Mephistos Erben - Sophie Heeger - E-Book

Mephistos Erben E-Book

Sophie Heeger

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Beschreibung

Tatort Mainz. Susanna van der Neer ist eine erfolgreiche Kunsthistorikerin, sie lebt in Mainz und arbeitet auf der ganzen Welt. Doch Erinnerungen und Schuldgefühle quälen sie. In einem Institut im Taunus glaubt sie, endlich Hilfe und Zuspruch zu finden, aber man spielt ein erbarmungsloses Spiel mit ihr. Und eines Tages wird sie tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Selbstmord, so scheint es. Wäre da nicht auf dem Anrufbeantworter diese Nachricht: Eine männliche Stimme flüstert die Zahl ›20‹. Die Psychiaterin Lea Johannsen lässt der Fall nicht los. Die Ermittlungen führen sie und die Polizei zu einem eleganten Anwesen in Falkenstein. Was geschieht hier? Wer bestimmt die Regeln des Spiels? Lea begibt sich in ungeahnte Gefahr. Ist auch ihr Schicksal schon besiegelt? »Seine Macht ist die Angst. Wir haben alle Angst. Wir sind seine Opfer.«

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Sophie Heeger

Mephistos Erben

Kriminalroman

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Tatort Mainz.

Susanna van der Neer ist eine erfolgreiche Kunsthistorikerin, sie lebt in Mainz und arbeitet auf der ganzen Welt. Doch Erinnerungen und Schuldgefühle quälen sie. In einem Institut im Taunus glaubt sie, endlich Hilfe und Zuspruch zu finden, aber man spielt ein erbarmungsloses Spiel mit ihr. Und eines Tages wird sie tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Selbstmord, so scheint es. Wäre da nicht auf dem Anrufbeantworter diese Nachricht: Eine männliche Stimme flüstert die Zahl ›20‹.

Die Psychiaterin Lea Johannsen lässt der Fall nicht los. Die Ermittlungen führen sie und die Polizei zu einem eleganten Anwesen in Falkenstein. Was geschieht hier? Wer bestimmt die Regeln des Spiels? Lea begibt sich in ungeahnte Gefahr. Ist auch ihr Schicksal schon besiegelt?

 

»Seine Macht ist die Angst. Wir haben alle Angst. Wir sind seine Opfer.«

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Die Autorin, geb.1958 in Frankfurt, lebt und arbeitet als Ärztin in Mainz. »Mephistos Erben« ist ihr erster Roman.

Für Lisa, Laura und Franziska

Ars vera et falsa diiudicandi

Die Kunst, Wahres und Falsches zu unterscheiden

Erstes Kapitel

Sie setzte sich in den Sessel, nahm die weiße Tablette aus dem Taschentuch und schluckte sie hinunter. Das Bittere war kaum wahrnehmbar, und als sie danach einen Schluck Tee trank, schmeckte sie lediglich das Aroma des zarten Jasmins. Sie griff nach der nächsten Tablette, bis keine einzige mehr übrig war. Dann lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Vor sich sah sie Michelangelos »Jüngstes Gericht« in der Sixtinischen Kapelle. Körper, die sich krümmen, und Gesichter, die hoffen. Die einen stürzen in den Abgrund, die Glückseligen steigen in das Himmelreich auf. Ihre Atemzüge wurden tiefer, ihr Kopf fiel zur Seite. Von unten drang Straßenlärm gedämpft in die Wohnung. Das Leben draußen ging weiter.

Endlich Herbst! Der Geruch von feuchtem Laub und letzten Blüten stieg Lea Johannsen in die Nase, leichter Dunst kühlte angenehm ihr Gesicht. Wie jeden Morgen betrat sie den weitläufigen Park mit einem aufgeregten Hund an der Leine. Das Tier streckte prüfend die Nase in die Luft, schnupperte aber sofort am Boden weiter. »Lilly, Platz!« Artig setzte sich die Retriever-Hündin und wartete. Ihre Folgsamkeit wurde mit einem Leckerbissen belohnt, wobei es letztlich unklar blieb, ob ihr Verhalten auf Gehorsam oder auf Appetit zurückzuführen war. Kaum jedoch hatte Lilly das Öffnen des Verschlusses an ihrem Halsband registriert, sprang sie begeistert los, um auf der anderen Seite der Wiese einen Cockerspaniel zu begrüßen.

Der Park war beeindruckend. Wie in einem Aquarellkasten leuchteten die Früchte von Pfaffenhütchen, Feuerdorn und Eberesche um die Wette. Die Blätter der majestätischen Kastanien, Buchen und Ahornbäume waren an den Rändern bereits gelblich oder rötlich verfärbt, und einige von ihnen hatten die Rasenfläche mit bunten Farbtupfern verziert. Tau glitzerte auf den halbzerfallenen Beeren von Heckenkirsche, Felsenbirne und Hartriegel. In der Morgensonne, die milchig durch den feinen Nebel drang, wirkte der Park wie ein Gemälde William Turners.

 

Nach einer Weile pfiff Lea nach dem Hund, der sich immer weiter entfernt hatte. »Lilly!«

Das Tier drehte nicht einmal den Kopf, und so blieb Lea nichts anderes übrig, als hinterherzulaufen. Die Sprechstunde der Psychiaterin begann um 9 Uhr, und bis dahin musste Lilly wieder zu Hause im Korb liegen. Diese hatte ihre Aufmerksamkeit gerade einem jungen Pärchen zugewandt, das Arm in Arm durch den Park spazierte. Schwanzwedelnd und freudig bellend sprang der Hund auf die beiden zu, woraufhin die junge Frau sich ängstlich hinter dem Rücken ihres Begleiters versteckte.

»Der macht nichts«, rief Lea, obwohl sie sich geschworen hatte, diesen dämlichen Satz niemals auszusprechen; verspürte sie doch selbst beim Anblick fremder, bellender Hunde einen Anflug von Panik. »Lilly, hier!« Der Hund blickte zumindest in ihre Richtung und lief, als er das Rascheln der Plastiktüte mit Wurstresten hörte, erwartungsvoll auf sie zu. »Fein, Lilly, fein, jetzt müssen wir aber nach Hause gehen.« Sie klopfte auf das weiße Fell, in dem sich einige feuchte Blätter verfangen hatten, und befestigte die Leine wieder am Halsband.

Mit dem zufrieden kauenden Hund an der Seite erreichte sie wenig später ihr Haus, ein älteres, aber frisch gestrichenes Gebäude, das auf unkomplizierte Art einladend wirkte und eine riesige alte Trauerweide auf dem Grundstück beherbergte. Lea bevorzugte einfache und schnörkellose Dinge, von denen, wie sie fand, etwas Beruhigendes ausging.

Als sie die Tür aufschloss, hörte sie auf Sörens Schreibtisch das Telefon klingeln. Sie warf dem Hund die Leine über den Rücken und beeilte sich, im Arbeitszimmer ihres Mannes den Hörer abzunehmen.

»Johannsen«, meldete sie sich noch etwas außer Atem.

»Frau Doktor, guten Morgen, ich hätte da kurz eine Frage.«

Wie üblich, wenn die Arzthelferin Frau Witt anrief, ging es um den Wochenplan, weil Patienten dringend einen Termin benötigten oder Angehörige verschiedene Informationen »schnell« durchsprechen mussten. Den Ansagen »schnell« oder »kurz« misstraute Lea aus Erfahrung.

»Die Kriminalpolizei ist hier mit zwei Beamten. Es geht um Frau van der Neer. Sie hatte für letzten Freitag einen Termin bei Ihnen vereinbart, den sie nicht eingehalten hat.«

»Hört sich nicht gut an. Was ist passiert?«

»Frau van der Neer wurde am Sonntagabend von ihrem Bruder tot aufgefunden. Bei der Durchsicht ihres Kalenders entdeckte er die Eintragung des Termins.«

Die polizeiliche Befragung des behandelnden Psychiaters gehörte zur Routine, und die Frage nach Selbstmord oder Fremdeinwirkung war ein wichtiges Puzzleteil im Rahmen der Ermittlungen. Da bei depressiven Patienten die Selbstmordrate immens ist, gewöhnte man sich als behandelnder Arzt zwar nicht an die Selbstmörder, die einem das Gefühl des persönlichen Versagens gaben, aber man gewöhnte sich an die regelmäßigen Besuche der Polizeibeamten. Für Lea war der Umstand, dass Patienten sich das Leben nahmen, bevor sie die Chance bekam, ihnen zu helfen, immer mal wieder Anlass gewesen, an ihrer Wahl des Fachgebietes Neurologie und Psychiatrie zu zweifeln.

»Ich werde mich beeilen. Verschieben Sie bitte die nächsten Termine jeweils eine halbe Stunde nach hinten.«

 

Etwa eine halbe Stunde später versuchte Lea, ihren VW Passat in eine Parklücke in der Nähe der Augustinerstraße, inmitten der Altstadt von Mainz, zu zwängen. Gute Gegend für eine Praxis. Die alten Häuser, Fachwerk und Historismus in bunter Reihe, dazwischen eine Kirche. Die Parksituation war allerdings grauenvoll, und die Damen in den blauen Uniformen mit dem Kästchen in der Hand unerbittlich. Wehe, man übersah ein Schild mit dem Hinweis auf Anwohnerparken. – »Es ist fast billiger, sich eine Wohnung mit Anwohnerparkscheinberechtigung in der Nähe der Praxis zu mieten, als die beständige Flut von Strafzetteln zu bezahlen«, hatte Lea sich bei ihrem Ehemann Sören beschwert.

»Noch ein kleines Stückchen nach vorne und links einschlagen«, rief es plötzlich von schräg hinten. Vor dem italienischen Restaurant auf der anderen Straßenseite stand Giulio und trocknete sich gerade die Finger an einem großen Küchenhandtuch ab. Lea kurbelte das Seitenfenster herunter und winkte ihm zu.

»Du sagst aber rechtzeitig Stopp und nicht erst, wenn ich auf der anderen Karosserie sitze«, rief sie ihm zu, und er grinste.

»Einen neuen Wagen könntest du schon gebrauchen. Oder willst du den fahren, bis er unter dir zusammenbricht?« Er zeigte abschätzig auf Leas Auto, das bereits zwölf Dienstjahre auf dem Buckel hatte, und von dem sie sich genauso schlecht trennen konnte wie von vielem anderen, Menschen eingeschlossen.

