Die Schattenrose - Sophie Heeger - E-Book

Die Schattenrose E-Book

Sophie Heeger

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Ein Todesengel geht in Mainz um: In den umliegenden Seniorenheimen sterben besorgniserregend viele Bewohner. Hat Ihnen absichtlich jemand falsche Medikamente verabreicht? Kommissar Franz Bender und seine Kollegin Sandra Kurz von der Mainzer Mordkommission ahnen, dass etwas faul ist. Denn der Manager der Seniorenheime Norbert Markgraf ist so skrupellos wie gerissen. Dem Unternehmer scheint jedes Opfer recht, um Profit zu machen. Geht er dabei sogar über Leichen?

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Die AutorinDie Autorin, geboren 1958 in Frankfurt am Main, studierte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Medizin und absolvierte Ausbildungszeiten in der Psychiatrie, Chirurgie und Inneren Medizin. Es folgte die Promotion zu einem gynäkologischen Thema. Während der sich anschließenden Facharztausbildung zur Arbeitsmedizinerin betreute sie unter anderem das Polizeipräsidium Frankfurt, verschiedene Gerichte, sowie Justizvollzugsanstalten. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt mittlerweile seit über zwanzig Jahren in Mainz. Nahe Mainz arbeitet sie in eigener Praxis als Ärztin für Allgemeinmedizin. Mit dem Schreiben begann sie 2009 und bereits 2012 erschien ihr Debutroman mit dem Titel Mephistos Erben beim S. Fischer Verlag in Frankfurt. Ein dritter Roman ist beinahe fertiggestellt.

Das BuchEin Todesengel geht in Mainz um: In den umliegenden Seniorenheimen sterben besorgniserregend viele Bewohner. Hat Ihnen absichtlich jemand falsche Medikamente verabreicht? Kommissar Franz Bender und seine Kollegin Sandra Kurz von der Mainzer Mordkommission ahnen, dass etwas faul ist. Denn der Manager der Seniorenheime Norbert Markgraf ist so skrupellos wie gerissen. Dem Unternehmer scheint jedes Opfer recht, um Profit zu machen. Geht er dabei sogar über Leichen?

Sophie Heeger

Schattenrosen

Kriminalroman

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.   Originalausgabe bei Midnight. Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Juni 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95819-077-1  Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.   Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Quondam etiam victis redit

in praecordia virtus

Irgendwann kehrt auch Besiegten

der Mut ins Herz zurück

Freitag, der 6. August

Sklatina (Rumänien )

Etwa 40 Kilometer westlich von Bukarest wurden gegen zweiundzwanzig Uhr die letzten Lichter gelöscht. Die Menschen in Sklatina, einem der größeren Dörfer in der Walachei, lebten neben der Arbeit in Fabriken vom Ertrag ihrer kleinen Gehöfte und standen meist vor Tagesanbruch auf.

Im Inneren einer staubigen Lagerhalle am Dorfrand hob ein kräftiger Mann eine Kiste auf die Ladefläche eines Lastwagens, schob sie nach hinten und hob die nächste hoch. Vorsichtig setzte er auch diese auf der Ladebühne ab. Sie war mit roten Sicherheitsaufklebern versehen, die ein unbefugtes Öffnen der Fracht anzeigen würden. Leichtfüßig kletterte er der Kiste hinterher, um sie auf dem schmutzigen Boden tiefer in das Innere des Fahrzeugs zu befördern. Später würde er mit einem Lappen den Fußboden säubern, denn die Geschäftspartner in Westeuropa waren anspruchsvoll.

Als das hintere Drittel des Lkw mit den Kisten gefüllt war, öffnete sich an der Seite der Lagerhalle eine Tür und er bekam Gesellschaft.

»Mach schon, Petru, wir haben keine Zeit!« Ein hagerer Mann um die sechzig betrachtete unzufrieden den Anteil der Fracht, der sich noch auf dem Boden der Lagerhalle befand. »Die Ladung wird schon in drei Tagen in Deutschland erwartet, hat Dragan gesagt. Das wird knapp!«

»Dann hilf mir gefälligst«, murrte der Angesprochene, ohne aufzublicken, denn die Arbeit in der heißen und stickigen Lagerhalle war alles andere als angenehm. Seine Militärjacke hatte er längst ausgezogen und über eine der Kisten geworfen. Dennoch schwitzte er heftig und selbst in der spärlichen Beleuchtung der Glühbirnen, die von der Decke baumelten, zeichnete sich der Achselschweiß auf seinem Hemd ab. Grund dafür war der ungewöhnlich heiße Juli, dessen Tageshitze auch am späteren Abend kaum abkühlte.

»Immer muss ich mit anpacken. Nichts können die jungen Männer alleine«, brummte der Mann unwillig, während er um den Lkw herumschlurfte. Nachdem auch er seine dünne Baumwolljacke ausgezogen und auf die Jacke des Anderen geworfen hatte, machte er sich verdrießlich an die Arbeit.

Eine der Transportkisten war an der Seite aufgerissen und gab den Blick auf die Flüssigkeit frei, die in kleinen Glasfläschchen durchsichtig schimmerte. Auf den weißen Styroporkisten war der Schriftzug Farmacie, sowie der Hinweis fragile zu lesen. In der Hosentasche des älteren Mannes klingelte ein Handy mit der Tonfolge von Material Girl.

Mainz, Boppstraße

Seit genau einer Woche schloss die Haustür nicht mehr. Der Hausbesitzer wusste davon, denn zwei Mieter hatten sich bereits beschwert und geklagt, dass sie sich in ihren Wohnungen nicht mehr sicher fühlten.

Die beiden Männer, die am späten Nachmittag den Hausflur betraten, störten sich nicht an dem defekten Schloss. Sie stiegen zum zweiten Stock des Mehrfamilienhauses in der Mainzer Neustadt hinauf, schauten auf das Namensschild neben der Tür, klingelten und warteten. Als sie Schritte hörten, zog der ältere von beiden einen Ausweis aus seiner Jacke. Er wusste, dass der Mann auf der anderen Seite der Tür sie zunächst durch den Spion betrachten würde, den jede Wohnungstür dieses Mietshauses besaß.

Der Mann hinter der Tür war klein, um die sechzig und hatte nur wenige Haare auf dem Kopf. Trotz der Sommerhitze trug er ein langärmeliges Hemd, denn er schwitzte selten. Auch nicht, als er den beiden Männern die Tür öffnete. Vielleicht hatte er seinen Wagen falsch abgestellt, seinen Parkausweis vergessen hinter die Windschutzscheibe zu legen oder es handelte sich um eine Personenidentifizierung auf einem Blitzerfoto.

»Ja bitte?«

Mit knappem Nicken traten die Männer nacheinander ein. Im Flur war es dunkel, doch sie machten keine Anstalten weiterzugehen. Der kleine Mann schloss die Wohnungstür und drehte sich zu den Besuchern um. Da nahm er den leicht süßlichen Geruch war.

Mainz, Frankenhöhe

Clara Markgraf ging in ihrem großzügig geschnittenen Bungalow von einem Zimmer zum anderen. Prüfend sah sie sich in ihrem Wohnzimmer um. Der Raum wirkte ordentlich, beinahe steril. Selbst die champagnerfarbenen Polstermöbel wiesen nicht den kleinsten Flecken auf, und selbstverständlich waren die Vorhänge frisch gewaschen. Konzentriert überprüfte Clara Raum für Raum des großzügig geschnittenen Hauses, hob einige Fussel auf, legte Zeitschriften zu den anderen oder rückte eine Vase an den richtigen Platz.

In der Küche öffnete sie den Backofen. Heißer Dampf kam ihr entgegen, und sie zuckte zurück. Mit der Gabel prüfte sie, wie lange der Auflauf, der den Geruch frischer Kräuter verströmte, noch zum Garen benötigte. Dann schloss sie die Backofentür, nahm drei Teller aus dem Küchenschrank und trug sie zum Esstisch in der Wohnzimmernische. Von hier sah man in den weitläufigen Garten, der den Bungalow umgab. Er war sorgfältig geplant. Nicht nur die Rasenflächen wurden von unzähligen Rosenstöcken gesäumt. Die üppig blühenden Pflanzen fanden sich überall verteilt auf dem Grundstück. Das war kein Zufall, denn Rosen waren zu Claras Leidenschaft geworden. Schon zu Beginn ihrer Ausbildung zur Landschaftsarchitektin war sie von diesen wundervollen Pflanzen fasziniert gewesen. Und sie hatte alles über Rosen gelesen, was ihr in die Hände gefallen war. So hatte sie erfahren, dass Paläobotaniker ihre Fossile an der Ostsee gefunden und diese auf eine Zeit vor 70 Millionen Jahren datiert hatten. Oder, dass die Rosa alba oder die Rosa gallica schon zu Zeiten der Kreuzritter als Handelsobjekte auf arabischen Märkten getauscht wurden – gegen Safran, Weihrauch, Seidenstoffe oder kostbare Edelsteine. Aber besonders beeindruckte Clara die Fähigkeit des Rosenstocks, sämtlichen klimatischen Widrigkeiten zu trotzen, um selbst nach Jahren extremer Dürre neue Triebe auszubilden und zu blühen, als sei nichts geschehen.

Versonnen betrachtete sie eine La France, die Jean-Baptiste Guillot 1867 gezüchtet hatte. Bereits im Juni blühte sie mit rosafarbener Blütenpracht und verströmte einen Duft, der einen schwindelig werden ließ. Was hatte sie nicht alles vorgehabt, mit Rosen, Gärten oder Parkanlagen? Nun war daraus lediglich die Gestaltung des eigenen Gartens geworden. Ihr Blick folgte dem Kiesweg, der um die Rasenfläche herum zu einer kleinen Laube führte. Neben den Weg hatte sie lachsfarbene Rosen zwischen üppige Stauden von blauem Fingerhut gesetzt. Weiter hinten verschwand die Gartenlaube unter der weißen Pracht der Neige d´ Avril, sodass man den Eindruck haben musste, dass der Winter sich verlaufen hatte.

