METAXAS - John Cassells - E-Book

METAXAS E-Book

John Cassells

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Beschreibung

Blair hatte eine unnatürliche leise Art an sich und seine Bewegungen waren von der seidenen Geschmeidigkeit einer Dschungelkatze. Die Neugier zwang sie, sich zu erheben und zum Fenster zu gehen. Dort stand sie und blickte gespannt auf die Straße hinunter. Sie beobachtete ihn, wie er den Fahrdamm kreuzte und dann in einiger Entfernung verschwand, bevor sie sich langsam wieder auf ihren Platz zurückbegab.

Peter Blair war ihr ein Rätsel. Während der sechs Monate, die sie nun schon bei ihm arbeitete, war es ihr nicht gelungen etwas Näheres über ihn zu erfahren, und sie hatte niemals durch den Panzer von Zynismus dringen können, der seinen hervorstechendsten Charakterzug bildete. Es war eine Härte an ihm, die fast unheimlich wirkte, und sie musste sich eingestehen, dass sie etwas wie Furcht vor ihm empfand.

 

Der Roman Metaxas des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1953; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1956 (unter dem Titel Metaxas A.G.).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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JOHN CASSELLS

 

 

Metaxas

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

METAXAS 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

 

Blair hatte eine unnatürliche leise Art an sich und seine Bewegungen waren von der seidenen Geschmeidigkeit einer Dschungelkatze. Die Neugier zwang sie, sich zu erheben und zum Fenster zu gehen. Dort stand sie und blickte gespannt auf die Straße hinunter. Sie beobachtete ihn, wie er den Fahrdamm kreuzte und dann in einiger Entfernung verschwand, bevor sie sich langsam wieder auf ihren Platz zurückbegab.

Peter Blair war ihr ein Rätsel. Während der sechs Monate, die sie nun schon bei ihm arbeitete, war es ihr nicht gelungen etwas Näheres über ihn zu erfahren, und sie hatte niemals durch den Panzer von Zynismus dringen können, der seinen hervorstechendsten Charakterzug bildete. Es war eine Härte an ihm, die fast unheimlich wirkte, und sie musste sich eingestehen, dass sie etwas wie Furcht vor ihm empfand.

 

Der Roman Metaxas des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1953; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1956 (unter dem Titel Metaxas A.G.).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  METAXAS

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Über die Tätigkeit von Chefinspektor Flagg gab es in Scotland Yard zweierlei Meinungen: Die einen hielten ihn für einen tüchtigen Beamten, die anderen behaupteten, er habe nur eben sehr viel Glück. Beides traf zu. Er hatte Glück, weil er tüchtig war, und er war tüchtig, weil er zäh und fleißig arbeitete. Zudem besaß er eine schier unerschöpfliche Widerstandskraft und nahm Anstrengungen und Mühen mit Leichtigkeit auf sich. Verbrechen und Verbrecher zu studieren war sein Lebenselement und darin ging er ganz auf. Jedoch unterstützte er keinen der zahlreichen Clubs und Vereine, die sich zum Ziel gesetzt hatten, seine Erbfeinde zu bessern, aus dem einfachen Grunde, weil er es für Zeit- und Kraftverschwendung hielt. Andere höhergestellte Beamte der städtischen Polizei mochten das tun. Ja, sie hielten sogar gelegentlich Vorträge für diese Unglücklichen und verbreiteten sich darin mit Vorliebe sowohl über deren frühere Missetaten als auch über die Vorteile geistiger und materieller Art, die ihnen aus einer tugendhaften Lebensweise erwachsen könnten.

Flagg tat nichts dergleichen, denn die Erfahrung hatte ihn zynisch gemacht. Und doch gab es einige unter ihnen, denen er half und, sei es nun auf seine Menschenkenntnis zurückzuführen oder auf die Tatsache, dass diese einmal gebrannten Pechvögel nicht ausgerechnet unter den Fittichen eines Detektivs von Scotland Yard ein Verbrechen begehen wollten, fest stand jedenfalls, dass er nie enttäuscht wurde.

Lew Barke war so ein Fall. Er war seinerzeit in die Sache mit der Praed-Bande verwickelt gewesen und von den Beamten der zuständigen Abteilung in der Nacht festgenommen worden, als der Überfall auf das Statler verübt und eine aufsehenerregende Menge Schmuck gestohlen wurde. Ein gefälliger junger Mann – viel zu gefällig für den Umgang, den er pflegte. Flagg, der noch seinen Vater gekannt hatte und genau wusste, wie Lew in die Sache hineingezogen worden war, brach sogar seinen obersten Grundsatz und sagte vor Gericht für ihn aus. Lew erhielt Bewährungsfrist.

Er hatte Schwierigkeiten mit der Lunge und wurde zur Erholung weggeschickt. Später zog er an die Südküste hinunter, wo er mit seiner jungen Frau eine Geflügelfarm aufbaute und Flagg auf lange Zeit hinaus mit Eiern versorgte.