Nachdem Giulio sie in die Parklücke gelotst hatte, griff sie ihre Tasche, in der sie immer tausend Kleinigkeiten mit sich herumtrug und ohne die sie sich heimatlos fühlte, und ging zu ihm hinüber. Giulio war überaus gutaussehend, 1,85 groß, gewelltes, dunkles Haar und ein klassisch römisches Gesicht, obwohl er ursprünglich aus einem kleinen Ort in der Nähe von Brindisi kam. Schon im Alter von drei Jahren war er mit seinem Vater nach Mainz gekommen. Abgesehen von seltenen Temperamentsausbrüchen wirkte er, als würde er den ganzen Tag »O sole mio« vor sich hinsummen. Nachdem er das väterliche Restaurant übernommen und modernisiert hatte, war es ein wahrer Publikumsmagnet geworden; man musste Wochen im Voraus reservieren. Im Bella Romana war nicht nur die Stimmung einzigartig, auch seine italienische Küche war etwas ganz Besonderes.

»Soll ich euch in der Mittagspause etwas bringen?«, fragte er Lea.

»Ich weiß nicht, ich frage die anderen. Wir melden uns rechtzeitig.« Lea wandte sich Richtung Augustinerstraße und winkte ihm mit einem Lächeln zu, »bis später«.

»Ciao, bella«, klang es melodisch hinter ihr her, als sie die wenigen Schritte zu dem Haus ging, in dessen zweitem Stock sich die Gemeinschaftspraxis mit ihrem Kollegen Ullrich Köller befand. Die Praxis war vor drei Jahren renoviert worden. Jedes Mal beim Betreten der hellen Räume, die mit Birkenholzmöbeln, Spiegeln, großen Pflanzen und Lichtleisten ausgestattet waren, freute sie sich an der behaglichen Atmosphäre.

»Wenn die Patienten schon mit düsteren Stimmungen hier sitzen, brauchen wir dringend ein Gegengewicht«, hatte sie zu Ullrich vor der Renovierung gesagt. Dies hatte eine junge Innenarchitektin mit viel Liebe zum Detail umgesetzt. Leas Lieblingsraum war der Wartebereich, der an der Decke einen großen dunkelblauen Kreis mit eingelassenen Halogenlämpchen aufwies. Unter dem »Sternenhimmel« war an diesem Morgen jeder Platz besetzt.

»Gute Güte«, murmelte Lea, obwohl ihr klar war, dass die Praxis in der dunklen Jahreszeit Hochkonjunktur hatte. Die depressiven Erkrankungen legten in ihrer Intensität noch einmal tüchtig zu, um dann kurz vor den Weihnachtsfeiertagen Rekordniveau zu erreichen. Zusätzlich zu den täglichen Einbestellungen gab es Notfalltermine für Patienten mit Beschwerden, die sofort diagnostisch abgeklärt oder behandelt werden mussten.

Frau Witt saß an der Anmeldung und diskutierte gerade mit einer Patientin am Telefon. »Frau Lippert«, formte sie mit ihren Lippen und hielt dabei die Muschel des Hörers zu. Lea schüttelte den Kopf und signalisierte, dass es heute keinen Termin gab. Sie hatte die Patientin erst gestern gesehen und ihr geraten, die Medikamente regelmäßig für vierzehn Tage einzunehmen. Eine Verbesserung ihrer Beschwerden konnte nicht von heute auf morgen erzielt werden, obwohl es nicht wenige Menschen gab, die dachten, ab der ersten grünen, gelben oder lilafarbenen Tablette müsse sich ihr ganzes Leben ändern.

»Also frühestens nächste Woche, Frau Lippert, wenn es ein Notfall ist, natürlich auch früher, aber erst mal müssen die Medikamente wirken, Sie müssen wirklich abwarten.«

Frau Witt war ein Profi bei der Handhabung ungeduldiger Patienten, und das traf ungefähr auf ein Drittel ihrer Klientel zu.

Als Lea ihr Sprechzimmer betrat, folgte ihr Nora Sutter, die andere Arzthelferin, die vor drei Monaten ihre Ausbildung abgeschlossen hatte. »Guten Morgen, Frau Doktor, ich habe Ihnen eine Liste mit den Patienten für heute gemacht. Im Wartezimmer sitzen die beiden Kriminalbeamten, soll ich sie zuerst hereinholen?«

Lea nickte. »Ja, machen wir es kurz und schmerzlos, bitten Sie die beiden Herren herein.«

»Ein Herr und eine Dame«, korrigierte Nora und ging in den Wartebereich, um die beiden Kriminalbeamten zu Lea zu begleiten.

Kurze Zeit darauf saßen vor Lea ein etwa fünfundvierzigjähriger Kriminalbeamter mit offenem Gesicht und interessierten, wachen Augen, und neben ihm eine jüngere Beamtin in Jeans und Lederjacke, deren jungenhafter Kurzhaarschnitt mit einer augenfälligen Liebe zu ungewöhnlichem Ohrschmuck in sonderbarem Kontrast stand. Jedes Ohr war mit einer bunten Miniskulptur geschmückt.

»Franz Bender, Kriminalkommissariat Mainz, und das ist meine Kollegin Sandra Kurz«, stellte er sich vor, reichte Lea die Hand und zückte dabei routiniert den Polizeiausweis. »Wir hätten ein paar Fragen an Sie, Frau Johannsen, da wir bei den Ermittlungen zu einem Todesfall auf Ihre Praxis gestoßen sind.«

Lea schluckte. Trotz langjähriger Routine im Umgang mit solchen Ereignissen zog sie diese Formulierung in den Dunstkreis von Verbrechen und Unrecht, was ihr stets aufs Neue ein mulmiges Gefühl bescherte.

»Es geht um Susanna van der Neer, eine Ihrer Patientinnen«, konkretisierte Kommissar Bender das Gespräch.

»Susanna van der Neer«, wiederholte Lea, »ja, sie war meine Patientin, aber ohne Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht durch die Angehörigen darf ich Ihnen keine medizinischen Details mitteilen, wie Sie wissen.«

»Natürlich.« Der Polizeibeamte zog ein gefaltetes Papier aus seinem Jackett. »Hier habe ich die schriftliche Entbindung von Ihrer Schweigepflicht, ausgestellt vom Bruder der Toten, Alexander van der Neer.«

Lea war verblüfft, denn so fix war die Polizei selten. Bender schien ihre Reaktion richtig zu deuten und lächelte amüsiert. »Manchmal sind wir richtig schnell.«

Wenn er lächelt, sieht er mindestens zehn Jahre jünger aus, stellte Lea überrascht fest.

»Im vorliegenden Fall kam uns der Zufall zu Hilfe«, klärte Kommissar Bender Lea auf. »Herr van der Neer selbst entdeckte die Eintragung des Arzttermins im Terminkalender seiner Schwester, und da er als Anwalt mit den bürokratischen Erfordernissen unserer Ermittlungsarbeit vertraut ist, mussten wir dem Schreiben ausnahmsweise mal nicht hinterherlaufen.«

Die junge Kollegin, Polizeikommissarin Sandra Kurz, schaltete sich ein: »Herr van der Neer hat seine Schwester am gestrigen Sonntagabend gegen 19 Uhr in ihrer Wohnung gefunden. Er war mit ihr verabredet, und da sie nicht öffnete, hat er mit einem Schlüssel, den er für Notfälle bekommen hatte, die Tür geöffnet. Er fand seine Schwester im Wohnzimmer, auf einem Sessel sitzend. Leblos.« Die junge Beamtin unterbrach ihre Schilderung, so dass die Pause wie eine spontane Gedenkminute für die Tote wirkte. Dann räusperte sie sich und fuhr fort. »Herr van der Neer rief den Notarztwagen und sofort auch die Polizei. Der Notarzt stellte fest, dass der Tod offensichtlich schon eine ganze Zeit vorher eingetreten war, da die Totenstarre bereits vollständig ausgebildet war. Er kennzeichnete den Leichenschauschein, wie in solchen Fällen üblich, mit dem Hinweis auf eine unklare Todesursache, und die weitere gerichtsmedizinische Untersuchung wurde angeordnet.« Sie nickte Kommissar Bender zu, der den Bericht fortsetzte. »Nichts in der Wohnung deutete auf eine Gewalttat hin, und die äußere Unversehrtheit der Toten wies ebenfalls nicht in eine solche Richtung. Also, ein plötzlicher Tod natürlicher Ursache … oder ein Selbstmord. Auch wenn wir die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchungen abwarten müssen, halten wir einen natürlichen Tod für nicht sehr wahrscheinlich, da nach Angaben ihres Bruders Frau van der Neer bei guter körperlicher Gesundheit war.«

»Bleibt Selbstmord«, gab Frau Kurz das nächste Stichwort. »Genau daran aber will der Bruder der Toten nicht glauben.«

Lea nickte. Sie kannte dieses Phänomen. Ein Selbstmord in der Familie konnte selten akzeptiert werden. Dem ersten Schock folgten die Schuldgefühle. Diese überfielen die nächsten Angehörigen jedes Mal, wenn es zu einer solchen Tat kam, und machten den Schicksalsschlag doppelt schwer. Die Frage, warum niemand aus der nächsten Umgebung gespürt hatte, dass Sohn, Mutter oder Schwester in einen seelischen Abgrund gestürzt waren, aus dessen quälender Tiefe nur Selbstmord als Ausweg erschien, war selten zu beantworten.

»Was möchten Sie von mir wissen?«, fragte Lea, bei allem Verständnis für die Angehörigen, in der Hoffnung, dass die Fragen nach Depressionen, Suizidgefahr, Psychose oder Medikamentenabhängigkeit in diesem Fall schnell zu beantworten waren. Ihr Praxisalltag war auch ohne Stechuhr streng getaktet.

