Menschenwolf - Andrea Weil - E-Book

Menschenwolf E-Book

Andrea Weil

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Beschreibung

„Du bist’n Werwolf oder so was Ähnliches.“ Blaue Augen starrten zu braunen empor. Alles wanderte darin umher, Angst, Misstrauen, Unaussprechliches. Als sich der Wolf, den Biologe Nick gefangen hat, in eine Frau verwandelt, zerbricht sein Weltbild. Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Mystik verschwimmen. Nick befreit Isa und verspricht, ihr Geheimnis zu bewahren. Doch mit seiner Zuneigung wachsen auch die Zweifel – vor allem, als er in den Fokus von Polizeiermittlungen gerät.

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Inhalt

Ein leerer Käfig 

Wilde Nacht 

Gedankenkarussell 

Fallen 

Das erste Mal 

Andere Sitten 

Der Höllenhund 

Auf Jagd 

Geheimnisse ausgraben 

10 

Elternbesuch 

11 

Höhenflug und harte Landung 

12 

Bisswunden 

13 

Der Einbruch 

14 

Die Wölfe des Krieges 

15 

Vertrauen 

16 

Ein neuer Morgen 

Epilog 

Zwitschern im Medienwald 

Danksagung 

Andrea Weil 

Vollständige e-Book Ausgabe 2019 

Copyrigth © 2019 ISEGRIM VERLAG in der Spielberg Verlag GmbH, Neumarkt 

Covergestaltung: © Ria Raven, www.riaraven.de

Bildmaterial: © shutterstock.com

Alle Rechte vorbehalten. 

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können ziviloder strafrechtlich verfolgt werden.

ISBN: 978-3-95452-822-6 

www.isegrim-buecher.de

Mit vierzehn hat Andrea Weil (Jahrgang 1982) ihre erste Kurzgeschichte im »Wolf Magazin« veröffentlicht und sich seither immer weiter fortgebildet über die faszinierenden Tiere. Die Diplom-Journalistin war bereits in ganz Deutschland zu Hause und schreibt eine breite Palette an Geschichten und Genres. Heute lebt und arbeitet die gebürtige Hessin im sächsischen Grimma als freie Lektorin und Autorin und gibt gelegentlich Wolfseminare für Groß und Klein. Literarisch wird Andrea Weil vertreten von der Agentur Ashera.

Ein leerer Käfig 

»Ich begreif nicht…« Stefan brach ab. Er ballte die Hände zu Fäusten, öffnete sie wieder, fuhr sich durchs Haar und streifte sich fast die Brille von der Nase. »So was … Dummes, Bescheuertes hätte ich nie von dir erwartet. Wir kennen uns doch schon so lang …« Er drehte Nick den Rücken zu.

Nick tat es weh, seinen Freund so zu sehen, körperlich weh, tief drinnen. Sollte er Stefan die Wahrheit sagen? Es ist verrückt!, beharrte eine zweite, lautere Stimme. Er wird denken, du bist total durchgeknallt.

Nick öffnete den Mund, aber Stefan sprach schon weiter, ohne ihn anzusehen. »Sag mir nur, warum du das gemacht hast.« Der Motor des Transportbusses erwachte hustend zu neuem Leben. Stefans Stimme war so leise, dass Nick sie über den Lärm hinweg kaum hören konnte.

»Du bist doch kein grüner Freak, Mann! Du hast selbst gesagt, dieser Wolf kann hier nicht überleben.«

Nick biss sich auf die Unterlippe. Es gab nichts zu sagen. Und Stefan, sein Studienfreund und Mitstreiter seit fast acht Jahren, erwartete keine vernünftige Antwort mehr. Der Käfig war leer.

Nick war alleine zurückgeblieben, um den Wolf zu bewachen, den sie nach wochenlangem Knobeln und Schimpfen, unzähligen Tagen und Nächten im kalten, nassen Wald endlich hatten einfangen können. Keine Falle hatte funktioniert, als ob das Tier jeden ihrer Kniffe durchschaut hätte. Eine Zeit lang waren die Freunde sicher gewesen, dass sich die Zeugen irrten und es gar keinen Wolf gab. Bis Stefan ihn im Februar — vor ziemlich genau einem Monat — mit eigenen Augen gesehen hatte, als er eine Landstraße überquerte. Ein schönes Tier, schwarz mit silberweißer Halskrause, eine Farbe, die es bei europäischen Wölfen nicht gab. Das verstärkte den Verdacht der Biologen, dass es sich um ein ausgebüxtes Zootier handeln musste. Eine Kreuzung, höchstwahrscheinlich von irgendeinem Idioten illegal gezüchtet und deshalb nicht als vermisst gemeldet. Keine Erfahrung mit der Jagd, sucht Nähe zum Menschen – nein, es war besser, das Tier einzufangen. Jeder noch so kleine Vorfall konnte eine Wolfspanik auslösen und alle Mühe zunichtemachen, Verständnis für die tatsächlich wilden Wölfe zu wecken.

Der Versuch mit dem Betäubungsgewehr war die letzte Chance, die man den Wolfsschützern eingeräumt hatte, bevor die scharfe Munition ausgepackt werden sollte. Endlich erfolgreich! Endlich hatten sie die Wölfin sicher im Käfig — da versagte die Zündung. Der Bus stand immerhin in seinem dritten Jahrzehnt. Ihre Hochstimmung hatte sich davon nicht trüben lassen. Stefan war mit dem Tierarzt in seinem alten Volvo-Kombi losgebraust, um Zündkerzen, Kaffee und Schokolade zu kaufen.