Lew war kein Briefschreiber, aber manchmal schickte er in dem Paket, das die Eier enthielt, einen kleinen Zettel mit, auf dem er sich in Betrachtungen über Dinge erging, die ihn gerade zutiefst beschäftigten. Es handelte sich dabei in den meisten Fällen um die ungerechtfertigten Futterpreise oder die räuberischen Instinkte der Finanzbeamten und dergleichen, aber gelegentlich war bei diesen Nachrichten etwas, das Chefinspektor Flagg nachdenklich stimmte. Und dieser Fall trat ein, als Lew schrieb:

 

...und wen, glauben Sie, habe ich gestern gesehen? Ich wartete gerade auf den Regierungsinspektor und da merke ich, wie ein Wagen vor dem Haus hält. Na, ich ging nicht hin, weil ich dachte, er wird schon herunterkommen, und richtig, gleich darauf sehe ich ihn wieder abfahren. Und als er dicht bei mir ist und ich hineingucke – sitzt da nicht Calvin Thorn drin! Es war die größte Überraschung meines Lebens. Ich ging hinauf, um meine Frau zu fragen, was er gewollt hat. Sie kannte ihn nicht und ich verriet auch nichts über meine Begegnung mit ihm. Jedenfalls, er suchte Oak Royal und war vom Weg abgekommen. Ich wollte Ihnen das nur erzählen...

 

Das hatte Flagg sehr interessiert. Er kannte den guten Ruf Calvin Thorns, und was er über diesen äußerst befähigten Mann gehört hatte, war nur zu seinen Gunsten gewesen. Einmal hatte er ihn bei einer Gerichtsverhandlung im Old Baley persönlich getroffen, und deshalb wunderte er sich ein wenig, wieso dieser angesehene und gefürchtete Mann sich für ein kleines Dorf interessierte. Aber im Augenblick war Scotland Yard mit Arbeit überhäuft, und er hatte weder Zeit noch Gelegenheit, über die Tragweite dieser Information nachzugrübeln. Er ordnete sie indessen in eins der vielen Schubfächer seines Gedächtnisses ein, um sich später wieder daran zu erinnern.

Es war Frühling. Das Themseufer lag in sanftes, weiches Sonnenlicht gebadet, im Temple Garden wehten Tulpen wie bunte Fähnchen im leichten Wind, und der alte graue Strom hatte sich die Bläue des Himmels ausgeborgt. Chefinspektor Flagg saß an seinem Schreibtisch und ließ seine Gedanken mit tiefer Genugtuung zu diesen Anzeichen der Frühlingssonnenwende schweifen, denn der letzte Fall hatte sich gerade zur höchsten Ehre aller daran Beteiligten aufgelöst und der Kommissar war mit seinem Lob verschwenderisch umgegangen. In seinem Mund steckte eine Zigarre und in seinen Augen lag ein Ausdruck von Ruhe und Zufriedenheit. Tiefe Stille breitete sich wie ein Segen über das ganze Büro.

Da erklangen Schritte im Korridor. Die Tür wurde geöffnet, und die hagere Gestalt Sergeant Newalls erschien im Rahmen. Er hielt eine Zeitung in der Hand und seine melancholischen Züge waren in nachdenkliche Falten gelegt.

Flagg sah auf.

»Kommen Sie herein, Newall. Nehmen Sie Platz.«

Sergeant Newall folgte der Aufforderung, fuhr aber fort, auf die Zeitung zu starren.

»Da ist schon wieder einer, Mr. Flagg.«

»Wieder einer?«

»Ein Toter.« Newall zog die Augenbrauen hoch. »In der Nähe von St. Albans Head herausgefischt.« Er rieb seine auffallend große Nase. »Ein Fischer hat ihn gefunden«, erläuterte er.

Chefinspektor Flagg nahm die Zigarre aus dem Mund und stellte fest: »Das macht im Ganzen vier. Vier im letzten Jahr.«

»Vielleicht sogar sechs«, meinte Newall. »Mit den anderen zwei, bei denen wir nicht sicher sind.«

Flagg befestigte eine Stahlbrille auf seiner Nase und verlangte die Zeitung zu sehen. Newall reichte sie ihm sofort hinüber.

»Steht nicht viel drin«, konstatierte er. »Nicht mehr und nicht weniger als das letzte Mal.«

Die Notiz war kurz.

 

Toter im Meer

Die Leiche eines unbekannten Mannes wurde gestern um 11 Uhr von einem Fischer, John Benetto, wohnhaft Marbay, Coombe Walk 9, entdeckt, als er Köder einsammelte. Der Tote, der schon einige Tage im Wasser gelegten haben muss, war nur unvollständig bekleidet. Wie es im Polizeibericht heißt, trug er keinerlei Erkennungszeichen an sich, und man nimmt an, dass der Tote von einem Schiff stammt. Die Polizei stellt noch Nachforschungen ah.

 

Flagg legte die Zeitung hm und nahm seine Brille ab. »Wie finden Sie das, Sergeant? Eine komische Sache. Einer bei Lyme Regis, einer bei Swanage, ein anderer bei Sidmouth und dieser hier in der Nähe von St. Albans Head. Immerhin merkwürdig genug, dass man darüber nachdenken muss.« Er paffte einen Augenblick schweigend an seiner Zigarre. »Und Nachdenken war das letzte, was ich heute Morgen tun wollte. Wir haben Kerry unschädlich gemacht, und der einzige Mensch, dem dabei noch etwas zu tun übrigbleibt, ist der Henker.«

Noel Newall war pessimistisch.