Ein Geräusch auf der Straße ließ Clara zusammenzucken. Rasch stellte sie die Teller auf dem Tisch ab, nachdem sie diese auf Sprünge oder abgestoßene Ecken überprüft hatte. Als Clara in die Küche lief, um das Besteck zu holen, hörte sie ein anderes Geräusch; ein dumpf grollendes Motorengeräusch. Augenblicklich begannen Claras Finger zu zucken. Nach wenigen Sekunden folgte ein grobes Zittern, das bald in eine ausladende Bewegung der ganzen Hand überging. Sie wusste, ihr blieb nicht viel Zeit, um das braune Glasfläschchen aus dem Küchenschrank zu nehmen, das versteckt hinter Gewürzen stand. Eilig drehte Clara den Verschluss auf, sorgsam darauf bedacht, das Fläschchen nicht durch die zittrigen Finger gleiten zu lassen. Sie ließ drei Tropfen der bitteren Flüssigkeit auf ihre Zunge tropfen und stellte das Fläschchen zurück an seinen Platz. Aus dem Glas Orangensaft trank sie einen großen Schluck, dann eilte sie zur Tür.

»Norbert! Du bist heute früh.«

»Wann kommt Sven nach Hause?«, fragte Norbert Markgraf und ging nach einem flüchtigen Begrüßungskuss an seiner Frau vorbei ins Wohnzimmer.

»Er ist noch beim Fußballtraining«, beeilte sich Clara mit der Antwort, dann lief sie in die Küche.

Warum sie nur immer in Eile war? Kopfschüttelnd schaute Norbert Markgraf seiner Frau hinterher. Dann zog er sein Jackett aus, öffnete den Einbauschrank mit der Bar und nahm ein Glas heraus. Zufrieden betrachtete er das Etikett des Royal Lochnagar Malt Whisky, der nicht nur 12 Jahre in Eichenfässern gereift war, sondern sogar aus einer Destillerie in der Nähe des Schloss Balmoral kam. Der erste Schluck war der Beginn seines wohlverdienten Feierabends, und Norbert Markgraf behielt ihn im Mund, bis er spürte, wie das rauchige Aroma seinen Gaumen benetzte und eine angenehme Wärme hinterließ. Er hielt das Glas ins Licht: Goldbraun schimmerte der Whisky durch den Facettenschliff des Bechers, wie ein Rauchtopas. Sehr schön! Norbert Markgraf entschied, dass er zufrieden sein konnte. Beruflich konnte es nicht besser laufen; nach dem BWL-Studium und dem Aufbaustudium Gesundheits-Ökonomie hatte er sich mit widerstandsfähiger Zielstrebigkeit eine Führungsposition erarbeitet und war damit weitaus höher emporgestiegen, als er es zu hoffen gewagt hatte. Doch während er den Rest der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in seinem Glas hin und her schwenkte, drängten andere Erinnerungen in sein Bewusstsein, hässliche Erinnerungen. Seine Hand schloss sich fester um das Glas. Mit einem Zug trank er den Rest des Whiskys und goss sich nach. Nein, dachte er, die alten Zeiten waren endgültig vorbei. Sein Anzug war maßgeschneidert und die Uhr an seinem Handgelenk war für die meisten Menschen unerschwinglich.

Nachdem er von dem zweiten Glas getrunken hatte, stellte er die Whiskyflasche an ihren Platz zurück und schloss die Schranktür. Ich habe alles richtig gemacht, überlegte er und sah sich im Wohnzimmer um. An und für sich entsprach es ganz seinen Vorstellungen: elegant und hochwertig, sauber und alles an seinem Platz. Nur die Fenster müssten wieder gereinigt werden, hier und da zeigten sich Spritzer von Regentropfen auf den ansonsten spiegelblanken Fensterflächen. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er Clara davon überzeugt hatte, dass der Fensterputzer alle vierzehn Tage bestellt werden musste. Sie war diesbezüglich etwas unachtsam. Sein Blick wanderte zu dem großen Plasmabildschirm in einer Nische des Wohnzimmerschranks, wanderte weiter und hielt plötzlich inne. Die Fernbedienung! Sie lag nicht an ihrem Platz! Musste das sein? Sein Magen zog sich zu einem Klumpen zusammen und Norbert Markgraf drückte seine Faust dagegen. Nein, er wollte sich nicht aufregen! Clara strengte sich wirklich an, die Dinge in Ordnung zu halten, und außerdem war der heutige Tag in beruflicher Hinsicht überaus erfolgreich verlaufen.

»Wir können essen, wenn es dir recht ist?«, hörte er Clara sagen, während sie eine Schüssel auf den Esstisch stellte und rasch die Gläser zurechtrückte.

Er nickte, nahm sein Whiskyglas mit zum Tisch, setzte sich und legte die Serviette über seine Anzughose.

Während des Abendessens, das schweigend verlief, dachte Clara wieder an ihre Rosen. Eine der schönsten unter ihnen, die Gloria dei, war letztes Jahr von einer Krankheit befallen worden. Der Pilz, der sich wie ein filziger Schleier über die zartgrünen Triebe legte, suchte sich geschwächte oder junge Triebe aus. Seine Saugorgane versenkten sich in die Zellen der Blätter, trockneten sie aus und brachten sie zum Absterben. Leider hatte sie den Befall zu spät erkannt und den Rosenstock auf dem Wertstoffhof entsorgen müssen.

Das Klingeln an der Haustür unterbrach ihre Gedanken.

»Ich gehe schon.« Rasch sprang Clara vom Stuhl auf. Zu rasch, denn sie stieß so heftig gegen das Tischbein, dass die Gläser auf dem Tisch wackelten und ihre Gabel vom Tellerrand auf das Tischtuch rutschte. Ein Tropfen Salatsoße landete auf dem Tischtuch. Am Blick ihres Ehemannes erkannte Clara, dass auch er den Fleck bemerkt hatte.

Fünf Minuten später waren sie zu dritt beim Abendessen. Sven Markgraf, der die blonden Haare seiner Mutter geerbt hatte, trug ein frisches Poloshirt und hatte vom Duschen noch feuchte Haare.

»Welche Fächer hattest du heute?« Norbert Markgraf betrachtete seinen Sohn. Sven hatte seine Statur geerbt, war groß für sein Alter, dazu kräftig und sportlich. Auch scheute er keine Auseinandersetzungen, was ihm gefiel und beruhigte. Denn der Junge hatte auch einiges von Clara; er liebte Blumen, Musik und dieses Kaninchen, an dem er zärtlich hing. Ein Kaninchen für einen Jungen!

»Wir hatten Mathe, Deutsch, und zwei Stunden Sport«, antwortete Sven und lenkte die Aufmerksamkeit seines Vaters wieder auf die Schule.

»Hast du schlechte Noten bekommen?«

»Nein«, sagte der Junge.

Mainz, Bretzenheim

»Franz! Die Zentrale hat mich angerufen. Wir haben einen Toten in der Boppstraße.«

Wenig begeistert erhob sich Kriminalhauptkommissar Franz Bender aus seinem Sessel, der in perfekter Lage zum Fernseher stand. Italien gegen Deutschland! Bereits in der 11. Spielminute stand es 1:1.

»Weshalb haben wir einen Toten und nicht der KDD?«

»Der Kollege meinte, wir sollten uns kümmern«, sagte Sandra Kurz.

»Hat er dir auch gesagt, weshalb?«

»Nein. Aber kann es sein, dass gerade das Fußballspiel Deutschland-Italien übertragen wird?«

»Allerdings!«, brummte Bender.

Zu seinem Leidwesen interessierte sich seine junge Kollegin kein bisschen für Fußball. Ungerührt erklärte sie: »Ich habe Namen und Adresse des Toten sowie den Namen der Nachbarin, die ihn gefunden hat.«

»Also gut!« Bender ergab sich, schaltete den Fernseher aus und ging mit dem Hörer in der Hand zur Wohnungstür. »Wo bist du?«»Zu Hause. Ich tropfe den Fußboden vor meiner Dusche nass, aber wenn ich mich beeile, bin ich in fünfzehn Minuten vor Ort.«

»Dann bis gleich«, beendete Bender das Gespräch, nahm die Wagenschlüssel und verließ seine Wohnung.

Als Sandra Kurz zwanzig Minuten später im dritten Stock des Mehrfamilienhauses in der Boppstraße eintraf, waren Bender und zwei Kollegen von der Spurensicherung bereits in der Wohnung des Toten. Durch die geöffnete Tür betrat Sandra den dunklen Flur und stieß mit einer älteren Frau zusammen, die mit Radler-Hosen und gelbem T-Shirt bekleidet war. Auf ihrem Kopf prangte ein Sortiment blauer Lockenwickler unter einem Haarnetz.

»Sind Sie auch von der Polizei?«

Sandra nickte und zückte ihren Dienstausweis. »Und wer sind Sie?«

»Die Nachbarin. Ich habe ihn gefunden, … wegen der Mitzi!«

Sandra runzelte die Stirn. »Und Ihr Name?«

»Weißbauer, Irene Weißbauer. Ich wohn obendrüber.«

»Sie haben die Polizei verständigt?«

Die Frau musterte die durchtrainierte Kommissarin, die mit schwarzen Strubbelhaaren, dem Tattoo im Nacken und der abgewetzten Jeans keineswegs ihrer Vorstellung von einem Staatsdiener entsprach. Dann nickte sie.

»Gut, Frau Weißbauer, gehen Sie bitte in Ihre Wohnung zurück. Kommissar Bender und ich werden Sie gleich noch befragen, aber unsere Kollegen müssen hier ungestört arbeiten können.«

Die Frau nickte. »Verstehe, die Spurensicherung. Ich schaue immer Tatort.«

»Dann wissen Sie ja Bescheid«, sagte Sandra und hoffte, dass der sarkastische Unterton nicht auffiel. Sie drückte sich an die Wand, um Frau Weißbauer vorbeizulassen. Zwar war deren Enttäuschung, den Tatort verlassen zu müssen, unübersehbar, doch eine mitteilungsfreudige Zuschauerin konnten sie nicht gebrauchen.

Nachdem die Frau zur Wohnungstür hinaus war, machte Sandra sich auf die Suche nach Bender. Schon im zweiten Zimmer fand sie ihn, neben dem Waschbecken im Badezimmer.

»Franz!«

Bender drehte sich um.