»Fangen wir am besten bei den Fakten an«, schlug Kommissar Bender vor, während seine junge Kollegin sich mit geschultem Blick in Leas Sprechzimmer umsah. »Frau van der Neer hatte am Freitag, den 10. Oktober, um 10 Uhr einen Termin bei Ihnen. An diesem oder dem folgenden Tag ist sie gestorben.« Franz Bender zückte seinen Kugelschreiber und schlug einen schon etwas ramponierten Notizblock auf. »In welcher Verfassung war Frau van der Neer an jenem Morgen, und worüber haben Sie gesprochen?«

Lea schaute auf die Karteikarte mit der Terminübersicht. »Über gar nichts«, beantwortete sie die Frage.

»Wieso über nichts, was war denn ihr Anliegen?« Bender hob seinen Kugelschreiber, den er schon zum Schreiben aufgesetzt hatte, wieder hoch.

»Die Patientin ist nicht zum Termin erschienen.«

»Hat sie ihn abgesagt?«

»Nein, sie ist einfach nicht erschienen.«

Kommissar Bender machte sich eine Notiz, während Lea fortfuhr: »Dabei hatte Frau van der Neer ihren Terminwunsch erst kurz vorher auf dem Anrufbeantworter der Praxis hinterlassen.« Lea überflog die Eintragungen. »Sie hat am Donnerstagabend – die Daten werden gespeichert – um 22 Uhr 50 auf den Anrufbeantworter der Praxis gesprochen und um einen Termin für den darauffolgenden Tag gebeten.«

»Zu dem sie dann nicht erschienen ist?«

»Genau.«

Kommissar Bender notierte die Fakten. Er benutzte offensichtlich eine Art Kurzschrift, denn nach wenigen Zeichen schaute er auf.

»Wann und wo sind Sie Frau van der Neer zum ersten Mal begegnet? Kannten Sie sie nur als Patientin oder auch privat?«

»Ich kannte sie nur als Patientin.«

»Erzählen Sie uns bitte von Ihrem ersten Kontakt mit ihr.«

Lea erinnerte sich recht gut an diesen Katastrophenvormittag vor einem Jahr. Ihr Nesthäkchen Frederike, damals gerade 9 Jahre alt, hatte am Morgen über Bauchweh und Kopfschmerzen geklagt. »Ich kann nicht zur Schule, Mama«, hatte sie gejammert. Statt Kakao hatte sie nach Fencheltee verlangt. Da dies ein sicheres Indiz für »echte« Bauchschmerzen war, hatte Lea in der Schule angerufen und ihre Tochter entschuldigt. Die Termine in der Praxis konnten so kurzfristig nicht verschoben werden, und so hatte Lea das Kind samt Wärmflasche und Thermoskanne mit Fencheltee in ihren Passat gepackt. Als sie von der Rheinstraße in die Holzstraße abgebogen war, hatte sie Frederikes leidende Stimme vom Rücksitz vernommen: »Mama, ich glaube, ich muss mich übergeben.« – »Moment, mein Schatz, ich suche eine Tüte, schaffst du es solange?« Im Handschuhfach fand Lea eine leere Hundekeks-Tüte. »Hier, halt dir die vor den Mund!« Keinen Augenblick zu spät, denn Frederike erbrach sich, glücklicherweise zielsicher, in die Tüte.

Als sie zehn Minuten später zusammen und samt Gepäck die Praxis betreten hatten, war zu allem Überfluss am Empfangstresen eine lautstarke Auseinandersetzung in vollem Gange gewesen. Eine schlanke Frau mit langen dunklen Haaren in einem schwarzen Mantel hatte aufgebracht vor Frau Witt und Nora gestanden. »Ich brauche einen Termin, sofort, heute. Ich weiß, Sie haben für Notfälle immer einen Termin. Man hat mir gesagt, ich soll mich an Frau Doktor Johannsen wenden, wenn ich es nicht mehr aushalten kann. Hier ist doch ihre Praxis, oder?« Frau Witt hatte versucht, den Redefluss zu unterbrechen, war aber trotz jahrelanger Übung nicht erfolgreich gewesen. Mit dem Kind an der Hand war Lea an der Anmeldung vorbeigeschlichen. Zum Glück war das kleine Nebenzimmer des Sprechzimmers mit einer Liege ausgestattet und konnte schnell zum Krankenzimmer umfunktioniert werden. »Ich kann nicht mehr!« Frederike war erschöpft auf die Liege gesunken, und Lea hatte rasch noch eine Schüssel besorgt. Anschließend hatte sie sich den Kittel übergezogen, um den ersten Patienten in das Sprechzimmer zu holen. Doch die Lage an der Anmeldung hatte sich zwischenzeitlich keineswegs entspannt.

»Was ist denn das Problem?«

Die unerwartete Frage aus dem Hintergrund hatte eine Pause verursacht. Aber nur für kurze Zeit. Die Frau hatte sich zu ihr herumgedreht und sofort erfasst, dass ein neuer Ansprechpartner zur Verfügung stand. Ohne zu zögern hatte sie begonnen, ihr Anliegen erneut vorzutragen.

Keinen Moment hatte Lea daran gezweifelt, dass diese Frau sich in einer psychischen Ausnahmesituation befand. Es waren ihre Augen, furchtsam geöffnet, der angespannte Gesichtsausdruck, die fahrigen Bewegungen ihrer Hände, die immer nur für einen kurzen Moment Haare, Mantel, Tasche oder den Tresen berührten. Sie hätte sich an der Anmeldung ganz sicher nicht beruhigt. Kurz entschlossen hatte Lea die Frau daher aufgefordert, ihr ins Sprechzimmer zu folgen und dort Platz zu nehmen.

»Weshalb sind Sie gekommen?«

»Sind Sie Frau Doktor Johannsen?«

Lea hatte genickt, und die Frau hatte leise zu sprechen begonnen: »Ich bin schuldig, ich habe mich versündigt! Verstehen Sie? Jetzt ist der Teufel immer anwesend. Er lässt mich nicht gehen. Überall finde ich ihn, oder er findet mich.« Eindringlich hatte die Frau Lea aus dunkelblauen Augen angeblickt, so als könnte sie die Antwort auf ihre Frage in Leas Gesicht ablesen. »An mir und am Leben selbst habe ich mich versündigt; deshalb spüre ich seine Ketten. Ich habe zu büßen. Es ist ausweglos.« Hastig hatte sie die Wörter ausgesprochen, und sie schien erleichtert darüber zu sein, dass die Worte sich aneinandergereiht und zu einem Satz geformt hatten.

»Weshalb glauben Sie an eine Sünde?« Lea hatte nachgefragt, um das Gespräch weiterzuführen und mehr zu hören.

»Kennen Sie den Weg? Wissen Sie, was nach dem Teufel kommt? Kennen Sie die Zahl?«

Auf Leas Frage hatte die Frau entweder nicht antworten wollen, oder sie hatte es nicht gekonnt. Ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen hatte exotisch ausgesehen, schön mit einer ungesunden Blässe. Ihr Alter hatte Lea auf Anfang vierzig geschätzt.

»Was meinen Sie mit dem Weg oder der Zahl?«

In Leas Kopf hatten sich die Schubladen für einzelne psychiatrische Symptome wie Wahnwahrnehmung, systematischer Wahn oder paranoide Wahnvorstellung geöffnet.

»Die Zahl weist den nächsten Schritt, …wie der Weg fortgesetzt werden kann, verstehen Sie?« Die Frau hatte aus dem Fenster geschaut. »Ich suche Erlösung, aber die Schuld hält mich fest. Ich möchte verstehen, und ich möchte wieder frei sein.«

Lea fasste ihre Erinnerungen in wenigen Worten für die Polizeibeamten zusammen.

»War die Patientin psychotisch, oder hatte sie ein anderes Problem?«, erkundigte sich Sandra Kurz.

»Wirklich schwer zu sagen«, antwortete Lea der jungen Kommissarin, deren kompetente Frage sie beeindruckte. Psychiatrische Krankheitsbilder waren häufig komplex und verworren. Hinter den Aussagen der Patienten suchte man Muster für die verschiedenen Störungen. Es gab richtungweisende Symptome, wie zum Beispiel den katatonen Sperrungszustand, den Stupor, die hyperkinetische Katatonie, die verschiedenen Halluzinationen, haptische, akustische, optische und andere Wahrnehmungsstörungen. Allesamt Bezeichnungen für genau definierte Störungen, die zu richtigen Diagnosen führten, oder besser führen sollten. Bei Frau van der Neer waren die Hinweise undeutlich, unscharf und schwer abgrenzbar gewesen, und so antwortete Lea wahrheitsgemäß: »Das kann ich Ihnen nicht eindeutig sagen. Ich habe versucht herauszubekommen, ob es sich bei Frau van der Neer um eine Psychose oder eine neurotische Störung handelte. Das schien mir zunächst das Wichtigste, es ist entscheidend für das weitere Vorgehen.«

»Inwiefern entscheidend?«, wollte Kommissar Bender wissen.

»Nun, der Neurotiker weiß in der Regel, dass er unter einem seelischen Problem leidet, mehr oder weniger jedenfalls. Im Unterschied dazu lebt der Psychotiker in seinem Wahngebilde wie unter einer Käseglocke, und alles, was unter dieser Käseglocke passiert, ist für ihn die einzig existierende Wirklichkeit, aus der es kein Entrinnen gibt.«

»Und welche Erkrankung vermuteten Sie bei Frau van der Neer?«

»Wie gesagt, das war mir nach diesem ersten Zusammentreffen nicht klar, und auch später kamen mir immer wieder Zweifel an der Art der psychischen Störung.« Lea überflog erneut die Eintragungen in der Patientenakte. »Jedenfalls konnte ich ihr offenbar nicht weiterhelfen, und meine Versuche, in einem Gespräch etwas über ihr Problem herauszubekommen, waren wenig erfolgreich.«

Lea erinnerte sich an das frustrierende Ende dieses ersten Gesprächs. Frau van der Neer hatte plötzlich ihren Stuhl zurückgeschoben und war mit einem Seufzer aufgestanden. »Das ist schlecht, sehr schlecht«, hatte sie gemurmelt und war ohne sich umzudrehen an diesem Morgen aus der Praxis gegangen und hatte Lea ratlos hinter ihrem Schreibtisch zurückgelassen.