»Und der Richter?«

»Er wird Bleaker kriegen«, sagte Flagg befriedigt. »Das ist ein Richter, vor dem ich den größten Respekt habe. Der Mann weiß, gegen was wir zu kämpfen haben. Bei dem gibt’s nichts von dem üblichen Unsinn, die Brüder nach Dartmoor zu schicken mit Fußball am Samstag und Fernsehen und alles, was sie wollen. Für den alten Knaben habe ich was übrig.«

»Daran ist viel Wahres, Mr. Flagg. Diese Richter betteln ja fast die Geschworenen an, dass sie die Gauner freilassen. Die sollten alle mal für sechs Monate hier nach Scotland Yard versetzt werden und versuchen, ein paar von den Burschen zu fassen.« Newall riss das Stück aus der Zeitung heraus, nahm die Schere vom Schreibtisch und schnitt es säuberlich zurecht. »Ich hefte das in die Akten. Vielleicht ist gar nichts daran – aber man kann nie wissen.«

»Richtig«, sagte Flagg. »Das kann man nie. Immer wieder ertrinken Leute im Meer. Na, mir würde das keinen Spaß machen. Wäre mir zu kalt. Waren Sie mal bei St. Albans Head?«

Noel Newall sah ihn entrüstet an.

»Ich war doch während des Krieges in Swanage, Mr. Flagg. Vier Monate im Einsatz.«

»Ach ja.« Flagg ließ das Thema fallen. »Mo Korsky kommt übrigens nächste Woche heraus. Sie könnten mal nach Princetown fahren und ihn sich anschauen. Ich wette, er fährt piekfein mit dem Wagen. Devers macht mir nicht den Eindruck, als ob er Mo die ganze Strecke mit dem Zug fahren lässt.«

»Ich will daran denken«, sagte Sergeant Newall. Korsky und er waren alte Feinde. »Glauben Sie, Devers steckt hinter Mo?«

»Und ob«, sagte Flagg. »Und zwar als treibende Kraft.«

»Wer steckt denn hinter Devers?«

Der dicke Polizeiinspektor schmunzelte.

»Ich würde was darum geben, wenn ich’s wüsste. Devers hat es sehr schnell zu etwas gebracht. Vor drei Jahren bewohnte er noch ein kleines Zimmer bei Flash Lil Turnbull in Somers Town. Und das letzte Mal, als ich ihn sah, fuhr er einen Wagen, so groß wie ein Omnibus und rauchte nur noch die teuersten Zigarren.« Er dachte einen Augenblick nach. »Das ist ein Junge, dieser Mike. So was nennt man Erfolg im Leben. Da können Sie sehen, wie weit man’s mit Bildung bringen kann.«

Auf Newalls Lippen lag ein leichtes Hohnlächeln. »Bildung? Dass ich nicht lache, Mr. Flagg. Ich möchte wissen, woher Mike Nevers die haben soll. Nehmen Sie zum Beispiel Mathematik. Was ist ein Polygon? Fragen Sie ihn das, und ich wette zehn gegen eins, dass er es nicht weiß. Oder Geschichte. Was kann so ein Kerl wie der Ihnen über Hobbes oder Locke erzählen? Oder über den berühmten Martin Luther? Noch nicht einmal, wenn Sie ihn etwas ganz Leichtes fragen würden, wie: Wer war Agamemnon? Glauben Sie, der wüsste, dass das der Führer der Griechen im Trojanischen Krieg war?«

Flagg paffte gedankenvoll vor sich hin.

»Wenn ich von Bildung sprach, Newall, so meinte ich nicht Ihre Art. Ich dachte an die Erfahrung, die man im Verbrecherberuf sammelt. Devers hat Verstand. Täuschen Sie sich nicht darüber. Er hat eine Masse gelernt und nichts davon jemals vergessen. Viele von diesen Gaunern haben mit genauso viel angefangen wie Mike und sind doch nie weiter als bis Pentonville gekommen.« Er sah plötzlich auf, denn die Tür hatte sich geöffnet und sein uniformierter Schreiber stand ihm mit mürrischem Gesicht gegenüber. »Was ist, Poole?«

»Eine junge Dame«, sagte Poole. Er war ein großer, trübsinnig aussehender Mann. »Ich weiß gar nicht, was sie hier will. Ich habe ihr gesagt, Sie wären jetzt nicht zu sprechen. Aber sie behauptet, von Inspektor MacNab hergeschickt worden zu sein. Warum die von den anderen Abteilungen ihre Besucher nicht selbst abfertigen können, ist mir schleierhaft. Sie haben doch ohnehin genug Arbeit.«

In Flaggs blauen Augen blitzte es kurz auf.

»So, MacNab schickt sie? Heißt sie etwa Eaton?«

»Ganz genau«, sagte Poole. »Soll ich sie abweisen?«

»Weisen Sie sie lieber zu mir herein«, erwiderte Flagg und lehnte sich erwartungsvoll zurück.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Margaret Eaton war ein großes, schlankes Mädchen, blond und hübsch und sehr fesch angezogen. Sie trat ein und sah sich interessiert im Zimmer um.

Flagg erhob sich gewichtig.