»Kein natürlicher Tod. So viel steht fest«, sagte er statt einer Begrüßung und betrachtete die zusammengesunkene Gestalt auf dem Toilettensitz, deren Oberkörper über das Waschbecken gebeugt war.

Sandra ging in die Hocke, um das Gesicht des Toten zu sehen. »Der Wohnungsinhaber?«

Bender nickte. »Harald Krumzig. Die Nachbarin hat ihn identifiziert. Sie kümmert sich um seine Katze, wenn er zur Arbeit muss; Futter, Wasser, manchmal auch das Katzenklo. Vor ungefähr einer Stunde ist sie im Treppenhaus nach oben gegangen und hörte die Katze an der Wohnungstür kratzen. Zunächst nahm sie an, dass Herr Krumzig vergessen hatte, ihr Bescheid zu sagen, dass er zum Nachtdienst musste. Also ist sie mit ihrem Ersatzschlüssel in seine Wohnung gegangen, um nach der Katze zu sehen.«

»Mitzi?«

»Ja, Mitzi«, Bender zeigte auf eine getigerte Katze, die sich an die Badezimmertür schmiegte.

»Weiß Hubertus Bescheid?«

Bender nickte und schaute zur flachen Aluminiumhülle, die neben dem Wasserhahn auf dem Beckenrand lag. »Aber bei der Todesursache wird es keine Überraschung geben. Das Skalpell liegt wahrscheinlich im Waschbecken.«

»Schöner Mist!«, sagte Sandra und erhob sich. Dann betrachtete sie das rot gefärbte Wasser, in das die Unterarme des Toten eintauchten. Es hatte dunkle Ränder am weißen Becken hinterlassen. Der Schnitt, mit dem er sich vermutlich die Pulsader geöffnet hatte, war nicht zu sehen.

Sandra zog Einmalhandschuhe aus ihrer Gesäßtasche und griff nach dem Unterkiefer des Toten. Vorsichtig zog sie ihn nach unten, bis seine Lippen sich öffneten.

»Lange ist er nicht tot«, sagte sie zu Bender, der ihren Handgriff beobachtet hatte. »Die Leichenstarre hat kaum eingesetzt.«

Zwei Männer in weißen Overalls tauchten in der Tür auf.

»Ein schöner Freitagabend!«, sagte Bender zu den Kollegen von der Spurensicherung.

»Kann man sagen«, brummte der Ältere, und mit Blick auf sein Smartphone fügte er hinzu: »Deutschland führt 2:1!«

»Immerhin!« Bender überließ ihnen das Badezimmer und ging durch den Flur ins Wohnzimmer. Für einen Junggesellen war es überraschend gemütlich eingerichtet: helle Holzmöbel, ein gemusterter Webteppich am Boden, zwei Tischlampen auf einem mit Schnitzereien verzierten Sideboard, blassgrüne Vorhänge vor beiden Fenstern und an den Wänden Fotografien von Berggipfeln. Vermutlich war Harald Krumzig in seiner Freizeit Wanderer und Hobbyfotograf.

»Selbstmord?« Sandra schob den Vorhang zur Seite und schaute auf die menschenleere Straße hinunter. Das Fußballspiel war noch lange nicht vorbei.

Bender betrachtete die Fotografien an der Wand. »Sieht danach aus. Lass uns die Nachbarin befragen.«

Frau Weißbauer öffnete nach dem ersten Klingeln und schien es kaum erwarten zu können, von der Polizei befragt zu werden. Bereits in der Wohnungstür begann sie: »Der arme Herr Krumzig. Das war so ein netter Mann, der hat immer die Treppe gewischt, ohne dass man ihn erinnern musste. Als ich ihn im Badezimmer sah, wusste ich gleich, was los ist. Schließlich habe ich drei Jahre in einer Metzgerei gearbeitet, das ganze Blut und so. Wissen Sie, ich habe an nichts Schlimmes gedacht, als ich in seine Wohnung gegangen bin. Ich wollte nur nach der Mitzi schauen, die an der Tür gekratzt hat. Das hat sie sonst nie gemacht.«

»Sie haben Herrn Krumzig in den letzten Tagen getroffen?«, stoppte Bender Frau Weibauers Erzählfreude.

»Gestern Mittag, nach seiner Frühschicht.«

Bender hatte sein Notizbuch gezückt. »Welchen Beruf hatte Herr Krumzig?«

»Er war Altenpfleger in einem Seniorenwohnheim. Aber in einem dieser vornehmen Heime, die so wie Hotels sind. Und der Herr Krumzig hat seinen Beruf geliebt, der ging ihm über alles und …«

»Haben Sie auch heute mit ihm gesprochen?«, fragte Bender dazwischen.

Frau Weißbauer schob ihre Lockenwickler auf dem Kopf zurecht. »Ja doch. Wir haben uns eine ganze Weile im Treppenhaus unterhalten. Seiner Mitzi ging es nicht gut. Sie hat schlecht gefressen und wurde immer dünner …«

»Nun Frau Weißbauer«, unterbrach Bender wieder. »Ist Ihnen in letzter Zeit an Herrn Krumzig etwas aufgefallen? Hatte er Probleme? Oder Streit?«

Die Frau überlegte. »Nein, aber er machte sich ständig Sorgen um die alten Menschen in seiner Pflegegruppe. Die waren seine Familie. Ich sage Ihnen: Der ist um die herumgetanzt wie eine Entenmutter um ihre Küken.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber heute haben wir nur über die Mitzi geredet und über diese schreckliche Hitze. Herr Krumzig hat geseufzt und ist dann in seine Wohnung gegangen.«

»Hatten Sie den Eindruck, dass er sehr niedergeschlagen war?«

Die Frau fummelte an einer Haarklammer. »Schon, aber ich habe ihn nicht nach dem Grund gefragt, weil ich noch Blumen für einen Geburtstag besorgen musste. Hätte ich ihn fragen sollen?«

»Das war das letzte Mal, dass Sie Herrn Krumzig gesehen haben?« Bender unterließ es wohlweißlich, auf ihre Frage einzugehen.

»Lebend schon«, antwortete Frau Weißbauer.

Bender nickte und kam zur nächsten Frage: »Hatte Herr Krumzig Familie? Eine Ehefrau oder Lebensgefährtin?«

Frau Weißbauer schüttelte den Kopf. »Nein, ich sagte doch schon, die Alten im Heim waren seine Familie. Bis vor drei Jahren hat er noch seine Mutter gepflegt, ohne fremde Hilfe und bis zum Schluss. Und die alte Frau Krumzig wurde immerhin siebenundneunzig. Er war so ein fürsorglicher Sohn!« Frau Weißbauer verzog den Mund. »So sind nicht alle.«

»Nein, nicht alle«, räumte Bender ein. »Wer wohnt in der Wohnung gegenüber?«

»Die alte Frau Germann. Aber die sieht man kaum noch, seit einiger Zeit …«

Bender notierte den Namen, dann klappte er sein Notizbuch zu. »Vielen Dank Frau Weißbauer. Weitere Fragen haben wir im Moment nicht, vielleicht später. Wir schicken einen Kollegen vorbei, der Ihre Aussage protokolliert.«

»Wann kommt der?«

»In der nächsten halben Stunde«, erklärte Bender und überschlug die Zeit, die Manfred Münning voraussichtlich für die Aussage dieser Zeugin benötigte. Zügig verabschiedete er sich von Frau Weißbauer und ging mit Sandra Kurz in die Wohnung des Toten zurück.

»Habt ihr schon was?«, fragte er ins Badezimmer hinein.

»Nichts Aufregendes«, kam die Antwort von drinnen. »Nur ein weiteres Tor für Italien.«

»Nicht schön«, bemerkte Bender. »Wenn Hubertus kommt, sagt ihm bitte, wir sind in der Wohnung gegenüber.«

»Alles klar.«

Sandra Kurz hatte auf dem Treppenabsatz gewartet und beugte sich nun über das Namenschild neben der Tür. Elisabeth Germann stand in verschnörkelter Schrift auf einem Messingschild, das schon bessere Tage gesehen hatte.

»Dann wollen wir mal«, sagte Bender und klingelte.

In der Wohnung rührte sich nichts.

»Frau Germann!«

Bender versuchte es mit lautem Klopfen, doch wieder gab es keine Reaktion. Stattdessen stieg den beiden Beamten ein merkwürdiger Geruch in die Nase.

»Frau Germann! Sind Sie zu Hause?« Bender schlug nun so heftig gegen die massive Tür, dass man Angst um ihre Stabilität haben musste.

»Sind die Männer weg?« Die Stimme aus dem Wohnungsinneren war kaum zu verstehen.

»Wir sind von der Polizei, Frau Germann. Bitte öffnen Sie die Tür!«

»Diese Kerle, diese verfluchten Kerle«, verstand Bender kurz darauf.

»Sie beschimpfen mich. Fast die ganze Nacht haben sie vor meiner Tür gestanden!«

Sandra Kurz sah zu Bender und tippte sich an die Stirn.

Bender zuckte die Schultern.

»Hier ist die Polizei, Frau Germann. Bitte machen Sie auf.«

Sandra Kurz blickte skeptisch auf die Tür. »Macht sie auf?«

»Keine Ahnung.« Bender trat ans Treppengeländer. »Warten wir noch eine Minute.«

Doch schon nach ein paar Sekunden hörten sie einen Schlüsselbund klimpern, kurz darauf ein Geräusch im Türschloss. Dann wurde die Tür geöffnet. Bestürzt erfassten Bender und Kurz den Zustand der Frau, die vorsichtig ihren Kopf herausstreckte. Ein Teil ihres Haares stand seitlich vom Kopf ab, während der andere an der Kopfhaut festklebte. Eine dunkelbraune Spur, Reste einer Mahlzeit oder eines Getränkes, lief von ihrem Mundwinkel zum Ausschnitt eines verdreckten Morgenmantels. Und nun kam aus der geöffneten Wohnungstür jener Geruch, den die Beamten bereits durch die geschlossene Tür wahrgenommen hatten.

Sandra stöhnte.

»Dürfen wir hereinkommen, Frau Germann? Wir sind von der Polizei und haben einige Fragen an Sie«, erklärte Bender freundlich.