Die Psychiaterin erzählte Franz Bender und Sandra Kurz von dem plötzlichen Ende dieser denkwürdigen Konsultation, das umso erstaunlicher war, da Frau van der Neer verzweifelt auf dieses Gespräch bestanden hatte. Anschließend blickte Lea auf die anderen Eintragungen und auf das jeweils vermerkte Datum. »Frau van der Neer war danach noch insgesamt viermal in der Praxis. Diese Besuche unterschieden sich freilich sehr von unserem ersten Zusammentreffen.«

»Inwiefern?«, wollte Frau Kurz wissen.

»Frau van der Neer wirkte bei den folgenden Besuchen gefasster, vielleicht etwas bedrückt, aber keineswegs so aufgewühlt und verzweifelt wie bei diesem ersten Gespräch.« Lea drehte die letzte Karteikarte um und schaute auf die Notizen. »Am 24. September, das war der letzte Termin, zu dem sie erschien, sprach sie wieder vom Tod, vom Teufel und von einem Labyrinth. Sie erwähnte aber auch, dass es Hoffnung für sie gebe. Das war vor drei Wochen.« Lea behielt die Karteikarten in der Hand und lehnte sich zurück.

Frau Kurz stellte die nächste Frage: »Insgesamt nur vier Termine bei Ihnen? Das ist wenig für Patienten in Ihrem Fach, nehme ich an. Patienten mit psychischen Erkrankungen gehen meines Wissens viel häufiger zu ihrem Psychiater, oder?«

»Ja, allerdings«, bestätigte Lea, »die meisten Patienten benötigen viel Zeit, und wir haben in der Regel Probleme, ausreichend Termine zu reservieren.«

Als habe sie das Stichwort für ihren Einsatz bekommen, öffnete Frau Witt mit einem entschuldigenden Blick die Tür. »Verzeihung, aber das Wartezimmer ist ziemlich voll. Frau Ehlers wäre als Nächste an der Reihe, was soll ich ihr sagen?« Frau Witt blieb in der Tür stehen. »Soll ich sie eine Runde zum Einkaufen schicken?«

Die Einkaufsmöglichkeiten waren ein unschlagbarer Vorteil der ausgezeichneten Praxislage. Die meisten Patienten kamen so mit längeren Wartezeiten sehr gut zurecht.

»Nein, sie kommt sofort dran«, erwiderte Lea. »Ich muss heute auf jeden Fall pünktlich los, da Frederike heute Nachmittag bei einer Schulaufführung mitspielt. Die darf ich keinesfalls verpassen.«

Frau Witt nickte, verließ den Raum und schloss die Tür.

»Eine Frage noch, bevor wir uns verabschieden.« Kommissar Bender und Frau Kurz hatten den Hinweis verstanden. »Hat Frau van der Neer zu irgendeinem Zeitpunkt Selbstmordgedanken geäußert oder angedeutet?«

»Nein, sie hat nichts Eindeutiges offenbart. Weder beim ersten Gespräch noch später.« Lea warf sicherheitshalber nochmals einen Blick auf die Unterlagen und schüttelte den Kopf. Sie hatte es sich schon zu Beginn ihrer Berufstätigkeit angewöhnt, wichtige Dinge mit Textmarker, die sie in allen Farben immer griffbereit hatte, zu kennzeichnen. Suizidgedanken oder ein versuchter Selbstmord gehörten in jedem Fall dazu. »Auch wenn Frau van der Neer in den weiteren Gesprächen relativ, die Betonung liegt hier wirklich auf relativ, ausgeglichen erschien, haben wir über einiges gesprochen, was mich ihren Gemütszustand ahnen ließ. Sie war für mich …«, Lea suchte nach einem passenden Wort, »… zerrissen. Das trifft es vielleicht. Sie war innerlich zerrissen. Von konkreten Selbstmordabsichten sprach sie aber, wie gesagt, nicht.« Lea konnte den Blick auf ihre Armbanduhr nicht mehr hinausschieben. »Es tut mir wirklich leid, ich stehe heute unter Zeitdruck. Aber ich werde mir die Eintragungen noch einmal in Ruhe durchsehen, und wir können dann gerne noch über Frau van der Neer sprechen. Wäre das in Ordnung?« Lea schaute fragend in das Gesicht Franz Benders.

Dieser nickte. »Ja sicher, das wäre hilfreich, vielen Dank.«

Er und Sandra Kurz erhoben sich nahezu gleichzeitig, und nach einem kurzen Händedruck wandten sich beide in Richtung Tür. Bender legte noch schnell seine Visitenkarte auf Leas Schreibtisch. »Sie können mich jederzeit anrufen. Zu Beginn der Ermittlungen ist jede Information nützlich und wichtig.«

Als er an der Tür stand, drehte er sich noch mal um. Eine Geste, die Lea an den Detektiv einer amerikanischen Fernsehserie erinnerte. »Das sollten Sie vielleicht noch wissen: Falls es ein Selbstmord gewesen sein sollte, gibt es einige Auffälligkeiten. Wir fanden Frau van der Neer halb angezogen auf einem Sessel sitzend, die Hose war nicht zugeknöpft und die Knöpfe der Bluse nicht geschlossen. Auf einem Tisch stand eine Teetasse, daneben lag ein weißes Taschentuch. Im Badezimmer der Toten lag eine Zahnbürste mit Zahnpasta auf dem Waschbeckenrand, und die Teekanne war noch halb gefüllt.«

Lea stellte sich Frau van der Neer in ihrer Wohnung vor, wie sie dort die Teekanne gefüllt und die Zahnpasta aus der Tube gedrückt hatte. Alltägliche Verrichtungen, über die man sich keine Gedanken machte.

Kommissar Bender fuhr fort: »Die Wohnung war einigermaßen ordentlich, nichts war zerwühlt, und es gab keine aufgezogenen Schubladen. Nur der Spiegel im Schlafzimmer war zersplittert, vermutlich von einem schweren silbernen Medaillon, das jemand dagegengeworfen hatte. Das Medaillon lag unter dem Spiegel. Vielleicht ist es ein Hinweis darauf, dass doch eine Auseinandersetzung vor dem Tod stattgefunden hat. Wir werden abwarten müssen, bis die Spurensicherung uns nähere Informationen liefert.« Er machte eine Denkpause. »Aber nichtsdestotrotz, so wie es aussieht, ist Frau van der Neer zwischen Anziehen und Zähneputzen gestorben.«

Mit diesem Satz beendete Kommissar Bender seine Rede, hob die Hand zum Abschied und verließ mit Frau Kurz das Sprechzimmer.

 

Die Tür blieb geöffnet, und so konnte Frau Ehlers sofort eintreten und Platz nehmen. »Das hat heute aber lange gedauert, Frau Doktor, ich habe fast eine dreiviertel Stunde gewartet.«

»Es tut mir wirklich leid, Frau Ehlers«, besänftigte Lea die Patientin. »Wie kommen Sie mit dem neuen Medikament zurecht?«

»Also«, begann diese und schilderte in aller Ausführlichkeit ihre Beschwerden – die Verspannungen, den Kopfschmerz, die Abgeschlagenheit, das Leeregefühl, das sie immer wieder überfiel. Lea hatte ihr vor drei Wochen nach Ausschluss einer körperlichen Ursache ein Antidepressivum verschrieben und konnte eine deutliche Besserung konstatieren. Die Patientin wirkte frischer, sie erzählte lebhafter und schien nicht mehr so niedergeschlagen.

»Ich denke, das Medikament tut Ihnen sehr gut.« Fragend schaute Lea Frau Ehlers an und wartete gespannt auf deren subjektive Einschätzung.

»Ja schon, ich habe morgens mehr Schwung, wenn ich das mal so sagen darf«, bestätigte die füllige Mittfünfzigerin etwas zögerlich. »Aber nachmittags wird mir alles schon wieder zu viel. Es ist zwar kein Loch mehr, in dem ich versinke, aber immerhin noch eine Kuhle.«

»Das haben Sie treffend formuliert. Dann schlage ich vor, dass wir die Dosis noch etwas anheben, dann kommen Sie wahrscheinlich auch noch gut über den Nachmittag.«

Die Patientin nickte. Lea stellte ihr ein neues Rezept aus und vermerkte die Einnahmehäufigkeit.

»Geht es Ihrem Mann wieder besser?«

Herr Ehlers hatte sich bei einem Sturz von der Kellertreppe den rechten Oberschenkel gebrochen. Nach der Operation hatte er für acht Wochen ein Rehabilitationszentrum besuchen müssen. Die Depression seiner Ehefrau war durch das plötzliche Alleinsein sicher erheblich verstärkt worden, zumal sie fast dreißig Jahre verheiratet und, soweit Lea das mitbekommen hatte, noch niemals getrennt gewesen waren. Nun endlich lächelte Frau Ehlers.

»Ja, viel besser, er kommt nächste Woche wieder nach Hause. Bis dahin muss ich noch einiges erledigen.«

»Na, das klingt doch gut, Frau Ehlers, ich denke, es geht wieder aufwärts.« Mit einem aufmunternden Lächeln reichte Lea ihr die Hand. Hier hatte sie ein gutes Gefühl.

Bei ihrem nächsten Patienten sah es leider nicht so rosig aus. Herr Wegener litt seit fünf Jahren unter einem Morbus Parkinson und konnte trotz einer ganzen Palette wirksamer Medikamente kaum noch seine Hand zum Mund führen. Der früher aktive Sechzigjährige litt massiv unter der Einschränkung seiner Mobilität. Obschon seine Ehefrau ihn liebevoll umsorgte, hatte er Tränen in den Augen, als er vor Lea saß.

Zweites Kapitel

Zwei Stunden später hatte sich das Wartezimmer deutlich geleert, und Lea ging in den Sozialraum, um sich eine große Tasse Kaffee zu besorgen.

»Mama, du bist kaffeesüchtig«, hatte ihre 15-jährige Tochter Marie nicht zum ersten Mal festgestellt, als sie am Morgen den Kaffee nicht mit einem Löffel abgemessen, sondern ihn aus der Tüte direkt in die Tasse befördert hatte. Je nach Müdigkeitsgrad wurde die Dosierung des Pulvers variiert.

»Nur dass du Bescheid weißt, ich trinke den Kaffee nicht zum Genuss, für mich ist er ein Grundnahrungsmittel«, hatte Lea klargestellt. Die Beziehung zum Kaffee definierte sich neu für Menschen, die nachts in einem Krankenhaus gearbeitet hatten.