»Kommen Sie nur herein, junge Dame. Dies ist Sergeant Newall. Ich möchte gern, dass er Ihre Geschichte auch hört. Dann brauche ich mir keine Notizen zu machen. Newall war mal beim Film oder bei irgendetwas Ähnlichem als lebendes Gedächtnis engagiert, er vergisst nie etwas. Er ist einmalig.«

Sie sah sich den so gerühmten Mann neugierig an.

»Das ist sicher bisweilen sehr nützlich.«

Sergeant Newall zog einen Stuhl für sie heran und lächelte nachsichtig.

»Es kommt einem ganz gut zustatten, Miss«, gab er zu, »aber Sie glauben nicht, was es manchmal für eine Last ist. Andere Leute kommen fortwährend an und fragen mich Sachen, die sie ebenso gut selbst in Büchern nachschlagen könnten.« Er brachte ein zerknülltes Zigarettenpäckchen zum Vorschein. »Möchten Sie rauchen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich rauche wenig.«

Flagg seufzte.

»Zu teuer«, sagte er. »Das geht mir genauso. Dieser Dalton, der da in der Regierung sitzt, ist dafür verantwortlich. Ich schränke es auch sehr ein.« Seine listigen blauen Augen beobachteten sie nachdenklich. »Ich hatte gestern Ihretwegen eine kleine Unterhaltung am Telefon mit Inspektor MacNab. Er sagte mir, dass er Sie zu mir herüberschicken wollte.«

Sie blickte ihn dankbar an.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Flagg – und auch von Inspektor MacNab. Ich bin so entsetzlich beunruhigt über Johnny und völlig ratlos.« Sie drehte nervös ihr Taschentuch zwischen den Fingern. »Eigentlich weiß ich gar nicht, ob er wirklich vermisst ist. Nur, dass er zehn Tage nicht nach Hause gekommen ist – ich habe seitdem kein Wort von ihm gehört, und er würde doch nicht so ohne weiteres fortgehen. Ohne mir etwas davon zu sagen.«

Flagg sog an seiner Zigarre und dachte nach. »Zehn Tage ist nicht sehr lange.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich weiß. Aber es gab gewisse Gründe, warum er gerade jetzt nicht hätte gehen können. Deshalb kam ich auf den Gedanken, dass ihm irgendetwas zugestoßen sein muss, und so ging ich zur Polizei. Sie haben schon in allen Krankenhäusern nachgefragt und...«

Chefinspektor Flagg nahm den Zigarrenstummel aus seinem Mund und sah ihn mit tiefem Bedauern an, bevor er ihn ins Feuer warf.

»Ja, so ist das im Leben. Das bleibt von einer halben Stunde Genuss übrig. Der Mann, der das Rauchen erfand, wusste schon, was er tat.« Er lehnte sich zurück und fixierte sie aufmerksam mit seinen blauen Augen. »Nun, Miss Eaton, wollen wir einmal Ihre Geschichte von Anfang an hören. Ich weiß nicht viel. Mr. MacNab sagte mir nur, dass sie mich vielleicht interessieren würde. Wir haben ja eine Abteilung, die sich nur mit der Vermisstensuche befasst, und die sehr gute Resultate erzielt.«

»Das hat Mr. MacNab auch gesagt.« Das Mädchen dachte einen Augenblick nach. »Ich will Ihnen alles erzählen, soweit ich kann. Es betrifft ohnehin nur Johnny und mich – bisher weiß niemand sonst etwas davon.«

»Dieser verschwundene Johnny ist also Ihr Freund?«

»Ja, Johnny Eaton.«

Flagg war überrascht.

»Doch nicht Ihr Bruder?«

»Nein. Er ist mein Verlobter«, sagte sie ruhig. »Johnny ist allerdings ein entfernter Verwandter von mir. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren, bereits seit unserer Schulzeit. Später wurde er Soldat und...«

»Wie alt ist er?«

»Neunundzwanzig. Ich bin zweiundzwanzig. Er wohnt bei einer alten Dame in Hendon – einer Mrs. Drake. Ihr Mann ist tot – er war Lehrer – und Johnny lebt bei ihr, seit er eine Stellung in der Stadt hat. Er schätzt sie sehr – und sie ihn auch, und er würde bestimmt nicht fortgegangen sein, ohne ihr zu sagen, wohin. Genauso wenig, wie er es mir verheimlicht hätte.«

Flaggs Miene war unbeweglich.

»Wann ging er weg?«, fragte er.

»Vor zehn Tagen. Heute ist Dienstag. Ich habe ihn seit letzten Samstag vor acht Tagen nicht mehr gesehen. Wir wollten uns damals im Strand Corner House treffen, um zusammen zu essen und dann in ein Kino zu gehen. Aber ich wartete eine Stunde vergeblich auf ihn, und das wunderte mich, weil er sonst sehr pünktlich ist. Dann rief ich Mrs. Drake an, die. darüber sehr erstaunt war, denn er hatte sie ausdrücklich gebeten, mich zum Tee mitbringen zu dürfen.«

»Und was taten Sie dann?«

Sie war nach Hendon hinausgefahren in die Maltby Road 111, wo Eaton wohnte. Als sie dort ankam, war Mrs. Drake schon sehr aufgeregt gewesen und hätte am liebsten sofort die Polizei angerufen. Sie hingegen hatte das vermeiden wollen und beschlossen, wenigstens bis zum nächsten Tag abzuwarten.