Die alte Dame schien einverstanden. Jedenfalls öffnete sie die Tür weiter, um die Besucher einzulassen. Bevor sie die Wohnungstür zuzog, warf sie einen misstrauischen Blick ins Treppenhaus. Als von dort keine beunruhigenden Geräusche zu vernehmen waren, schloss sie die Wohnungstür, drehte den Schlüssel im Schloss herum und schob einen breiten Sicherheitsriegel vor. Komplizenhaft lächelte sie Bender aus ihrem zahnlosen Mund an. »So, da kann uns niemand überfallen!«

In der Wohnung bot sich den beiden Kommissaren ein unfassbares Chaos. Auf dem Boden standen halbleere Marmeladengläser und Büchsen aufgestapelt, daneben Berge von Zeitschriften und willkürlich aufgehäuften Kleidungsstücken.

Frau Germann hatte Sandras Blick auf die Marmeladengläser mitbekommen. »Die werde ich im Herbst noch brauchen, junge Frau. Mein Sohn bringt mir dann Obst zum Einkochen vorbei.«

Sandra nickte, während Bender über eine Büchse stieg, sich umdrehte und fragte: »Sie kennen Herrn Krumzig, Ihren Nachbarn von gegenüber?«

Die Frau lächelte. »Der ist freundlich, und er kümmert sich immer um seine Katze.« Sie schaute an Bender vorbei und schien über etwas nachzudenken. Dann fragte sie: »Möchten die Herrschaften vielleicht eine Tasse Tee?«

»Nein, vielen Dank«, lehnte Bender ab. »Wann haben Sie Herrn Krumzig denn zum letzten Mal gesehen? Es wäre wichtig«, fügte er hinzu, als er Frau Germanns unsicheren Blick bemerkte.

»Ja, natürlich.« Frau Germann strich eine Strähne aus dem Gesicht. »Kommen Sie in mein Wohnzimmer; ich schreibe immer alles auf.«

Bender nickte Sandra zu, und gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durch das Chaos. Neben Sandra stürzte ein Turm aus Konservenbüchsen ein und eine Flüssigkeit tropfte auf den Linoleumfußboden. Doch beim Anblick des Zimmers, in das sie geführt wurden, mussten beide um Fassung ringen. In dem großen Raum stapelten sich Geschirr, Tischdecken, Bettbezüge, Großpackungen von Toilettenpapier, Eintopfgerichte aus dem Kühlregal und mehrere Haartrockner. Auf einem Teller am Boden tummelten sich Fliegen mit grün schillernden Flügeln.

»Ich wollte aufräumen, ich wollte gerade damit beginnen…« Frau Germann betrachtete die Haartrockner. »Es ist nur so schwierig. Ich brauche das meiste doch noch.«

Die alte Frau senkte ihre Stimme und fasste Sandra am Arm. »Wenn die Männer zurückkommen und mir vor meiner Wohnung auflauern, ist es doch gut, alles hier zu haben, oder?«

»Schon, ja ….« Vorsichtig löste Sandra die Hand und fragte: »Wo schreiben Sie denn alles auf?«

Frau Germann schlurfte auf einen Tisch zu und zog einen verschmierten Zettel hervor. »Hier steht alles drauf!«, erklärte sie und übergab ihn Bender. Immerhin konnte man einige leserliche Einträge und Telefonnummern erkennen: Sozialpsychiatrischer Dienst, Notfall-Hotline, Telefonnummer des Hausarztes und – Bender stutzte, als er einen bekannten Namen entdeckte: Lea Johannsen.

»Frau Germann, hier steht nichts über Herrn Krumzig!«

»Nein?« Die Frau schaute verwundert.

»Können Sie sich erinnern, ob Sie Herrn Krumzig gestern gesehen haben?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Aber die Männer auf der Treppe habe ich gesehen. Die haben gewartet, dass ich meine Wohnung verlasse. Vor drei Tagen haben die mich sogar im Supermarkt beobachtet.«

Sandra zog die Augenbrauen zusammen. »Die Männer verfolgen Sie schon seit Längerem?«

»Das sag ich doch! Immer verfolgen sie mich, und immer muss ich mich verstecken.«

Bender schaltete sich ein. »Das können wir nicht zulassen, Frau Germann. Wir werden Sie an einen anderen Ort bringen. Einverstanden?«

»Gell, jetzt haben Sie auch Angst, dass die Männer mir etwas antun«, stellte Frau Germann fest.

»Nun, in einer anderen Wohnung wären Sie sicherer«, blieb Bender vage.

»Sicher! Das ist gut«, murmelte die alte Frau. »Aber ich muss mir etwas anderes anziehen. Ja, ich ziehe mir ein ordentliches Kleid an.«

»Tun Sie das«, sagte Bender. »Und keine Angst, wir rufen jemanden an, der sich um Sie kümmert.«

Frau Germann machte ein erschrockenes Gesicht. »Anrufen?«

»Es wird Ihnen nichts geschehen, Frau Germann«, versicherte Bender. »Wir beschützen Sie.«

»Beschützen«, wiederholte die Frau, lächelte Bender an und schlurfte in ein Zimmer neben der Toilette.

»Puh!« Sandra verzog das Gesicht. »Was machen wir?«

»Ärztlicher Notdienst, vermutlich Einweisung in die Psychiatrie, den Sozialdienst wegen der Wohnung«, fasste Bender das Maßnahmenpaket für solche Fälle zusammen und wählte die Nummer der Rettungsleitstelle.

»Ihre Aussage können wir vergessen«, sagte Sandra, als Bender sein Handy zurück in die Hosentasche schob. »Eine Zeugin mit Verfolgungswahn und Gedächtnisproblemen!«

Nachdenklich betrachtete Bender das Treppengeländer. »Vermutlich. Wartest du auf den Arzt vom Notdienst?«

Als Sandra nickte, ging Bender zurück in die Wohnung des toten Altenpflegers.

Montag, der 9. August

Mainz, Am Volkspark

Warm und gemächlich brach ein neuer Sommertag in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt an. Das Wohnviertel neben dem Mainzer Volkspark lag ruhig und schläfrig in der Morgensonne, als ein pflichtbewusster Wecker das Tagesgeschäft ankündigte. Zunächst blieb er ohne Beachtung. Erst als sein penetranter Summton nicht mehr zu ignorieren war, blinzelte Lea Johannsen in Richtung Fenster, schaltete das Gerät aus und schloss noch einmal die Augen. Am Abend zuvor war die ganze Familie aus dem Sommerurlaub zurückgekehrt, und Wehmut erfasste Lea, als sie statt Seetang und Kiefernnadeln den Duft des Lindenbaumes roch, der im Nachbargarten stand. Die drei Wochen im Sommerhaus an der schwedischen Westküste, das samt Steg und Ruderboot der Familie ihres Ehemannes gehörte, hatten der ganzen Familie gutgetan. Nichts als schwimmen, lesen und faulenzen war die beste Erholung von einem Alltag, der in das Korsett eines Terminplaners eingezwängt war. Auch Sören hatte es ohne seinen Operationssaal in der Herzchirurgie ausgehalten und war mit Jonas, ihrem Ältesten, häufiger mit dem Segelboot auf dem Meer als an Land. Frederike, ihr Nesthäkchen erkundete mit gleichaltrigen Cousinen die Gegend und Leas älteste Tochter Marie, die frisch verliebt war, verließ ihren Platz vor dem PC nur, um zur Toilette zu gehen oder etwas zu trinken. Und so hatte sie selbst Zeit im Überfluss gehabt.

Langsam schwang sie die Beine aus dem Bett. Es half ja nichts; auch der erste Arbeitstag musste irgendwann beginnen. Während sie ins Bad ging, dachte sie an ihre Älteste. Diesmal hatte es Marie wohl richtig erwischt. Dieser Adrian schien ihr mächtig zu imponieren. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er Motocross-Rennen fuhr?

»Sind Rennen mit diesen Motorrädern nicht gefährlich?«, war Lea diesem Gedanken nachgegangen und war prompt belehrt worden.

»Das sind keine Motorräder, das sind Enduromaschinen!«, hatte Marie erklärt und ihr mit leuchtenden Augen einen Vortrag über Körperkontrolle und Mut gehalten. Spätestens da hatte Lea erkannt, dass sie es mit einem schwerwiegenden Fall maßloser Verliebtheit zu tun hatte.

Lea duschte, zog sich an und ließ die Kaffeemaschine einen doppelten Espresso produzieren. Während das Gebräu in die Tasse lief, schrieb sie auf einen Zettel, dass der Spaziergang mit Lilly keinesfalls ein Mittagsspaziergang werden sollte und platzierte ihn auf dem Küchentisch. Jonas, Marie und Frederike hatte noch zwei Tage Sommerferien, und ein wenig Engagement bei der Haustierbetreuung konnte nicht schaden. Lea trank den Espresso und machte sich auf den Weg in die Praxis.

Gegen 8.00 Uhr lief Lea über das Kopfsteinpflaster der Augustinerstraße zum Eingang des Gebäudes, in dessen erstem Obergeschoss sich die neurologische und psychiatrische Gemeinschaftspraxis befand. Beschwingt von den Nachwirkungen erholsamer Ferien lief sie die Treppe hinauf.

Mit ihrem Kollegen Ullrich Köller arbeitete sie nun schon zehn Jahre zusammen. Sein stoisches Gemüt trug ihn unbeeindruckt durch sämtliche Niederungen ärztlicher Tätigkeit und auch seine Marotte, Lea mit Lateinzitaten zu traktieren, beeinträchtigte ihr Verhältnis nur selten. Heute hatte er wohl schon früh mit der Sprechstunde begonnen, denn einer seiner Patienten kam ihr mit einem Rezept in der Hand entgegen.

»Guten Morgen, Frau Doktor«, grüßte der Achtzigjährige. »Hatten Sie einen schönen Urlaub?«

»Guten Morgen, Herr Bauer«, erwiderte Lea. »Der Urlaub war wunderbar. Aber was macht Ihr Bein?«

»Schon besser.« Der alte Herr deutete auf seinen Oberschenkel. »Die Schmerzen sind noch da, aber ich kann wieder einigermaßen laufen.«

»Hört sich gut an. Noch einen schönen Tag, Herr Bauer.«

»Gleichfalls, Frau Doktor. Ihr Kollege wird sich freuen, wenn er Verstärkung bekommt«, sagte der Mann und ging, ein Bein neben das andere ziehend, die Treppe hinunter.