Nick wusste genau, wie das hier für seine Freunde aussehen musste: Kein Gedanke, dass jetzt noch etwas passieren könnte! Doch als sie zurückkamen, stand die Käfigtür offen, der Schlüssel steckte noch im Schloss – und Nick starrte nur auf seine Füße und brachte kein Wort der Erklärung zustande.

»Sie werden sie erschießen«, knurrte Stefan. »Finito. Weil du …«

Der Doc rief ein mürrisches »Bin weg!« in ihre Richtung. Die Tür des Busses knallte, die Reifen drehten durch, bevor sie im Schlamm Halt fanden.

Nick sah, wie sich Stefans Schultern unter einem tiefen Atemzug hoben und senkten. »Ich dachte, ich kenn dich.«

Ich dachte, ich kenn dich. Die Worte plumpsten wie Eisklumpen in Nicks Magen. Unfair, unfair, du weißt gar nichts!, schrie es in ihm. Seine Hand zuckte nach Stefans Schulter, doch er ließ sie wieder sinken.

Dann war es zu spät. Stefan trat gegen einen halb vermoderten Baumstumpf, dass der Dreck von seinen Wanderschuhen spritzte, und stapfte zum Auto. Wahrscheinlich brühte Sandra zu Hause schon Cappuccino für ihn auf.

Grade jetzt könnte ich morden für eine Tasse von dem Zeug, dachte Nick.

Der Volvo folgte den Spurrillen, die der VW in die Erde gegraben hatte. Stefan hatte seine Keilriemen immer noch nicht auswechseln lassen. Ihr Jaulen scheuchte ein paar Meisen auf, ein Häher kreischte. Dann war es wieder still auf der Lichtung. Die Sonne ließ das Wasser in den Pfützen aufleuchten, sodass sie aussahen wie Scheiben aus goldrotem Metall. Die Sonne … Nick rieb sich die Augen. Behalt bloß die Nerven! Er atmete tief ein ‒ Kiefernduft, regendurchtränkter Boden, ein Rest von Autoabgasen ‒ und trottete zu seinem Wagen hinüber. Der rote Golf war bis über die Seitenscheiben mit eingetrocknetem Schlamm verkrustet. Nach einem Moment des Zögerns packte Nick den Griff der Fahrertür und öffnete sie.

Die Frau auf der Rückbank bewegte sich im Schlaf. Die Wolldecke rutschte und legte ein nacktes Bein frei.

Sie sah jetzt viel jünger aus, auch wenn immer noch eine steile Falte die Stirn zwischen den buschigen, schwarzen Augenbrauen zerfurchte. Das Haar war ebenso schwarz, schulterlang, mit ein paar verfrühten silbernen Strähnen. Das Gesicht oval mit einem energischen Kinn, die Nase lang und gerade.

Plötzlich wurde Nick bewusst, dass diese Frau, die er da anstarrte, unter der Wolldecke nur ein T-Shirt trug. Sein altes, ausgewaschenes Hard-Rock-Café-VancouverShirt, das ihr fast bis über die Oberschenkel reichte – aber eben nur fast. Er streckte die Hand aus, um die Wolldecke wieder über ihre Beine zu ziehen.

Finger schlossen sich hart um sein Handgelenk. Nick stieß ein überraschtes Quieken aus. Dunkelblaue Augen, hellwach von einer Sekunde auf die andere, fixierten ihn.

»Entschuldige«, stammelte Nick und wurde rot ‒ warum eigentlich? Er hatte doch nichts gemacht.

Die Frau ließ seinen Arm los und tastete nach der Decke.

Dunkelblaue Augen, bei dieser Haarfarbe. Nicks Hals war trocken, er räusperte sich und setzte zu einer Frage an. Aber da lehnte die Frau sich schon zurück und schloss die Augen, erneut von der Betäubung übermannt.

Nick zog den Kopf zurück und ließ sich hinter das Steuer fallen. Schloss die Tür, leise, stützte den Kopf auf das Lenkrad und seufzte. Das kleine Auto war erfüllt von den unregelmäßigen Atemzügen der Frau.

Er wusste nicht, wer sie war oder woher sie kam. Sein bester Freund würde vielleicht nie wieder mit ihm reden. Sein Ruf als Wolfsexperte war ruiniert. Was nun?

Er fuhr nach Hause.

Etwas bewegte sich im Schatten. Nein, es war der Schatten selbst, der sich streckte wie eine Katze nach dem Aufwachen. Seine Form verzerrte sich zu einer grotesken Gestalt, wuchs, wuchs, bis er sogar die Erinnerung an Licht verschluckte…

Nick zwang seine Augenlider auf. Die grellen Strahlen einer Mittagssonne fluteten durch die Fensterlamellen und warfen ein Zebramuster auf den Teppich. Die Bettdecke hatte sich beim Herumwälzen um Nicks verschwitzten Körper gewickelt. Er trat sie weg und wischte sich ein paar verklebte braune Haarsträhnen aus der Stirn. Dann betrachtete er die Holzdecke, die vertrauten Astlöcher, die Gesichter, Wolfsschnauzen und Drachen formten. Warum hatte er am helllichten Tag geschlafen? Wie spät war es überhaupt? Nick hob den Kopf und suchte nach dem Radiowecker.

