Stundenlang ließ sie sich Kleider vorführen, probierte stundenlang Kleider an, nervös, zerfahren, hysterisch. Vor dem Spiegel kriegte sie die depressiven Zustände einer Frau, die vierzig Jahre alt wird und zusehen muss, wie eine wunderbar gewachsene Zwanzigjährige ihren Körper zur Schau stellt. Manchmal war die heiße Luft der kleinen Kabine ganz geladen. Lilian beneidete die Kundschaft um das Geld. Die Kundschaft beneidete Lilian um die Schönheit. Neid schmeckte scharf unter dem gegenseitigen Lächeln, die Luft riecht nach Körpern, nach Parfum, nach Frau – jeden Moment kann ein Blitz einschlagen. Aber zuletzt kaufte Mrs. Thorpe doch den schwarzen Abendmantel mit echtem Hermelin, Modell Margot.

»Dieses Aas hat mich heute wieder gepiesackt bis zur letzten Sekunde«, sagte Lilian zu Mrs. Bradley, während sie in der Untergrundbahn heimfuhren. Sie haben bis zur 42. Straße den gleichen Weg, dann muss Mrs. Bradley umsteigen. Sie hingen beide an der gleichen Strippe und pendelten mit den Stößen des Zuges hin und her, es war fürchterlich voll, kein Gedanke an einen Sitzplatz.

»Wenn nur der Osterverkauf schon vorbei wäre –«, sagte Mrs. Bradley.

»Was soll ich da erst sagen. Was meinen Sie, was da bei uns noch losgeht«, sagte Lilian.

»Sie? Sie sind ja jung«, sagte Mrs. Bradley. Ihr Gesicht war blass und voll Sommersprossen.

»Ich möchte wissen, wann ich mal dazu kommen könnte, mir die Haare schneiden zu lassen«, sagte Lilian schließlich. Es war das ewige Problem all dieser Mädchen. Sie mussten gut aussehen, aber man schloss ihnen die Schönheitssalons vor der Nase zu, gerade wenn ihre freie Zeit begann.