»Ich konnte es gar nicht verstehen«, fuhr sie fort, »weil Johnny niemals so ohne weiteres weggegangen war. Es war überhaupt nicht seine Art. Und außerdem gab es einen sehr triftigen Grund, warum er gerade in dieser Woche hätte hier sein müssen.«

Flagg betrachtete sie nachdenklich. »Und was war das?«

»Wir wollten nächsten Freitag heiraten«, sagte sie leise. »Es war schon alles mit Mr. Collins von St. Simon’s Gate besprochen. Wir wollten uns in aller Stille trauen lassen, weil Mr. Packman sicher nicht damit einverstanden gewesen wäre. Johnny musste deshalb sehr vorsichtig sein.«

»Und wer ist Mr. Packman?«

»Sein Arbeitgeber. Mr. Packman von dem Rechtsanwaltsbüro. Packman, Race und Burbridge.« Sie zögerte. »Ich glaube, es ist eine ziemlich altmodische Firma. Zumindest scheint Mr. Packman es zu sein, denn er erlaubt keinem seiner Angestellten zu heiraten, ehe er nicht ein Einkommen von vierhundert Pfund im Jahr hat. Johnny verdient das natürlich noch nicht – und so mussten wir unsere Verlobung sehr geheim halten. Es war gar nicht in unserem Sinn, aber...«

Inspektor Flagg schmunzelte.

»Es war nicht in Ihrem Sinn, aber Sie taten es trotzdem. Ich kenne das. Ich war auch einmal jung. So, Mr. Packman mag es nicht, wenn Leute heiraten? Ein komischer Standpunkt für einen Rechtsanwalt.«

Sie lächelte.

»Er ist sonst sehr nett. Mr. Martin Packman meine ich – aber furchtbar altmodisch. Ich habe ihn ein- oder zweimal während der letzten Monate getroffen und...«

Flagg beugte sich vor. »Wie kam das?«

»Ich hatte etwas Geld geerbt. Ein Legat von einer alten Tante, die letztes Jahr starb. Keine große Summe. Etwas über viertausend Pfund.« Sie sah auf und begegnete Flaggs Blick. »Das war der Grund, warum Johnny und ich uns entschlossen zu heiraten. Wir dachten, dadurch von Mr. Packman unabhängig zu sein, falls er es herausbekommen sollte. Aber das war nicht zu befürchten. Jedenfalls hofften wir es.«

»Warum gab denn Johnny seine Stellung bei ihm nicht auf?« Flagg war neugierig. »Es muss doch eine Menge Sekretärstellungen in London bei weniger schwierigen Chefs geben.«

Ihre Stimme zeigte eine Spur von Erbitterung.

»Johnny war nicht damit einverstanden. Ich legte es ihm nahe, aber er wollte nichts davon hören. Der Grund war wohl, dass er den Gedanken nicht ertrug, ich besäße mehr Geld als er, denn er hat eine merkwürdige Art von Stolz. Das war der einzige Punkt, über den wir jemals gestritten haben.«

»So, täten Sie das?«, fragte Flagg gedehnt. »Wessen Idee war denn diese Heirat?«

Sie errötete.

»Ich machte den Vorschlag. Johnny würde niemals davon gesprochen haben, und es war ein harter Kampf, ihn zu überzeugen, dass ich recht hatte. Aber schließlich, gelang es mir. Ich erklärte ihm, dass es doch lächerlich sei, die besten Jahre unseres Lebens zu versäumen, wo doch das Geld auf der Bank zu unserer Verfügung stünde – und alles nur wegen eines dummen alten Mannes wie Mr. Packman. Johnny gab immer sehr viel auf das, was ich sagte – und allmählich willigte er auch ein. Am Freitag hätten wir heiraten sollen.« Ihre Lippen zitterten. »Deswegen habe ich das bestimmte Gefühl, dass irgendetwas geschehen ist. Etwas Schreckliches.«

Flagg sah sie lange Zeit schweigend an.

»Dann sind Sie also zur Polizei gegangen?«, fragte er endlich.

»Ja. Ich ging zu Mr. MacNab. Er ist ein ehemaliger Freund meines Vaters und er war so freundlich, mich zu empfangen und versicherte mir, er würde sich darum kümmern.«

Flagg schloss die Augen und sein Gesicht war undurchdringlich. Ein Weilchen saß er so da, ehe er wieder sprach.

»Das ist ein interessanter Fall, Miss. Nämlich deshalb, weil ich ein paar Dinge mehr darüber weiß als Sie. Das ist nun mal so. Haben Sie jemals Johnny davon sprechen hören, dass er irgendwo Geld investieren wollte?«

Sie sah bei dieser Frage schnell auf.