Sie stand in der offenen Schlafzimmertür und nippte an dem Becher mit dem grinsenden Nikolaus. Die dunkelblauen Augen ruhten auf Nick, mit einem eindeutig menschlicheren, jedoch nicht weniger rätselhaften Ausdruck als am Morgen. Offenbar hatte sie sich gewaschen. Sie trug jetzt eine von Nicks Sporthosen, die Beine bis zur richtigen Länge aufgekrempelt, sein blaurot kariertes Holzfällerhemd und die Turnschuhe, die seine Schwester bei ihrem letzten Besuch hatte stehen lassen. Sie musste in seinem Schlafzimmer gewesen sein und den Schrank durchsucht haben, während er geschlafen hatte.

Ihre Blicke begegneten sich. Die Frau drehte den Kopf zur Seite und strich sich ein paar Haarsträhnen hinters Ohr. Diese verlegene Geste gab Nick den Mut, sich aufzusetzen und sie anzusprechen.

»Hi«, sagte er.

Sie stutzte.

»Hi.« Sie nahm noch einen Schluck, bevor sie fortfuhr:

»Entschuldige, ich hab mir ein paar Klamotten genommen. Das T-Shirt ist im Wäschekorb.«

Dass sie ohne ein einziges eigenes Kleidungsstück in diese Wohnung gekommen war, dass Nick sie schon nackt gesehen hatte, zusammengekauert und zitternd, daran dachten sie sicher beide in diesem Augenblick. Doch Nick wollte das Gespräch auf der Ebene der Normalität halten.

»Oh, hm, okay.« Hab ich die dreckige Unterwäsche in den Korb gepackt?

Zachi erschien im Türrahmen. Der braunschwarz getigerte Kater begrüßte die Frau mit dem zarten, hohen Trillern, das sonst Nick vorbehalten war, und schmiegte sich an ihre Beine. Sie stellte die Tasse auf die Holzkiste neben der Tür, in der Nick seine Campingausrüstung, Wandersachen, Feuersteine und sonstige Dinge zum Überleben in der Wildnis aufbewahrte. Dann hockte sie sich nieder und kraulte Zachi unter dem Kinn, was sich dieser mit genüsslich zusammengekniffenen Augen gefallen ließ.

»Ich weiß, das sagen viele Katzenleute, aber Zachi lässt sich sonst echt von niemandem außer mir anfassen«, erklärte Nick.

Was war das, Eifersucht? Zachi legte den Kopf schief, um die Streichelhand zu seinem halb zerrissenen rechten Ohr zu lenken. Sein asthmatisches, abgehacktes Schnurren erfüllte das Schlafzimmer.

»Na ja, die meisten Leute reden ja auch mit Katzen, als wären sie schwachsinnig«, murmelte die Frau und flötete: »Miez, Miez, Miez!«

Zachis Schnurren stockte kurz und er gab ihr den Blick aus seinen blassgrünen Augen.

»Entschuldige bitte«, sagte sie und kraulte ihn hinter dem heilen linken Ohr.

Nick starrte die beiden an. »Wer bist du?«

Sie sah nicht auf. Das dichte Haar fiel ihr ins Gesicht, sodass er den Ausdruck nicht entziffern konnte.

»Isa«, antwortete sie schließlich.

Zachi hatte genug vom Schmusen, seine zuckende Schwanzspitze zeigte es an, ein Signal, das zu deuten Nick erst schmerzhaft hatte lernen müssen. Die Frau aber zog ihre Hand sofort zurück und der Kater strebte quer durch das Schlafzimmer zum Fenster, das Nick nach seiner Rückkehr am Morgen einen Spalt geöffnet hatte. Er trillerte Nick im Vorbeigehen an, sprang auf die Fensterbank und verschwand über die Feuertreppe zu einer seiner Katzentätigkeiten.

Plötzlich hatte Isa nichts mehr, was sie mit den Händen tun konnte, also kehrte sie zu der Tasse zurück und umklammerte sie.

»Isa von Isabella?«, fragte Nick. »Oh, prima, jetzt sind wir einen großen Schritt weiter.« Auf einmal war er wütend, nein, stinksauer. »Meinst du nicht, ich hab ein paar Antworten verdient nach all dem, was letzte Nacht passiert ist?«

Isa drehte sich um und ging.

»So nicht, Schatzi«, murmelte Nick und sprang aus dem Bett. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er nur seine Boxershorts trug. Er griff nach der dreckigen Jeans, die über dem Stuhl hing, und begann sie überzustreifen. »He!«, rief er und hopste auf einem Bein. »Warte, verdammt!«

Als Nick in die Küche kam, stellte Isa gerade den Becher in die Spülmaschine. Ganz normal, so ganz alltäglich.