Verstärkung? Mit wenigen Schritten war Lea in der geöffneten Eingangstür ihrer Praxis und blieb überrascht stehen. Was war hier los? Nicht nur die Anmeldung war von Patienten belagert, auch die Stühle im Wartezimmer reichten nicht aus. Frau Witt, ihre dienstälteste Arzthelferin, stand mit gerötetem Gesicht hinter der Anmeldung und ihre Finger flogen über die Tastatur des Praxiscomputers.

Merkwürdig, dachte Lea. Nach einer Epidemie neurologischer Erkrankungen sahen die Wartenden nicht aus, doch mindestens die Hälfte der Gesichter war neu.

»Guten Morgen, Frau Witt«, begrüßte Lea ihre Mitarbeiterin, die vermutlich andere Vorstellungen von einem schönen Morgen hatte.

Frau Witts knappe Begrüßung gab ihr Recht. »Gut, dass Sie wieder da sind. Doktor Köller wird erleichtert sein.«

Ullrich erleichtert? Schon wieder! Lea wollte nachfragen, aber Frau Witt befasste sich bereits wieder mit Chipkarten, Überweisungen und anderen bürokratischen Vorgaben, die das Gesundheitswesen hervorbrachte. Irritiert ging Lea an der Anmeldung vorbei in ihr Sprechzimmer, nahm den Kittel vom Haken hinter der Tür, schlüpfte hinein und warf einen kurzen Blick in den kleinen Spiegel an der Wand. Die tiefen Augenringe waren fast verschwunden, und Lea hoffte, dass dieser Zustand noch einige Zeit anhielt. Auch für den Zustand ihres Sprechzimmer war dies zu hoffen, denn Zimmer und Schreibtisch befanden sich in wunderbarer Ordnung. Noch ließ kein Aktenstapel das Ausmaß an Arbeit annehmen, das wahrscheinlich auf sie zukommen würde. Sie seufzte, ging zum Sprechzimmer ihres Kollegen, klopfte kurz an und betrat den Raum.

»Darf ich mich zum Dienst zurückmelden?«

»Ah, Lea!« Ullrich Köller schenkte ihr sein breitestes Begrüßungslächeln. »Gut, dass du da bist. Einen Moment noch.«

Lea blieb an der Tür stehen. In jungen Jahren war Ullrich Köller aktiver Zehnkämpfer gewesen, doch in den letzten Jahren hatte er zunehmende Trainingsausfälle durch intensiven Einsatz am heimischen Herd ausgeglichen und sich einen respektablen Bauchansatz erarbeitet.

»Sie gehen damit bitte zum Radiologen«, erklärte er seiner Patientin. »Frau Witt druckt Ihnen die Adressen aus. Nach der Röntgenuntersuchung sehen wir dann weiter.«

Die Frau nickte, nahm den Überweisungsschein und stand auf. Ullrich Köller begleitete sie zur Tür, wobei er sich trotz seiner Körperfülle mit erstaunlicher Leichtigkeit bewegte. Dann schloss er die Tür, stellte er sich vor Lea, breitete seine Arme aus und drückte sie kurz an sich.

»Meine Lieblingskollegin! Gut siehst du aus. Anscheinend habt ihr den ganzen Tag auf dem Bootssteg gesessen und euch hemmungslos mit Lachs und Heidelbeerkuchen vollgestopft.«

»Ach!« Lea fasste sich an die Taille. »Bin ich als Tonne zurückgekehrt?«

Ullrich Köller grinste. »Keine Sorge, alles gut!«

»Dann bin ich beruhigt.« Lea setzte sich auf die Lehne des Patientenstuhls. »Aber was machen die vielen Menschen in unserem Wartezimmer?«

Ullrich Köller wurde ernst. »Eberhard hatte einen Infarkt. Wir haben die Vertretung übernommen.«

»Einen Infarkt?«, fragte Lea nach. »Er ist doch erst Ende dreißig!«

»Tja, schlimme Sache. Letztes Wochenende bekam er Schmerzen in Brust und Schulter, die er auf anstrengende Gartenarbeit geschoben hat. Schließlich fuhr er in die Notaufnahme. Er kann froh sein, dass er dort lebend angekommen ist.«

Bevor Lea noch etwas fragen konnte, klopfte es, und Frau Witt steckte den Kopf zur Tür hinein. »Tut mir leid, dass ich drängeln muss, aber wir haben die Termine bis 13 Uhr schon doppelt belegt.«

»Ist schon in Ordnung, Frau Witt«, sagte Lea. Sie wusste, dass Patienten ihren Unmut über Wartezeiten meist an den Arzthelferinnen ausließen. »Ich werde sofort starten.«

Nachdem Frau Witt gegangen war, erhob sich Lea von der Stuhllehne und wandte sich zur Tür. Doch Ullrich hielt sie zurück. »Übrigens, Lea, bevor ich es vergesse. Gestern war ich im Altenheim bei deinem Herrn Bernhard. Es geht ihm schlecht.«

»Wie schlecht?«, fragte Lea und das nachklingende Urlaubsgefühl verabschiedete sich endgültig.

»Der Tremor hat zugenommen, außerdem sind wieder Doppelbilder aufgetreten«, erläuterte Ullrich Köller und beschränkte sich auf die gravierendsten Verschlechterungen.

Lea schüttelte den Kopf. »Bei diesem Krankheitsverlauf kann einem angst und bange werden. Ich sehe zu, dass ich in der Mittagspause zur Seniorenwohnanlage fahre.«

Ullrich nickte und nun verließ Lea endgültig sein Sprechzimmer.

Mainz, Polizeipräsidium

Durch die hohen Bäume gelangten kaum Sonnenstrahlen in das Büro im vierten Stock des Polizeipräsidiums am Valenciaplatz.

»Was haben wir bis jetzt?« Bender sah zu Sandra Kurz, die ihm gegenüber am Schreibtisch saß und auf den Bildschirm starrte.

Sandra blickte auf. »Harald Krumzig, einundsechzig Jahre, alleinlebend, arbeitete als Altenpfleger in einer Mainzer Seniorenwohnanlage, die einer gewissen Prosenex Gesellschaft gehört. Vermuteter Todeszeitpunkt am mittleren Freitagnachmittag. Dem ersten Anschein nach Selbsttötung durch Eröffnen der Pulsschlagader. Kein Abschiedsbrief.«

Bender nickte und griff zum Telefon. »Vielleicht hat Hubertus schon Einzelheiten?«, überlegte er laut und wählte die Nummer von Professor Hubertus Kaltmesser, Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts an der Johannes-Gutenberg-Universität. Ihn kannte Kaltmesser schon einige Jahre und so wusste er, dass dieser meist frühmorgens mit seinen Obduktionen begann. Und richtig, nach drei Freizeichen hatte er den Gerichtsmediziner am Telefon.

»Auf deinen Anruf habe ich schon gewartet«, begrüßte ihn Kaltmesser. »Gerade habe ich den letzten Satz diktiert; eine äußerst interessante Obduktion.«

»Dann schieß los!«, verlor Bender keine Zeit. »Sandra hört mit.«

Kaltmesser ließ sich nicht zweimal bitten. »Wir haben einen einundsechzigjährigen Mann in gutem Allgemeinzustand, Körpergröße 165 cm, Gewicht 54 kg, Narben einer Gallenblasenoperation und einer operierten Knöchelfraktur links, kein Hinweis auf den Konsum von übermäßigem Alkohol, Medikamenten oder Drogen. Die toxikologischen Analysen kommen noch, ich habe auf Benzodiazepine …«

Sandra schaltete sich ein. »Bitte keine Vorlesung Hubertus!«

»Na schön, wenn ihr nicht an Weiterbildung interessiert seid. Die Todesursache ist ein Volumenmangelschock, der durch das Eröffnen der linken Arteria radialis ausgelöst wurde.«

»Also Suizid?« Sandra Kurz beugte sich vor.

»Nein«, antwortete Kaltmesser. »Doch es sollte so aussehen. Und somit kommen wir zum spannenden Teil: Der Tote war Linkshänder, was diejenigen, die sich an seiner Pulsschlagader zu schaffen gemacht haben, offenbar nicht wussten, denn sonst hätten sie sich die rechte Pulsader ausgesucht. Der Schnitt, 1,5 cm im Verlauf der Arterie vom Handgelenk in Richtung Ellenbogen, ist im 90°-Winkel zur Hautoberfläche durchgeführt. Damit ist ausgeschlossen, dass der Tote sich diesen Schnitt selbst beigebracht hat. Zudem finden sich an Hand und Ellenbogen Kompressionszeichen, was bedeutet, dass der Arm vermutlich von einer zweiten Person festgehalten wurde. Und es wird noch spannender: In der Lunge fanden sich Spuren von Trichlormethan.«

»Was ist daran spannend?« Bender runzelte die Stirn.

»Trichlormethan ist die chemische Bezeichnung für Chloroform«, erklärte Kaltmesser. »Dieses gelangte über einen Stofflappen – einzelne Fasern fanden sich im vorderen Nasenbereich – in die Lunge des Toten. Das Chloroform führte offenbar zu sofortiger Bewusstlosigkeit, denn es gab weder Abwehrverletzungen noch Hautpartikel des oder der Täter unter seinen Fingernägeln. Die geschätzte Todeszeit liegt zwischen 15.00 Uhr und 15.30 Uhr. Das war das Wichtigste in Kürze.«

Sandra hatte den Mund erstaunt geöffnet, das hatten sie nicht erwartet.

»Es gibt doch immer wieder Überraschungen«, erklärte Bender und räusperte sich.

»Allerdings«, bestätigt Kaltmesser. »So etwas hatte ich schon lange nicht mehr auf dem Tisch. Dann macht euch mal an die Arbeit!«

»Sicher«, murmelte Bender, der bereits über diese ersten Informationen nachdachte. »Und danke Hubertus. Bis später.«

Nachdem er das Telefon zurückgelegt hatte, fuhr er sich mit der Hand über den Kopf und ließ sie im Nacken liegen.