Als sie nun gerade dabei war, sich im Sozialraum die dritte Tasse Kaffee des Vormittages einzuschenken, kam ihr Kollege um die Ecke geschlendert. Es war offenbar Zeit für seinen Tee. Ullrich Köller, 51 Jahre alt, ein Typ wie ein Schwergewichtsathlet, ziemlich groß und eher »ründlich«, wie Frederike füllige Menschen nannte, war Leas Fels in der Praxisbrandung. Ausschließlich positiv gestimmt absolvierte er sein Tagespensum, blieb dabei überwiegend entspannt und war auch bei den Patienten maximal beliebt. Darüber hinaus war er bestens informiert, sowohl im medizinischen Bereich als auch bei aktuellen Angeboten für französischen Rotwein, insbesondere aus dem Medoc. Außerdem zeichnete ihn eine unerschütterliche Liebe zu seiner quirligen Ehefrau Françoise aus. »Wir sind komplementär und dennoch seelenverwandt«, beschrieb Ullrich ihr inniges Verhältnis. Über weitere Anziehungskräfte, die in seiner Ehe wirksam waren, ließ er seine Umgebung im Unklaren, wenn auch nicht gänzlich, denn es war nicht schwierig, seine Blicke zu deuten, wenn er seiner Frau nachschaute, die auf Schuhen, in denen Lea keine drei Meter hätte laufen können, und in einem Rock, den man ihr vermutlich auf die wohlgeformten Hüften geschneidert hatte, davonschwebte.

»Na, dein wievielter Kaffee ist das heute?« Ullrich tippte Lea freundschaftlich auf den Arm.

»Erst die zweite Tasse«, schummelte sie ohne mit der Wimper zu zucken. »Die Kriminalpolizei war gerade hier, mein erster Termin heute Morgen.«

»O weh!« Ullrich griff nach seiner Teekanne.

»Wirklich o weh. Eine Patientin wurde tot in ihrer Wohnung gefunden. Ein unklarer Todesfall, und es geht wieder einmal um ein Selbstmordmotiv.«

»Nicht schön, so in den Tag zu starten, wo doch draußen die Herbstsonne lacht«, äußerte sich Ullrich mitfühlend. »Doch der Tod hat noch nie Rücksicht aufs Wetter genommen. Auch an schönen Tagen gilt: memento moriendum esse.«

Lea leerte ihre Tasse. »Wirklich Ullrich, ein sehr schöner Spruch!«

Ullrich war als bekennender Lateinliebhaber eine nie versiegende Quelle von Zitaten aller Art.

»Mittelalterliches Mönchslatein, das heißt so viel wie: Gedenke, dass man sterben muss«, gab Ullrich erstaunlich bereitwillig Quelle und Übersetzung preis. Für gewöhnlich musste Lea ihm die zweifelhafte Freude machen, sich mit Übersetzungsversuchen zu quälen, die er mehr oder weniger wohlwollend zu kommentieren pflegte.

»Ah, ja, vielleicht setze ich es als Motto meinen depressiven Patienten vor, das wirkt sicher sehr aufmunternd.«

Ullrich hob den Teelöffel wie ein gestrenger Lehrer den Zeigestock, während er mit der anderen Hand seinen Tee überbrühte. »Sei nicht so sarkastisch, das gehört sich nicht in unserem Beruf.«

Brav nickte Lea und lehnte sich vorsorglich schon einmal entspannt zurück. Wenn Ullrich ein Thema laut dachte, ergaben sich immer Ausflüge der besonderen Art.

»Bei den Mönchen war die Erinnerung an den Tod als Mahnung gedacht, sie hatte vermutlich auch die Wirkung einer Drohung. Ich könnte mir vorstellen, dass die Aussicht, beim Jüngsten Gericht verdammt zu werden und in der Hölle oder dem Fegefeuer zu schmoren, schon vor Hunderten von Jahren zu massiven Panikstörungen geführt hat.«

»Nun, die Kirche lebte nicht schlecht von dieser Furcht«, ging Lea auf Ullrichs Thema ein. »Immerhin wurde mit den Ablassgeldern ein großer Teil des Petersdoms finanziert.«

Unbeeindruckt von Leas Beitrag setzte Ullrich zu einem kurzen Philosophievortrag an. »Bei den Epikureern wurde die Erkenntnis der Vergänglichkeit positiv umgesetzt. ›Memento mori‹ bedeutete so viel wie ›genieße das Leben, solange es dir gegeben ist‹.«

»Gefällt mir wesentlich besser«, kommentierte Lea diese Interpretation und musste an Frau van der Neer denken.

Unbeirrt fuhr Ullrich fort. »Zudem gibt es von Epikur für die von Todesängsten geplagten Menschen die Erkenntnis, dass der Tod uns eigentlich nicht betrifft.«

»Noch eine gute Nachricht?«

»Lea bitte, das Thema ist ernst!«

Lea presste demonstrativ die Lippen aufeinander. »Na gut, ich höre zu.«

»Also, Epikur sagt, solange wir sind, ist der Tod nicht, und wenn der Tod ist, sind wir nicht.«

»Bestechendes Argument. Wann hat Epikur gelebt?«

»So ungefähr 350 vor Christus«, antwortete Ullrich ohne Zögern. »Übrigens, die Christen mochten diese Philosophierichtung gar nicht, und im Mittelalter galt Epikur sogar als Antichrist, als der Mitstreiter des Teufels sozusagen.«

»Klar, Menschen ohne Angst sind schwer zu bändigen.« Lea goss sich Kaffee Nummer vier ein und rührte mit einem Löffel die Milch um. »Ich wollte dich noch etwas fragen.«

»Ja?« Ullrich beendete sein Teeritual. Er stellte das Teesieb in den Abfluss, spülte die Kanne aus und stellte die Dose Earl Grey aufs Regal zurück. Lea beobachtete seine Bewegungen. Ja wirklich, Ullrich war der zufriedenste Mensch, den sie kannte. Und furchtlos war er noch dazu. Vor einigen Monaten hatte ein Patient, mit paranoid-halluzinatorischen Symptomen, landläufig als Verfolgungswahn bekannt, urplötzlich ihre Arzthelferin Nora angegriffen. Ohne erkennbaren Grund war er blitzartig vom Stuhl aufgesprungen, hatte sie mit einer Hand am Hals gepackt, an die Wand gedrängt und mit der anderen Hand eine gefüllte Wasserflasche ergriffen, die immer neben der Anmeldung stand. »Du willst es mir nicht geben, du Miststück, sag es doch, du lachst nur hinter meinem Rücken, du hältst mich für blöde! Ihr haltet zusammen, ihr mieses Pack!« Wie erstarrt hatte Nora dagestanden, die Verzweiflung stand ihr in den Augen. Frau Witt, die aus Ullrichs Sprechzimmer kam, hatte die Situation sofort richtig erkannt und Ullrich durch die geöffnete Sprechzimmertür ein stummes, aber wohl eindeutiges Zeichen gegeben. Mit einer Behändigkeit, die ihm bei seinem Körperumfang niemand zugetraut hätte, stand er nach zwei großen Schritten vor dem hochgradig erregten, nicht gerade schwächlichen Mann. »Was soll das? Was bilden Sie sich ein?« Mit sicherem Griff hatte er sich der Wasserflasche bemächtigt, den Mann zurückgestoßen, so dass dieser zielgenau auf einem Stuhl gelandet war, und Nora hinter seinen Rücken positioniert. Absolute Stille hatte in dem Raum geherrscht, der sonst mit Gesprächen, Telefonklingeln und Geräuschen von Menschen in Bewegung angefüllt war. Ullrich hatte ruhig seine Krawatte zurechtgerückt, zum Telefon gegriffen und die Polizei angerufen.

Natürlich kam es hin und wieder zu solchen Konfrontationen mit psychotischen Patienten, und Lea hasste diese Situationen. Anlass für den Wutausbruch des Patienten war ein Rezept gewesen, das noch nicht ausgestellt worden war, eine Banalität.

»Lea! Du wolltest mich etwas fragen!« Ullrichs Stimme hatte den Effekt eines Weckrufes und Lea zuckte zusammen. So tief war sie in Gedanken versunken.

»Ja, … sicher.« Sie brauchte einen kurzen Moment, um sich zu konzentrieren. »Hast du schon mal einen echten religiösen Wahn bei einem Patienten erlebt?«

Die Tür ging auf, Frau Witt steckte ihren Kopf in den Raum und zeigte an, dass es Zeit für den nächsten Patienten war. Ullrich nickte ihr zu, ging aber trotzdem seelenruhig auf Leas Frage ein. »Religiöser Wahn? Geht es darum bei dieser Frau van der Neer?«

»Vielleicht. Wirklich ein verwirrender Fall. Schuld oder Schuldgefühle spielen sicher eine Rolle, aber sie wirkte außerdem versessen darauf, eine Zahl oder irgendeinen Weg von mir zu erfahren, wie in einem psychotischen Wahngebilde.« Lea rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her, als müsse sie wenigstens die richtige Sitzposition finden. »Aber dennoch wirkte es nicht psychotisch; es hat etwas gefehlt.«

»Und die anderen Gespräche? In welcher Verfassung befand sie sich?«, erkundigte sich Ullrich.

»Ausgeglichener, keine Rede mehr von Schuld oder Teufel. Nur bei dem letzten Besuch, etwa drei Wochen vor ihrem Tod, hat sie wieder von einem Labyrinth, vom Tod, aber auch von Hoffnung gesprochen.« Lea wiederholte die Zusammenfassung ihrer Notizen, die sie bereits den beiden Kriminalbeamten mitgeteilt hatte.