»Jetzt tu nicht so, als ob alles in bester Ordnung wär! Ich weiß genau, dass du links oberhalb von deinem reizenden Hintern einen Einstich von nem Betäubungspfeil hast. Dem Pfeil, den Doc auf ne Wölfin im Wald abgeschossen hat. Oder schläfst du immer so tief, dass ich dich zwei Stockwerke vom Auto bis aufs Sofa tragen kann, ohne dass du wach wirst?« Nick schluckte, doch der Zorn half ihm, das Unglaubliche laut auszusprechen. »Du bist’n Werwolf. Oder so was Ähnliches.«

Isa war mit dem Rücken zu ihm stehengeblieben, eine Hand auf die Arbeitsplatte gestützt. Sie zuckte nicht zusammen, obwohl er mittlerweile schrie. Langsam wandte sie sich um, ihr Mund war ein schmaler Strich in dem blassen Gesicht. »Und was willst du jetzt machen?«, presste sie hervor. »Willst du mich deinen Kollegen vom Labor übergeben? Dass sie meinen reizenden Hintern begutachten, an mir rumschnippeln, DNA analysieren, Tests machen? Warum hast du mich nicht gleich im Käfig gelassen?«

Sie grub ihre Fingernägel in die Handflächen und Nick begriff, dass Isa hinter ihrer herausfordernden Maske Angst hatte, tödliche Angst. Plötzlich kam er sich schäbig vor, weil er die Beherrschung verloren hatte. Er machte einen Schritt nach vorn. Sie presste ihren Rücken an die Kante der Arbeitsplatte.

»Nie«, beteuerte Nick und sah sie fest an, in der Hoffnung, sie würde erkennen, dass er es ehrlich meinte. »Niemals. Ich hab im Studium gesehen, was die mit Tieren im Labor machen. Wer lernt da Respekt vorm Leben! Nie, hörst du?«

Blaue Augen starrten zu seinen braunen empor. Alles wanderte darin umher, Angst, Misstrauen, Unaussprechliches. Isas Körper blieb noch einen Augenblick lang in Spannung, dann ließ sie ihre Schultern sinken und öffnete die Fäuste. Auf den Handballen waren sichelförmige Abdrücke abgebildet.

Sie atmete hörbar ein.

»Okay. Aber frag nicht weiter, bitte. Du bist der erste Mensch, der mein Geheimnis kennt, das … das ist so neu …«

Sie verstummte.

»Äh, ja.« Nick räusperte sich und versuchte, auf den brüchigen Boden der Normalität zurückzukehren. »Du hast dir ja schon selber Kaffee gemacht, da brauch ich keinen mehr anbieten. Und wenn du schon meine Hosen anhast… Ich bin Nick. Also, Nikolas Mechler. Nick eben.« Er streckte ihr die Hand hin.

Isa verzog den Mund zu etwas, das fast ein Lächeln war, und ergriff sie. Ihr Händedruck war fest. »Sehr erfreut, der Herr.« Ihren Nachnamen sagte Isa nicht. Sie stieß sich von der Spülmaschine ab und schlüpfte an ihm vorbei. »Ich geh jetzt besser.«

Als Nick sich umdrehte, stand sie bereits im Flur.

»Deine Klamotten schick ich dir wieder, ich weiß ja, wo du wohnst.« Er öffnete den Mund, doch sie sprach schnell weiter: »Keine Fragen, okay?«

Er verzog den Mund. Was blieb ihm anderes übrig?

»Okay. Aber du hast kein Geld.«

Isa zuckte mit den Schultern und öffnete die Wohnungstür.

»Schwarzfahren ist bei der Bahn ziemlich einfach.« Sie trat ins Treppenhaus.

Nick sprintete zum Türrahmen. Als sie drei Stufen weit gekommen war, platzte er heraus: »Seh ich dich wieder?«

Diesmal war er sich sicher, dass ihre Mundwinkel ehrlich zuckten. Ohne ein weiteres Wort lief sie die Stufen hinab, etwas steif, als hätte sie einen Bluterguss am Steißbein. Das Quietschen der Gummisohlen verlor sich ein Stockwerk tiefer.

Die folgenden Tage wurden so schlimm, wie Nick es befürchtet hatte. Nach einigem Kurzwahl-Drücken und Wieder-Auflegen rief er Stefan an und bestand darauf, selbst allen Beteiligten vom Fehlschlag der Wolffangaktion zu berichten. Stefan brummte nur etwas nicht gerade versöhnlich Klingendes. Nick wäre es fast lieber gewesen, sein Freund hätte ihm neue Vorwürfe gemacht.

Das Tierpark-Team war enttäuscht, da sie schon ein Gehege vorbereitet hatten. Wolfspfleger Darek verlangte am Telefon Details, was denn schief gelaufen sei. Nick ersann eine lahme Ausrede von irgendwie nicht richtig im Kreislauf verarbeiteten Betäubungsmitteln und Darek legte schließlich hörbar frustriert auf. Der Bürgermeister von Großhain bestand darauf, Nick persönlich in sein Amtszimmer vorzuladen. Er sei besorgt wegen der Unruhe in seiner Gemeinde, sagte er – wohl, weil die nächsten Wahlen in unbequeme Nähe gerückt waren, dachte Nick, der die Plakate gesehen hatte. Der Bürgermeister zeigte ihm die Bewilligung für den Abschuss, die bereits eingetroffen war. Immerhin war dieser Wolf sogar im Wohngebiet gesehen worden, am frühen Abend! Jetzt bekam das Gemeindeoberhaupt täglich anonyme Drohungen von fanatischen Tierschützern, was seine Nerven nicht gerade beruhigte.