»Ja. Wir haben oft diese Möglichkeit besprochen. Aber Johnny besaß ja nur ein paar hundert Pfund – zu wenig, um irgendetwas damit anzufangen.«

»So, so«, meinte Flagg gemütlich. »Und dann kamen Sie in den Genuss der Erbschaft.«

»Ja. Aber er hat niemals ein Wort darüber geäußert, dass ich sie für etwas Derartiges verwenden sollte.« Ihre Stimme hatte einen beinah abweisenden Ton. »Als ich davon erfuhr, bat ich Johnny, mir einen Rat zu geben, und legte ihm nahe, das Geld in irgendeine Sache zu stecken, die er für gut hielt. Aber davon wollte er nichts hören. Ich glaube, er hatte Angst, Mr. Packman würde dahinterkommen und...«

»Ist Mr. Packman Ihr Anwalt?«

»Er war der Sachwalter meiner Tante«, sagte Margaret Eaton. »Ja, man kann es vielleicht so ausdrücken, dass er jetzt mein Anwalt ist. Ich habe zwar nicht viel Verwendung für einen Rechtsberater, aber sollte ich jemals einen brauchen, dann würde ich zu Mr. Packman gehen – Mr. Martin Packman.«

Flagg blinzelte.

»Es gibt also mehr als einen Mr. Packman?«

»Da ist noch Mr. Walter«, erzählte sie. »Er ist jetzt nicht mehr in der Firma, weil er zu alt und außerdem leidend ist. Johnny sprach sehr viel von ihm und pflegte ihn manchmal zu besuchen. Er lebt in Hampstead, hat aber mit dem Büro kaum noch etwas zu tun.« Sie schwieg einen Augenblick, und in ihre Augen kam ein entschlossener Ausdruck. »Das ist so ziemlich alles, was ich Ihnen berichten kann, Mr. Flagg. Ich habe das ganz bestimmte Gefühl, als ob Johnny etwas zugestoßen ist. Er ist in kein Krankenhaus eingeliefert worden – die Polizei hat sich davon überzeugt. Aber er könnte ja das Gedächtnis verloren haben, obgleich ich das kaum annehmen kann. Er gehört nicht zu dieser Art Menschen.« Ihr Blick blieb traurig auf Flagg haften. »Es gibt noch eine Möglichkeit, ich weiß, Sie denken auch daran. Sie meinen sicher, Johnny wollte mich am Ende gar nicht heiraten und hätte, nachdem er sich dazu überreden ließ, plötzlich kalte Füße bekommen und wäre davongelaufen.«

Chefinspektor Flagg nickte beifällig.

»Sie sind eine kluge junge Dame.«

»Zu klug, um das zu glauben«, fuhr Margaret ruhig fort. »Ich kenne Johnny. Aber es liegt natürlich nahe, das zu vermuten. Sicher dachte Mr. MacNab dasselbe und wollte es nur nicht sagen. Und ebenso Mr. Blair.«

Flagg sah träge auf.

»Mr. wer?«

»Mr. Blair«, wiederholte sie. »Ich arbeite bei ihm. Er gab mir eine Stunde frei, um Sie aufzusuchen. Er kennt Sie auch.«

Plötzlich war Chefinspektor Flagg sehr interessiert.

»Peter Blair? Er ist doch in der Versicherungsbranche, nicht wahr?«

»Ja. Allgemeine Versicherungen.« Sie sah auf ihre Uhr und erhob sich. »Jetzt muss ich gehen, Mr. Flagg. Ich habe viel von Ihrer Zeit in Anspruch genommen, aber es ist so wichtig für mich. Ich muss Johnny finden, und es ist doch niemand anderer da, der etwas tun könnte...« Ihre Augen strömten mit einem Mal von Tränen über.

Flagg legte ihr väterlich die Hand auf die Schulter.

»Wir wollen sehen, was sich machen lässt, Miss Eaton. Im Augenblick kann ich nicht viel versprechen. Es liegt ein bisschen außerhalb meiner gewohnten Arbeit, wissen Sie. Aber Johnny Eaton wird wieder auftauchen, dessen bin ich sicher.« Er öffnete die Tür, hielt aber einen Moment inne und fragte sie dann: »Haben Sie Johnny jemals davon sprechen hören, dass er Geld bei der Metaxas A. G. investieren wollte?«

»Metaxas AG?«, wiederholte das Mädchen verdutzt. »Nein. Davon habe ich noch nie etwas gehört. Wer ist Metaxas AG?«

»Ich wollte, ich wüsste das«, sagte Chef Inspektor Flagg vergnügt und verließ mit ihr zusammen das Zimmer.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Peter Blairs Büro war genau in der Mitte der Farrower’s Lane, einem kleinen, schmalen Gässchen, das auf den Medley Court mündete. Das Gebäude war alt, war schon alt gewesen zur Zeit der Schlacht bei Waterloo, und seither hatte man wenig getan, um seine dürftigen Reize aufzufrischen. Durch einen engen, zugigen Eingang kam man auf eine unbequeme Wendeltreppe, über die heftige Windstöße fuhren, mochte auch die übrige Stadt noch so sehr in der Augusthitze brüten, und von da auf einen mit rohen Brettern belegten Gang im obersten Stockwerk, an dem drei Büros lagen. Eins davon wurde während der Stunden zwischen neun und fünf von Peter Blair benutzt, wenn ihn nicht, wie das öfter geschah, dringende Geschäfte in angenehmere und gesündere Gegenden führten.

Die Treppe wurde einmal in der Woche von einer robusten, freundlichen Frau gereinigt, die eben mit dieser Aufgabe beschäftigt war, als Margaret Eaton zurückkam. Beim Klang der leichten Schritte sah Mrs. Soames auf.