»Spricht doch für eine phasisch verlaufende Psychose; wieso bist du so unsicher?«

»Eher so ein Bauchgefühl.«

»Was hatte sie denn sonst noch für Schwierigkeiten?«

»Sie litt unter chronischen Schlafstörungen und Albträumen. Sie bat mich um die Verschreibung eines Schlafmittels. Aber: religiöser Wahn war das Stichwort.«

»Also gut, an einen eindeutigen Fall mit einem religiösen Wahngebilde kann ich mich bestens erinnern, es war in der Tat eindrucksvoll. Auf der psychiatrischen Station des Universitätsklinikums in Heidelberg befand sich während meiner Assistentenzeit ein junger Patient mit einem klassischen Sendungswahn. Er behauptete, ein direkter Nachfolger von Paulus zu sein und habe den Auftrag, die Menschen an Gottes Gebote zu erinnern. Aber, und da lag für ihn das Problem, er wurde von Luzifer bedrängt, der ihn verführen und von seiner Bestimmung abhalten wollte.«

»Luzifer, der verstoßene Engel?«

Lea erinnerte sich an den Kindergottesdienst vor gefühlt einem halben Jahrhundert und wusste noch genau, dass die Vorstellung, vom Himmel hinuntergestürzt zu werden, sie geängstigt hatte. Diesem Luzifer, was auch immer man ihm vorwarf, hatte ihr heimliches Mitgefühl gegolten.

»Genau dieser Luzifer. Und darin bestand auch das Problem des jungen Mannes, Paul hieß er. Er hörte also die Stimme Luzifers und hatte keine Chance, ihr zu entkommen. Das brachte ihn immer wieder in extreme Erregungszustände. Er schrie und warf mit allem, was ihm in die Hände fiel. Eines Tages tobte er wieder, griff sich einen Stuhl und schleuderte ihn gegen eine Schwesternschülerin. Sie wurde von der Stuhllehne am Kopf getroffen, die große Platzwunde musste in der Chirurgie versorgt werden.

Nun also, besagter Patient lief auf der geschlossenen Station mit einem Kissen auf dem Kopf herum, festgebunden wie ein Kopftuch, damit ihn die Stimme Luzifers nicht erreichen konnte. Aber wie du dir vorstellen kannst, nützte das wenig …«

»Frau Doktor, Entschuldigung, aber die Schule von Frederike – das Sekretariat ist am Telefon.« Frau Witt schaute besorgt auf Ullrich, der gemütlich auf seinem Stuhl saß. »Herr Doktor, bitte, wir kommen sonst heute Morgen nicht durch.«

»Moment, bin gleich wieder da«, sagte Lea beim Aufstehen zu Ullrich und lief zur Anmeldung.

»Mama, haben wir einen Hexenbesen im Keller?«

Gott sei Dank, kein tödlicher Unfall, dachte Lea erleichtert und atmete tief durch. Die Kinderstimme am anderen Ende der Leitung klang völlig normal. Manchmal machte Lea sich darüber Gedanken, ob das Ausmaß ihrer mütterlichen Ängste bereits zu einer manifesten geistigen Störung gezählt werden musste, oder ob es gerade noch als ausgeprägte mütterliche Fürsorge durchgehen würde. In dem Augenblick, in dem eine offizielle Stelle, früher Kindergarten, heute Schule, anrief, sah Lea vor ihrem geistigen Auge Katastrophen ablaufen. Ein verheerender Brand, bei dem die Sprinkleranlage nicht in Gang gekommen war, mit unzähligen verunstalteten Opfern, ein Sturz durch die Glastür, die nur angeblich mit Sicherheitsglas ausgestattet gewesen war, oder andere Szenen, die einem Horrorfilm zur Ehre gereicht hätten.

»Einen Hexenbesen brauchst du?«, fragte sie überflüssigerweise noch einmal nach.

»Ja, Mama, du weißt doch: für die Aufführung heute. Ich bin die Ersatzhexe und brauche dringend noch einen Besen, falls die Hauptrollenhexe krank wird, und sie hat ihren Besen nicht in der Schule gelassen.«

Bei solch komplizierten Sachverhalten hatte Lea es sich angewöhnt, erst einmal Ja zu sagen, um durch weitere Fragen nicht in einen noch größeren Wirrwarr hineingezogen zu werden.

»Glaubst du, wir haben einen? Jetzt sag mal endlich!«, drängte Frederike auf eine Antwort.

»Ja, bestimmt. Sobald ich zu Hause bin, gehen wir in den Keller. Okay, Kleines? Bis später.«

Der große Gerümpelkeller, der mit einem kleinen Trampelpfad in der Mitte versehen war, barg viele Schätze, warum also nicht auch einen Hexenbesen.

Lea ging zurück in den Sozialraum, fand ihn jedoch leer vor. Ullrich war zurück in sein Sprechzimmer gegangen – diese »Bühne mit wechselnden Stücken«, wie er sich auszudrücken pflegte: »Die Räuber, Die Katze auf dem heißen Blechdach, Einer flog über das Kuckucksnest, Effi Briest … Ich brauche kein Schauspielabonnement. Im Übrigen«, hatte er augenzwinkernd hinzugefügt, »bescheiden wie ich bin, fühle ich mich dem Faust sehr verbunden und wüsste gerne, was den Mensch im Innersten zusammenhält.«

Faust und Mephisto, überlegte Lea, waren die ein ebenbürtiges Paar? Von Frau van der Neer und ihrem Teufel konnte man das nicht gerade sagen.

 

Über die Rheinallee und die Hechtsheimer Straße steuerte Lea eine gute Stunde später ihr Heimatviertel an. Erstaunlich, wie wenig wir wirklich über unsere Patienten wissen, dachte sie. Wir bekommen Lebensabschnitte zugeteilt, setzen uns den Rest mit einer psychologischen Kittmasse zusammen und glauben, ein annähernd richtiges Bild vor Augen zu haben. Susanna van der Neer war tot. Ihr Name und eine dazugehörige Nummer standen nun auf einer Ermittlungsakte der Kriminalpolizei. Hatte sie sich zu wenige oder die falschen Überlegungen zu den Problemen Frau van der Neers gemacht, hatte sie sich zu leicht damit zufriedengegeben, dass es ihr ein wenig besser gegangen war? Leas schlechtes Gewissen befand sich sprungbereit hinter jeder Ecke.

Wie aus dem Nichts tauchte eine ältere Dame auf dem Fußgängerüberweg vor ihr auf. Erschrocken trat Lea mit aller Kraft auf die Bremse. Durch den plötzlichen Stopp rutschte ihre braune Ledertasche vom Beifahrersitz und ihr gesamter Inhalt verteilte sich in wildem Durcheinander im Fußraum. Mit Blick auf das Chaos beschloss Lea, ihre Tasche demnächst gründlich aufzuräumen.

Nachdem die Frau, die mit starrem Blick geradeaus den Zebrastreifen überquert hatte, auf der anderen Straßenseite angelangt war, trat Lea aufs Gaspedal. In den restlichen fünf Minuten der Heimfahrt konzentrierte sie sich ausschließlich auf den Straßenverkehr.

 

Beim Öffnen der Haustür hob Lilly den Kopf in ihrem Hundekorb, gähnte und streckte sich.

»Andere Hunde bewachen Häuser, und du machst ein Nickerchen, was?«

Lea kraulte Lilly hinter den Ohren und ließ sich als Gunstbeweis die Hand ablecken. Lilly schaute sie aus treuen Hundeaugen an und lief dann schwanzwedelnd vor ihr her in die Küche. Diese verstand den Wink, öffnete den Kühlschrank und griff nach einem der unzähligen, immer willkommenen Leckerbissen. Diesmal war es ein Stück Käse. Zufrieden trottete die Hündin zurück in den Korb und legte die Schnauze auf dem Rand ab. Wenn der Kühlschrank sich das nächste Mal öffnete, würde sie dies auf keinen Fall verpassen.

Lea zog Schuhe und Jacke aus, nahm sich die Post von der Konsole und ging damit in ihr Arbeitszimmer. Eine halbe Stunde später – weit war sie mit der Bearbeitung des Poststapels nicht gekommen – stieg sie mit Frederike, die inzwischen nach Hause gekommen war, in den Keller hinunter, auf der Suche nach dem Hexenbesen. Zwischen Kisten, Koffern, alten Kinderzimmermöbeln, ausrangierten Spielsachen und Schulbüchern fanden sie einen kurzen und reichlich ausgefransten Besen. Dieser hatte offensichtlich schon einige Kinderfaschingsfeste in Kindergarten und Gemeindehaus überstanden, aber gerade nur so.

»Der ist viel zu hässlich, den kann ich nicht nehmen!« Missmutig betrachtete Frederike die wenigen Strohstängel an dem Holzstiel.

»Aber wenigstens sieht er echt aus«, bemühte sich Lea, das zerzauste Gebilde anzupreisen, »komm schon, Freddy, den nehmen wir jetzt. Sonst schaffen wir es nicht mehr zur Aufführung.« Lea hatte sich entschlossen, diesen Punkt undemokratisch zu entscheiden.

 

Nach einem kurzen Mittagessen blieb bis zur Schulaufführung noch eine knappe Stunde Zeit, und Frederike wurde zum Hausaufgabenmachen hinauf in ihr Kinderzimmer geschickt. Lea schmierte sich noch ein Brot mit Ziegenkäse und griff den Kaffeebecher. So bepackt ging sie zu ihrem Poststapel zurück.

Sie hatte gerade zwei Schriftstücke durchgelesen, als Frederike in das Arbeitszimmer gelaufen kam. »Mama, Mathe ist doof! Ich verstehe das nicht. Ich mache das heute Abend.« Schon wollte sie sich umdrehen, um der mütterlichen Antwort zu entkommen, aber Lea hatte durchaus Übung darin, flüchtige Kinder aufzuhalten.

»Nein, stopp, du machst die Aufgaben jetzt. Heute Abend hast du noch viel weniger Lust, und leichter verstehen wirst du sie dann auch nicht.«

»Ich will aber nicht, ich muss mich sowieso schon bald umziehen. Mama, das ist obermies.«

Lea bemühte sich um Fassung. Die ständige Hausaufgabendiskussion war eine unendliche Geschichte ohne großen Unterhaltungswert. »Schön, dann zeig mir die Aufgaben, die du nicht verstehst.«

Frederikes Widerstand schwächelte. »Na gut, aber wenn es zu lange dauert, mache ich die Hälfte heute Abend.«

»Einverstanden«, gab Lea nach. Einen Verhandlungserfolg für jeden, so war es meistens. Anderen ging es da nicht besser.

»Diese dauernden Diskussionen sind das Schlimmste in diesem Alter«, hatte auch ihre Freundin Katrin vor kurzem gestöhnt.