Nick betrachtete das schwitzende Gesicht seines Gegenübers und seufzte innerlich. Mensch, Isa, warum hast du dich auch erwischen lassen?

Weil er schon mal dabei war, sich zu quälen, stellte sich Nick auch gleich bei dem Vorsitzenden der örtlichen Jägervereinigung vor, einem Otfried Tenner. Dieser erwies sich als erstaunlich besonnener Mann, sah aber sein Misstrauen in Bezug auf die Kompetenz der Wolfsschützer bestätigt. »Sie hätten uns gleich mit ins Boot holen sollen«, sagte er.

»Wir sind es, die den Wolf ständig beobachtet haben. Jetzt bleibt es an uns hängen, ihn zu erschießen, und wir sind wieder für alle der Buhmann.«

Tenner tat Nick aufrichtig leid, aber er konnte nicht mehr tun, als sich weitere Entschuldigungen aus den Fingern zu saugen.

Auf dem Weg zurück zu seinem Auto fiel eine Frau über Nick her, die ihn von einem Foto aus der Lokalzeitung wiedererkannt hatte. »Ich kann meine Kinder nicht jede Sekunde beaufsichtigen«, hielt sie ihm vor und schwenkte ihre Handtasche. Nick trat einen Schritt zurück.

»Sie lieben es, auf dem Waldspielplatz zu spielen, aber mit einem Wolf in der Nähe?«

»Jeder streunende Hund ist gefährlicher als dieser Wolf«, erwiderte Nick, zum ersten Mal ohne auch nur den Hauch eines Zweifels zu verspüren. Dann sprang er ins Auto und schlug die Tür zu, um jeder weiteren Diskussion zu entkommen.

Am schwierigsten war der Abend, an dem er mit zwei Sixpacks im Arm bei Stefan klingelte. Er wusste, dass Sandra ihren Frauenabend hatte und nicht zu Hause sein würde. Stefan öffnete die Tür und einen Moment lang sah er so aus, als wolle er sie gleich wieder zuschlagen. Dann strich er sich über seinen Ziegenbart, wandte sich wortlos um und ging voraus. Nicht in ihr gemeinsames Büro, das aus Platzgründen hier untergebracht war, sondern ins Wohnzimmer. Erst nach dem dritten Fläschchen Köstritzer fand Nick den Mut, dem Freund seine Lüge aufzutischen: Er habe es einfach nicht ertragen können, dort ganz alleine zu sitzen, während ihn dieses wundervolle Tier vorwurfsvoll durch die Gitter anstarrte. Kurzschlusshandlung. Riesendummheit. Stefan sah Nick an, als ahne er, dass noch mehr dahintersteckte, beließ es jedoch bei der Bestätigung, dass es, ja, eine Riesendummheit gewesen war. Dann tranken sie die Sixpacks aus, sprachen über Eishockey und lachten über Anekdoten aus der Studienzeit, die sie schon tausendmal erzählt hatten.

In das Hochgefühl hinein, auf das ein leichter Kater am nächsten Tag folgte, kam ein Paket. Turnschuhe, Sporthose und Holzfällerhemd, sorgfältig gefaltet. Ein Shirt oder eine Unterhose hat sie also nicht angehabt, schoss es Nick durch den Kopf und seine Ohren wurden warm. Kein Absender, der Poststempel war nicht zu entziffern. Das Hemd roch gut, nach Weichspüler, den er nie benutzte. Nick vergrub das Gesicht in dem Stoff und atmete tief ein.

Nach einem späten Frühstück setzte er sich an den Computer und googelte »Werwolf«. Tatsächlich hatte er es nie für nötig befunden, sich mit diesen dämlichen Horrorgeschichten auseinanderzusetzen, in denen sich in seinen Augen nur die irrationalen Ängste der Menschen vor dem Tier manifestiert hatten.

Wikipedia klärte ihn auf, dass »Wer« vom lateinischen »Vir« stammte, die Übersetzung also »Mann-Wolf« lautete. Er fand einen ganzen Haufen unterschiedlichster Internetseiten: Über die »Werwölfe«, die im Endkampf des Dritten Reichs bis zum letzten Mann aushalten sollten.

Urmenschen, die sich Wolfsfelle umhängten, um die Stärke des mächtigen Tieres auf sich zu übertragen. Menschen, die von Geburt an Hypertrichose litten, also extrem starker Körperbehaarung.

Doktor Freud, der den Mythos Werwolf auf die unterbewusste Angst der Frau zurückführte, von ihrem Vater vergewaltigt zu werden. Wolfskinder, das Dschungelbuch. Es gab sogar eine Gruppe, die sich regelmäßig als »Wölfe« verkleidete, riesige Biester mit Fellen in allen Regenbogenfarben und böse gefletschten Plastezähnen, die sich gegenseitig in Ketten legten und ihre Schäferhunde auf eine Stufe mit ihren Ehefrauen stellten. Charmant.