»Du hast Hubertus gehört«, sagte er schließlich. »Wir suchen einen, zwei oder vielleicht drei Täter.«

»Die Männer im Treppenhaus? Von denen Frau Germann erzählt hat?« Sandra kniff die Augen zusammen. »Aber weshalb sollten ihr Männer im Supermarkt auflauern, um später den Nachbarn umzubringen?«

»Hhm«, machte Bender nur, dann sagte er: »Sie ist übrigens bei Frau Johannsen in Behandlung; das macht ihre Aussage nicht unbedingt glaubwürdiger.«

»Woher weißt du das denn?«

»Von dem Zettel, auf diesem Wohnzimmertisch. Ich werde bei Frau Johannsen nachhören, wie verwirrt diese Frau Germann ist.«

Sandra schob ihren Stuhl zurück. »Dann fahre ich zur Seniorenwohnanlage und höre mich um: Arbeitskollegen, Verwaltung, Personalabteilung!«

Bender nickte. »Ich rufe in der Praxis an.«

»Dann mal los!« Sandra nahm die Wagenschlüssel und verließ das Büro.

Allein im Büro griff Bender zum Telefon, wählte die Nummer der Praxis in der Augustinerstraße und ließ sich mit Lea verbinden. Seit diese vor einiger Zeit persönlich in einen Fall verwickelt gewesen war, den Bender bearbeitet hatte, verband die beiden ein fast freundschaftliches Verhältnis, das schlicht und ergreifend auf Sympathie beruhte.

»Herr Bender?«, fragte Lea überrascht. »Ich hoffe, Sie haben kein medizinisches Problem.«

»Glücklicherweise nicht«, antwortete Bender. »Wir sind jedoch bei einer Zeugenbefragung auf eine Patientin von Ihnen getroffen, eine Frau Germann?«

»Frau Germann! Verstehe, aber ich darf …«

»Ärztliche Schweigepflicht, ich weiß«, kam Bender Lea zuvor. »Ich müsste nur wissen, ob man Frau Germanns Wahrnehmung uneingeschränkt glauben kann?«

Lea zögerte. Spontan hätte sie nein gesagt, aber wer konnte schon wissen, was bei der alten Frau Germann eine krankhafte Verzerrung der Wirklichkeit war und was nicht?

»Keine leichte Frage«, deutete Bender die entstandene Pause richtig.

»Es gibt einfachere«, gab Lea zu. »Aber wenn ich mich festlegen müsste, würde ich zu einem Nein tendieren.«

Bender seufzte. »Das dachte ich mir. Wir haben Frau Germann in ihrer Wohnung aufgesucht, dort sieht es aus wie auf einer Müllhalde. Waren Sie einmal dort?«

»Nein. Frau Germann kommt noch regelmäßig in unsere Praxis.«

»Das ist kaum zu glauben«, wunderte sich Bender. »Nun, wir haben den ärztlichen Notdienst verständigt. Diese Wohnung ist nicht mehr bewohnbar; außerdem fühlte sie sich von Männern verfolgt.«

»War das Ihre Frage zur Wahrnehmung?«

Bender musste lächeln. »Ganz recht. Sie bleiben bei Ihrer Tendenz zum Nein.«

»Ich denke schon.«

»Dann war‘s das auch schon. Sonst geht es Ihnen gut?«

»Durchaus«, antwortete Lea. »Heute ist mein erster Arbeitstag nach dem Sommerurlaub, da bin ich noch in der Umstellungsphase.«

»Verstehe. Nach zwei Wochen Angeln fällt mir der Einstieg in alltägliche Kommunikation auch nicht leicht, zuweilen sehne ich mich nach einer stummen Tätigkeit.« Bender seufzte. »Aber ich möchte Sie nicht aufhalten. Bringen Sie Ihren ersten Arbeitstag gut hinter sich.«

»Vielen Dank. Auch Ihnen noch einen schönen Tag«, erwiderte Lea, legte auf und lehnte sich zurück. Die alte Frau Germann ein Messie? Das war überraschend. Zwar war der alten Dame vor einiger Zeit aufgefallen, dass sie Handtasche, Schlüssel oder Mantel liegen ließ, und einige ihrer Bekannten nicht mehr beim Namen zu nennen wusste. Doch nichts hatte darauf hingedeutet, dass es so schlimm um sie stand. Lea rief die Patientenakte auf und überflog die Ergebnisse der Untersuchungen, die auf eine fortschreitende Demenz hinwiesen. Sie fühlt sich von Männern verfolgt, hatte Bender gesagt. Nun, auch das passte zum Krankheitsbild, denn seit einem halben Jahr litt Frau Germann immer häufiger unter paranoiden Wahnvorstellungen. Sie hatte von Männern erzählt, die ihr hinter Straßenecken, vor dem Haus und sogar im Keller auflauerten. Nachdem Lea die Dosierung des Antipsychotikums erhöht hatte, war der Verfolgungswahn zwar seltener aufgetreten, aber nicht vollständig verschwunden.

Als Lea die Akte schloss, erinnerte sie sich, dass Frau Germann in Leipzig aufgewachsen war. Gegen Kriegsende musste sie etwa achtzehn Jahre alt gewesen sein, und wer konnte wissen, welche Erinnerungen über Jahre verschüttet waren und nun vielleicht als Wahnvorstellungen auftauchten. In welcher Sache die alte Frau Germann wohl befragt worden war? Nachdenklich tippte Lea die Warteliste an und rief den nächsten Patienten auf.

Zur gleichen Zeit saß auch Bender noch an seinem Schreibtisch. Er dachte nach. Das Chloroform! Weshalb hatte man den Altenpfleger betäubt, um anschließend einen Selbstmord vorzutäuschen? Das sah weder nach einer Affekthandlung, noch nach der Tat brutaler Geldeintreiber aus, die ihre Geduld verloren hatten. Das mit dem Schnittwinkel mochte ja rechtsmedizinisches Fachwissen sein, aber hätten die Täter nicht wissen können, das Chloroform nachweisbar ist? Oder dass man bei der Obduktion auf die Druckstellen am Arm stoßen würde?

Da er mit seinen Überlegungen zu keinem annehmbaren Ergebnis kam, stand Bender auf und ging ins Büro nebenan; wegen der Hitze stand die Tür offen.

Manfred Münning, Kommissars-Anwärter, saß über einen Computerausdruck gebeugt und markierte Stellen mit einem Textmarker.

»Ist unserer Frau Weißbauer noch etwas eingefallen?« Bender trat an den Schreibtisch.

Münning richtete sich auf und sah Bender an. »Eingefallen? Soll das ein Witz sein? Ich weiß jede Einzelheit über jeden Bewohner dieses Hauses, und das angefangen in den Siebzigern.«

»Verstehe«, Bender lächelte amüsiert. »Und zu Herrn Krumzig?«

»Zu dem auch. Es gab da eine Cousine, die ihn ab und zu besucht hat. Etwa in seinem Alter, vielleicht zwei, drei Jahre jünger. Nach Frau Weißbauers Beschreibung hat sie schulterlanges blondiertes Haar, gepflegte Kleidung und teure Handtaschen. Diese Cousine hat wohl einen Schlüssel für Herrn Krumzigs Wohnung, Frau Weißbauer hat beobachtet, wie sie aufschloss und hineinging.«

»Hat Frau Weißbauer mit dieser Cousine gesprochen?«

Münning schüttelte den Kopf. »Erstaunlicherweise nicht. Aber sie hätte es vermutlich getan, wenn Herr Krumzig nicht angedeutet hätte, dass seine Cousine durch einen schweren Schicksalsschlag menschenscheu geworden sei.«

»Und das hat Frau Weißbauer beherzigt?«

»Sieht so aus. Doch eine Sache ist ihr noch eingefallen: Als diese Cousine Herrn Krumzig im Frühjahr besucht hat, lag auf der Treppe ein Flyer der Cocktailbar im Heiliggeistgässchen.«

»Vielleicht hilft Alkohol ihr, mit ihrem Schicksalsschlag fertig zu werden«, überlegte Bender laut. »Aber zu Herrn Krumzig selbst gab es nichts mehr?«

Münning schüttelte den Kopf. »Frau Weißbauer hatte nur den Eindruck, dass ihm etwas Sorgen machte, und das war nicht nur der Gesundheitszustand seiner Katze.«

»Na gut«, sagte Bender. »Versuch doch mal Name und Aufenthaltsort dieser Cousine herauszufinden. Vielleicht weiß sie etwas über diese Sorgen oder sonstigen Probleme.« »Wird gemacht«, sagte Münning und legte den Textmarker zur Seite.

Bender wies auf den Bericht von der Spurensicherung. »Gibt es da etwas Auffälliges?«

»Nur, dass Herr Krumzig Ordnungsfanatiker war. Jeder Minibeleg, jedes Schreiben ist mit einem Kommentar versehen und wurde unter einem Stichwort ablegt. Herr Krumzig hatte sogar Ordner zu den Menschen, die er gepflegt hat; mit Notizen über Gesundheitszustand, besondere Pflegebedürfnisse, Adressen und Telefonnummern der Angehörigen, deren Besuchsfrequenz und Verhalten, über Pflegezeitzuteilungen und noch tausend andere Kleinigkeiten. Wenn du mich fragst, der wäre der ideale Buchhalter gewesen.« Münning wies auf vier Order in der Zimmerecke, »Die sind erst der Anfang. Wenn die Spurensicherung den Rest bringt, verdoppelt sich die Anzahl der Ordner in diesem Büro. Worauf soll ich eigentlich achten?«

»Auf alles!«, antwortete Bender lapidar.