»Klar, aber so unvermeidbar wie Pickel«, hatte Lea außer Atem erwidert, da sie gerade eine kleine Anhöhe emporgeschnauft waren. Ihre wöchentliche Joggingstrecke in den Weinbergen war durch das ständige Auf und Ab ein anspruchsvoller Trainingsparcours.

»Aber wenigstens reden wir dann miteinander.« Katrin hatte genügend Luft, um während des Laufens zu sprechen. »Die meisten Familien sprechen überhaupt nicht mehr miteinander. Neulich las ich, dass eine durchschnittliche amerikanische Familie im Schnitt fünf Minuten am Tag miteinander spricht. Ist das nicht furchtbar?«

Mehr als ein knappes »Ja« hatte Lea zwischen ihren Atemzügen nicht zustande gebracht. Katrin war eindeutig besser in Form. Auf dem höchsten Punkt ihrer morgendlichen Runde hatte sich dann unabgesprochen eine kurze Rast ergeben, und die beiden Frauen hatten den Ausblick genossen.

»Da ist es eigentlich nicht erstaunlich, dass man nur wenig von den Menschen weiß, mit denen man zusammenlebt, oder?«

»Stimmt schon. Manchmal glaube ich, die Menschen machen sich erst dann Gedanken, mit wem sie es in ihrer Umgebung zu tun haben, wenn etwas passiert ist. Nimm, was du willst – eine psychische Entgleisung, ein Todesfall, eine Ehescheidung … Erst da werden die meisten nachdenklich.«

»Nützt aber meist nichts mehr.« Katrin hatte einen Erdklumpen über den Weg gekickt.

»Andererseits habe ich manchmal den Eindruck, Menschen zu kennen, mit denen ich nur wenige gemeinsame Erinnerungen teile, die mich dafür aber sehr beschäftigt haben.«

»Kenn ich«, hatte Katrin zugestimmt, »mit dem ersten Jungen, in den ich mich verliebt habe, habe ich vielleicht drei Sätze gesprochen, dennoch hatte ich die innere Gewissheit, ihn in- und auswendig zu kennen. – Und du brauchst dich nicht über mich lustig zu machen. Ich war ein richtig schüchternes Mädchen.«

Katrin war einer der offensten und kommunikativsten Menschen, denen Lea bisher begegnet war, und so zweifelte sie gründlich an der Schilderung von dem schüchternen Mädchen.

»Mama, ich bin fertig mit Mathe, ich habe alles verstanden.« Frederike riss Lea aus ihren Betrachtungen. »Können wir dann losfahren zur Schule?«

Lea brauchte einen Moment, um sich von ihren Gedanken zu lösen. »In Ordnung, in fünf Minuten geht’s los.« Sie stützte den Kopf in die Hände und schloss die Lider. Sie hatte das deutliche Gefühl, Susanna van der Neers blaue Augen seien auf sie gerichtet.

Das Wasser wechselte die Farbe vom Ufer zur Mitte hin, wo es tiefer wurde. Die Berge und der Himmel mit seinen eindrucksvollen Wolkengebilden spiegelten sich auf seiner Oberfläche, und es sah aus, als habe jemand glitzerndes Konfetti darübergestreut. Die Wellen schwappten in stetigem Takt an die unterste Stufe der breiten Treppe, die an dieser Stelle zum Wasser hinunterführte. Ein toter Fisch wurde mit jeder Wellenbewegung an die Steine herangespült und mit der nächsten wieder zurückgezogen. So, als könne das Wasser sich nicht entscheiden, ihn endgültig herzugeben. Die Sonnenstrahlen fingen sich in dem milchigen Fischauge und in den silbrig-grün glänzenden Schuppen. Susanna schauderte. Tod und Zerfall erschreckten sie immer, auch wenn sie wie hier etwas Beiläufiges, Lautloses und Unspektakuläres hatten.

Pünktlich um 16 Uhr saß Lea in der Eingangshalle von Frederikes Grundschule auf einem harten, kleinen Schulstuhl. Die Hauptrollenhexe war nicht erkrankt, und so konnte der ramponierte Besen im Auto bleiben. Frederike schlüpfte in ihr Hasenkostüm. Die Hexe wohnte in einem dunklen Hexenwald. Die überaus dichte Bevölkerung des Waldes sorgte dafür, dass jedes Schulkind eine Rolle in der Aufführung bekommen hatte. Die Zuschauer hatten Verständnis für die zehn Hasen, drei Füchse, sechs Dachse und fünf Eichhörnchen, die auf der Waldwiese hüpften und tanzten.

Nach der obligaten Ansprache durch die Klassenlehrerin der 4b begann die Aufführung. Lea atmete tief durch. Für die nächsten fünfzig Minuten konnte sie einfach hier sitzen und zuhören, ein Geschenk.

Ein kleiner Teufel huschte über die Bühne.

»Der Teufel, er lässt mich nicht gehen«, hatte Frau van der Neer gesagt. Leas Gedanken suchten nach einem Detail. Irgendetwas war ihr aufgefallen, aber sie kam nicht darauf, was. In Gedanken ging sie die einzelnen Begegnungen durch, wie Ausschnitte eines Kinofilms. Bei ihrer zweiten Sitzung hatte Susanna van der Neer überraschend geordnet gewirkt. Sie hatte Lea vor allem wegen ihrer Schlafstörungen aufgesucht. »Ich benötige sehr viel Schlaf, besonders wenn ich beruflich beansprucht bin.« Auf Leas Nachfrage, welchem Beruf sie nachgehe, hatte Frau van der Neer gelächelt und zum ersten Mal im Gespräch wirklich zufrieden gewirkt. »Ich bin Kuratorin, ich organisiere Ausstellungen für Museen und Galerien. Ich liebe Bilder. Sie erzählen uns viel über die Menschen, wissen Sie.« Sie hatte sich aufrecht hingesetzt und sich über die Haare gestrichen. »Menschen interessieren mich. Besonders, wie sie früher waren, wie sie gelebt, was sie gefühlt und wovor sie sich gefürchtet haben. Furcht und Glück lassen sich in der Malerei besonders gut darstellen.« Ihre Augen hatten geglänzt. »Wissen Sie, Frau Doktor, die Menschen sind heute nicht mehr respektvoll. Anderen gegenüber nicht und sich selbst gegenüber auch nicht. Sie wissen nicht mehr, wie sie beschaffen sind. Ich habe vor drei Monaten eine Ausstellung in Wien mit Bildern der italienischen Renaissance betreut, Werke von Paolo Veronese und Vincenzo Catena. Ein seltenes Vergnügen in der Albertina.«

Lea kannte das Kunstmuseum in Wien unweit des Stephansdoms und war beeindruckt. Wohl nur angesehene Kunsthistoriker wurden mit solchen Projekten beauftragt. Frau van der Neer hatte Leas Interesse registriert.

»Die Menschen auf den alten Gemälden sind eindeutig. Sie sind traurig oder froh, sie leiden oder sind erlöst. Die Künstler strebten früher nach dem harmonischen Entwurf und malten Bilder, die den Menschen nicht nur das Woher und das Jetzt, sondern auch das Wohin zeigen konnten.«

Lea hatte genickt, gebannt von der Leidenschaft, mit der Frau van der Neer sprach. Sie hatte die Praxis vergessen, das Wartezimmer und die psychiatrischen Diagnosen.

»Die Moderne hat die Konfusion in die Gesichter gebracht. Die Moderne zeigt bestenfalls Mehrdeutigkeit oder Zerrissenheit und häufig genug eine plakative Oberfläche. Vergleichen Sie nur die Figuren von Michelangelo und Egon Schiele. Der Mensch als Geschöpf Gottes oder als Kreatur der Welt. Oder nehmen Sie die Bilder von Picasso …«

Die Sätze waren nur so herausgesprudelt, der Eindruck einer depressiven Stimmung war gleichsam weggespült gewesen.

Picasso hatte sie erwähnt. Lea erinnerte sich an eines seiner Bilder, »Les Demoiselles d’Avignon«. Der menschliche Körper aufgelöst in Flächen. Die synthetisch zusammengefügten Gesichter. Frau van der Neer hatte recht. Die Kunst zeigt uns, wie der Mensch sich selbst in seiner Zeit wahrnimmt.

Mitten im Gespräch hatte Frau van der Neer das Thema gewechselt und von einer besonderen Wahrheit gesprochen, einer wichtigen Erkenntnis. Lea hatte mehr darüber wissen wollen, doch mit einem Kopfschütteln hatte Susanna van der Neer ihr jegliche Unterbrechung untersagt. Selbstsicher und hoffnungsvoll hatte sie dabei gewirkt, und Lea hatte den Eindruck gehabt, als redete ihre Zwillingsschwester. Vielleicht doch eine Form von Schizophrenie, ein wenig anders als üblich, aber so etwas gab es sicher.

Lautes Klatschen holte Lea aus ihren Gedanken. Die erste Szene war vorüber. Es wurde hinter einem improvisierten Vorhang für den zweiten Aufzug umgebaut. Die digitalen Kameras der Väter senkten sich und verharrten in der Pauseneinstellung.

Der Vorhang öffnete sich erneut, es wurde geklatscht. Eine kleine Hexe mit verrutschtem Hexenhut erschien und ein kleiner Teufel mit roten Plastikhörnern, einem angeklebten Teufelsschwanz und Turnschuhen unter der Jeans.

»Heia, Walpurgisnacht, heia, heia ho«, sang die kleine Hexe auf der Bühne und reichte dem Turnschuhteufel die Hand. Gemeinsam sprangen sie um ein Feuer aus rotem Krepppapier, das von einer Taschenlampe angeleuchtet wurde.

»Hau ab, du blöder Teufel«, schrie die kleine Hexe den Teufel auf der Bühne an. Lea glaubte mitbekommen zu haben, dass der kleine Teufel seine Hexe, in die er wohl laut Drehbuch irgendwie ein bisschen verliebt war, angelogen hatte.

Der Teufel und die Lüge, ein eingespieltes Team. Lea erinnerte sich an einen aufschlussreichen Hinweis, den ihr alter Deutschlehrer vor Jahren in Hinblick auf Goethes Faust und Mephisto gegeben hatte. Eine Deutung des Namens lautete der durch Lügen zerstört.