Am nächsten Tag fuhr Nick an die Freie Uni Berlin und ging in die Bibliothek. Er stöberte in den Regalen und verzog sich mit seiner – leider spärlichen – Ausbeute in die Lesesessel. Zu Studienzeiten hatte er Bibliothekstage geliebt. Zeitlos. Eine Welt für sich, die muffig roch und deren Stille höchstens mal durch ein Husten oder ein herunterfallendes Buch gestört wurde. Am Nachmittag war klar, dass er in den Büchern kaum mehr finden würde, als er schon wusste: Dass es auf der ganzen Welt Sagen gab von Menschen, die sich in Tiere verwandeln konnten. Wertiger in Indien, Werbären in Russland, Werkrokodile in Afrika, Werrobben in der Arktis. In der herkömmlichen Vorstellung konnten sich Werwölfe zu jeder Tagesoder Nachtzeit verwandeln, freiwillig oder unfreiwillig, angeboren oder nicht, mit Hilfe von Salben oder dem Teufel, als Bestrafung für Sünden oder als Opfer eines Fluches. Neben Hexen waren in der Zeit zwischen Mittelalter und Moderne auch viele Menschen als Werwölfe auf Scheiterhaufen verbrannt worden, ein Autor schätzte die Zahl auf Dreißigtausend. Erst Hollywood habe den auf zwei Beinen gehenden Werwolf erfunden, der durch einen Biss angesteckt wurde, bei Vollmond umher wandelte und nur mit Silberkugeln zu erlegen war. Entweder war der Ursprung des Mythos die Tollwut, die Gesichtslähmung auslöste, was als »Wolfsfratze« fehlinterpretiert worden war, oder die Lykanthrophie. Dieses psychische Leiden wurde angeblich erstmals im zweiten Jahrhundert vor Christus erwähnt. Betroffene bildeten sich ein, in Wölfe verwandelt zu werden, und verhielten sich dann so, wie sich ein »böser Wolf« eben verhält.

Nick betrachtete die Zeichnung eines Mannes, der auf allen vieren durch das Gebüsch kroch und ein Baby zwischen den Zähnen trug. An diesem Punkt gab er es auf, irgendetwas zu finden, das ihm seine Situation … Isas Situation erklären konnte.

Am Abend rief Caro an und fragte, ob er ihre Turnschuhe gesehen hätte. Nick bestätigte, dass sie in seiner Wohnung herumflogen, dann wanderten seine Gedanken zu dem Menschen, der die Schuhe zuletzt getragen hatte, und er vergaß, Witze über die Schusseligkeit seiner Schwester zu machen.

»Was ist los, mein Lieber?«, fragte Caro. »Ich dachte, die Midlife-Crisis hätten wir schon letztes Jahr an deinem Dreißigsten gehabt.«

»Pass nur auf, Schnulli«, entgegnete er und benutzte den alten Spitznamen aus ihrer Kindheit, den sie so hasste.

»Nicht mehr lange und du wirst auch alt sein.«

Sie lachte.

»Eigentlich bin ich schon jetzt älter als du. Männer werden nie erwachsen.«

»Hast du das in deinen Psychologie-Seminaren gelernt?«, brummte er, war aber froh, dass sie nicht weiter bohrte. Manchmal konnte Caro richtig feinfühlig sein für einen Seelenklempner.

Eine neue Arbeitswoche begann. Bericht schreiben. Einen Vortrag vor einer Schulklasse halten. Ein Junge fragte, ob Wölfe in kalten Ländern nicht Menschen fräßen. An der Wand hingen Buntstiftbilder von schwarzen Tieren mit großen Zähnen. Eine Zeichnung zeigte eine Wolfsmutter mit drei Welpen, was Nick etwas aufmunterte.

Während eines kurzen Bummels durch die Fußgängerzone wurde ihm plötzlich bewusst, dass er alle ihm entgegenkommenden Frauen musterte. Hatte er nicht die ganzen vergangenen Tage immer wieder nach silbernen Strähnen und blauen Augen Ausschau gehalten, in der Uni, auf der Straße, im Supermarkt? So ein Unsinn! Doch als er am Bahnhof vorbeikam, ertappte sich Nick bei dem Gedanken, ein paar Bahnangestellte zu fragen, ob sie nicht vor einigen Tagen eine Frau im Holzfällerhemd und viel zu großen Sporthosen gesehen hatten. Und ob sich jemand erinnern konnte, in welchen Zug sie gestiegen war. In dieser Nacht wälzte sich Nick lange hin und her, bevor er in einen unruhigen Schlaf fiel.

Wilde Nacht 

Die Wolkendecke über Berlin war in ein unwirkliches, rotes Licht getaucht. Nicht das strahlende Rot eines Sonnenuntergangs. Es war ein schmutziges, blasses Rot, das die angefressenen Häuserfassaden krank aussehen ließ. Das Rot einer altersschwachen Hölle, die sich gerade mal ein paar Leuchtreklamen leisten konnte. Nick sah zum Himmel auf, während er die Straße entlangschlenderte. Nicht mal der Vollmond kam gegen die Stadt an, sein silberner Ring ließ sich nur erahnen. Vollmond … Fast wäre Nick gegen eine Mülltonne gelaufen, die zu weit am Rinnstein stand. »Hans-guck-in-die-Luft!«, hätte sein Vater gesagt. Nick hasste die Struwwelpeter-Geschichten.

Ein tätowierter Typ drückte sich mit einem YorkshireTerrier auf dem Arm an ihm vorbei, starrte mit verlegenem Gesicht geradeaus. Sonst begegnete ihm niemand.