Münning verzog das Gesicht. »Vielleicht habe ich sie bis Freitag durch.«

Bender klopfte ihm auf die Schulter. »Vielleicht auch schon übermorgen!«

Mainz, Frankenhöhe

»Du hast dich gestern nicht gemeldet!« Vorwurfsvoll tönte die Stimme aus dem Telefonhörer. »Ich war diese Woche schon zweimal am Grab. Die Blumen halten sich bei dieser Hitze kaum und das Gießen ist so mühsam. Und diese Rückenschmerzen! Clara?«

»Ja, Mutter, ich höre dir zu.«

»Aber du sagst nichts. Du hättest auch zum Grab gehen können, wenigstens gestern. So weit hast du es nicht, und Sonntag wäre der richtige Tag gewesen; dann hättest du auch gießen können.«

»Es tut mir leid«, sagte Clara und malte mit den Fingern Kreise auf den Esszimmertisch. »Ich gehe morgen, ich verspreche es dir. Aber warum lässt du nicht die Friedhofsgärtnerei die Pflanzen wässern, dann kannst du deinen Rücken schonen.«

»Die Gärtner?« Die Stimme von Claras Mutter kletterte nach oben. »Weißt du, was das kostet? So üppig ist meine Rente nicht, das weißt du doch!«

Clara hörte sie seufzen. Ein Seufzen, das in der Lage war, das Elend der gesamten Menschheit zum Ausdruck zu bringen. Seit Langem fragte sich Clara, ob ihre Mutter es auch ohne Zuhörer fertigbrachte, die Drangsale ihres Lebens in diese perfekte Folge absteigender Töne zu fassen.

»Clara?«

»Ja, Mutter!« Das Telefonat war noch nicht überstanden.

»Du kannst froh sein, dass Norbert so tüchtig ist. Dein Vater hatte immer nur seine Musik im Kopf. Kein bisschen hat er vorgesorgt, jetzt lebe ich quasi von Almosen.«

Clara kannte die Litanei über die Ehe ihrer Eltern, die mit dem Herztod des Vaters ein plötzliches Ende gefunden hatte.

»Immer nur die Musik, Clara!«, fuhr ihre Mutter fort. »Andere Dinge haben ihn nicht interessiert. Seiner Familie ein schönes Zuhause zu bieten, seiner Frau das Leben zu erleichtern. Nichts war ihm wichtig, nur seine Musik.«

»Mutter, das stimmt doch nicht«, versuchte Clara, zu widersprechen. »Die Musik war ihm wichtig, aber wir haben ihm ebenfalls viel bedeutet, das weiß ich.«

Schon beim letzten Wort wusste Clara, dass sie etwas Falsches gesagt hatte.

»Das weißt du? Dir hat er doch die gleichen Ideen in den Kopf gesetzt: Musik, Tagträume und all diese Geschichten!« Claras Mutter war bei ihrer schrillsten Tonlage angekommen.

»Mutter, bitte!«

»Bitte? Clara! So sprichst du nicht mit deiner Mutter! Hast du mich verstanden?«

»Entschuldige, Mutter!«

»Es wäre schon ausreichend, wenn du zum Friedhof gehst!«

»Aber Mutter, ich habe doch gesagt, dass ich morgen…«

Das gleichmäßige Tuten aus dem Hörer ließ Clara verstummen. Ihre Mutter hatte aufgelegt. Clara legte das Telefon zurück und schloss die Augen. Wenn sie sich konzentrierte, schaffte sie es, in eine andere Welt zu gelangen. Eine Welt, die niemand sonst betreten konnte. Die Geräusche um sie herum wurden leiser und verstummten schließlich. Clara stand nun auf einer Wiese, die von dichtem Wald umgeben war. Hier war sie sicher.

Mainz, Seniorenwohnanlage Gonzenheim

Als Lea um die Mittagszeit auf den Parkplatz der Altenwohnanlage fuhr, standen nur wenige Fahrzeuge dort. Von dem weitläufigen Gebäudekomplex waren es nur wenige Schritte bis zum lichten Buchenwald, der am Wochenende von unzähligen Joggern und Spaziergängern bevölkert wurde. Die Anlage war dem gehobenen Segment der Altenwohnanlagen zuzuordnen. Im Eingangsbereich gab es eine holzgetäfelte Rezeption, ein Lädchen mit Artikeln des täglichen Bedarfs, eine Poststelle mit Faxgerät und Internetzugang sowie eine Lounge, in der Getränke und kleine Gerichte serviert wurden.

Lea nahm ihre Tasche und ging die wenigen Schritte zum Eingang. Hausbesuche machten Fachärzte in der Regel selten, doch wenn die Erkrankung eines langjährigen Patienten fortschritt, und nur noch die Betreuung in einer entsprechenden Einrichtung möglich war, kam es durchaus vor. In der Eingangshalle, nickte Lea der Mitarbeiterin an der Rezeption zu, ging zu den Aufzügen, drückte die entsprechende Taste und wartete. Meist benutzte sie die Treppe, aber bei dieser Affenhitze verspürte sie keine Neigung, ihre prall gefüllte Tasche in den vierten Stock zu schleppen.

Während Lea beobachtete, wie die Leuchtziffern den dritten, den zweiten und schließlich den ersten Stock anzeigten, fiel ihr Blick auf ein Plakat.

»Porta Humana – der sanfte Weg hinaus«, stand dort zu lesen, und da der Aufzug im ersten Stock stehen blieb, las Lea auch die nächsten Zeilen, die den Vortrag einer Corinna Sibelius angekündigten.

Der sanfte Weg hinaus? Von Thai Chi für Senioren bis zu einem Waldspaziergang unter Führung eines Botanikers oder einem Vortrag über ballaststoffreiche Ernährung bei chronischer Verstopfung konnte das alles Mögliche bedeuten. Doch den Namen Porta Humana hatte sie schon einmal gehört, nur in welchem Zusammenhang?

Ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als sich der Aufzug mit einem metallischen Pling öffnete. Im vierten Stock angekommen, hatte sie noch immer keine Idee, wo sie den Namen schon einmal gehört hatte, und verdrängte den Gedanken vorerst. Sie trat auf einen leeren Flur; die meisten Heimbewohner waren mit ihrem Mittagsschlaf beschäftigt und das Pflegepersonal nutzte diese Zeit als Pause. Lea ging den Gang entlang. An der Wand hingen Bilder, die Landschaften der Toskana oder malerische Küstenstädtchen zeigten, und im Vorbeigehen las Lea die Namen auf den Klingelknöpfen. An ihnen erkannte man, ob es Ehepaare gemeinsam in die Wohnanlage geschafft hatten oder nur derjenige Ehepartner, der den anderen überlebt hatte.

Vor Herrn Bernhards Appartement mit der Nummer 445 angekommen, klingelte Lea, stellte ihre Tasche ab und wartete. Sie wusste, dass der alte Herr Zeit benötigte, um die Tür zu öffnen. Die Kraft seiner Arme reichte kaum, um die Räder des Rollstuhls zu drehen und an den elektrischen Türöffner heranzukommen.

Als die Tür schließlich freigegeben wurde, betrat Lea das Appartement, ging durch die Diele in das Wohnzimmer, dessen Fenster den Blick in die Baumkronen des Waldes freigab.

»Ah Frau Doktor! Wie war der Urlaub?« Herr Bernhard saß im Rollstuhl am Fenster und begrüßte Lea herzlich, wobei seine Freude sich ausschließlich in den Augen zeigte; seine Mimik blieb, als Ausdruck der schweren Parkinsonkrankheit, nahezu unbewegt.

»Wunderbar!« Lea ging zu ihm und legte die Hand auf Herrn Bernhards mageren Unterarm. »Eigentlich wollte ich nicht zurückkommen, aber dann habe ich an Sie gedacht und es mir anders überlegt.«

»So lobe ich mir die Betreuung durch meine Ärztin«, entgegnete der alte Herr. »Was macht die Schärenküste?«

Eine erwartete Frage, denn Herr Bernhard war in Königsberg geboren und hatte die Kindheit an der Ostsee verbracht. Aus dieser Zeit stammte seine Verbundenheit mit dem Meer, und Lea vermutete, dass er ihre Berichte vom Geruch des Seetangs und von Girlanden, die zurückweichende Wellen auf dem Sand hinterließen, als wichtiges Element ihrer Betreuung ansah.

»Wie schön«, äußerte sich Herr Bernhard dann auch zufrieden, als Lea von der Fahrt mit der Fähre über die Ostsee berichtete.

»Wissen Sie, Frau Doktor, als Junge bin ich mit Freunden jeden Nachmittag durch die Felder zum Strand gefahren. Wir lehnten unsere Fahrräder an die Kiefern, zogen die Sandalen aus und rannten mit bloßen Füßen durch den warmen Sand. Wir waren frei und glücklich.« Der alte Herr schloss die Augen. »Und schließlich tauchte zwischen den Bäumen das Meer auf, so blau, so friedlich, und so weit …« Er schluckte schwer. »Doch so blieb es nicht. Im Sommer 1944 marschierte ich mit meinen Klassenkameraden durch die gleichen Felder. Nicht zum Meer, sondern zu den schwarzen Rohren der Flak, die in den Nachthimmel gerichtet waren. Wir warteten auf englische Bombergeschwader. Zweiundzwanzig Schüler! Angeführt von einem kriegsversehrten Unteroffizier, der sogar mit Brille kaum etwas sah! Eines Nachts trafen wir tatsächlich ein Flugzeug, wohl eher durch Zufall. Es stürzte in ein Rapsfeld und ging in Flammen auf. Am nächsten Morgen fanden wir die verkohlte Leiche des Piloten. Danach war unsere Welt eine andere.«

Über seine Stimme legte sich Resignation. »Wir alle lebten mit der Gewissheit, einen nie wiedergutzumachenden Fehler begangen zu haben, und etwas wurde zur Gewissheit: Neben Schuld kann es keine Freiheit geben.«

Die Hand des alten Mannes tastete nach Leas Arm. »Aber gewiss sind Sie nicht hier, um sich die sentimentalen Erinnerungen eines alten Mannes anzuhören!«

Lea sah zu den Baumkronen und schwieg. Was sollte sie dazu sagen? Vielleicht hatte Herr Bernhards Generation geahnt, dass sie weder mit Mitleid noch mit Verständnis rechnen konnte? Aber hatte sie ahnen können, dass selbst die eigenen Kinder ihnen diese Schuld wie einen stinkenden Lappen ins Gesicht schleudern würden?