»Vorsicht, Herzchen. Es ist noch glitschig von Seife.«

Das Mädchen trat vorsichtig auf.

»Guten Morgen, Mrs. Soames. Ich hatte Sie heute gar nicht erwartet.«

»Ich musste beute kommen, weil Soames gestern krank war«, sagte die Frau. »Ein Stück Arbeit hatte ich mit ihm, Miss. Irgendwas Grässliches ist es, etwas Inneres, sagt der Doktor. Er hat ihm eine Flasche gegeben mit so grünem Zeug, das nach Pfefferminz riecht.« Sie machte eine bezeichnende Kopfbewegung zur Bürotür hin. »Er ist drin. Machte ein Gesicht, als er kam, wie sieben Tage Regenwetter.«

»Dann will ich mich lieber beeilen«, sagte das Mädchen. Sie ging den Korridor entlang bis zu einer schweren Eichentür, auf der ein Schild angebracht war:

 

Peter Blair

Allgemeine Versicherungen

 

 

Das kleine, schäbige Vorzimmer enthielt einen alten Schreibtisch mit einer vorsintflutlichen Schreibmaschine darauf. Dahinter stand ein billiger, metallener Aktenständer, ein einzelner Stuhl und ein reichlich zerbeulter Papierkorb. Sie nahm ihren Hut ab, hing ihren Mantel auf und war im Begriff, sich an den Schreibtisch zu setzen, als sie die Klingel aus dem inneren Büro läuten hörte. Rasch eilte sie hinein.

»Verzeihen Sie, dass ich Sie warten ließ, Mr. Blair. Es dauerte etwas länger, als ich annahm – aber ich habe mich sehr beeilt, wieder hierherzukommen.« Sie sah, dass seine dünnen Lippen nervös zuckten. »Natürlich bin ich bereit, dafür heute Abend länger zu arbeiten.«

»Selbstverständlich.« Er war ein hagerer Mann mit blassem, scharf geschnittenem Gesicht. Obwohl nur von mittlerem Wuchs, wirkte er durch seine Schlankheit sehr viel größer. Seine Schultern waren athletisch, hingegen seine braunen Hände klein und schmalfingrig. Sie hatte sich oft überlegt, wie alt er wohl sein mochte und ihn auf ungefähr vierzig geschätzt. Aber hier vermutete sie falsch, denn die feine Silberspur in seinem Haar ließ ihn um mindestens fünf Jahre älter erscheinen, als er in Wirklichkeit war.

»Selbstverständlich«, sagte er noch einmal. »Die Arbeit im Büro muss ja weitergehen.«

»Natürlich.« Sie blieb stehen und wartete etwas ungeduldig, was er zu sagen hätte, aber für einen Augenblick schien er sie ganz vergessen zu haben.

»Setzen Sie sich«, sagte er endlich.

Sie ließ sich auf der Kante eines Stuhles nieder. Blair fiel wieder in seinen Sessel zurück, setzte eine neue Zigarette in Brand und starrte sie durch den Rauch an.

»Sie sind also im Zentralbüro gewesen?«

Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie verstand, was er meinte.

»Scotland Yard? Ja, Inspektor MacNab ermöglichte mir eine Unterredung mit Inspektor Flagg. Er war sehr interessiert daran – und sehr freundlich.«

Sein Lächeln war kalt.

»Das kann ich mir denken.« Er sah sie nachdenklich an. »Ich verstehe eigentlich nicht, warum. Flagg ist ein zu bedeutender Mann, um sich mit einer verhältnismäßig so unwichtigen Sache wie der Suche nach einem Vermissten zu befassen. Das ist doch mehr eine untergeordnete Arbeit.«

»Das sagte man mir auch«, erwiderte sie ruhig. »Und trotzdem stellte er mir eine Menge Fragen.« Sie blickte zu ihm auf. »Ich habe noch nicht sehr viel Lebenserfahrung, Mr. Blair, aber ich finde immer wieder: Je bedeutender ein Mann ist, desto menschlicher gibt er sich.«

Der Schatten eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Darüber könnte man streiten«, sagte er. »Ich kenne eine ganze Anzahl ziemlich bedeutender Leute, die sehr unmenschlich sind.« Er tat das Thema mit einem Schulterzucken ab. »Konnte er Ihnen denn irgendeine Auskunft geben – oder wenigstens eine Beruhigung?«

Sie zögerte.

»Er sagte, er würde mich dieser Tage aufsuchen.«

Peter Blair schien überrascht.

»Sehr außergewöhnlich. Aber das ist schließlich bei der ganzen Geschichte der Fall. Ich muss gestehen, dass ich selbst auch sehr interessiert daran bin.«

»Warum?«, fragte sie gleichmütig und bemerkte, wie er die Stirn krauste.

»Ich glaube, es liegt an meinem Ordnungssinn. Ich habe die Dinge gern klar und übersichtlich – und ich hasse alles Mysteriöse. Eaton ist ein mysteriöser Fall. Nicht er selbst, sondern die Tatsache, dass er einfach verschwunden ist.« Er sah sie halb belustigt an. »Die naheliegende Erklärung dafür ist doch, dass er verschwinden wollte. Sie verstehen, was ich meine?«

Sie nickte und ihre Lippen zitterten.