Stefan und Nick hatten sich in Wedding zu einem Geschäftsessen getroffen. Ein lokaler Autohändler wollte als Werbekampagne für Geländewagen die nach Deutschland zurückkehrenden Wölfe und die Arbeit der Forscher unterstützen. »Sie wissen schon«, hatte der Mann genuschelt und die Gabel mit einem Stück Steak geschwenkt.

»Wölfe, Wildnis! Sie müssen dafür nicht in die USA. Ab ins Auto und los geht das Abenteuer!«

Nick hatte sich gefragt, ob der Kerl noch ganz dicht war und ob sein Zulieferer von der Idee wusste. Aber Geld war Geld. Sie mussten immer noch die Zinsen für das Startkapital abbezahlen, das ihnen die Bank gewährt hatte, als sie unmittelbar nach ihrem Biostudium das Wolfsbüro in Heftlitz gegründet hatten. Immerhin besaßen Stefan und er in Fachkreisen mittlerweilse durchaus einen Namen, entgegen aller düsteren Prophezeiungen ihrer Bekannten, sie würden mit so einer verrückten Idee sangund klanglos untergehen.

Endlich, nach dem letzten Kaffee und der letzten Ausschweifung, war es auf Mitternacht zugegangen und Nick hatte das dringende Bedürfnis gehabt, zu laufen, bevor er sich wieder für fast zwei Stunden ins Auto setzte. Stefan übernachtete bei Freunden.

Nick kickte gegen eine Coladose, die von seinem Fuß wegsprang und keine drei Meter entfernt im Rinnstein liegen blieb. Einen ganzen Monat war es jetzt her, dass er Isa getroffen hatte und ihm kam alles so unwirklich vor. Wie Fetzen aus einem Film, den man mal als Kind gesehen hatte.

Nick hatte Stefans altem Volvo nachgeschaut, der über den Waldweg davon rumpelte, und sich plötzlich sehr müde gefühlt. Er hatte sich auf einen feuchten Baumstumpf dem Käfig gegenüber gesetzt. So ein schönes Tier, dachte er, während er beobachtete, wie sich die Flanke unter dem schwarzen Fell bei jedem Atemzug hob und senkte. Die Handlampe hatte er ausgeschaltet, die Lichtung wurde schon merklich heller, obwohl die kahlen Bäume den Schimmer am Horizont verdeckten. Über den leiser werdenden Motorlärm hinweg konnte er die ersten Vögel singen hören, ein Zeichen, dass der Winter endlich vorbei war. Jetzt, da das Hochgefühl über die erfolgreiche Fangaktion abgeklungen war, tat Nick die Wölfin leid. Hier ist kein Platz für dich, du Hübsche.

Er rieb sich die brennenden Augen und als er sie wieder öffnete, sah er diese Frau, wie sie sich in eine Ecke des Käfigs presste, die Arme um die Knie geschlungen, um ihre nackten Brüste zu verdecken. Ihr Kopf kippte immer wieder nach vorn, während sie gegen die Betäubung ankämpfte. Und sie verwandelte sich auch nach dem dritten und vierten Blinzeln nicht zurück.

Nick hatte mit zitternden Händen die Käfigtür aufgeschlossen und der Frau sein Ersatz-T-Shirt gereicht, das zu seiner Standard-Ausrüstung im Wanderrucksack gehörte. Dann drehte er sich um, während sie sich das Ding überstreifte. Ihre Beine waren zu schwach, mehr schleifte als stützte er sie auf dem Weg zum Auto. Teilnahmslos wie eine Puppe hatte sie es zugelassen, dass er sie auf die Rückbank schob und ihr die Wolldecke überwarf. Dann war sie augenblicklich wieder in den erzwungenen Schlaf gefallen.

Und nun? Einen Monat später war der Tor so schlau als wie zuvor, das Fragenkarussell in seinem Kopf hörte nicht auf, sich zu drehen.

Ein schrilles Lachen hallte die Straße entlang und Nick löste den Blick vom Pflaster, das unter seinen Schuhen dahin wanderte.

Im nächsten Moment war er auf Augenhöhe mit einer ausgetretenen Zigarettenkippe.

Der Schmerz kam zeitverzögert. Etwas traf ihn in die Seite und bahnte sich einen Weg quer durch seine Innereien. Nicks Sicht verschwamm, die Luft war zu dick zum Atmen. Riesige Schemen umringten ihn, sie murmelten und zischten wie in einer fremden Sprache, weit entfernt. Nur der Schmerz war hier und jetzt. Nick hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper, er versuchte, sich zusammenzurollen, Kopf und Bauch vor den Schlägen zu schützen, doch die Muskeln versagten ihren Dienst. Irgendwann lag er auf dem Rücken und ein Gesicht schwebte über ihm, nur Zentimeter entfernt. Die fast fraulich-vollen Lippen des Jungen teilten sich zu einem Grinsen, das ihn noch jünger machte, als er vermutlich war. Er zog an einer Zigarette, blies Nick den Rauch ins Gesicht. »Wo ist das Vögelchen?«, fragte er, und Nick sah über seine Schulter hinweg ein Smartphone auf sich gerichtet. Von dem Kamera-Mädchen blieb ihm nur der Eindruck eines schrägen Ponys und eines schreiend pinken Schals.

Der Schmerz war nun so umfassend, dass Nick nicht einmal anfangen konnte zu erahnen, was alles an seinem Körper kaputt war. Die Sohle eines Stiefels drückte sich in seine Stirn, er konnte den Besitzer nicht sehen, nur die Messerklinge, die langsam in Richtung seiner Wange wanderte.