Für den Teufel auf der Bühne sah es im Moment nicht gut aus. »Ich kann dich gar nicht mehr leiden«, schimpfte die temperamentvolle kleine Hexe und schwang ihren Besen drohend über dem Kopf des Turnschuhteufels, der wie ein begossener Pudel durch die Waldkulisse davontrottete. Fast tat er den Zuschauern leid.

Diesen Umgang mit dem Teufel hätte sie ihrer Patientin empfehlen müssen. Lea betrachtete amüsiert die immer noch wutschnaubende kleine Hexe, wie sie auf ihrem – zugegebenermaßen vollkommenen Besen – zu ihrem Hexenhaus im Wald ritt, um ihrem Raben zu erzählen, dass der Teufel niederträchtig sei und sie ihn weggejagt habe.

Der Rabe krächzte ein lautstarkes »Kra, kra« als Zeichen seiner Zustimmung und erntete dafür geräuschvolles Gelächter der Zuschauer. Er war hörbar erkältet und das Gekrächze wohl nicht gespielt.

Der Teufel – Lea hatte Sören im letzen Mai zu einem Kongress nach New York begleitet und war als begeisterte Kunstliebhaberin sofort im Museum of Modern Art verschwunden – genauso zielsicher wie Sören seinen Chirurgenkongress angesteuert hatte, um sich über die neuesten Entwicklungen im operativen Bereich, über Nahttechniken, Drainagen und Herz-Lungen-Maschinen zu informieren. Im MOMA war ihr eine Bronzefigur aufgefallen, eine zwei Meter hohe Figur auf einem Steinpodest, schaurig und faszinierend zugleich. Ein Teufel mit Klauen, der ein Netz zwischen Händen und Füßen aufgespannt hatte. Ein Netz, in dem man sich verfangen konnte, das die Bewegung einschränkte, einem die Freiheit raubte. Lea war damals spontan einen Schritt zurückgewichen, so intensiv war die beunruhigende Wirkung gewesen. Dieser Teufel hatte die Haltung eines Menschen, der einen anderen beschwatzte, ihm etwas anbot, ihn überreden wollte. Er stand gebeugt, unterwarf sich scheinbar und verbarg dadurch seine wahre Macht. Er wiegte seine Opfer in Sicherheit, seine Macht baute auf der Verführbarkeit der Menschen auf. Seine Kunst war die Illusion.

 

»Und, Mama, wie hat es dir gefallen?« Frederike ließ sich hinten auf den Autositz plumpsen.

»Sehr schön, mein Schatz, eine tolle Aufführung, da habt ihr wirklich lange üben müssen, oder?«

»Na, es ging, aber eigentlich hätte ich wirklich gern die Hauptrolle gespielt, nur ist die Babsi ja leider nicht krank geworden.«

Lea überlegte kurz, ob sie die unfrommen Wünsche ihrer Tochter erzieherisch bearbeiten sollte, ließ es aber sein. Sie schaute in den Rückspiegel. Frederike zupfte die letzten Strohhalme aus dem Hexenbesen.

»Freddy, lass das bitte, sonst habe ich den ganzen Rücksitz voller Stroh«, mahnte sie.

Frederike legte den Besen neben sich auf die Rückbank. »Was gibt es denn zum Essen heute Abend? Ich habe einen Riesenhunger!«

»Mal sehen, vielleicht zur Abwechslung mal Spaghetti mit Thunfisch«, trug Lea mit ernster Miene vor, obwohl hier von Abwechslung nicht die Rede sein konnte. Das Lieblingsgericht ihrer Kinder gab es sicher drei Mal die Woche. Es hatte den Vorteil, dass man Spaghetti immer in irgendeiner Küchenschublade fand, und Thunfischdosen kaufte sie sowieso in der Familiengroßpackung. Der unbestritten größte Vorteil dieses Gerichts war jedoch, dass Zeitaufwand und Begeisterung in einem enorm günstigen Verhältnis standen. So auch diesmal. »Super, lecker, ich mache die Spaghetti«, kam es prompt von der Rückbank.

Drittes Kapitel

Das Wasser im Topf fing gerade an zu sprudeln, als das Telefon klingelte.

»Mama, für dich, die Kripo. Bist du wieder zu langsam gefahren?« Jonas grinste, als er sich auf den Küchentisch schwang.

»Alles klar, du Rennfahrer«, erwiderte Lea gutmütig. Seit Jonas den Führerschein hatte, zog er seine Mutter noch häufiger wegen ihrer extrem vorsichtigen Fahrweise auf. Von Anfang an hatte Lea den Autoverkehr und sämtliche Mitwirkenden als äußerst unzuverlässig empfunden. Man wusste nie, auf welche Ideen die anderen Verkehrsteilnehmer kämen. Daher fuhr sie so vorsichtig, dass sie bereits einige Hupkonzerte provoziert hatte. »Da wissen wir immer, wenn du kommst«, hatte sich sogar Sören dem allgemeinen Lästerchor angeschlossen.

Lea ging hinüber in das Arbeitszimmer ihres Mannes und nahm das Telefon.

»Es tut mir leid, dass ich Sie zu Hause störe«, entschuldigte sich Kommissar Franz Bender. »Wir haben jetzt den Abschlussbericht des Gerichtsmediziners. Demnach ist Frau van der Neer an einer Überdosis Cyclobarbital gestorben. Letztlich an einer Atemlähmung, so steht es hier in dem Fax. Haben Sie irgendwann einmal ein solches Präparat verschrieben?«

»Sicher nicht. Cyclobarbital ist ein Barbiturat-Abkömmling. Diese Präparate werden kaum noch verschrieben. Vergiftungen mit solchen Arzneimitteln sind die häufigste Todesursache bei Selbstmorden mit Tabletten. Daher verschreiben die meisten Kollegen bei Schlafstörungen heutzutage lieber ungefährlichere Präparate.«

»Die wären?«

»Zum Beispiel sedierende Neuroleptika, die haben einen anderen Wirkmechanismus und sind für einen Selbstmord nicht geeignet.«

»Verstehe. Hat Frau van der Neer ein Medikament von Ihnen verschrieben bekommen?«

»Soweit ich mich erinnere, hat sie ein mildes Präparat gegen ihre Schlafstörungen bekommen. Übrigens noch ungeeigneter für einen Selbstmordversuch; eine Überdosis verursacht allenfalls Durchfall.«

»Noch eine Frage zu diesem Cyclobarbital, Frau Johannsen. Wirkt es in kürzester Zeit tödlich – so wie Zyankali – oder werden auch manche Selbstmordkandidaten gerettet?«

»Das kommt ganz auf die Umstände an. Zum einen ist die Dosis ausschlaggebend und dann natürlich die Zeitdauer, bis die Person gefunden wird.«

»Was heißt das genau?«

Lea fühlte sich an ihre Facharztprüfung erinnert. »Die Barbituratvergiftung verläuft stufenweise in Abhängigkeit von der Konzentration. Die beruhigenden oder schlaffördernden Barbiturate können die Blut-Hirn-Schranke überwinden, gelangen dadurch direkt in das zentrale Nervensystem und wirken dort sedierend, also beruhigend. Bei zu hohen Dosen kommt es zu einer Beeinträchtigung des Atemzentrums bis hin zur Atemlähmung, und die Beeinträchtigung der Herzfunktion führt dann letztendlich zum Kreislaufversagen. Dies kann abhängig von der Substanz und der eingenommenen Dosis bereits nach wenigen Stunden erfolgen oder auch erst nach mehreren Tagen.«

Lea hatte durchaus eine ausgeprägte Neigung zu dozieren. Leider wurde ihre Umgebung, insbesondere ihre Kinder, bei längeren Vorträgen schnell ungeduldig. Dieses Problem hatte sie hier nicht. In Kommissar Bender hatte sie einen aufmerksamen und wissbegierigen Zuhörer gefunden.

»Ja, das passt ganz gut. Nach Aussage der Gerichtsmedizin ist der Tod am Freitagmorgen ungefähr zwischen 9 und 10 Uhr eingetreten. Gemäß unseren Ermittlungen hat eine Nachbarin Frau van der Neer am Donnerstagabend noch auf der Treppe gesehen, als sie das Haus verlassen wollte. Für die Zeit danach haben wir bislang keine Zeugen.«

»Wurden irgendwelche Reste von Tabletten in der Wohnung gefunden oder eine Medikamentenpackung?«, erkundigte sich Lea.

»Wollen Sie Ihren Beruf wechseln? Wir hätten da noch einen Platz in unserem Ermittlungsteam frei«, konnte Franz Bender einen ironischen Kommentar nicht zurückhalten.

»Bislang noch nicht, aber ich werde mir Ihr Angebot merken«, konterte Lea lachend.

Wieder ernst, sprach der Kommissar weiter. »Die Spurensicherung ist noch mit der Auswertung der Spuren am Tatort beschäftigt. Soweit ich informiert bin, ist jedoch keine Packung mit Tabletten gefunden worden, außer einer Schachtel im Badezimmerschrank mit freiverkäuflichen Kopfschmerztabletten. Die Fingerabdrücke sind von der Toten, ihrem Bruder Alexander und der Nachbarin. Diese Nachbarin, eine Frau Bachmann, kümmerte sich um die Wohnung, wenn Frau van der Neer beruflich unterwegs war. Wenn Sie vielleicht Ihre Aufzeichnungen noch mal durchsehen könnten. Sie wissen ja, manchmal fällt einem dann noch etwas auf …«

Als Lea aufgelegt hatte, ließ sie sich den zeitlichen Ablauf der Ereignisse, den Bender geschildert hatte, durch den Kopf gehen. Statt den Termin in ihrer Sprechstunde am Freitag wahrzunehmen, hatte sich Frau van der Neer umgebracht. Das gab es keineswegs selten bei psychotischen Patienten, die sich einem plötzlichen Impuls folgend umbrachten, und bei schwer depressiven Patienten. Aber hier?

 

Nach dem Abendessen und nachdem Frederike und Marie mit viel Palaver in ihren Zimmern im ersten Stock verschwunden waren, ließen sich Lea und Sören mit einem Glas spanischem Rotwein am Kamin nieder. Selten genug waren solche Abende.

»Na, was macht dein ungelöster Fall?« Sören lehnte sich genießerisch im Sessel zurück.