»Ja, ich verstehe wohl. Aber ich kann nicht glauben, dass Johnny das wollte, ich kann es einfach nicht – und ich habe meine Gründe dafür.«

Seine Augen wurden hart.

»Ich weiß. Aber Liebe ist gewöhnlich blind – und taub.«

Das Rot stieg ihr in die Wangen.

»Möglich. Aber ich kenne Johnny seit langer Zeit.«

Er legte seine braune, sehnige Hand auf die Schreibtischplatte, bog und streckte die Finger einige Male und sah aufmerksam darauf nieder.

»Ich hoffe in Ihrem Interesse, dass Sie recht haben, Miss Eaton. Ich für mein Teil bin nicht so sicher.«

»Und warum nicht?«

Er zuckte die breiten Schultern.

»Vielleicht kann ich es so ausdrücken. Jedes Jahr verschwinden allein in London mehrere tausend Personen. Männer, Frauen, alt und jung. In den meisten Fällen wird die Polizei davon benachrichtigt und setzt den gewohnten Apparat der Nachforschungen in Bewegung. Aber die Polizeikräfte sind im Verhältnis nicht sehr zahlreich und haben noch andere Pflichten und Verantwortlichkeiten. Viele Leute werden aufgespürt – viele andere aber wollen aus verschiedenen Gründen nicht gefunden werden. Diese Tatsache dürfen Sie nicht übersehen. Und wenn Eaton nicht entdeckt werden will, besteht sehr geringe Aussicht.«

Sie krampfte die Finger zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten. Eine Weile saß sie so und betrachtete seine dunklen, undurchsichtigen Züge.

»Sie sind nicht sehr ermutigend, Mr. Blair. Man möchte fast annehmen, Sie sind sicher, dass Johnny nicht gefunden werden wird.«

Für einen Moment erschien ein erschrockener Blick in seinen Augen. Er war im Nu wieder verschwunden, aber sie hatte doch feststellen können, wie sehr der ganze Ausdruck seines Gesichts dadurch verändert wurde.

»Großer Gott, das habe ich nicht gesagt.« Er war ehrlich erschrocken. »Ich wollte Ihnen doch nur die Schwierigkeiten des Unternehmens beweisen. Mein einziger Wunsch ist, dass er so schnell wie möglich zurückkommt, und der Grund dafür ist sehr egoistisch. Ich fürchte nämlich, seine Abwesenheit könnte Ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.«

»Ich verstehe«, sagte sie matt.

Er öffnete eine Schublade seines Schreibtisches, entnahm ihr ein kleines, mit einer Klammer zusammengeheftetes Bündel Schriftstücke und blätterte es durch.

»Da sind ein oder zwei Anträge, die ich Sie auszufüllen bitte. Hinterher habe ich noch verschiedene Briefe zu diktieren.« Er schob ihr die Papiere hin. »Inspektor Flagg ist ein fähiger Mann. Ich sagte Ihnen bereits, dass ich ihn kenne. Wenn Flagg sich für den Fall interessiert, können Sie sicher sein, dass bald etwas geschieht.«

»Das denke ich auch«, stimmte sie zu. »Ich hatte den Eindruck, als wüsste er schon etwas mehr darüber, wenigstens deutete er es mir gegenüber an, und das verwirrte mich.«

Blair beobachtete sie gespannt.

»In welcher Beziehung?«

»Ich weiß nicht. Es war nicht ganz verständlich, was er meinte. Seine Worte waren so unbestimmt.«

»Flagg drückt sich immer sehr vieldeutig aus«, sagte er gereizt. »Also gut, Miss Eaton. Sie können jetzt gehen. Ich werde wahrscheinlich nachmittags nicht im Büro sein.«

Sie nahm die Papiere auf und ging damit zur Tür, aber auf halbem Weg fiel ihr etwas ein, das ebenfalls ihre Gedanken beschäftigt hatte.

»Mr. Flagg fragte mich auch noch, ob ich Johnny jemals hätte erwähnen hören, dass er Geld in die Metaxas A. G. stecken wollte.« Dabei sah sie ihn aufmerksam an und bemerkte ein interessiertes Aufflackern in seinen Augen.

»Tat er das?«

»Nein. Johnny hatte kein Geld, um es irgendwo zu investieren.« Ein neugieriger Ton kam in ihre Stimme. »Was für eine Art Firma ist eigentlich die Metaxas A. G.?« 

Peter Blair schüttelte den Kopf.

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich habe nie etwas davon gehört.« Er sah ihren enttäuschten Ausdruck. »Haben Sie Flagg nicht gefragt?«

»Ja. Aber er konnte mir auch keine Antwort geben.«

»Das ist allerdings schade«, sagte er. Dann wendete er sich dem Regal zu, das hinter ihm stand, und nahm ein großes, in dickes, rotes Leder gebundenes Buch herab. »Metaxas A. G.?«, wiederholte er fragend, während er es durchblätterte. »Die sind hier gar nicht aufgeführt. An eine Firma, die nicht in diesem Börsenjahrbuch verzeichnet ist, verschwenden Sie am besten keinen Gedanken mehr.«