Plötzlich war der Stiefel weg und ein Körper schlug hart neben Nick auf. Das Messer klirrte auf den Bürgersteig. Ein Stück Nacht war lebendig geworden, nicht die neonröhrenhelle Stadtnacht, sondern die rabenschwarze Nacht eines wilden Waldes. Der Wolf schnellte von dem Rücken des Jungen herunter, der benommen liegen blieb. Die Nackenhaare steif aufgerichtet, wandte sich das Tier dem Raucher zu. Kein Knurren, kein Zähnefletschen, keine der Drohgebärden, die Wölfe benutzen, um einen Kampf zu beenden, noch ehe er begonnen hat. Die Pfoten berührten kaum den Boden, als das Tier ansetzte, an dem Kerl hochzuspringen, der sich aufgerichtet hatte und die Arme instinktiv vors Gesicht riss. Unvermittelt brach der Wolf den Sprung ab und biss erheblich tiefer zu. Der Junge heulte auf und griff sich an seine Weichteile.

Nick richtete sich auf die Ellenbogen und kroch rückwärts, hinaus aus der Kampfzone. Etwas Nasses rann ihm ins rechte Auge, er wischte es mit dem Handrücken weg, ohne hinzusehen. Sein Rücken fand eine Hauswand zur Stütze und dort blieb Nick sitzen, beobachtete den surrealen Film, der vor ihm ablief.

Zwei Gestalten rannten die Straße entlang, ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Raucher krümmte sich zusammen und hatte die Welt um sich herum vergessen. Ein dicklicher Kerl mit Kapuzenpulli trat nach dem Wolf, der ihm mit einer Drehung auswich. Jetzt ließ das Tier den ersten Laut hören, ein Grollen tief aus der Kehle, das mit dem Knurren eines Hundes wenig gemein hatte.

»Verdammt, halt deinen Köter fest!«, kreischte das Schal-Mädchen in Nicks Richtung und hielt ihre Handtasche wie einen Schutzschild vor sich. Pink, wie der Schal. Die Wölfin schenkte ihr kaum ein Ohrenzucken. Sie knurrte noch einmal. Als der zweite Tritt kam, warf sie sich gegen das Standbein des Dicken. Der schwankte, verlor das Gleichgewicht und fiel seitwärts auf den Messerschwinger, der sich gerade auf die Knie aufgerichtet hatte und sich Blut und Straßendreck vom Kinn wischte. Beide verstrickten sich in einem stöhnenden Knäuel aus Armen und Beinen.

Das Mädchen, die als einzige noch aufrecht stand, schlug mit der Tasche zu und traf den Wolf seitlich an der Schnauze. Das Tier zuckte kurz zurück und ging gleich wieder zum Angriff über. Etwas zerriss, der Schal landete auf dem Boden. Der Wolf zog die Lefzen hoch und präsentierte sein eindrucksvolles Gebiss.

Wie die Gang auf die Beine kam, konnte Nick nicht sagen. »Du bist verrückt, Mann, du und dein Köter!«, schrie das Mädchen über die Schulter, die Stimme am Rande der Hysterie. Dann waren sie weg, ihre schnellen Schritte verhallt.

Nick löste sich vorsichtig von der kühlen Hausmauer. Das Muster des Verputzes hatte sich in seine Oberarme eingedrückt. Er blinzelte, als ihm wieder Blut ins Auge lief. Jetzt erst konnte er sein Herz hören, es hämmerte wie nach einem harten Sprint.

Der Wolf hatte ihm den Rücken zugedreht. Unter dem Fell war jeder einzelne Muskel angespannt.

»Isa?« Nicks Stimme quiekte wie die eines Dreijährigen. Der Kopf schoss zu ihm herum, die Augen reflektierten grün, ohne dass die Pupillen zu sehen waren. Die Eckzähne zeichneten sich unter den hochgezogenen Lefzen ab. Einen Moment brannte eine Angst in Nicks Innerem, wie er sie niemals vor einem Wolf verspürt hatte, eine Angst, größer als beim Anblick der Messerklinge. »Isa … ich bin’s.«

Ihre Blicke trafen sich. Jetzt sah Nick, dass ihre Augen auch in Wolfsgestalt dieses unglaubliche Blau hatten, wenn sie nicht gerade den Schein der Straßenlaterne widerspiegelten. Die Wölfin leckte sich über die Schnauze, dort, wo die Handtasche sie getroffen hatte. Dann schüttelte sie sich. Das war knapp. Entschuldige, dass ich nicht früher gekommen bin.

Es war Isas Stimme, eindeutig, aber das Maul des Tieres hatte sich nicht bewegt. Woher …

Sie trottete auf ihn zu und fing an, ihm die Stirn zu lecken. Ihre Zunge war seltsam tröstend. Nick begann zu zittern. »Himmel!«, stammelte er und vergrub das Gesicht in den Händen.

Es ist vorbei, alles ist gut. Isa fuhr fort, ihn zu waschen, seine Finger, seinen Hals.

Die Stimme war eindeutig in Nicks Kopf gewesen, er hatte sie nicht laut gehört. Aber das war jetzt auch egal. Die ganze Welt war verrückt, warum also nicht noch Telepathie?