Lea besann sich auf den Grund ihrer Anwesenheit. »Mein Kollege hat mir berichtet, dass Ihre Beschwerden zugenommen haben?«

»Richtig. Mein rechter Arm macht mir zu schaffen. Entweder rührte er sich überhaupt nicht oder er gerät außer Rand und Band. Ich fühle mich wie ein Roboter, dem man zwischendrin den Strom abstellt.« Betrübt sah er zum Knoten seines Bademantels. »Und meine Blase funktioniert auch nicht mehr. Die Damen vom Pflegedienst haben mich in saugfähigenInkontinenz-Einlagen eingepackt. Man könnte auch Windel sagen, doch man ist bemüht, die Seniorenwürde zu schonen.« Ein schiefes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Gibt es kein Zaubermittel?«

Nachdenklich verweilte Leas Blick auf der Hand, die um die Armlehne des Rollstuhls gekrallt war. Zaubermittel? Das bräuchten sie wirklich, denn leider waren bei Herrn Bernhard die Symptome der Parkinsonkrankheit stark ausgeprägt. Muskelsteifheit, Zittern und Bewegungsarmut hatten innerhalb von sechs Monaten in beängstigender Weise zugenommen und waren durch die üblichen Parkinsonmedikamente kaum beeinflussbar. Man wusste zwar, dass diese Störungen durch den Mangel des Botenstoffes Dopamin in bestimmten Gehirnarealen verursacht wurde, doch der entscheidende therapeutische Durchbruch stand noch immer aus. Und so konnte Lea nur zuschauen, wie Herr Bernhard mehr und mehr zum Gefangenen in seinem eigenen Körper wurde.

»Avanexa wäre eine Option«, sagte Lea schließlich. »Es wurde vor einem Jahr zugelassen und darf nur bei schweren Krankheitsverläufen eingesetzt werden.«

»Wie funktioniert das?« Herr Bernhard sah sie hoffnungsvoll an.

»Avanexa blockiert den Abbau von Dopamin, dadurch steigt seine Konzentration im Gehirn an und die herkömmlichen Medikamente wirken wieder.«

»Klingt gut!« Herr Bernhard schluckte verkrampft. »Aber es gibt einen Haken, oder? Was kann passieren, wenn ich die Tabletten einnehme?«

»Keine Tablette«, erklärte Lea. »Das Präparat wird in vierwöchigem Abstand gespritzt. Drei Monate lang.«

»Wohin?«

»In den Muskel.«

»Das dürfte kein Problem sein. Ich habe genügend Stellen am Körper, die ich kaum noch spüre; endlich mal ein Vorteil der Erkrankung. Aber es hat sicher Nebenwirkungen?«

Lea nickte. »Am Tag nach der Injektion treten grippeähnliche Symptome auf: Schwitzen, Fieber, Kopfschmerzen …«

»Und was noch?« Herr Bernhard deutete Leas Zurückhaltung richtig.

»Es kann auch zu Verwirrtheit, Albträumen, unregelmäßigem Herzschlag und Muskelzuckungen kommen.«

»Zuckungen?«, wiederholte der alte Mann. »Die können meinen Muskeln nicht schaden, die hatten in letzter Zeit nicht viel zu tun.«

Der Mut der Verzweiflung war nicht zu überhören, doch Lea zögerte. »Ich weiß, dass Sie mutig sind, aber das wird kein Spaziergang.«

»Ich möchte nur eine Chance.« Herr Bernhard sah Lea eindringlich an. »Ist das Präparat teuer?«

Lea nickte.

»Und meine Krankenversicherung bezahlt das?«

»Ich hoffe es«, sagte Lea. »Ich werde eine Begründung zur Notwendigkeit dieser Behandlung schreiben, und wenn wir einen verständigen Sachbearbeiter erwischen, müsste es funktionieren.«

Herr Bernhard nickte. »Nur interessehalber, was kostet das Medikament?«

»Etwa zweitausend Euro im Monat, wenn ich nicht irre«, antwortete Lea, die sich vage an eine Preisliste erinnerte.

»Nicht schlecht für vier Spritzen. Die Pharmaindustrie ist bestimmt krisensicher.«

Herr Bernhard sah aus dem Fenster. »Werde ich wieder laufen können?«

Lea holte Luft. »Schwer zu sagen. Die Patienten sprechen unterschiedlich auf das Mittel an.«

Herr Bernhards Blick blieb im Geäst der Buchen hängen. Möglicherweise stellte er sich einen Waldspaziergang vor. Einen richtigen Spaziergang, nicht diese Rollstuhlausflüge, die in die eine Richtung bis zum Wald und dann zurück zum Parkplatz führten.

»Herr Bernhard, sollen wir die Einlage wechseln?« Mit diesen Worten betrat eine kräftige Altenpflegerin mit gut bestücktem Schlüsselbund in der Hand den Raum.

»Einen schönen guten Tag, Schwester Carola«, begrüßte Herr Bernhard die Frau und hob mühsam die Hand.

»Natürlich, guten Tag, Herr Bernhard. Wollen wir …?« Mitten im Satz hielt Schwester Carola inne. »Frau Johannsen! Ich habe Sie gar nicht gesehen.«

»Kein Problem, Schwester Carola. Aber könnten Sie in fünf Minuten noch einmal vorbeischauen?«

»Natürlich.« Die Pflegerin schloss die Tür und ihre Schritte entfernten sich.

»Das ist das Schlimmste«, sagte Herr Bernhard. »Alles dreht sich um die Körperfunktionen; von morgens bis abends und jeden Tag aufs Neue.«

Lea nickte. Die Abläufe, die den Vorgaben der Pflegepläne folgten, waren so unveränderlich wie das Erscheinen von Sonne und Mond. Nacheinander packte sie Blutdruckmessgerät, Diagnoselämpchen und Reflexhammer in ihre Tasche.

»Machen wir einen Versuch mit diesem Avanexa?«, fragte Herr Bernhard.

Lea schloss ihren Koffer. »Ich denke schon. Zuerst kümmere ich mich mal um die Genehmigung.«

Nachdem nichts weiter zu besprechen war, legte Lea zwei Rezepte sowie die Verordnung für den Physiotherapeuten auf den Tisch. Dann fiel ihr noch etwas ein: »Bevor wir mit Avanexa beginnen, müssen wir Blutuntersuchungen durchführen.«

»Ich mache alles mit«, gab der alte Herr zur Antwort. »Und wenn es nicht funktioniert, kann ich mir immer noch eine Plastiktüte über den Kopf zu ziehen.«

»Plastiktüte?«, fragte Lea irritiert.

»Ein Vorrichtung, die einen kombinierten Suizid ermöglicht. Sie haben nicht davon gehört?«

Als Lea den Kopf schüttelte, erläuterte Herr Bernhard, dass Selbstmordwillige ein Schlafmittel einnahmen, und sich anschließend, mit oder ohne fremde Hilfe, eine Plastiktüte über den Kopf stülpten, um sozusagen im Schlaf zu ersticken. »Dabei handelt es sich keineswegs um eine Allerweltstüte, sondern um eine speziell entwickelte Tüte mit weichen Abschlüssen am Hals. Und so, um es mit den Worten von Frau Sibelius von der Porta Humana zu sagen, kann sich jeder für die Freiheit des Todes entscheiden.«

»Die Freiheit des Todes!«, wiederholte Lea. »Und weshalb waren Sie dort?

»Es ist eine Alternative«, sagte der alte Mann leise.

»Eine Plastiktüte als Alternative? Wofür?«

Herr Bernhard schaute zu den Baumkronen des Waldes. »Zur Ohnmacht, zur Ausweglosigkeit, zur Angst …«

»Aber Herr Bernhard!«, unterbrach ihn Lea. »Wem kann ich sonst vom Meer erzählen?«

»Es wird immer jemanden geben.«

»Ich möchte aber nicht jemandem davon erzählen, sondern Ihnen. Und deshalb kümmere ich mich jetzt um das Medikament.«

Nachdem Lea das Appartement verlassen hatte, ging sie zum Aufzug zurück. Freiheit des Todes! Die Worte passten doch wohl nicht zusammen. Was war schon Freiheit ohne Menschen, die sie gestalteten? Nachdenklich drückte sie auf den Knopf neben dem Aufzug und wartete.

»Bitte! Ich halte es nicht mehr aus.« Die matte Stimme aus dem Zimmer hinter Lea war kaum zu hören.

»Sie werden nicht mehr leiden«, sagte eine Stimme. »Wir helfen Ihnen. Sie müssen …«

Mehr konnte Lea nicht hören, denn die Tür wurde zugestoßen und sie hörte nur noch das Brummen des Aufzugs. Eigenartige Unterhaltung, dachte Lea, als die Metalltür vor ihr aufsprang. Der Aufzug war überraschend voll und es dauerte einen Moment, bis auch die letzte Person ihn verlassen hatte.

»Frau Johannsen?« Fast wäre die Frau mit schwarzen Strubbelhaaren an Lea vorbeigelaufen.

»Frau Kurz! Das ist eine Überraschung. Was macht die Kriminalpolizei im Altenheim?«

»Ermittlungen in einem Todesfall«, erklärte Sandra Kurz und trat zwei Schritte vom Aufzug weg. »Harald Krumzig!«

»Herr Krumzig ist tot?« Lea benötigte einen Moment, um sich zu fassen.

Die Kommissarin nickte. Dann zückte sie ein Notizbuch, das Lea in abgenutzter Variante von Bender kannte, und blätterte zu einer leeren Seite. »Sie kannten ihn?«

»Ich hatte gelegentlich mit ihm zu tun«, begann Lea. »Er war gewissenhaft und zuverlässig …«

»Haben Sie in letzter Zeit etwas Auffälliges an ihm bemerkt? Ganz allgemein?«

Etwas Auffälliges? Lea dachte an den kauzigen Mann, der jedoch ausnehmend behutsam mit den betagten Heimbewohnern umging. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, er schien wie immer.«

Sandra Kurz nickte. »Und wie war sein Verhältnis zu Kollegen und Vorgesetzten?«

»Gut, soweit ich weiß. Manchmal hat er sich über lieblose Angehörige und knappe Pflegezeiten aufgeregt.« Lea dachte nach, aber mehr fiel ihr zu dem Altenpfleger nicht mehr ein.

»Und sein Privatleben?«